Heringshappen - Ute Haese - E-Book

Heringshappen E-Book

Ute Haese

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  • Herausgeber: Emons Verlag
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2018
Beschreibung

Hanna Hemlokk ermittelt wieder: Das Bokauer Private Eye in Hochform. Der Wirt des hippen Gourmettempels 'Heuschrecke' ist tot, zertrampelt von einer Kuh. War es tatsächlich ein Unfall? Oder hat der 'Reichsbürger' Rolf Bapp etwas damit zu tun? Und welche Rolle spielt der dauertwitternde Bürgermeisterkandidat Arwed Klinger? Ganz zu schweigen von dem Horror-Clown, der seit Kurzem sein Unwesen in Bokau treibt. Hanna Hemlokk, das schräge Private Eye mit Herz und Hirn, ist gefordert – und sieht sich bald mit einem zweiten Todesfall konfrontiert.

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Seitenzahl: 495

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Ute Haese, geboren 1958, promovierte Politologin und Historikerin, war als Wissenschaftlerin tätig. Seit 1998 arbeitet sie als freie Autorin und widmet sich dem Krimi- und Satirebereich sowie der Fotografie. Sie lebt mit ihrem Mann am Schönberger Strand bei Kiel und ist Mitglied bei den Mörderischen Schwestern sowie im Syndikat.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

©2018 Emons Verlag GmbH Alle Rechte vorbehalten Umschlagmotiv: suze/photocase.de Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer Umsetzung: Tobias Doetsch Lektorat: Dr.Marion Heister eBook-Erstellung: CPI books GmbH, LeckISBN 978-3-96041-402-5 Küsten Krimi Originalausgabe

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Für Ahin, Bayan,

Dunia, Haboun, Leila, Sheima und Widad

Glossar norddeutscher P-Wörter

Pannkoken

Pfannkuchen

pieblond

wasserstoffblond

plietsch

intelligent

Pomuchelskopp

Dummkopf, Trottel

Portjuchhee

Portemonnaie

EINS

»FuckUp-Nights auf Hollbakken?«

Ich beäugte meinen Freund Johannes entgeistert. Meinte er das etwa ernst? Tat er– todernst sogar, sein entschlossener Gesichtsausdruck ließ keinen Zweifel daran.

»Nun guck nicht so, Hanna. Du weißt doch, dass ich dringend Geld für den Unterhalt des alten Kastens brauche. Und FUNs sind momentan überall auf der Welt total angesagt.«

Das mochte ja sein, doch ich war mir ziemlich sicher, dass seine hochwürdigen Ahnen allesamt wie Turbinen im Grabe rotieren würden, wenn sie von den Plänen des jüngsten Betendorp-Sprosses erfahren könnten. Einerseits. Andererseits saß Johannes als einzig verbliebener Lebender der Familie, deren Stammbaum mindestens bis zu Knud dem Schädelspalter zurückreichte, mit dem Herrenhaus und Eurograb Hollbakken an. Sie nicht.

»Noch einen Tee?«, fragte ich daher, um meine Gedanken zu sortieren.

Auf alles war ich vorbereitet gewesen, als er heute Morgen seinen Besuch in meiner Villa angekündigt hatte, um mich in seine neuesten Pläne einzuweihen– darauf allerdings nicht. Ritterspiele, ja. Erneute Incentive-Feiern ebenfalls sowie Luxuspicknicks auf dem löcherigen Grün hinter dem Haus oder Mittelalter-Märkte im maroden Innenhof. Aber FuckUp-Nights im großen Salon? Definitiv nein.

Johannes, der mein Mienenspiel stumm beobachtet hatte, wuchtete sich von meiner roten Couch hoch und hielt mir die Tasse hin. Ich schenkte ihm automatisch nur zur Hälfte ein, denn er pflegte liter- und löffelweise Milch und Zucker in seinen Tee zu kippen. Er konnte sich das leisten. Der Mann war rank und schlank wie ein Aal und würde höchstwahrscheinlich auch bis ins Greisenalter immer so bleiben. Beneidenswert.

»Also«, sagte ich bedächtig, als er samt Tasse wieder saß, »fangen wir noch einmal von vorn an.«

Er grunzte zustimmend.

»Gut, dann hilf mir doch mal kurz auf die Sprünge: ›Fuck up‹ heißt übersetzt so viel wie ›vermasseln‹ oder ›in den Sand setzen‹, wenn ich mich nicht irre.«

Er neigte zwar kaum merklich den Kopf, blieb aber weiterhin stumm und kam mir kein Jota entgegen. Also fuhr ich fort.

»Und es geht bei solchen Veranstaltungen um berufliche Fehler und Misserfolge, richtig?« Auch im abseits von allen hippen Metropolen dieser Welt liegenden idyllischen Bokau haust man schließlich nicht vollends in einem schwarzen Loch. Außerdem hatte ich seinerzeit solide Englischstunden in der Schule genossen und wusste zudem, dass jenes bewusste Wort im Fernsehen der USA mit einem Piepton belegt wird, sobald es jemand ausspricht.

