Herbstleuchten - Debbie Macomber - E-Book
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Herbstleuchten E-Book

Debbie Macomber

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Beschreibung

Hinter jeder Herbstwolke wartet ein hoffnungsvoller Silberstreif …

Jo Marie Rose hat ihr Glück endlich gefunden. Ihr kleines Rose Harbor Inn läuft sehr gut, und in Mark Taylor, der sie in Haus und Garten unterstützt, hat sie einen Freund gefunden, dem sie vertrauen kann. Doch sie spürt, dass Mark etwas vor ihr verheimlicht. Als er ihr eines Tages aus heiterem Himmel erzählt, dass er Cedar Cove verlassen wird, ist Jo Marie mehr als verwirrt. Gerade jetzt, als sie es endlich wieder geschafft hat, einem Mann ihr Herz zu öffnen, verliert sie ihn wieder. Als sie hinter Marks Geheimnis kommt, muss sie sich allerdings erstmal um zwei neue Gäste kümmern, die ihre ganz eigenen Antworten suchen …

Die Rose-Harbor-Reihe:
Band 1: Winterglück
Band 2: Frühlingsnächte
Band 3: Sommersterne
Band 4: Wolkenküsse (Short Story)
Band 5: Herbstleuchten
Band 6: Rosenstunden

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

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Seitenzahl: 443

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Buch:

Jo Marie Rose hat ihr Glück endlich gefunden. Ihr kleines Rose Harbor Inn läuft sehr gut, und in Mark Taylor, der sie in Haus und Garten unterstützt, hat sie einen Freund gefunden, dem sie vertrauen kann. Doch sie spürt, dass Mark etwas vor ihr verheimlicht. Als er ihr eines Tages aus heiterem Himmel erzählt, dass er Cedar Cove verlassen wird, ist Jo Marie mehr als verwirrt. Gerade jetzt, als sie es endlich wieder geschafft hat, einem Mann ihr Herz zu öffnen, verliert sie ihn wieder. Als sie hinter Marks Geheimnis kommt, muss sie sich allerdings erst mal um drei neue Gäste kümmern, die ihre ganz eigenen Antworten suchen …

Autorin:

Debbie Macomber ist mit einer Gesamtauflage von über 170 Millionen Büchern eine der erfolgreichsten Autorinnen überhaupt. Wenn sie nicht gerade schreibt, ist sie eine begeisterte Strickerin und verbringt mit Vorliebe viel Zeit mit ihren Enkelkindern. Sie lebt mit ihrem Mann in Port Orchard, Washington, und im Winter in Florida.

Von Debbie Macomber bei Blanvalet bereits erschienen:

Winterglück · Frühlingsnächte · Sommersterne

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DEBBIE MACOMBER

Herbstleuchten

Roman

Aus dem Amerikanischen von Nina Bader

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Die Originalausgabe erschien 2015

unter dem Titel »Silver Linings« bei Ballantine Books,

an imprint of The Random House Publishing Group,

a division or Random House, Inc., New York.

1. Auflage

Deutsche Erstausgabe September 2016 bei Blanvalet Verlag,

einem Unternehmen der

Verlagsgruppe Random House GmbH, München

Copyright © 2015 by Debbie Macomber

This translation published by arrangement

with Ballantine Books, an imprint of The Random House Publishing Group, a division of Random House, Inc.

Copyright © 2016 für die deutsche Ausgabe

by Blanvalet Verlag, in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: www.buerosued.de

Umschlagmotive: living4media/Roland Krieg und F. Strauss;

plainpicture/Johner/Hans Bjurling; www.buerosued.de

Redaktion: Ulrike Nikel

LH ∙ Herstellung: kw

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN: 978-3-641-18490-2V001

www.blanvalet.de

Liebe Freunde,

willkommen zurück in Rose Harbor! Jo Marie, die Besitzerin des Rose Harbor Inn, freut sich darauf, ihre nächsten Gäste zu begrüßen, und sie braucht dringend Ablenkung. Nichts entwickelt sich so, wie sie es wollte, aber gut, so ist das Leben nun mal, nicht wahr? Wir bekommen selten das, was wir wollen, doch fast immer das, was wir brauchen. Und Jo Marie hat gerade einiges im Kopf, was sie braucht und will – das meiste hat mit Mark Taylor zu tun …

Was ihre Gäste betrifft: Die Teenagerjahre haben mich schon immer fasziniert, vor allem die Angst davor, sich zum ersten Mal zu verlieben. Nachdem ich in letzter Zeit einige wunderbare Young-Adult-Romane gelesen habe, entwickelte sich in meinem Kopf eine Geschichte über eine junge Liebe.

Ihr werdet auf Coco und Katie treffen, die für ihr 10-jähriges Highschooljubiläum nach Cedar Cove zurückkehren. Beide haben einen bestimmten Grund, warum sie daran teilnehmen möchten. Auf dem Programm: etwas wiedergutzumachen und die Wunden zu schließen, die die erste Liebe verursacht hat. Und natürlich werden sie im Rose-Harbor-Inn wohnen.

Ich hoffe sehr, dass euch auch der nächste Band der Rose-Harbor-Inn-Serie gefallen wird und dass auch ihr an eure Schulzeit erinnert werdet, als alle Gefühle noch so neu und tiefgehend waren.

Ich freue mich immer, von meinen Leserinnen zu hören. Ich lese jeden Brief und jeden Post selbst und möchte mich für jeden Kommentar bedanken. Was ihr über die Jahre geschrieben habt, hatte wirklich Einfluss auf meine Karriere.

Ihr erreicht mich über meine Website DebbieMacomber.com oder über Facebook. Und wenn euch danach ist, könnt ihr mir auch einen Brief schreiben und ihn an P. O. Box 1458, Port Orchard, WA 98366 schicken.

Vielen Dank für eure Unterstützung und euren Zuspruch.

Herzlichst,

Debbie Macomber

Für Rick Hamlin,

einen treuen Freund,

begabten Schriftsteller und Sänger,

einen rundum prima Kerl mit großem Herzen.

Herzlichen Glückwunsch zum sechzigsten

Geburtstag!

