Her Last Summer – Eine verschwundene Frau. Eine Reise ohne Wiederkehr. - Emily Freud - E-Book
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Her Last Summer – Eine verschwundene Frau. Eine Reise ohne Wiederkehr. E-Book

Emily Freud

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Beschreibung

Wenn das Paradies zur Gefahr wird | Der perfekte Nervenkitzel für den Urlaub! Ein Backpacking-Trip durch das exotische Thailand sollte für Luke und Mari die Reise ihres Lebens werden. Doch nur einer von beiden kehrte zurück. Jetzt, zwanzig Jahre später, möchte Luke endlich erzählen, was damals passiert ist. Und die Filmemacherin Cassidy Chambers will diejenige sein, die die Wahrheit aufdeckt. Was ist mit Mari geschehen, als sie spurlos in Thailands Dschungel verschwand? Ist Luke wirklich so unschuldig, wie er beteuert? Doch je tiefer Cassidy in die Vergangenheit vordringt, desto mehr fürchtet sie die Wahrheit, die dort auf sie wartet ...  »Ein atemberaubend spannender Thriller, bei dem alles auf dem Spiel steht.« LUCY CLARKE »Atmosphärisch, rasant, spannungsreich. Perfekte Lektüre zum Abschalten!« LV MATTHEWS »Ein heißer, stickiger und nervenaufreibender Urlaubsschmöker. Super wendungsreich, erschütternd und einfach toll!« EMMA CURTIS »Dieser mitreißende und turbulente Thriller wird Sie von den Socken hauen!« PETERSBOROUGH TELEGRAPH »Ein herrlich düsterer Thriller mit einer brillanten Wendung. Ich bin begeistert!« NIKKI SMITH

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Veröffentlichungsjahr: 2025

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© Piper Verlag GmbH, München 2025

Redaktion: Isabelle Toppe

Covergestaltung: FAVORITBUERO, München nach einem Entwurf von Lisa Brewster

Covermotiv: David Paire/Arcangel

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence, München mit abavo vlow, Buchloe

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Text bei Büchern ohne inhaltsrelevante Abbildungen:

Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Widmung

Zitat

Prolog

Zeitungsartikel

TRUE CRIME

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

ROMANCE

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

HORROR

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Epilog

Khao-Soon-Nationalpark

September 2002

Danksagung

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Widmung

Für Lola

Zitat

Wenn man sich mitten in einer Geschichte befindet, ist es keine Geschichte, sondern nur eine große Verwirrung; ein dunkles Brüllen, eine Blindheit, ein Durcheinander aus zerbrochenem Glas und zersplittertem Holz, wie ein Haus in einem Wirbelsturm oder wie ein Schiff, das von Eisbergen zerdrückt oder von Stromschnellen mitgerissen wird, und alle an Bord sind machtlos, etwas dagegen zu tun.

Margaret Atwood, alias Grace

Prolog

Schweiß rinnt über ihr von der Sonne verbranntes Gesicht. Ein schnatternder Affe springt direkt vor ihr über den nicht vorhandenen Pfad. Dicke Lianen hängen von oben herab. Angst hallt wie dumpfes Donnergrollen durch ihren Körper. Dieser Albtraum muss ein Ende haben, ermahnt sie sich, während sie sich im Kreis dreht. Warum sind sie hierhergekommen? Es war albern und unverantwortlich. Dieser Ort wird sie verschlingen. Die Sonne. Die wilden Tiere, die überall lauern. Oder er. Die Wildschweine und die Gibbons mit den weißen Händen werden sich glücklich grunzend und schnatternd über ihre Knochen und ihr Fleisch hermachen. Rotes Blut, das von den behaarten Unterkiefern tropft. Eine blutige Hand, die einem Jungtier einen Bissen entgegenstreckt. Jemand hat ihr einmal von den malaiischen Sonnenbären erzählt. Der Name klang so freundlich. Aber jetzt, schutzlos und in stinkenden Klamotten, fürchtet sie, dass glänzende Knopfaugen sie aus dem dichten Unterholz heraus beobachten. Werden ihre letzten Momente von der schrecklichen Gewissheit kurz vor einem Angriff geprägt sein?

Zeitungsartikel

Marigold Castles Freund lebt!

Britischer Jugendlicher nach Monaten aus dem schlangenverseuchten thailändischen Dschungel gerettet

9. Oktober 2002, Britische Rundschau

Einer der beiden Teenager, die sich vor mehr als zwei Monaten in Chiang Mai von ihrer geführten Reisegruppe getrennt hatten und seither als vermisst galten, wurde von einem einheimischen Fischer entdeckt. Der bewusstlose, stark dehydrierte und mangelernährte Luke Speed (18) wurde ins Krankenhaus gebracht, wo er zu gegebener Zeit befragt werden soll. Seine Freundin, Marigold Castle, bleibt weiter unauffindbar. Die Polizei wird zeitnah eine Stellungnahme abgeben.

Die Teenager konnten selbst im Zuge der größten Suchaktion, die diese Region je erlebt hat, nicht aufgespürt werden, und nach sechs Wochen wurden die Bemühungen größtenteils eingestellt. Bisher galt es als unwahrscheinlich, dass die beiden alleine im Dschungel überleben konnten. Der tropische Regenwald des Khao-Soon-Nationalparks ist älter als der Amazonas und erstreckt sich über fünfhundert Quadratkilometer. Tiefe Täler, Seen, hohe Kalksteinberge und Höhlen beheimaten ein florierendes Ökosystem, dem auch Schlangen, Wildschweine, Echsen, Affen und Bären angehören.

Unsere Redaktion hat Luke Speeds Familie um ein Statement gebeten. Marigold Castles Eltern bitten um Wahrung ihrer Privatsphäre.

TRUE CRIME

Kapitel 1

Lichter flammen auf, und meine Finger umklammern das Mikrofon. Ich blinzle, dann schenke ich den Gesichtern, die hinter den tanzenden Staubkörnchen kaum zu sehen sind, ein Lächeln. Das Auditorium ist voll bis auf den letzten Platz. Was ich allerdings nur weiß, weil es mir eine aufmunternde Stimme über die Schulter hinweg ins Ohr flüstert, während ich darauf warte, das Wort zu ergreifen. Ich werde rot, als die Frau zu meiner Rechten zu einer ziemlich dick aufgetragenen, reichlich ausgeschmückten Lobrede ansetzt. Sie führt sämtliche Auszeichnungen meiner kurzen, aber ansehnlichen Karriere als Filmemacherin an, und ich frage mich unwillkürlich, ob ich die Erwartungen der verzückten Zuschauerinnen und Zuschauer erfülle. Normalerweise bin ich diejenige, die in den Unterlagen mit den wohldurchdachten Fragen blättert, die auf ihrem Schoß liegen.