»Die man vor Publikum eingesteht, ja«, bequemte sich Johannes jetzt mit ernstem Gesicht zu sagen, während er den wohlschmeckenden Earl Grey rührend in eine Art Babybrei verwandelte. »Und genau das ist das Gute an der ganzen Sache, Hanna.« Genüsslich leckte er den Löffel ab und legte ihn achtlos auf den Tisch. Dann schaute er mich fest an. »Weil wir in Deutschland einfach keine richtige Fehlerkultur besitzen. Alles muss möglichst toll und perfekt sein. Und zwar immer. Scheitern geht hierzulande gar nicht und gilt als Schande, weil wir unbewusst Erfolglosigkeit im wirtschaftlichen Bereich mit Versagen im moralischen gleichsetzen. Und das ist doch totaler Mist. Wieso kann man nicht offen über seine Fehler sprechen? Jeder macht welche. Ständig. Und wir wissen es alle.«

Mhm. So formuliert, klang das ziemlich vernünftig, zugegeben. Ich nahm ebenfalls einen kräftigen Schluck Tee, um mein Unbehagen, das ich trotzdem dabei verspürte, besser in Worte fassen zu können. Denn war das nicht lediglich die eine, blank polierte Seite der Medaille? Starrten einem nicht unweigerlich Schmutz und Rost entgegen, sobald man sie umdrehte?

Johannes pustete völlig unnötigerweise über seinen Zucker-, Milch- und Teebrei und schaute mich dabei erwartungsvoll an.

»Na ja«, begann ich daher vorsichtig, »das ist alles zweifellos richtig, was du da sagst, aber einen gewissen Unterhaltungswert besitzt die Sache doch auch, oder?« Und das war noch höflich formuliert, wie ich fand. Sensationsgeilheit hätte es meiner Meinung nach weit eher getroffen, aber ich wollte meinen Freund nicht verletzen.

»Ja, klar. Natürlich«, gab Johannes schnörkellos zu. An seinem Tonfall hörte ich, dass er mit diesem Einwand gerechnet hatte. »Aber ist das denn so schlimm? Jeder will sich amüsieren, wenn er ehrlich ist. Es kommt doch darauf an, was hinter allem steht. Und die Botschaft der FUNs ist einfach nur gut, weil sie nämlich lautet: Nichts ist endgültig, das Leben geht auch nach der größten Pleite weiter. Gerade du hast das doch am eigenen Leib erfahren, Hanna. Als das mit deinem Studium nicht so richtig klappte, hast du begonnen, Liebesgeschichten zu schreiben. Und als du von denen genug hattest, bist du Privatdetektivin geworden. Und wer kann schon sagen, ob das dein endgültiger Beruf ist?«

Ich. Ich konnte das definitiv sagen. Denn mittlerweile war ich Private Eye mit Leib und Seele, auch wenn es mir gerade ein bisschen an Fällen mangelte und ich mich zunehmend langweilte. Allerdings gedachte ich, das just an diesem Abend zu ändern. Aber davon später. Jetzt ging es erst einmal um Johannes und seine Vermasselungs-Nächte, wobei ich in diesem Moment, das muss ich zugeben, nicht den Hauch einer Ahnung in meiner sonst in derartigen Dingen äußerst zuverlässigen Blase spürte, was sich daraus für Bokau und speziell für mich entwickeln sollte.

»Na ja«, hob ich ein zweites Mal an, ohne auf Johannes’ Schilderung meines zugegebenermaßen keineswegs knickfreien Berufsweges einzugehen, »weißt du, ich stelle mir nur vor, da sitzen dann zwanzig, vierzig, vielleicht sogar hundert Leute in der Halle von Hollbakken, während einer erzählt, wie er mit seinem Unternehmen in den Konkurs gegangen ist. Wie er es dann mit einer neuen Idee und einer neuen Firma wieder versucht hat, nur um dann mit der erneut eine Pleite hinzulegen. Es ist ein Auf und Ab, Höhen und Tiefen kommen und gehen, Leidenschaft und Leiden wechseln sich ab. Es sind menschliche Schicksale, und es ist Dramatik pur, verstehst du?«

»Selbstverständlich tue ich das. Denn genau darum geht es doch gerade. Um menschliche Schicksale, und wie man mit ihnen umgeht. Deshalb ist es auch so gut, dass–«

»Moment«, unterbrach ich ihn und hob die Hand wie ein Verkehrspolizist bei Rot, wenn die Ampel ausfällt. »Was ich eigentlich sagen will, ist, dass das Ganze für meinen Geschmack entschieden etwas von Hollywood hat. So ein öffentliches Taumeln zwischen himmelhoch jauchzend und zu Tode betrübt, zwischen totaler Euphorie und völliger Verzweiflung, meine ich. Bloß dass das hier die Wirklichkeit ist und keine Filmromanze zwischen zwei Megastars, wo sich alles in Friede, Freude, Eierkuchen aufgelöst hat, wenn der Abspann über die Kinoleinwand flimmert. Dies hier sind richtige Menschen, Johannes. Da hängen Existenzen und Lebenswege dran. Deshalb habe ich damit solche Bauchschmerzen.«

Er schwieg. Allerdings hatte er seine halb leere Tasse mittlerweile auf den Tisch gestellt und die Arme vor der Brust verschränkt. Die klassische Abwehrhaltung. Ich ließ nicht locker. Es half ja nichts. Irgendwann würden meine Bedenken ohnehin aufs Tapet kommen. Da konnten wir das auch gleich hinter uns bringen.