1

Das erste Jahr meines Witwendaseins war bei Weitem das schwerste gewesen. Als ich die Nachricht erhielt, dass mein Mann bei einem Hubschrauberabsturz in Afghanistan ums Leben gekommen sei, kam es mir vor, als wäre eine Atombombe in meinem Kopf explodiert. Mein ganzes Leben, mein Körper, mein Herz fühlten sich an wie im freien Fall befindlich.

Wochenlang war ich vor Schmerz über diesen Verlust wie von Sinnen, stolperte von einem Tag zum nächsten. Es erschien mir so schrecklich falsch, dass die Welt um mich herum sich einfach weiterdrehte, obgleich sie für mich komplett zum Stillstand gekommen war.

Da mir nichts anderes übrig blieb, kämpfte ich darum, meiner neuen Realität einen Sinn und Zweck zu verleihen. Irgendeinen. Nur wenige Monate nachdem ich von Pauls Tod erfahren hatte, stieg ich gegen den Rat meiner Familie, Freunde und Kollegen aus meinem alten Leben aus, kündigte meinen Job bei einer großen Bank und erwarb ein Bed & Breakfast. Und ich verließ Seattle und zog nach Cedar Cove, einer kleinen Stadt auf der Kitsap-Halbinsel im Puget Sound, einer fjordähnlichen Bucht, die von der Pazifikküste des Bundestaats Washington etwa hundert Meilen weit ins Land reicht.

In der ersten Nacht, die ich als neue Eigentümerin in der Pension verbrachte, spürte ich Pauls Gegenwart so stark und deutlich, als säße er neben mir und spräche mit mir. Er sagte, dieses Haus werde meine Wunden heilen und nicht allein meine, sondern die aller Gäste, die hierherkommen würden. Dieses Versprechen meines Mannes bewog mich dazu, mein Bed & Breakfast »Rose Harbor Inn« zu nennen. Rose nach Paul Rose und Harbor, weil es, wie ich Pauls tröstlicher Versicherung entnommen hatte, eine Art Zuflucht, ein schützender Hafen werden würde.

Im Laufe der letzten achtzehn Monate hatte ich feststellen können, wie sehr sich Pauls Prophezeiung bewahrheitete. Sowohl was mich selbst als auch meine Gäste betraf. Und so begann ich langsam, Tag für Tag, mir ein neues Leben aufzubauen. Eines ohne Paul.

Erst vor Kurzem war ich in der Lage gewesen, den letzten Brief meines Mannes zum ersten Mal zu lesen. Einen Liebesbrief, vorsorglich für den Fall geschrieben, dass er nicht zu mir zurückkehrte. Es hatte lange gedauert, bis ich den Mut und die Kraft aufbrachte, ihn zu öffnen – und damit zu akzeptieren, dass er wirklich tot war. Eine Tatsache, mit der ich mich lange nicht abfinden konnte und wollte. Wie erwartet, stand in dem Brief, dass er mich liebte und dass er immer bei mir sein würde. Und er bat mich, auch für ihn zu leben.

Ich nahm mir Pauls Worte zu Herzen und versuchte es.

Zwar ohne ihn, aber doch für ihn, und ich schaffte es. Die Pension füllte mich mehr und mehr aus und wurde zum Mittelpunkt meines neuen Selbst. Jeder Tag bot die Möglichkeit, etwas dazuzulernen, mich persönlich und beruflich weiterzuentwickeln. Vor allem verbesserten sich meine Kochkünste beträchtlich, denn schließlich sollte es meinen Gästen ja schmecken. Neben einem ausgiebigen Frühstück hielt ich immer einen kleinen Imbiss bereit, falls jemand zum Essen nicht rausgehen wollte.

Außerdem fand ich Freunde in der Gemeinde. Und Rover kam zu mir. Ein Hund aus dem Tierheim, der mich gewissermaßen adoptierte, anders kann man es nicht bezeichnen. Seinen Namen »Streuner« verdankte er dem Umstand, dass er, als er gefunden wurde, so aussah, als wäre er eine ganze Weile allein herumgestromert.

Eigentlich hatte ich einen anderen, einen kleineren Hund gesucht, aber inzwischen war Rover aus meinem Leben nicht mehr wegzudenken. Mein ständiger Gefährte, mein Trost und mein Wächter, der in geradezu unheimlicher Weise meine Stimmungen erfasste und darauf reagierte.

Manchmal kam es mir vor, als hätte Paul ihn mir geschickt.

Und dann war da Mark Taylor. Mein unersetzlicher Handwerker für alle Fälle. Ein Allroundtalent und mein bester Freund. Allerdings konnte er reizbar, herrisch und ein fürchterlicher Geheimniskrämer sein und mich schneller in Wut versetzen als irgendjemand sonst. Eigentlich hielt ich mich für einen ziemlich ausgeglichenen Menschen, der nicht so leicht die Beherrschung verlor. Nicht so bei Mark. Ein paar Worte von ihm reichten, um mich zur Weißglut zu bringen.

Manchmal verstand ich ihn wirklich nicht.

Was im letzten Frühling passierte, veranschaulicht sehr gut, was ich meine. Ich balancierte gerade auf einer Leiter, um meine Fenster von außen zu putzen, als Mark aus heiterem Himmel in einem barschen, schon an Unhöflichkeit grenzenden Ton verlangte, dass ich von der Leiter heruntersteigen solle. Meine Weigerung – welches Recht stand ihm schließlich zu, mich so zu bevormunden – versetzte ihn dermaßen in Rage, dass er die Arbeit, die er gerade für mich im Garten erledigte, einfach hinschmiss. Wir brauchten beide eine Weile, um uns zu beruhigen und zur Vernunft zu kommen.

Seit ich Pauls letzten Brief gelesen hatte, waren meine Gefühle Achterbahn gefahren. Zunehmend gewann ich den Eindruck, meinen Mann endgültig zu verlieren. Ich träumte nicht mehr von ihm, und wenn ich sein Lieblingssweatshirt in die Hand nahm, vermochte ich den speziellen Duft, der lange darin gehaftet hatte, nicht mehr wahrzunehmen.