»Ms Chambers, es ist uns eine Ehre, Sie heute hier begrüßen zu dürfen. Wirklich. Eine große Ehre.«

Ich ziehe das Mikrofon näher heran. »Ich freue mich, hier zu sein.« Die Rückkoppelung hallt durch das Auditorium, und ich schiebe den Ständer eilig ein paar Zentimeter nach hinten. Ich fühle mich töricht. »Danke für die Einladung.«

»Die Studentinnen und Studenten der London Film School haben Ihre Dokumentation Missing im letzten Semester als Seminarfilm analysiert. Es war ein sehr sensibles Thema, immerhin geht es um ein entführtes Mädchen und dessen traumatisierte Familie. Können Sie uns mehr darüber erzählen, wie Sie auf Ihre Geschichten stoßen und wie Sie an die Angehörigen der Opfer herantreten?«

Ich sammle mich, dann rücke ich das Mikrofon noch einmal im optimalen Abstand zurecht. »Wenn man es mit Verbrechen dieser Art zu tun hat, muss man immer die Befindlichkeiten der beteiligten Personen im Auge behalten. Sie haben sich nicht freiwillig dazu entschieden, zu Opfern zu werden – es ist ihnen einfach passiert. Ich würde keinen Film machen, an dem die Familien nicht teilhaben wollen oder mir vielleicht nicht einmal ihre Erlaubnis geben. Ihre Hoffnungen wurden im Laufe der Zeit bereits unzählige Male zunichtegemacht, und wir wollen ihren Schmerz auf keinen Fall noch schlimmer machen. Allerdings hilft es manchmal, die öffentliche Aufmerksamkeit auf derart grauenhafte Verbrechen zu lenken, um Frieden zu finden. Im Falle von Missing und Molly-Anns Eltern stießen wir am Ende auf die Leiche der Kleinen, und die beiden hatten endlich Gewissheit, was ihnen die Trauerarbeit erleichterte. Außerdem können Dokumentationen – wie in diesem Fall – dazu beitragen, gefährliche Kriminelle dingfest zu machen, und sie davon abhalten, noch weiteren Schmerz zu verursachen. Schmerz, den ein Gewaltverbrechen stets mit sich bringt. Wobei es unerlässlich ist, gleichzeitig auch das große Ganze zu betrachten und das System infrage zu stellen, von dem wir annehmen, dass es uns beschützt, wenn das Schlimmste über uns hereinbricht. Ich versuche also, eine persönliche Geschichte zu erzählen, aber gleichzeitig das Gesamtbild nicht aus den Augen zu verlieren. Ich beleuchte unser Rechtssystem und die Gesellschaft, in der wir leben. Ich will den Blick von innen und von außen. Von der Polizeistation genauso wie vom Küchentisch. Ich will da und dort nach der Wahrheit suchen, um irgendwann Antworten zu finden.«

Langsam stellt sich das Gefühl ein, ich hätte bereits zu viel gesagt, und ich verstumme. Ich könnte tagelang über diese Dinge reden.

Die Frau lächelt bekräftigend, und ich sehe, wie ihr Blick suchend über ihre vorbereiteten Fragen huscht. »Ihr Film Missing, der es – wie ich erwähnen muss – auf die Shortlist für den Grierson Award geschafft hat, wozu wir Ihnen herzlich gratulieren wollen …«

Applaus brandet auf, und meine Gesprächspartnerin hält inne, um ihm Zeit und Raum zu geben. Ich halte ihrem Blick stand und widerstehe dem Drang, den Kopf zu senken, um dem Kompliment auszuweichen. »Danke«, sage ich, als das begeisterte Klatschen langsam verklingt.

»Der Film hat dazu geführt«, beginnt sie anschließend noch einmal von vorne, »dass neue Beweise ans Tageslicht kamen und der wahre Täter hinter Gitter wanderte. Wie fühlt es sich an, wenn man als Investigativjournalistin aktiv an einer solchen Entwicklung beteiligt ist?«

»Die Entstehung des Films zog sich über mehrere Jahre, aber mein Interesse wurde ursprünglich von einem Artikel über Molly-Anns Stiefvater geweckt. Er saß damals bereits seit zehn Jahren im Gefängnis und behauptete immer noch steif und fest, das Verbrechen nicht begangen zu haben. Die Indizien belasteten ihn schwer, aber man hatte nie eine Leiche gefunden. Zum Zeitpunkt des Artikels gab es zwar neue Hinweise, aber die Staatsanwaltschaft weigerte sich, den Fall noch einmal aufzurollen. Wir verbrachten mehrere Monate damit, uns in die Geschichte zu vertiefen, und entdeckten einige Spuren, denen nicht nachgegangen worden war und bei denen sich eine genauere Betrachtung unserer Meinung nach lohnte. Wir nahmen mit der Familie und mit dem Anwalt des Stiefvaters Kontakt auf und erhielten Zugang zu sämtlichen Unterlagen. Wir hatten damals noch keine Ahnung, dass uns unsere Nachforschungen auf die Spur von Max Barber führen würden, einem Bauarbeiter, der ein Jahr vor Molly-Anns Verschwinden auf dem Grundstück der Familie gearbeitet hatte.«

»Und der mittlerweile für den Mord an Molly-Ann verurteilt wurde«, bemerkt die Frau wissend.

»Wir traten in Kontakt mit Zeugen, die endlich bereit waren, ihre Version der Geschichte zu erzählen, was oft der Fall ist, wenn ein Geheimnis nach Jahren scheinbar an Gewicht verliert. Unsere Erkenntnisse führten schließlich dazu, dass die Polizei sich endlich bereit erklärte, den Fall neu aufzurollen.«

»Und wir wissen alle, was dann passiert ist …« Sie lehnt sich nach vorne. »Molly-Ann wurde gefunden.«

Mein Lächeln verblasst, als ich daran zurückdenke. »Ja, nun ja.« Ich senke den Blick auf meine Hände. Die Erinnerung an Molly-Anns weinende Mutter und den Schmerz in ihren Augen, als sie in die Kamera blickte, raubt mir den Atem. »Ja. Und da auch DNA-Proben sichergestellt werden konnten, gelang es, Max Barber als ihren Mörder zu überführen.«

»Was für ein unglaublicher Moment! Dank Ihnen ist ein Unschuldiger wieder frei, und ein Mörder wurde aus dem Verkehr gezogen. Wie fühlt sich das an?«

»Überwältigend, um ehrlich zu sein. Wir wollten im Prinzip einen Film darüber machen, dass es in diesem Land trotz engmaschiger, vielfältiger Kontrollen immer noch zu Justizirrtümern kommen kann. Es war eine unerwartete, aber sehr befriedigende Begleiterscheinung meiner Arbeit.«

»Und ich muss sagen, Sie erzählen die Geschichte unglaublich gut.« Zustimmendes Murmeln aus dem Publikum. »Ich habe als Zuschauerin schon lange kein so breites Spektrum an Emotionen mehr erlebt.«

»Wir hatten sehr viel Material, das wir verwenden konnten, und das war uns eine große Hilfe. Aufgezeichnete Telefonanrufe, psychiatrische Gutachten, polizeiliche Befragungen. Der Umstand, dass es in Großbritannien nicht erlaubt ist, in einem Gerichtssaal zu filmen, war eine Herausforderung, aber wir hatten Glück …«

»Die plötzliche Wendung …«

Ich nicke zustimmend und lächle schief. »Manchmal ist die Wahrheit unglaublicher als das, was man sich ausdenkt!«

Das Publikum lacht.

»Was löst in Ihnen den Wunsch aus, solche Geschichten zu erzählen? Sie wirken wie ein Hund mit seinem Knochen, sobald Sie einmal losgelegt haben.«

Ich zögere und lasse den Blick über die Studentinnen und Studenten schweifen. Gerade, als ich den Mund öffne, um zu antworten, erhebt sich eine Gestalt. Ich glaube, sie zu kennen, und mein Magen zieht sich zusammen. Erinnerungen steigen hoch und vertreiben sämtliche Gedanken. Ich schließe die Augen und dränge die Dunkelheit zurück. Als ich sie wieder öffne, wird mir klar, dass es bloß ein harmloser Student ist, der ein Foto machen möchte.

Ich umklammere das Mikrofon ein wenig fester. »Es ist mir einfach unglaublich wichtig, die Wahrheit ans Licht zu bringen. Und Geschichten zu erzählen.« Meine Gesprächspartnerin sieht mich an, als wüsste sie, dass da noch mehr ist. Aber ich spitze die Lippen, neige den Kopf und schenke ihr ein freundliches Lächeln, während ich geduldig auf die nächste Frage warte, und sie fährt mit ihrer Liste fort.