Das belastete mich, stimmte mich traurig, und um mich abzulenken, beschäftigte ich mich in Gedanken mit Mark und versuchte, hinter seine Geheimnisse zu kommen. Denn dass er welche hatte, stand für mich so fest wie das Amen in der Kirche. Der ganze Mann war ein einziges Rätsel. Verschlossen und schweigsam, wie es wohl seiner Natur entsprach, gab er nichts über sich preis. Nicht über seine Person, seinen eigentlichen Beruf und sein früheres Leben.

Vergeblich löcherte ich ihn mit Fragen nach seiner Vergangenheit. Entweder ignorierte er sie, oder er weigerte sich, sie zu beantworten. Ich quetschte sogar Leute aus, die ihn schon länger kannten als ich, alles ohne Erfolg. Vor ungefähr drei Wochen ging ich dann so weit, ihn zu einem gemeinsamen Dinner mit meinen Eltern einzuladen. Warum? Weil ich hoffte, meine Mutter würde etwas aus ihm herauskriegen. Sie besitzt nämlich ein ausgesprochenes Talent, Menschen zum Reden zu bringen und ihnen Informationen zu entlocken. Aber er vereitelte diesen Plan, indem er die Einladung ablehnte.

Irgendwann begriff ich, dass meine Neugier in Bezug auf Mark vor allem dazu diente, meine Angst, dass Paul mir völlig entglitt, zu vergessen oder zumindest zu kompensieren. Danach entschuldigte ich mich bei meinem Freund – und erlebte einen neuen Schock: Mark gestand mir, er habe sich in mich verliebt.

Mark liebte mich? Ich hatte Mühe, mich an diese Vorstellung zu gewöhnen.

Und als ob das nicht verwirrend genug gewesen wäre, eröffnete er mir außerdem, er habe jeden nur erdenklichen Vorwand genutzt, um Zeit mit mir zu verbringen. War ich bis zu diesem Moment vollkommen ahnungslos gewesen, setzten sich plötzlich alle Einzelheiten wie ein riesiges Puzzle in meinem Kopf zusammen.

Doch die nächste Überraschung ließ nicht lange auf sich warten. Ungeachtet seiner Gefühle für mich, fügte Mark hinzu, könne und wolle er es nicht zulassen, dass sich daraus eine langfristige Beziehung entwickele.

War es da ein Wunder, dass meine Gedanken sich so wild zu drehen begannen wie Windmühlenflügel bei Sturm?

Als Mark, um dem Ganzen die Krone aufzusetzen, auch noch verkündete, dass er Cedar Cove verlassen werde, fand ich endlich die Sprache wieder und protestierte. Das sei absolut lächerlich, hielt ich ihm vor. Was er antwortete, werde ich mein Lebtag nicht vergessen – es hat sich unauslöschlich in mein Gedächtnis eingebrannt.

Ich sei mit einem Helden verheiratet gewesen, der sein Leben geopfert habe, um unser Land zu verteidigen, erklärte er mir. Paul habe all das verkörpert, was er mir nicht bieten könne. Er sei nämlich das genaue Gegenteil von einem Helden und mit schweren Makeln behaftet. Schwach. Gebrochen. Er stecke in einem tiefen schwarzen Loch, aus dem er schwer wieder rauskomme. Wenn es eine Gerechtigkeit auf der Welt gäbe, hätte er sterben müssen und nicht Paul.

Mark tat so, als fühle er sich schuldig, weil er noch am Leben, Paul hingegen tot war. Und deshalb wollte er weg.

Ich konnte nicht glauben, dass es ihm damit ernst war. Es schien mir eine übereilte und unvernünftige Entscheidung zu sein, bei der es sich vermutlich um eine augenblickliche Laune handelte, doch ich irrte mich.

Das Einzige, was mir blieb, war, seinen Weggang hinauszuzögern, indem ich ihn an den Pavillon in meinem Garten erinnerte, der noch nicht fertig war. Zwar existierte kein schriftlicher, sondern bloß ein mündlicher Vertrag zwischen uns, aber Mark pflegte zu seinem Wort zu stehen. Das wusste ich. Und entsprechend willigte er widerstrebend ein, obwohl ihn meine Forderung eindeutig nicht glücklich stimmte.

Zunächst war ich erleichtert, denn ich ging davon aus, dass es mir zu gegebener Zeit gelingen würde, ihn zum Bleiben zu überreden. Daran lag mir allein deshalb viel, weil ich nach seiner Liebeserklärung meinen eigenen Gefühlen dringend auf den Grund gehen musste. Und das war nicht möglich, wenn er sich aus dem Staub machte.

Die folgenden drei Wochen zeitigten leider nicht das gewünschte Resultat. Vielmehr merkte ich, dass es Mark völlig ernst damit war, Cedar Cove zu verlassen. Mich zu verlassen. Während er früher für jeden Job, den er erledigen sollte, Wochen, oft Monate gebraucht hatte, schien er dieses letzte Projekt, den Pavillon, nicht schnell genug beenden zu können. Er startete früh am Morgen mit der Arbeit, trieb sich bis zur Erschöpfung an und schuftete bis weit nach Einbruch der Dämmerung – bis es zu dunkel war, um noch etwas zu erkennen.

Als ich Mark mit dem Bau des Pavillons beauftragt hatte, war ich, grob geschätzt, davon ausgegangen, dass er drei bis vier Monate brauchen und mit Glück vor Weihnachten fertig sein würde. Jetzt schien er dieses Vorhaben in ein paar Wochen durchziehen zu wollen. So etwas war mir bei ihm bislang nie untergekommen.

Auch an diesem Morgen war er bereits draußen zugange. Praktisch beim ersten Licht des Tages hatte er sich an die Arbeit gemacht. Ich selbst war seit ungefähr einer halben Stunde auf, um für meine Gäste das Frühstück vorzubereiten. Hatte die Tische gedeckt, Kaffee gekocht und gefüllten French Toast, eines meiner Lieblingsrezepte, zubereitet und im Ofen warm gestellt.

Da es Rover ins Freie drängte, nahm ich meinen Kaffee mit nach draußen, blieb auf der Veranda stehen und sah Mark bei der Arbeit zu. Obwohl er mich zweifellos bemerkte, schenkte er mir keine Beachtung. Wie neuerdings immer. Seit unserem Gespräch vor drei Wochen ignorierte er mich nach Kräften, was mir ziemlich zu schaffen machte. Wie konnte er einerseits behaupten, er würde mich lieben, und andererseits so tun, als wäre ich unsichtbar. Mark war nie einfach gewesen, aber das hier war endgültig verrückt.

»Guten Morgen«, rief ich ihm fröhlich zu.

Er nickte, ohne in meine Richtung zu blicken.

»Guten Morgen«, wiederholte ich diesmal lauter.

»Morgen«, klang es widerwillig zurück.

»Du hast an diesem herrlichen Tag ja eine tolle Laune. Wo liegt dein Problem?«

Er war oft so, wortkarg und mürrisch, doch jetzt war ich entschlossen, es nicht zur Kenntnis zu nehmen. Erwartungsgemäß ging Mark über die Frage hinweg, und so versuchte ich es mit einer anderen Taktik.

»Möchtest du eine Tasse Kaffee?«

»Nein danke.«

»Kann ich dir sonst irgendwas bringen? Plätzchen?«

Normalerweise widerstand Mark meinen Koch- und Backkünsten nie, insbesondere nicht meinen Plätzchen.

»Nichts.«

Das Danke schenkte er sich diesmal. Neben ihm auf dem Rasen stand ein großer Eimer mit weißer Farbe, was hieß, dass er die letzte Phase des Projekts in Angriff nehmen wollte. Den Anstrich. Mein Magen zog sich zusammen.

»Das wird ein hektisches Wochenende werden.«

Ich setzte mich auf die oberste Stufe und schloss die Hände um meinen Becher. Der Morgen war kühl, der Herbst näherte sich. Ich spürte es an der Luft, erkannte es an dem leichten Kiefernduft und an den sich langsam verfärbenden Blättern der von der Sonne beschienenen Rosen. Rover setzte sich neben mich und schmiegte sich an mich, als würde er meine Furcht wittern.

Mark erwiderte nichts.

»Später am Nachmittag kommen zwei junge Frauen. Sie wohnen beide in Seattle, sind aber hier zur Schule gegangen. Jetzt haben sie ihr Zehnjähriges und wollen feiern, ohne an die Heimfahrt nach Seattle denken zu müssen. Sie bleiben gleich zwei Nächte hier. Freitag und Samstag.«

Er antwortete mit einem gleichgültigen Achselzucken.

Das Schweigen zwischen uns wurde erdrückend, und zwischen uns knisterte es. Spannung lag in der Luft, dennoch verspürte ich keine Lust, meine Monologe wieder aufzunehmen. Ich hatte genug von diesem einseitigen Gespräch, zumal ich Mark immer weniger verstand.

Warum mied er mich in so verletzender Weise, wenn er mich angeblich liebte?

Zu gerne hätte ich ihn danach gefragt, aber genauso gut könnte ich den Kopf gegen eine Ziegelmauer schlagen.

Als ein Summton aus der Küche mir anzeigte, dass der French Toast aus dem Ofen musste, atmete ich erleichtert auf, erhob mich und trat den Rückzug an. Kurz bevor ich ins Haus ging, drehte ich mich noch einmal um und hatte den Eindruck, dass er froh war, mich loszuwerden. Es schien fast, als würde ihm meine Nähe Unbehagen einflößen.

Wie anders waren wir doch früher miteinander umgegangen!

Ich vermisste den Mann, der mein Freund gewesen war, mit dem ich oft am späten Nachmittag zusammengesessen und der mir zugehört hatte, wenn ich von meinen kleinen Alltagserlebnissen erzählte.

Gut, er konnte einen durchaus reizen, provozieren und ärgern, aber meistens waren unsere Unterhaltungen anregend und inspirierend gewesen. Überdies hatte ich es ihm zu verdanken, dass ich irgendwann wieder zu fühlen begann und die Erstarrung meines Herzens sich löste. Mit Mark lernte ich wieder zu lachen.

Meine Gäste, ein Ehepaar, das sich wegen der Geburtstagsfeier der einzigen Enkelin in der Stadt aufhielt, ließen sich mit dem Frühstück Zeit und checkten anschließend aus, um sich zum Flughafen nach Seattle zu begeben. Ich begleitete sie nach draußen und winkte ihnen von der Veranda aus nach, wobei meine Gedanken mehr bei Mark als bei meinen abreisenden Gästen weilten. Irgendwie musste es schließlich möglich sein, die Betonwand zu durchbrechen, die ihn umgab.

Warum er sie errichtet hatte, das wusste ich nicht. Zunächst war ich davon ausgegangen, seine Liebeserklärung sei ihm im Nachhinein schrecklich peinlich, doch inzwischen glaubte ich, dass noch etwas anderes mitspielte. Bloß was? Ich hatte keine Ahnung, und er wollte es mir partout nicht erklären.

»Der Pavillon sieht klasse aus«, unternahm ich einen neuerlichen Vorstoß und schlang die Arme um meine Taille. »Alle Achtung.«

In der Tat war ihm mit diesem letzten Projekt ein Meisterwerk gelungen. Der Pavillon entsprach haargenau meinen Vorstellungen und sah genauso aus wie das Vorbild, das ich einmal in einer Zeitschrift gesehen und ihm gegeben hatte. Er war von mittlerer Größe, sodass er sich für Veranstaltungen aller Art eignete. Ich dachte vor allem an private Feste, insbesondere Hochzeiten, und malte mir schon aus, wie Paare sich dort inmitten meines Rosengartens lebenslange Liebe und Treue schworen.

Die Idee war mir nicht zuletzt deshalb gekommen, weil das B & B bislang gerade mal die laufenden Kosten deckte. Ein Hochzeitspavillon schien mir da eine vielversprechende Lösung zu sein – ich war mir sicher, dass dieses Angebot angenommen würde.

»Wie ich sehe, hast du bereits Farbe besorgt.«

Erneut reagierte er nicht.

Verstimmt kehrte ich ins Haus zurück, um Rovers Leine und für mich einen leichten Pullover zu holen. Ein Spaziergang mit dem Hund würde mir helfen, meinen Frust abzubauen. Wenn Mark mich mit Nichtachtung strafen wollte, nur zu. Ich würde ihm so viele Atempausen und so viel Distanz zu mir gewähren, wie er wollte, und mehr.