Kapitel 2

Ich mache mich auf den Rückweg ins Büro und springe mit einem großen Satz vom Bahnsteig in den Zug. Ich bin flott unterwegs wie immer. Meine Begleiter bitten mich oft, langsamer zu machen, weil sie nicht mithalten können. Das Interview hat mir einiges abverlangt, und es ist, als würden mich meine widerstreitenden Gefühle immer noch verfolgen und der Widerhall des Ungesagten in meine Ohren dringen. Ich weiß, dass es nur einen Weg gibt, dem Unwohlsein zu entkommen, und zwar Arbeit. Sobald ich angekommen bin, lasse ich mich auf meinen Stuhl fallen, mache den Laptop an und setze die Kopfhörer auf. Ich bin fest entschlossen, das geschäftige Treiben im Büro zu ignorieren und mich stattdessen auf das Treatment meines hoffentlich nächsten Films zu konzentrieren. Meine Schultern entspannen sich langsam, während ich mich in Anrufen, Gerichtsprotokollen, Body-Cam-Mitschnitten und Zeitungsartikeln verliere.

Ich bin völlig versunken, und als ich das nächste Mal aus dem Fenster blicke, senkt sich bereits der Abend über die Dächer von Soho. Ein Durcheinander aus Antennen und Schornsteinen ragt in den silbergrauen Himmel. Im Büro gehen Schreibtischlampen aus, und Taschen werden vom Boden gehoben, während die letzten eiligen Gespräche des Tages ein Ende finden. Ich sehe von meiner Insel aus zu und überlege, wohin die anderen jetzt wohl gehen und wer zu Hause auf sie wartet.

Ich höre, wie Cleo, meine Produktionsassistentin, aufsteht und sich streckt. Das Klicken, als der Verschluss ihrer Bauchtasche einrastet. Ich sehe ihre schlanke Silhouette im Augenwinkel, bevor sie die Stimme erhebt. »Cass?« Ich höre auf zu tippen, und meine Finger schweben über der Tastatur, als ich den Kopf drehe. »Ein paar von uns gehen noch auf einen Drink ins Ship, kommst du mit?«, fragt sie und lehnt sich an die Ecke meines Schreibtischs, während ich den Kopf schüttle. »Komm schon, das wird lustig. Es ist der perfekte Sommerabend, um sich mit einem Bier in der Hand auf dem Bürgersteig zu drängen. Das hast du dir verdient, Cass.«

Ich deute auf das geöffnete Dokument auf meinem Bildschirm. Langsam sieht es aus, als könnte daraus irgendwann ein Pitch entstehen. »Ich will das hier noch vor dem Meeting morgen früh an Raef schicken. Vielleicht gibt er uns das Go. Geht ihr nur und amüsiert euch.«

Sie wirft mir einen ihrer Blicke zu. »Cass, du arbeitest zu viel.« Als sie mein steifes, entschlossenes Lächeln sieht, lässt sie es gut sein. »Okay. Soll ich bleiben und helfen?«

Ich schüttle den Kopf. Sie hat bereits die Hand auf die Lehne ihres Drehsessels gelegt. Bereit, sich wieder darauf niederzulassen. »Nein, geh. Die Telefonanrufe, die du übernommen hast, waren eine große Hilfe. Mach dir einen schönen Abend.«

Sie nickt zufrieden. Sie ist genau, wie ich an diesem Punkt meiner Karriere war: hungrig, ambitioniert. Versessen auf jede Art von Lob. Sie setzt sich in Bewegung und ruft mir über die Schulter hinweg zu: »Aber mach nicht zu lange!« Ich beobachte, wie sie sich vor der Glastür mit dem schwarzen Gitterrahmen zu Mo gesellt, einem Produktionsredakteur, mit dem sie seit Kurzem viel Zeit verbringt. Sie grinsen sich an und beginnen eine Unterhaltung. Cleos helles, klingendes Lachen zaubert mir ein Lächeln aufs Gesicht. Ich freue mich für sie. In unserem Job machen wir viel zu viele Überstunden und sind oft wochenlang unterwegs. Außerdem wird erwartet, dass wir von einem Augenblick auf den anderen alles stehen und liegen lassen und im nächsten Moment in einem Zug sitzen. Es bleibt nicht genug Zeit fürs Privatleben, und ich habe es mittlerweile ganz aufgegeben. Immerhin habe ich meine Zwanziger mit der Suche nach einer guten Geschichte verschwendet. Aber war es wirklich eine Verschwendung? Ich bezweifle, dass ich mich ohne diesen Entschluss in meiner derzeitigen Position befinden würde – kaum dreißig und mit einer Nominierung für den Grierson Award in der Tasche. Ich bin nur ein paar Jahre älter als Cleo. Sie behandeln mich hier wie eine andere Spezies. Sie verstehen nicht, wie ich es geschafft habe. Als hätte ich irgendwo gemogelt. Dabei muss man bloß bereit sein, Dinge zu opfern. Man muss sich entscheiden. Und das habe ich getan.

Ein paar Stunden sind vergangen, und ich unterdrücke ein Gähnen. Mein gebeugter Rücken ist verspannt und schmerzt, ich strecke die Arme nach hinten, sodass sich die Hände berühren, und neige den Kopf von einer Seite zur anderen. Dann lehne ich mich wieder näher an den Bildschirm heran und überprüfe noch einmal die E-Mail. Alle wichtigen Informationen müssen sofort ersichtlich sein, denn Raef überfliegt seine Korrespondenz bloß, wenn er in Eile ist. Ich kaue nervös auf der Unterlippe, füge das Dokument an und schicke alles ab. Hoffentlich ist er zufrieden. Songbird Productions ist eine relativ junge Produktionsgesellschaft, und obwohl Raef der Gründer und Besitzer ist, kümmert er sich immer noch persönlich um alle neuen Projekte.

Am Ende schließe ich erleichtert meinen Laptop und verstaue ihn in meiner Tasche.

»Hallo, wie geht’s?«, frage ich die Reinigungskraft, die gerade die Mülleimer leert.

»Sie sind ja wirklich rund um die Uhr hier«, neckt sie mich. »Und immer alleine!«

Ich lache. »Meine Kollegen sind nun mal Faulpelze.«

Sie lächelt, aber ich glaube, einen Hauch Mitleid in ihren Augen zu sehen. Aus einem der Besprechungszimmer dringt das Brummen eines Staubsaugers. Ich bin gerne die Letzte, die das Büro verlässt. Es gibt mir das Gefühl, dass ich jede Minute des Tages produktiv genutzt habe. Als hätte ich das Letzte aus ihm herausgepresst.

Ich durchquere das Großraumbüro und überlege, was ich zu Abend essen werde. Mal wieder Take-away oder vielleicht eine Fertigsuppe? Ich muss noch Futter für Herzog, meine Katze, besorgen.

Das Telefon am Empfang klingelt, doch es ist niemand mehr da. Es schrillt laut durch das leere Foyer. Ich achte nicht weiter darauf und mache mich auf den Weg zu den Aufzügen. Das Klingeln verstummt, als ich am Empfang vorbeikomme, beginnt aber in der nächsten Sekunde von Neuem. Ich halte inne und starre auf das Telefon, dann wandert mein Blick zu den Aufzügen.