Als ich mit der Leine zurückkam, lag Rover ganz nah bei Mark im Gras. Er hatte die Schnauze auf seine Pfoten gelegt und behielt meinen Handwerker wachsam im Auge.

»Hast du Lust auf einen Spaziergang, Rover?«, fragte ich. Normalerweise sprang er beim Anblick der Leine sofort auf, wedelte begeistert mit dem Schwanz und konnte es kaum erwarten, dass es losging. Heute Morgen nicht. Rover sah erst mich mit seinen treuen dunkelbraunen Augen an, dann Mark, dann wieder mich.

»Rover«, wiederholte ich mit etwas mehr Nachdruck. »Jetzt erheb dich mal.«

»Geh schon«, sagte Mark schroff und nickte meinem Hund zu.

»Sprichst du mit mir oder mit Rover?«, erkundigte ich mich.

»Mit euch beiden.«

Ich ging zu Rover hinüber und leinte ihn an. Er schien keinerlei Interesse daran zu haben, sich von der Stelle zu rühren. Erst als ich leicht an der Leine zog, erhob er sich, und wir verließen den Garten. Dennoch zögerte er und blickte sich noch einmal nach Mark um.

Genau wie ich es zuvor getan hatte.

Sobald die Auffahrt hinter uns lag, schlug ich ein schnelleres Tempo an, um meinem Ärger ein Ventil zu verleihen. Im Moment hatte ich nicht das Geringste dagegen, Mark Taylor loszuwerden. Wenn er aus Cedar Cove wegziehen wollte, sollte mir das recht sein. Weg mit Schaden! Er war launisch, streitsüchtig und eine Nervensäge erster Güte.

Nachdem ich zwei oder drei Straßen flott bergauf marschiert war, blieb ich stehen, um wieder zu Atem zu kommen. Vermutlich hatte ich eine persönliche Bestzeit hingelegt. Einzig positiv an diesem Gewaltmarsch war, dass meine Wut verraucht war. Ich atmete einige Male tief durch und verlangsamte meine Schritte. Wofür Rover dankbar zu sein schien.

Aus mir selbst unerfindlichen Gründen beschloss ich plötzlich, an Marks Haus vorbeizugehen. Einfach mal so.

Ich erinnerte mich an den Tag, als ich zum ersten Mal dort gewesen war. Er lag damals verletzt und hilflos in seiner Werkstatt, weil ein schwerer Tisch zusammengebrochen war und ihn unter sich begraben hatte. Mit seinem komplizierten Beinbruch muss er höllische Schmerzen ausgestanden haben.

Trotz seiner heftigen Proteste rief ich den Rettungswagen und begleitete ihn ins Krankenhaus. Später holte ich ihn wieder ab und kümmerte mich um ihn. Dabei stellte ich rasch fest, dass Mark ein unleidlicher Patient war. Er behandelte mich mit erlesener Unfreundlichkeit, nörgelte ständig über alles und jedes und kommandierte mich herum, als wäre ich persönlich für seine Verletzung verantwortlich. Man hätte glauben können, ich sei der Nagel zu seinem Sarg – so benahm er sich jedenfalls. Anstatt mir dankbar zu sein, weil er durch mein Eingreifen zumindest rasch ärztlich versorgt wurde!

Aber das wäre wohl zu viel verlangt gewesen von einem wie Mark Taylor.

Fairerweise muss ich einräumen, dass er sich später, wenngleich widerwillig, bei mir bedankte. Wochen später, und dieser Schritt dürfte ihn eine gewaltige Überwindung gekostet haben. Unser Verhältnis war also von Anfang an durchaus zwiespältig gewesen, was sich durch Marks Geständnis zwangsläufig verstärkt hatte.

Zum einen wusste ich nicht, wie ich damit umgehen sollte – zum anderen stellte es mich vor die Frage, was ich für ihn empfand.

Das eine war so schwierig wie das andere, und ich brauchte Zeit, über beides nachzudenken.

Vordergründig betrachtet, war es ein unmögliches Verhältnis, weil wir in fast allen Dingen entgegengesetzter Ansicht zu sein schienen. Nein, das stimmte nicht ganz. Er liebte es, mich zu provozieren, indem er den Advocatus Diaboli spielte, sodass ich nie sicher wusste, ob er es ernst meinte oder nicht. Erst in jüngster Zeit hatte ich darüber nachzudenken begonnen, ob er mich mit unseren Diskussionen und Streitigkeiten nicht aus meiner Trauer und meiner Lethargie reißen wollte.

Was ihm zugegebenermaßen zumindest teilweise gelang.

Mit ihm fand ich ins Leben zurück. Wir spielten Scrabble und saßen oft auf der Veranda und sahen zu, wie die Sonne unterging. Oder wir aßen gemeinsam. Er hatte mir geholfen, einen Garten anzulegen, und ich gab ihm einen Teil der Ernte in gekochtem beziehungsweise verarbeitetem Zustand ab. Ich vermisste unsere gemeinsamen Stunden, und ich vermisste ihn. Aber das war lediglich ein Vorgeschmack auf das, was folgen würde, wenn er tatsächlich wegzog.

Die Frage lautete allerdings, ob mir so viel an ihm lag wie ihm angeblich an mir.

War ich überhaupt fähig, nach Paul einen anderen Mann zu lieben? Vielleicht spürte Mark das, las die Zweifel in meinen Augen und meinte, gegen einen Toten nicht bestehen zu können. Ich schüttelte den Kopf – es war, als würde ich nach den dünnen Fäden eines Spinnennetzes greifen und dort Halt suchen.

Ich bog in die Straße ein, in der Mark wohnte. Rover zerrte an der Leine, als wüsste er ganz genau, wo wir hinwollten.

»Mark ist nicht zu Hause«, mahnte ich meinen Hund. »Kein Grund zur Eile, er ist nicht da.«

Rover bellte, als würde er mir nicht glauben, und zog mich noch stärker vorwärts.