Schließlich kehre ich seufzend um, lehne mich über den Empfangstresen, strecke die Hand aus und greife nach dem Hörer. Ich arbeite seit seiner Gründung für dieses Unternehmen, und es ist, als gehörte es zum Teil auch mir. Als ich vor über zehn Jahren meinen ersten Job im Fernsehen bekam, jobbte ich am Empfang eines großen Unternehmens, in dem Raef als Kreativdirektor tätig war. Ich arbeitete mich in der Hackordnung nach oben, wir wurden Freunde, und er nahm mich mit, als er seine eigene Firma gründete.

»Songbird Productions.« Ich greife nach einem der Blöcke mit dem Firmenlogo und nach einem Bleistift, um mir Notizen zu machen.

»Könnte ich bitte mit Cassidy Chambers sprechen?« Ich blinzle, als ich meinen Namen höre. Die Stimme des Mannes klingt kehlig. Er spricht genau im richtigen Tempo.

»Wer ist da?«, frage ich gespannt. Ich telefoniere häufig zu Recherchezwecken für die unterschiedlichsten Projekte, die ich gerade verfolge, und hoffe immer, den entscheidenden Durchbruch zu schaffen, um meinen nächsten Film in die Wege leiten zu können.

»Ich heiße Luke Speed. Ich … ich …« Er bricht ab und ist sich offenbar nicht sicher, wie er es erklären soll. Aber das muss er gar nicht.

»Ich weiß, wer Sie sind«, erkläre ich, und meine Stimmlage ist vor Überraschung um einiges höher als sonst.

»Sind Sie Cassidy?« Er klingt, als hätte er jahrelang nach mir gesucht.

»Ja, ich bin Cassidy.« Ich lasse meine Tasche zu Boden fallen und ziehe die Hörerschnur über den Tresen, damit ich herumtreten und mich auf den Schreibtischstuhl setzen kann. »Was kann ich für Sie tun, Luke?«

»Ich hatte gestern Abend endlich die Gelegenheit, mir Ihren Film Missing anzusehen. Er … er hat einiges an die Oberfläche geholt.«

Ich durchstöbere mein geistiges Archiv der vermissten Personen, das ich mir angelegt habe. Ich habe mich auf der Suche nach einem neuen Projekt mit über hundert Fällen beschäftigt. Ich kenne Lukes Geschichte. Ich war in der fünften Klasse, als die beiden Teenager während einer Rucksacktour durch Thailand verschwanden. Ich weiß noch, wie sich meine Mum den Fernsehbericht durch einen Nebel aus Zigarettenrauch hindurch angesehen hat. Sie waren wochenlang auf sämtlichen Titelblättern. Es war einer der größten Vermisstenfälle der Nullerjahre, und er wurde nie aufgeklärt.

Die Geschichte steht auf der Liste der Projekte, die eine tiefere Recherche verdienen, aber ich wurde von etwas anderem abgelenkt und hatte bisher keine Zeit dafür. Sie hat alles, was es für eine erfolgreiche True-Crime-Doku braucht: eine Liebesgeschichte, einen Verdächtigen, eine junge Frau, deren Tod immer noch nicht eindeutig bewiesen ist. Die Frage, ob er es nun war oder nicht. Die Nostalgie des Verbrechens. Die damals neu in die Kinos gekommene Verfilmung von The Beach mit Leonardo DiCaprio hatte Tausende Rucksacktouristen in diese Region gelockt, und als die Geschichte publik wurde, waren alle Blicke auf den asiatischen Kontinent gerichtet. Eine ganze Nation trauerte um das gut aussehende Paar. Doch dann wurde Luke gefunden und entwickelte sich zum Hauptverdächtigen. Am Ende verfiel er den harten Drogen und tauchte in die Unterwelt ab. War er ein weiteres Opfer? Oder ist er schuldig?

Spannende Frage.

Warum ruft er ausgerechnet mich an?

»Ihr Film hat mich zum Nachdenken gebracht. Es ist jetzt zwanzig Jahre her, dass Mari verschwunden ist.« Er hält inne, und ich widerstehe dem Drang, etwas zu sagen. »Jeder hatte die Chance, die Geschichte zu erzählen, und es basierte alles auf Anschuldigungen und Vermutungen. Es wird Zeit, reinen Tisch zu machen. Es wird Zeit, meine Sicht der Ereignisse darzulegen.«

Ich stehe auf, denn ich habe plötzlich das Bedürfnis, mich zu bewegen. Das passiert mir sonst nie. »Luke. Lassen Sie mich eines klarstellen. Sie rufen an, weil Sie möchten, dass wir eine Doku darüber machen, was damals im Dschungel mit Ihnen und Mari passiert ist?«

»Ja«, lautet die knappe Antwort. »Niemand … niemand hat mir geglaubt … Sie glauben mir immer noch nicht.« Seine Stimme bricht.

»Luke«, erwidere ich sanft, »Sie haben eine Menge durchgemacht.«

»Ich habe es satt, mich zu verstecken.« Ich höre Wut. Frustration. »Ich habe es satt, dass die Leute glauben, mich aufgrund der spärlichen Informationen, die die Medien verbreitet haben, zu kennen. Ich habe mich selbst aus dem Sumpf gezogen, in den ich geraten bin, und jetzt muss ich die Kontrolle über mein Leben zurückgewinnen. Es ist meine Geschichte. Nicht ihre.« Seine Wut wird immer deutlicher, und ich bemerke überrascht, dass ich Mitgefühl empfinde. »Aber das kann ich nur, wenn ich die Vergangenheit noch einmal aufleben lasse. Mit meinen eigenen Worten.«

Ich räuspere mich. »Luke. Das wird eine riesige Story. Sie wird Ihnen einiges abverlangen. Alle werden sich auf Sie stürzen, das wissen Sie, oder?«

»Sollen sie ruhig. Ich kann mein Leben nicht fortführen, solange mich diese Geschichte verfolgt. Es braucht Veränderung, damit ich weiterziehen kann. Ich weiß nicht, was ich sonst tun soll. Ich stecke fest. Und ich … ich will sie finden. Mich von ihr verabschieden.« Die Verzweiflung in seiner Stimme dringt tief.

Ich bemerke, dass ich die Hand zur Faust geballt habe, und lockere meine Finger. »Ihnen muss klar sein, dass ich Sie nicht mit Samthandschuhen anfassen werde, bloß weil Sie zu mir gekommen sind, Luke. Ich werde Ihnen schmerzhafte Fragen stellen. Jeder wird ganz genau wissen wollen, was dort im Dschungel zwischen Ihnen und Mari passiert ist.«

»Ich will diese schmerzhaften Fragen«, erwidert er, und die Frustration über mein Zögern bricht beinahe aus ihm heraus. »Ich will, dass mich die Leute als Menschen sehen. Nicht als … Mörder.« Er hält inne. »Denn ich habe ihr nichts getan. Ich habe sie geliebt. Ich liebe sie noch immer.« Da ist so viel Zärtlichkeit in seiner Stimme, dass ich blinzle.

»Aber Sie wissen, dass es vielleicht anders kommen wird, nicht wahr? Dass Sie Ihre Geschichte erzählen und Ihnen trotzdem niemand glaubt.« Ich möchte von Anfang an ehrlich zu ihm sein, bevor sich die Sache in eine Lawine verwandelt. Ich will nicht, dass er am Ende angerannt kommt und mir erklärt, dass er sich der Konsequenzen nicht bewusst war.

»Ich will es, Cassidy. Ich weiß, dass Sie für Gerechtigkeit sorgen werden. Ich vertraue Ihnen meine Geschichte an.«

Stolz steigt in mir hoch, und ich hole tief Luft. »Okay, Luke. Dann machen wir es.« Ich notiere mir seine Nummer und verspreche, ihn anzurufen, sobald ich mit Raef gesprochen habe. Ich weiß schon jetzt, dass sich die Geschichte im Blitztempo verkaufen wird. Gelegenheiten wie diese, in denen ein immer noch Verdächtiger bereit ist, als Mittelpunkt eines Films zu dienen, sind selten. Die Streamingdienste werden sich darum prügeln, und viele traditionelle Sender ebenfalls.

Das hier ist der große Fisch, auf den ich gewartet habe. Und ich kann nicht ganz glauben, dass er mir einfach so in den Schoß gefallen ist. Luke Speed wird meine neue Obsession. Das ist mir jetzt schon klar.

Kapitel 3

Raef ist schrecklich hibbelig. Er macht diese nervtötende Sache mit seinem Bein, wenn er unter Strom steht. Wippt unaufhörlich und unbewusst damit auf und ab, während er hektisch an seiner E-Zigarette zieht. Seit ich ihn vor ein paar Tagen abends aufgeregt und völlig euphorisch angerufen habe, redet er nur noch davon, wie sich das Projekt am besten umsetzen lässt. Wem er es pitchen wird. Wie es stilmäßig aussehen soll. Die Reichweite. Die Auszeichnungen. Ich bekomme Tag und Nacht zusammenhanglose Sprachnachrichten mit seinen Gedanken zu Dingen, für die es in diesem Stadium noch viel zu früh ist.

Luke soll heute zu uns ins Büro kommen, und ich erkenne an der Angst, die aus sämtlichen seiner Poren strömt, dass Raef unglaublich nervös ist. Er befürchtet, dass Luke nicht das ist, worauf er hofft, nämlich ein starker Charakter, der alleine einen ganzen Film trägt. Dieses Treffen wird diese Angst hoffentlich ausräumen. Ich selbst bin nicht besorgt. Im Laufe der letzten Tage habe ich mehrere Stunden lang mit Luke telefoniert. Er ist äußerst sympathisch und kann sich brillant artikulieren. Ich weiß, dass das auch auf dem Bildschirm so rüberkommen wird. Diesbezüglich habe ich einen guten Instinkt.

Vor unserem heutigen Treffen habe ich den Cold Case als Treatment aufbereitet und basierend auf meinen bisherigen Telefonaten mit Luke sowie auf Artikeln und Interviews aus den letzten beiden Jahrzehnten einen möglichen Handlungsablauf, wichtige Schauplätze und Charaktere für den Film festgelegt. Das anstehende Gespräch ist eine der letzten Hürden. Danach will Raef den Ball ins Rollen bringen und die Serie zum Verkauf anbieten, um vorerst zumindest genug Geld für die Produktion zu bekommen.

Nachdem ich mich noch einmal in die Geschichte vertieft habe, finde ich sie noch fesselnder, als ich sie in Erinnerung hatte. Mari und Luke waren schon in der Schule ein Paar und hatten diese beide mit ausgezeichnetem Erfolg abgeschlossen. Sie waren Kapitäne ihrer jeweiligen Sportmannschaften, attraktiv, sexy und mustergültig. Das ganze Paket. Als sie verschwanden, saß die ganze Nation wie auf glühenden Kohlen. Mahnwachen wurden abgehalten. Der Erzbischof von Canterbury erwähnte sie in einer Predigt. Der Premierminister sprach im Parlament über ihr Schicksal. Menschen trugen violette Schleifen, die der Farbe ihrer Schuluniformen nachempfunden waren. Als Luke gefunden wurde, war die Freude groß – genauso wie die Trauer, nachdem man Mari offiziell für vermisst erklärt hatte und davon ausgegangen werden musste, dass sie tot war. Trauer, die sich allerdings in Wut verwandelte, als Lukes Geschichte ans Tageslicht kam.

Er war nicht mehr länger ein Opfer, sondern ein Täter.

Lukes befremdliche Behauptung, ein Wahnsinniger sei ihnen durch den Dschungel gefolgt, wurde von der thailändischen Polizei lediglich belächelt – und noch mehr von den britischen Medien. Er beschrieb einen Irren mit zerzausten Haaren und einem von Schlamm bedeckten Körper, der sie Tag und Nacht nicht aus den Augen gelassen hatte. Eine Zeichnung, die aufgrund seiner Beschreibung erstellt worden war, verbreitete sich im Internet, bevor der Begriff »viral gehen« überhaupt erfunden wurde.

2002 machte Luke, der nach Monaten im Dschungel vor Hunger und Durst halb wahnsinnig geworden war, während der polizeilichen Befragung äußerst wirre Angaben. Er behauptete, er sei eines Morgens in ihrem behelfsmäßigen Unterschlupf aufgewacht und Mari sei einfach fort gewesen. Puff.

Niemand glaubte ihm, dass Maris Mörder ein beängstigender Fremder war, der durch den Dschungel geisterte.

Dazu tauchten im Laufe der Zeit immer mehr Beweise auf, die ein vollkommen anderes Bild von Maris Freund zeichneten. Auf Überwachungsvideos war zu sehen, wie sie sich stritten, und Mitreisende berichteten davon, wie sich das Paar in die Haare geraten war. Wirklich gegen Luke sprach aber vor allem die Tatsache, dass die Polizei keinen einzigen Hinweis auf eine weitere Person im Dschungel fand. Der sagenumwobene Mann, von dem Luke berichtete, wurde als Hirngespinst abgetan. Doch die Suchmannschaften konnten Maris Leiche nicht finden. Und so blieb der Fall bis heute ungelöst.

Raef blättert in dem Treatment, das ich für ihn ausgedruckt habe. »Also gut. Ist es okay, wenn du die Führung übernimmst? Es muss unbedingt alles glattgehen.«

Ich nicke und versuche, mich nicht von seiner Nervosität anstecken zu lassen. »Klar. Mach dir keine Gedanken, Raef.« Ich werfe ihm einen schnellen Blick zu.

»Ich treffe mich heute Nachmittag mit Sangeet von Channel4 und Felix von Disney+«, erklärt er, als müsste er zusätzlich betonen, wie wichtig dieses erste Meeting ist. »Weitere Gespräche sind für morgen geplant. Es würde kein gutes Bild abgeben, wenn ich die Termine absagen muss.«

»Ich weiß, Raef«, erwidere ich seufzend. Ich habe ihn darauf hingewiesen, dass wir zuerst alles unter Dach und Fach bringen sollten, bevor er alle verrückt macht. Aber er kann nicht aus seiner Haut. Raef blüht unter Druck erst so richtig auf, und er scheint zu glauben, dass es anderen genauso geht. »Ich habe dir ja gesagt, dass Luke das packt. Da bin ich mir sicher.«

Er mustert mich eingehend, als würde er nach einer Schwachstelle suchen. »Ich hoffe bloß, er macht keinen Rückzieher, wenn wir ihm die Einverständniserklärung unter die Nase halten.« Zum Teil wird es in dem heutigen Treffen auch darum gehen, was das Projekt umfasst und welche negativen Auswirkungen es mit sich bringen kann. Danach muss Luke eine Erklärung unterzeichnen, in der er bestätigt, dass er alles verstanden hat und an dem Film mitwirken möchte.

»Machen wir einfach einen Schritt nach dem anderen«, erwidere ich ruhig. Raef nickt. Ich habe eine hervorragende Erfolgsbilanz, wenn es darum geht, erwünschte Ergebnisse zu erzielen.

Das Telefon auf dem Konferenztisch klingelt. Wir sehen einander an. Showtime. Raef nickt mir auffordernd zu, und ich beuge mich nach vorne und hebe ab.

»Luke Speed für Sie«, sagt die Empfangsdame.

Gott sei Dank, ich hatte schon Angst, dass er nicht kommt.