»Rover, Mark arbeitet in unserem Garten.«

Ich musste fast rennen, um mit seinem Tempo mitzuhalten. Es war beinahe, als wollte Rover mir etwas zeigen – etwas, von dem er meinte, ich müsste es unbedingt sehen. Sobald wir Marks Haus erreichten, fiel bei mir der Groschen, und ich blieb wie angewurzelt stehen.

Das Schild war gut sichtbar aufgestellt, direkt am Rand des Rasens, sodass es jedem, der vorbeifuhr, ins Auge springen musste. Ein hiesiger Immobilienmakler hatte es aufgestellt, und darauf wurde in großen roten Lettern das Haus zum Verkauf angeboten.

Das war kein Täuschungsmanöver, kein Trick.

Mark meinte es ernst. Er wollte Cedar Cove verlassen, und was noch wichtiger war: Er wollte mich verlassen.

2

Kellie »Coco« Crenshaw fiel es schwer zu glauben, dass seit ihrer Highschoolzeit schon zehn Jahre vergangen waren. Ihre Reisetasche stand geöffnet auf ihrem Bett, während sie für das Jahrgangsstufentreffen am Wochenende packte. Diverse Kleidungsstücke lagen achtlos auf dem Bett verstreut, und sie überlegte hin und her, was sie mitnehmen sollte. Schließlich wollte sie umwerfend aussehen.

Das Fenster stand offen, und schwere, reife Gerüche des Spätsommers erfüllten ihr Apartment, mischten sich mit der frischen, salzigen Brise, die vom Puget Sound hereinwehte. Coco wohnte in der Nähe des Universitätsgeländes von Seattle in einem malerischen Backsteingebäude aus den Vierzigerjahren, das sich trotz einiger Modernisierungen seinen ganz eigenen Charme bewahrt hatte.

Die junge Frau liebte ihr Apartment, wenngleich es nicht gerade riesig war.

Vor sechs Jahren waren die Eltern in die Umgebung von Chicago gezogen. Der Vater war versetzt worden, die jüngeren Schwestern gingen mit. Coco stand damals kurz vor ihrem Collegeabschluss, und obwohl ihr die Trennung von Eltern und Schwestern schwerfiel, entschied sie sich, zusammen mit ihrem älteren Bruder in Seattle zu bleiben. Die Umgebung war ihr vertraut, und überall hier oben im Pazifischen Nordwesten gab es Tanten, Onkel, Cousins und Cousinen, sodass sie nie wirklich alleine war.

Ihr Telefon summte, und Coco warf einen raschen Blick auf die Nachricht. Sie stammte von ihrer Freundin Katie Gilroy, die sie bereits seit der Highschool kannte.

Schon zu Hause?

Yeap. Und du?

Habe Bedenken. Bin nicht sicher, dass ich das wirklich durchziehen will.

Coco tippte wie wild ihre Antwort. Sie hatte fast damit gerechnet, dass es so kommen würde.

Zu spät. Bin gleich bei dir.

Es kam nicht infrage, dass sie Katie vom Haken ließ. Sie würden zu diesem Jahrgangstreffen gehen – ein Rückzieher war völlig indiskutabel. Coco hatte im Rose Harbor Inn Zimmer für zwei Nächte reserviert und alle Hebel in Bewegung gesetzt, um sich diesen Freitagnachmittag frei zu halten.

Sie würde nicht zulassen, dass Katie jetzt kniff.

Allerdings war es ein hartes Stück Arbeit gewesen, die Freundin zum Mitkommen zu bewegen. Zum Glück hatte Coco auf jede Ausrede, die Katie vorbrachte, eine Antwort gewusst. Sie würden ihr Vorhaben in die Tat umsetzen.

Wie verabredet, sollte sie Katie heute Nachmittag um zwei Uhr abholen, um zunächst die Fähre von Seattle nach Bremerton zu nehmen und von dort um die kleine Bucht herum in das Städtchen zu fahren, das sie beide so gut kannten: Cedar Cove.

Im Gegensatz zu Katie fieberte Coco diesem Jahrgangstreffen richtiggehend entgegen. Laut Lily Franklin, der Hauptorganisatorin, war sie sogar die Erste gewesen, die zugesagt hatte. Wobei ihre Ungeduld, die alte Highschoolklasse wiederzusehen, auf anderen Gründen beruhte, als Lily wahrscheinlich vermutete.

Coco kehrte lediglich aus einem einzigen Grund in ihre Heimatstadt, ihre alte Schule und zu den Klassenkameraden von einst zurück.

Und dieser Grund hatte einen Namen: Ryan Temple.

Allein der Gedanke an Ryan ließ ihren Blutdruck in die Höhe schnellen. Fast jeder betrachtete ihn als eine Art athletischen Adonis, der nichts falsch machen konnte. Er war der Quarterback des Footballteams gewesen, hatte nebenbei Baseball gespielt – und das so gut, dass er später im College in eine Profimannschaft aufgenommen wurde, mit der er sogar nach ein paar Jahren in die Oberliga aufstieg.

Den Namen des Teams hatte Coco vergessen. Saint Louis? New York? Aufgrund dessen, was sie über ihn wusste, hatte sie seinen Werdegang nicht mehr groß verfolgt. Es reichte, wenn die anderen ihn als Star feierten, als amerikanischen Nationalhelden fast. Es würde sie nicht wundern, wenn Cedar Cove für ihn eine Parade veranstaltete, bei der bestimmt Heerscharen von Fans die Straßen säumten. Allen voran Frauen, die womöglich in Ohnmacht fielen, und Kids, die hinter ihm herliefen, um ein Autogramm zu ergattern.

Zu dieser Sorte gehörte Coco nicht.

Ganz sicher nicht. Dazu kannte sie Ryan zu gut. Viel zu gut. Und sie hatte mit ihm noch eine Rechnung offen, denn sie war von ihm auf übelste Weise bloßgestellt worden. Zehn Jahre lang hatte sie ihre Wut und ihren Schmerz in sich hineingefressen und den Mund gehalten. Jetzt reichte es. Es war an der Zeit, Ryan Temple zur Rechenschaft zu ziehen und ihn zu demaskieren.

Coco holte tief Luft und beruhigte ihr heftig pochendes Herz. Sie hatte alles genau geplant und schwelgte in der Vorstellung, ihn vor ihren Klassenkameraden ebenso zu demütigen, wie er es mit ihr gemacht hatte. Nichts anderes verdiente Ryan.