»Super. Schicken Sie ihn in Besprechungszimmer drei.« Ich ziehe meinen Pferdeschwanz fest und streiche mein Oberteil glatt, ehe ich mich zur Glaswand umdrehe.

Die Leute im Büro halten mit ihrer Arbeit inne, heben den Blick und scheinen wie gelähmt. Vor allem die Frauen, aber auch die Männer. Die Atmosphäre ändert sich schlagartig. Hälse werden gereckt, Köpfe gedreht, Lippen teilen sich. Als Luke schließlich um die Ecke tritt, verstehe ich es.

Er ist groß, mit breiter Brust und muskulösen Oberarmen. Die Glatze tut dem gemeißelten Gesicht nur gut. Er ist sanft gebräunt und wirkt, als käme er frisch geduscht aus dem Fitnessstudio. Er trägt ein makellos weißes T-Shirt, eine Khaki-Hose und weiße Converse, die Tasche hat er sich selbstbewusst über die Schulter geworfen. Sein Outfit wirkt mid-century und ist unglaublich gut kombiniert.

Er sieht mich durch die Glaswand und lächelt. Grübchen bilden sich auf seinen Wangen. Ich erwidere das Lächeln warmherzig, denn ich habe das Gefühl, ihn nach unseren langen Recherchetelefonaten, von denen manche mehrere Stunden dauerten, gut zu kennen. Allerdings habe ich mir dabei den Zwanzigjährigen von den Fotos vorgestellt. Nicht diesen Luke. Ich habe ihn mir absolut nicht so vorgestellt.

Ich öffne die Tür, und Raef springt auf und streckt ihm die Hand entgegen. »Luke, schön, Sie bei uns begrüßen zu dürfen. Danke, dass Sie gekommen sind.« Er deutet auf den Stuhl auf der anderen Seite des Tisches und greift nach dem Telefonhörer. »Tee? Kaffee?«

Luke zieht den Stuhl heraus und setzt sich. »Ein Glas Wasser wäre toll. Es ist echt heiß heute«, erklärt er und deutet aus dem Fenster und auf den strahlend blauen Himmel.

»Bringen Sie uns doch einen Kaffee, etwas von diesem Kräuterdings, das Cass so mag, und kaltes Wasser samt Gläsern in Raum drei«, bittet Raef den Laufburschen am anderen Ende der Leitung. »Danke.« Er legt auf und nimmt Luke gegenüber Platz. Er hat sein besonders charmantes Lächeln aufgesetzt, das Leuten vorbehalten ist, die er beeindrucken will.

»Also, Luke. Danke, dass Sie uns Ihr Vertrauen in dieser Angelegenheit schenken«, beginnt er und reibt sich die Hände.

Luke nickt und wirft mir einen Blick zu. »Das ist vor allem wegen Cassidy.« Ich spüre, wie ich rot werde. Dabei sieht mir das gar nicht ähnlich. Ich bemühe mich, ihn nicht anzusehen, damit er nichts bemerkt.

»Nun, sie arbeitet für uns, also passt das ganz gut«, erwidert Raef fröhlich und dreht den Stuhl in meine Richtung, was ich als Zeichen nehme, mich ebenfalls einzubringen.

»Ja. Danke, dass Sie hergekommen sind, Luke«, sage ich und sehe mit einem zuversichtlichen Lächeln zu ihm. »Wir würden heute gerne alle weiteren Schritte durchgehen, damit Ihnen klar ist, wozu Sie sich bereit erklären, bevor wir beginnen.«

»Das weiß ich zu schätzen, aber meine Entscheidung steht bereits fest«, erwidert er und lehnt sich selbstsicher und entspannt zurück.

Der Laufbursche platzt ins Zimmer, und die Tassen und Gläser schlagen klirrend aneinander, als er das Tablett auf dem Tisch abstellt. Wir warten, bis er gegangen ist, ehe wir fortfahren. Raef macht den jüngeren Kollegen Angst. Er ist der König der Fernsehdokumentation, und die unzähligen von der Kritik gefeierten Fernsehstunden, für die er verantwortlich ist, sind Respekt einflößend. Sein Blick fürs Detail im Überarbeitungsprozess sucht seinesgleichen. Er geht bis an die Grenzen und darüber hinaus, um sicherzustellen, dass keine Fragen unbeantwortet bleiben und das Beste aus dem Stoff herausgeholt wurde, bevor er auf den Bildschirm kommt. Seine Geschichten sind emotional, aktuell und beschäftigen sich oft mit nationalen Begebenheiten, die in sämtlichen Kaffeeküchen des Landes diskutiert werden. Ich bezweifle, dass ich ohne seine führende Hand und seine Beziehungen, auf die ich ebenfalls bauen konnte, so schnell so großen Erfolg gehabt hätte.

Ich schenke Luke etwas Wasser ein und stelle das Glas vor ihm ab.

»Also, derzeit fragen wir das Interesse diverser Sender ab, pitchen das Projekt und legen dar, wie wir uns die Umsetzung vorstellen. Möglicherweise werden im Verlauf kleine Änderungen gewünscht, die wir aber in jedem Fall mit Ihnen absprechen werden. Vorerst sehen wir Ihre Rolle vor allem als Hauptinterviewpartner. Die Aufzeichnungen werden mehrere Tage dauern, vielleicht lassen wir sie auch eine Weile ruhen, während wir an dem Fall arbeiten, und kommen dann noch einmal auf bestimmte Aspekte zurück.« Luke nickt, während ich spreche. »Wir werden Sie unter anderem in Ihre Heimatstadt begleiten, um den Zuschauern zu zeigen, wo Mari und Sie aufgewachsen sind. Nachdem es kaum Archivaufnahmen und keinerlei Filmmaterial von Ihrer Reise gibt, sondern lediglich unscharfe, zwanzig Jahre alte Fotos, wird es vermutlich auch eine Art Rekonstruktion geben, um den Film mit Bildern auszuschmücken.«

Luke lehnt sich fragend nach vorne, und ich erkläre weiter: »Es soll eine Mischung aus Szenen aus den Interviews und einer Inszenierung der Ereignisse werden, die Sie darin beschreiben. Bilder, die Sie lediglich beim Sprechen zeigen, werden für das Publikum mit der Zeit langweilig. Wir brauchen zusätzliches Filmmaterial. Heutzutage filmen wir alles mit unseren Handys. In zwanzig Jahren werden retrospektive Dokumentationen mit Sicherheit eine Blütezeit erleben, da jeder unendlich viele Videos in seinem Archiv angesammelt hat.« Ich lächle bei dem Gedanken daran. »Aber in Ihrem Fall müssen wir dem Publikum einen inszenierten Einblick in das geben, was damals dort draußen passiert ist, um Ihre Geschichte erzählen zu können.«

Luke nickt. »Okay, ich verstehe.« Seine tiefblauen Augen blicken selbstsicher in meine. Als hätte er keine Angst, mir in die Augen zu sehen. Als hätte er nichts zu verbergen.

»Wir werden außerdem versuchen, Primär- und Sekundärquellen vors Mikrofon zu bekommen. Familienmitglieder. Alte Freunde. Touristen, die Sie während der Reise getroffen haben. Die Polizei. Mitarbeiter der beiden Botschaften.« Mir fällt auf, dass er jetzt einigermaßen besorgt die Stirn runzelt, und ich füge hinzu: »Wir brauchen ausgewogene Einblicke aus allen Perspektiven. Wir würden unseren Job nicht richtig machen, wenn wir darauf keinen Wert legen würden.«

Er rutscht auf seinem Stuhl hin und her. »Falls Sie jemanden dazu bringen können, mit Ihnen zu reden.« Er schüttelt traurig den Kopf.