Und dabei durfte Katie ihr keinen Strich durch die Rechnung machen. Schnell packte sie zu Ende, griff nach der Reisetasche und den Autoschlüsseln und war innerhalb von zehn Minuten zur Tür hinaus. Unterwegs kündigte der Piepton ihres Handys eine weitere Nachricht an. Sie ignorierte sie, weil sie bestimmt von Katie stammte.

Obwohl das Apartment ihrer Freundin keine fünf Meilen von ihrem eigenen entfernt lag, brauchte sie wegen des starken Verkehrs erheblich länger als sonst. Da war es doppelt ärgerlich, dass Katie nicht wie verabredet vor dem Haus wartete und sie noch einen Parkplatz suchen musste, was sich gar nicht so einfach gestaltete. Der normale Parkplatzmangel in der Innenstadt reichte bereits, die vielen Baustellen auf den Straßen taten ein Übriges.

Nachdem sie endlich eine Lücke gefunden hatte, sprang sie aus dem Auto und eilte den Gehweg hinunter zu Katies Wohnhaus, wo sie ihre Freundin im Flur des dritten Stockwerks auf und ab tigernd vorfand.

»Du bist sauer, oder?«, fragte Katie nervös.

»Natürlich nicht.«

»Ich fürchtete, du seist böse auf mich …«

»Warum sollte ich? Du kommst immerhin wie geplant mit nach Cedar Cove.«

Katies Schultern sackten nach vorne, als hätte jemand sie gezwungen, eine schwere Hantel anzuheben. Als es ihr endlich gelang, einen Ton herauszubringen, glich ihre Stimme einem flehenden Aufschrei.

»James will mich nicht sehen.«

»Das weißt du doch gar nicht«, widersprach Coco, wenngleich in Anbetracht von Katies Erzählungen die Wahrscheinlichkeit groß war, dass es sich so verhielt.

Trotzdem musste ihre Freundin sich der Aussprache mit James stellen, um diese unsägliche Geschichte zu einem Abschluss zu bringen. Egal zu welchem. Nicht zuletzt deswegen fühlte Coco sich auch verpflichtet, dafür zu sorgen, dass Katie nicht im letzten Moment ihre Meinung änderte.

»Er ist der einzige Grund, warum ich mich überhaupt angemeldet habe«, sagte Katie ein wenig verzagt und fügte dann hinzu: »Na ja, abgesehen davon, dass du mir gesagt hast, ich müsste es tun. Bloß kenne ich kaum jemanden, und ich bezweifle, dass sich irgendwer an mich erinnert.«

»Du kennst mich.«

»Schon, okay, aber von den anderen wirklich kaum jemanden. Und James hat mir eindeutig zu verstehen gegeben, dass er nichts mehr mit mir zu tun haben will.«

Coco stemmte eine Hand in die Hüfte. »Lass dich nur ja nicht so einfach unterbuttern.«

In Katies Augen spiegelte sich ihr ganzer Jammer wider.

»Was soll ich denn tun? James hat mich als Freundin bei Facebook abgelehnt, meine LinkedIn-Einladung ignoriert und meine E-Mails blockiert. Sagt das nicht alles? Ich habe seine Botschaft verstanden. Was vorbei ist, ist vorbei.«

»Er hat sich immerhin zu dem Treffen angemeldet, oder? Das könnte deine einzige und letzte Chance sein, mit ihm zu reden. Willst du diese Gelegenheit wirklich ungenutzt verstreichen lassen? Wenn du das tust, wirst du es für den Rest deines Lebens bereuen.«

Katie schloss kurz die Augen. »Du hast recht.«

»Meine Vermutung geht dahin, dass er dich vielleicht wiedersehen möchte, es jedoch nicht zugeben kann.«

Wenngleich die Freundin nicht protestierte, war an ihrem Gesichtsausdruck abzulesen, was sie dachte.

»Er wusste, dass du auf der Liste stehst«, beharrte Coco.

»Nicht zwingend«, wandte Katie ein. »Nachdem er mir eine so ausdrückliche Abfuhr erteilt hat, dürfte er davon ausgehen, dass ich gar nicht komme. Außerdem wäre es wirklich besser für mich, ihm nicht mehr zu begegnen. Das mit uns ist lange her. Er hat sein Leben weitergelebt und ich meines. Das Jahrgangstreffen wird nichts als schmerzhafte Erinnerungen heraufbeschwören.«

»Möchtest du nun ein paar Dinge klären oder nicht?«, hakte Coco nach. »Zumindest hast du das dauernd behauptet.«

»Schon«, gab Katie widerstrebend zu.

»Dann hol deine Sachen und lass uns losfahren.«

Was Coco nicht verriet – und was sie nicht einmal sich selbst eingestand –, war die Tatsache, dass sie ebenfalls diesem Treffen mit bangem Herzen entgegensah. Sie wollte der Freundin nicht zusätzlich ihren emotionalen Ballast aufbürden – die Ärmste hatte weiß Gott genug eigene Probleme.

»So eine Chance bietet sich dir wahrscheinlich nie wieder«, drängte sie Katie, die wie in der Highschoolzeit nervös und verunsichert an der Innenseite ihrer Unterlippe kaute.

»Okay, okay«, seufzte sie endlich. »Ich hoffe bloß, dass ich es am Ende nicht bereue.«

»Bestimmt nicht. Vertrau mir.«

Katie gab zwar einen spöttischen Protestlaut von sich, öffnete aber ergeben die Tür ihres Apartments und holte ihren Koffer, der zum Glück bereits gepackt war. Coco entriss ihn ihr sogleich und stürmte voran Richtung Ausgang. Sie würde Katie keine Chance geben, es sich in letzter Minute anders zu überlegen, wenngleich sie wusste, dass dieses Wochenende der Freundin jedes Quäntchen Mut abverlangen würde, das sie aufzubringen vermochte.

Schweigend erreichten sie den Wagen, schweigend verstaute Coco den Koffer, und schweigend stiegen sie ein.