Ich lehne mich über den Tisch. »Luke. Wir wollen Maris Familie nicht noch mehr Schmerz zufügen, aber genau das würde passieren, wenn wir die Geschichte nach so langer Zeit ohne ihre Erlaubnis wieder ausgraben. Das wäre nicht fair.« Ich werfe einen Blick auf Raef, und er nickt. »Wir machen den Film nur, wenn es für Maris Eltern – Elsie und Charles – in Ordnung ist. Sie müssen nicht unbedingt in den Film. Aber Raef und ich legen darauf sehr viel Wert.«

Luke blickt düster auf seine Hände hinunter. »Ja. Das verstehe ich. Sie haben schon genug durchgemacht.« Er überlegt einen Augenblick lang, ehe er weiterspricht. »Ich hoffe, die beiden verstehen, dass ich Antworten haben will. Deshalb bin ich hier. Ich will endlich herausfinden, was mit Mari passiert ist. Niemand von uns konnte mit seinem Leben weitermachen, das verstehen Sie sicher.« Der Satz endet in einem Flüstern.

Tränen steigen ihm in die Augen, doch er blinzelt sie eilig fort. Ein ungewöhnlicher Beschützerinstinkt regt sich in mir. Es geht um seine Zukunft. Ich spüre das Gewicht der Verantwortung auf mir. »Genau das werden wir versuchen, Luke. Wir werden versuchen herauszufinden, was mit Mari passiert ist.«

Ein sanftes Lächeln umspielt seine Lippen. »Ich weiß, dass Sie das tun werden, Cassidy.«

Kapitel 4

Ich begleite Luke zu den Aufzügen und winke ihm ein letztes Mal zu. Als sich die Türen schließen, lehnt er an der verspiegelten Rückwand, die Hände in den Hosentaschen und ein schiefes Lächeln auf den Lippen. Ich sehe zu, wie die Ziffern auf der Digitalanzeige nach unten zählen, bis er im Erdgeschoss angekommen ist. Dann schlinge ich die Arme um meinen Oberkörper, drücke mich selbst und mache mich – ausnahmsweise langsam – auf den Rückweg ins Besprechungszimmer. Cleo fängt meinen Blick auf. Sie reckt den Daumen nach oben und dann nach unten und sieht mich fragend an, und ich antworte mit einem »Daumen hoch«. Sie grinst. Ich schließe leise die Glastür, ehe ich mich an Raef wende.

Er steht vor dem Fenster und sieht zu, wie sanfter Nebel ins schimmernde Blau des Himmels steigt. »Wunderbar, Cass. Wirklich sehr gut«, meint er und nimmt einen Zug von seiner E-Zigarette. Der Rauch windet sich um ihn herum nach oben, als er sich zu mir umdreht. »Glaubst du, dass er sie umgebracht hat?«

Ich blinzle. Das ist eine sehr direkte Frage. »Ich habe keine Ahnung, Raef.« Ich setze mich auf einen der mit Leder überzogenen Stühle, lehne mich über den Tisch und stütze das Kinn auf der Handfläche ab. »Aber es wäre doch seltsam, wenn er zu uns käme, um einen Film darüber zu machen, wenn er es getan hätte, oder nicht?«

Er lässt sich mir gegenüber nieder und klopft mit dem Stift auf sein Moleskin-Notizbuch. »Machen Psychopathen nicht genau das? Sich unverschämt ins Rampenlicht drängen?«

Ich nicke. »Ja, schon. Aber diesen Eindruck hatte ich bei ihm nicht. Du etwa?«

Er blickt nachdenklich an die Decke. Dann schüttelt er den Kopf. »Nein. Aber es könnte nur Show gewesen sein. Eine geschickte Manipulation. Nicht wahr?«

Ich seufze. »Ja. Das sollten wir im Auge behalten.«

»Das wäre ebenfalls ein interessanter Film«, murmelt er. »Eine Charakterstudie.« Ich beobachte, wie er den Gedanken weiterspinnt, und bin irritiert, wie schnell Raef Luke abgestempelt hat. Luke hat etwas an sich. Etwas Jungenhaftes, Verletzliches, das sich hinter der Fassade verbirgt. Man spürt den verzweifelten Wunsch nach Bestätigung. Die zögerliche Hoffnung, die davon kommt, wenn man jahrelang Misstrauen und Abweisung erfahren hat. Es fühlt sich absolut nicht berechnend an.

Raef sinniert weiter. »Wir sollten einen Backgroundcheck machen. Herausfinden, ob es in den letzten zwanzig Jahren Dinge gab, von denen wir wissen sollten. Eine Untersuchung bis ins letzte Detail. Sollte er irgendwelche Leichen im Keller haben, müssen wir Bescheid wissen.« Ich werfe ihm einen vielsagenden Blick zu. Tolle Wortwahl.

»Natürlich.« Ich hebe meinen Block hoch und zeige ihm die Notiz, die ich vorhin gemacht und zweimal unterstrichen habe.

»Du denkst echt an alles, was?« Er lacht leise. »Das wird gut. Das spüre ich.« Schwungvoll erhebt er sich. »Okay, ich mache mich auf den Weg zu meinen Meetings und erkläre den Sendern mal, was wir haben und was wir uns vorstellen. Und du sprichst in der Zwischenzeit mit Maris Eltern?«

Ich nicke. Ich freue mich nicht gerade auf das Telefonat. Auf die Gefühle, die über mich hereinbrechen werden, sobald sie erkennen, warum ich anrufe. Alter Schmerz wird hochkochen. Aber hoffentlich ist es das am Ende wert, und sie bekommen Antworten. Ich kann mir nicht vorstellen, wie schrecklich es sein muss, zwanzig Jahre lang nicht zu wissen, was mit einem geliebten Menschen passiert ist.

Raef eilt aus dem Büro und achtet nicht weiter auf die Empfangsdame, die mit einem Notizblock in der Hand nach ihm ruft. »Schreiben Sie mir eine E-Mail!«, ruft er ihr über die Schulter hinweg zu und schiebt sich seine Ray-Ban auf die Nase, während seine perfekt abgetragene Umhängetasche aus Leder bei jedem Schritt auf und ab hüpft.

Ich kehre an meinen Schreibtisch zurück und betrachte stumm die Nummer von Maris Eltern, die ich einem Kontakt bei einer landesweiten Zeitung aus den Rippen leiern konnte. Ich löse das gelbe Post-it von der Ecke meines Bildschirms und starre auf die Ziffern. Es hat keinen Sinn, es noch länger hinauszuzögern.

Jemand kichert, und ich hebe den Blick. Cleo steht mit Mo in der kleinen Teeküche. Es ist offensichtlich, dass sie sich mögen. Breites Grinsen und leuchtende Augen auf beiden Seiten. Ihre Bewegungen lenken mich einen Moment lang ab. Wie er ihren Arm berührt, wenn er redet, und wie sie sich einige Zentimeter näher an ihn heran lehnt, um ihm zuzuhören. Eine unsichtbare Anziehung. Der Beginn eines Spiels, das die beiden spielen werden, bis sie – vermutlich nach ein paar Drinks im French House – den Mut aufbringen, sich zu küssen. Vielleicht haben sie es bereits getan. Irgendwann verpufft die rosafarbene Wolke der ersten Beziehungswochen und macht dem tröstlichen Alltag einer Langzeitpartnerschaft Platz. Ehe sie müde werden und genug voneinander erfahren haben – über sich selbst oder über die Art von Person, mit der sie zusammen sein sollten. Ehe sie weiterziehen, um den Tanz mit immer neuen Leuten fortzuführen, bis sie schließlich sesshaft werden.

Ich sehe lieber zu, als mich selbst an dem Spiel zu beteiligen. Teil einer Partnerschaft und der Geschichte einer anderen Person zu sein, macht mir Angst. Man kann den Verlauf nicht mehr kontrollieren, wenn man erst einmal selbst darin verwickelt ist. Man ist seinen Gefühlen und Reaktionen ausgeliefert. Ich dokumentiere lieber aus der Ferne. Das ist sicherer. Mo und Cleo bewegen sich gemeinsam auf etwas Neues zu. Das anfängliche Geplänkel, das Lachen, die Berührungen, das Suchen nach einer Verbindung. Es ist Chemie. Älter als die Zeit. Eines Tages wird Cleo traurig und mit tränennassen Wangen ins Büro kommen. Und ich muss sie trösten und versuchen, nicht zu wütend zu sein, weil sie sich nicht auf die Arbeit konzentrieren kann.

»Cass?« Ich drehe mich um. Der Laufbursche steht mit seinem Handy in der Hand vor mir. »Möchten Sie etwas zum Mittagessen, oder gehen Sie raus?« Sein Daumen schwebt über dem Display. Bereit, eine Notiz hinzuzufügen.

»Ich brauche nichts«, erkläre ich, greife in meine Tasche und lege eine Tupperdose auf den Tisch, was wohl Antwort genug ist. Er nickt und geht zum nächsten Senior-Mitarbeiter.

Ich nehme das Post-it, stecke mir die kabellosen Kopfhörer in die Ohren und mache mich auf den Weg zu dem langen Korridor außerhalb der Besprechungszimmer. Es hilft mir beim Denken, wenn ich während schwieriger Anrufe auf und ab gehe. Ich wähle und nehme einen beruhigenden Atemzug.

Es klingelt dreimal, dann hebt ein Mann ab. Der Stimme nach ist er bereits älter. »Drei-neun-null, fünf-sechs-neun-sieben«, sagt er. Meine Großmutter hat sich auch immer mit ihrer Telefonnummer gemeldet, und die Erinnerung daran lässt mich lächeln.

»Spreche ich mit Mr Castle?«

»Wer ist da bitte?« Er klingt erschöpft und müde, und ich habe ein schlechtes Gewissen, ihn zu belästigen. Mir bleiben nur wenige Sekunden, ehe er einem spontanen Entschluss folgend auflegen wird.

»Mein Name ist Cassidy Chambers, ich arbeite für eine Firma, die Fernsehsendungen …«

»Nein danke. Schönen Tag noch«, erwidert er eilig.

Ich gebe ihm keine Zeit, den Hörer aufzulegen, sondern schieße sofort den nächsten Satz nach. »Luke Speed möchte für eine Dokumentation interviewt werden.« Ich höre kein Piepen am anderen Ende. Bloß Stille.

»Luke«, krächzt Mr Castle schließlich. »Wie geht es ihm?« Ruhe macht sich in mir breit, als mir klar wird, dass er nicht wütend ist. Aber vor allem überrascht mich, dass das die erste Frage ist, die ihm einfällt.

»Er ist wohlauf, Mr Castle. Und er ist bereit, über das zu reden, was damals im Dschungel passiert ist.«

»Von wo rufen Sie noch mal an?«, will er wissen.

»Ich arbeite als Produzentin und Regisseurin für eine unabhängige Produktionsfirma namens Songbird Productions und habe vor Kurzem einen Film mit dem Titel Missing gemacht. Es ging um ein kleines Mädchen, das vor langer Zeit verschwunden ist. Während der Dreharbeiten sind wir auf neue Beweise gestoßen, und das hat dazu geführt, dass der wahre Täter hinter Gitter kam und ein unschuldiger Mann freigelassen wurde.« Ich halte kurz inne. »Ihre Leiche wurde gefunden.« Ich weiß, woran er jetzt denkt. »Luke will endlich seine Version der Geschichte erzählen, Mr Castle. Er möchte die Erinnerungen der Leute auffrischen und neue Ermittlungsansätze eröffnen. Vielleicht sogar eine weitere Suchaktion starten.«

Ich lasse ihn eine Weile nachdenken. Ich würde ihm jetzt gerne gegenübersitzen, dann könnte ich seine Reaktion besser einschätzen. Er hat auf jeden Fall noch nicht aufgelegt. Das ist ein gutes Zeichen.

»Wir haben schon länger keinen Anruf dieser Art mehr erhalten.«

»Mir ist klar, dass es schwer ist, alles noch einmal zu durchleben. Aber es ist doch ein großer Schritt in die richtige Richtung, finden Sie nicht?« Noch mehr Stille.

Dann fragt er: »Was wollen Sie von uns?«

»Gar nichts, Mr Castle. Ich wollte Sie nur darüber informieren, was gerade passiert. Es wurde noch kein offizieller Auftrag erteilt, aber die Chancen stehen gut. Aber wir wollen nicht weitermachen, ohne Ihnen Bescheid zu sagen und … ohne Ihre Einwilligung.«

Es folgt eine lange Pause.

»Ich verstehe. Ich muss mit Elsie sprechen. Es ist sehr schwierig für sie. Ich glaube nicht, dass wir in dem Film vorkommen möchten.«

Kleine Schritte, denke ich. »Das liegt ganz bei Ihnen und muss auch noch nicht jetzt entschieden werden. Wie gesagt, es gibt bislang keinen offiziellen Auftrag. Wir stehen noch ganz am Anfang und leisten gerade die Vorarbeit.«

»Und Luke will wirklich interviewt werden?«, fragt er ungläubig.

»Ja. Er meint, er kann sich erst auf sein Leben konzentrieren, wenn er zumindest den Versuch unternommen hat, die Geschichte abzuschließen. Was verständlich ist.«

»Ich mochte Luke. Sehr sogar«, murmelt er, und ich bin erneut überrascht von der Zuneigung in seiner Stimme. »Er war ein ausgezeichneter Schüler«, fügt er hinzu. Maris Vater war der Direktor der Privatschule, die die beiden besucht haben. »Wenn Luke seine Sicht der Dinge schildern möchte, werden wir ihm nicht im Weg stehen.« Erleichterung macht sich in mir breit, und ich kann es kaum erwarten, es Raef zu sagen. »Ich werde mit Elsie sprechen. Aber ich bezweifle, dass sie gefilmt werden will.«

»Das verstehe ich.« Es hat keinen Sinn, jetzt schon Druck auszuüben.

»Machen Sie mit Ihren Vorbereitungen weiter, und dann kommen Sie auf eine Tasse Tee vorbei, und wir reden«, bietet er freundlich an. Er scheint pragmatisch und ist mir sofort sympathisch.

»Ich danke Ihnen, Mr Castle. Ich möchte nur noch einmal betonen, dass ich diesen Film mit den besten Absichten mache. Es ist eine wichtige Geschichte, die erzählt werden sollte.«

»Jaja«, sagt er und geht nicht weiter darauf ein. »Rufen Sie an, wenn Sie mit der Produktion beginnen. Auf Wiederhören, Ms Chambers.« Er legt auf.

Ich blicke fassungslos auf mein Handy. Das lief sehr viel glatter, als ich erwartet hatte. Ich kehre an meinen Schreibtisch zurück und erlaube mir zur Feier des Tages ein kleines Lächeln, als ich meine Tupperbox öffne und das Sandwich in meinen Mund stopfe. Dann wende ich mich kauend an Melissa, unsere Produktionsleiterin, die für die Planung und die Logistik zuständig ist. »Mel, ich glaube, du kannst eine neue Kalkulationstabelle anlegen«, sage ich grinsend.