Angesichts Katies verkrampfter Haltung war es nun Coco, die plötzlich zögerte und Gewissensbisse bekam, weil sie ihrer Freundin vielleicht etwas zumutete, was diese überforderte. Obwohl sie wirklich glaubte, dass der Besuch dieses Treffens Katie helfen würde, mit der Vergangenheit aufzuräumen – ganz uneigennützig waren ihre Beweggründe dennoch nicht. Da sie ebenfalls keine engeren Freunde mehr in Cedar Cove hatte, wollte sie einen vertrauten Menschen in ihrer Nähe wissen, falls die Sache mit Ryan gründlich in die Hose ging.

Katie war ihre Rückversicherung.

»Du liebst ihn immer noch, oder?«, fragte sie.

Die Freundin nickte wehmütig. »Manchmal denke ich, man kommt nie über seine erste Liebe hinweg.«

»Es wird funktionieren, davon bin ich überzeugt.«

Zwar blieb Katie eher skeptisch, rang sich aber trotzdem ein schwaches Lächeln ab, als würde sie sich mit aller Kraft an diesen Strohhalm klammern, den dieses Versprechen in ihren Augen darstellte.

Als sie endlich nach vielen Baustellen und Staus das Hafengebiet erreicht, das Ticket für die Überfahrt gelöst und sich in die Schlange der wartenden Autos eingereiht hatten, sah Coco die Freundin aufmunternd an.

»Es wird ein tolles Wochenende werden«, sagte sie betont munter, obwohl ihr langsam selbst mulmig zumute war.

Würde alles so laufen, wie sie es geplant hatte? Würde sie es wirklich schaffen, Ryan so niederzumachen, dass niemand ihn mehr bewunderte? Würde sie sein Image als strahlender Superheld ernstlich ankratzen können? Oder verwechselte sie Wunschdenken mit der Realität? Wen außer ihr interessierte es schon, dass sie wegen Ryan Temple durch die Hölle gegangen war?

Im Auto war es trotz der mäßigen Außentemperaturen ziemlich warm geworden. Katie schob ihren Sitz zurück und lehnte den Kopf gegen die Kopfstütze.

»James hat mir nie verziehen, weißt du«, flüsterte sie, ohne Coco anzusehen.

»Ich weiß«, antwortete die Freundin leise.

Verzeihen war etwas, das ihr ebenfalls nicht leichtfiel.

»Du willst wegen Ryan zu dem Klassentreffen, stimmt’s?«, sagte Katie, doch es war mehr eine Feststellung als eine Frage.

»Ich möchte lieber nicht darüber sprechen, wenn du nichts dagegen hast.«

»Verstehe.«

»Schon okay, kein Problem.«

Coco ließ das Fenster herunter, um kühlere Luft hereinzulassen.

So nah am Ufer strömte das Wasser des Sunds allerdings einen beißenden Geruch aus, war nicht frisch wie das offene Meer. Möwen kreisten am Himmel, und ihr Kreischen erfüllte die Luft, während sie auf die Ankunft der Fähre warteten.

»Ist Ryan verheiratet?«

Coco starrte aus dem Fenster auf der Fahrerseite und vermied jeglichen Blickkontakt. »Ich habe keine Ahnung.«

Gnade Gott der armen Frau, die dumm genug war, sich mit einemTypen wie Ryan Temple einzulassen, dachte sie im Stillen.

»Du hast guten Grund, ihn zu hassen«, bohrte Katie weiter und wandte die Augen nicht von der Freundin ab.

»Warum sollte ich ihn hassen?«, erwiderte Coco, die sich ihre Verletzlichkeit und ihre Bitterkeit nicht anmerken lassen wollte. »Das alles ist zehn Jahre her. Ich habe es längst hinter mir gelassen.«

Was keineswegs der Wahrheit entsprach, zumal Cocos Umgang mit ihren vergangenen und gegenwärtigen Verehrern fast darauf schließen ließ, dass ihre Beziehungen keineswegs befriedigend für sie waren.

Ein verträumter Ausdruck huschte über Katies Gesicht. »Ihr wart so ein schönes Paar. Ich weiß noch, wie ich dir und Ryan einmal auf dem Flur hinterhergeschaut und gedacht habe, dass ihr zwei echt perfekt zueinanderpasst. Es konnte ja keiner ahnen, wie er wirklich war.«

Coco räusperte sich unwillig, um vom Thema Ryan abzulenken.

»Doch, das wart ihr«, beharrte Katie. »Jedenfalls fand ich das.«

»Das ist lange her.«

»Zehn Jahre«, murmelte Katie. »Kannst du es fassen, dass zehn Jahre vergangen sind, seit wir uns zuletzt alle gesehen haben?«

In der Ferne sahen sie die Fähre herankommen. Nicht mehr lange und sie konnten an Bord gehen.

»Hast du vor unserem Abschluss je darüber nachgedacht, wie unser Leben in zehn Jahren aussehen würde?«

Coco grübelte über die Frage nach. »Nicht wirklich.«

Nein, am Tag ihres Abschlusses war sie todunglücklich, völlig durcheinander und wütend gewesen. Die ersten beiden Gefühlsregungen waren im Lauf der Jahre verblasst, die Wut nicht. Sie war geblieben und ein Teil von ihr geworden, ein zusätzliches Anhängsel wie ein dritter Arm oder ein drittes Bein.

Die Fähre legte an, und eine lange Autoschlange rollte herunter, um sich in den Verkehr auf der Hafenstraße einzufädeln. Coco startete den Motor, legte den Gang ein und folgte dem Pick-up vor ihr auf das Schiff.

Katie sagte lange nichts, dann flüsterte sie: »Ich bin froh, dass du mich zu diesem Wochenende überredet hast.«

»Und ich bin froh, dass du mitgekommen bist.«

»Wir werden viel Spaß haben, alte Freunde treffen und in Erfahrung bringen, wie ihr Leben verlaufen ist, obwohl ich bezweifle, dass sich noch irgendwer groß an mich erinnert.«

»Sie werden sich erinnern«, versprach Coco.

»Das glaube ich nicht«, widersprach Katie, »aber das macht nichts. Es gibt bloß einen einzigen Menschen, den ich wiedersehen möchte.«

Genau wie bei ihr, dachte Coco. Auch ihr ging es einzig und allein um eine Person.

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