»Was ich sagen will, ist, dass diese FuckUp-Night-Dinger auch ziemlich viel mit Voyeurismus und einer gehörigen Portion Schadenfreude zu tun haben. Und ich weiß nicht, ob ich das so toll finde.« So, nun war es ausgesprochen. Doch Johannes verzog keine Miene, als habe er auch mit diesen Bedenken gerechnet.

»Das stimmt schon, ich streite das ja überhaupt nicht ab. Aber du kannst es eben auch anders sehen. Denn für denjenigen, der von seinen Niederlagen erzählt, kann das ganz heilsam sein, und für die Zuhörer, von denen sich möglicherweise so mancher mit dem Gedanken trägt, selbst ein Start-up zu gründen, ist es ermutigend. Weil sie nicht allein sind, wenn sie ihr Projekt in den Sand setzen. Das passiert anderen genauso und ist deshalb nicht so schlimm. Die Welt geht davon nicht unter. Das ist die Botschaft.« Er grinste mich schief an. »Du denkst typisch deutsch, Hanna. Alles hat sicher und garantiert zu sein. Alles geht seinen vorgezeichneten Weg. Aber schau dir doch einmal die Arbeitswelt von heute an. Da sind überall Umdenken, Flexibilität und neue Ideen gefragt. Und dazu gehört nun einmal zwangsläufig auch das Scheitern. Wie gesagt, du bist doch das beste Beispiel dafür.« Himmel, musste er denn immer wieder darauf herumreiten? Sooo stolz war ich nun auch nicht auf meinen Werdegang. »Nein, der Mensch von heute muss einfach für sein Leben Misserfolge und diverse Richtungswechsel einkalkulieren, sonst hat er schon verloren.« Wieder griff er nach seiner Teetasse. Der Brei musste inzwischen kalt sein. Ihn schien das nicht zu stören, denn er stürzte den Rest in einem Zug hinunter, ohne das Gesicht zu verziehen. »In den USA denken die schon ewig so. Guck dir Donald Trump an. Der ist in seinem Leben bekanntlich mehrmals krachend auf die Schnauze gefallen, hat so manchen Deal versaut, und nun ist er immer noch Milliardär und außerdem Präsident einer Supermacht. Oder Arwed Klinger. Der schimpft sich zwar jetzt Großbauer, aber in seiner früheren Existenz leitete er eine Zementfirma, die er mit Schmackes gegen die Wand gefahren hat.«

Dazu muss man wissen, dass bei uns in Bokau seit nunmehr einem guten Monat der Wahlkampf tobte. Zwei Bürgermeisterkandidaten standen seit September zur Debatte: nämlich besagter Arwed Klinger, ein Populist reinsten Wassers, der nicht nur auf dem Schädel dem aktuellen US-Präsidenten nacheiferte, sondern auch darunter mit ihm in dessen bodenloser Schlichtheit d’accord ging, und die eher dem politisch liberalen Spektrum zugeneigte Dr.Corinna Butenschön, unsere »Ostseebeauftragte des Kreises Plön für Berlin und Brüssel«, die in Bokau geboren, in Schönberg und Heikendorf zur Schule gegangen war, in Kiel studiert hatte und einer ur-ur-uralten Probsteier Familie entstammte. Sie war eine geborene Arp-Stoltenberg, ihre Mutter eine echte Paustian-Göttsch; vier Namen, die hier in der Probstei zum alten Adel gehören. Klinger und Butenschön sowie ihre Anhänger schenkten sich nichts. Das Ganze glich mittlerweile einer Schlammschlacht mit einem hohen Anteil an persönlichen Beleidigungen und Schmähungen aller Art; gern auch unterhalb der Gürtellinie. Sachargumente waren weniger gefragt. Beide Kandidaten waren nicht nur aus diesem Grund nicht wirklich mein Fall, wie es heute neudeutsch so hübsch heißt. Die Wahl kam einer Entscheidung zwischen Pest und Cholera gleich.

»…das Scheitern endlich in den Köpfen der Leute als Chance zu verankern, Hanna. Nur darum geht’s bei den FuckUp-Nights.«

»Ich sehe ja, dass das ein wichtiger Aspekt ist«, gab ich widerwillig zu. »Trotzdem ist mir die Vorstellung ein Graus, dass da so ein IT-Bartträger und Großstadt-Hipster vor einer grölenden Menge mit Tränen in den Augen erzählt, was bei ihm alles schiefgelaufen ist. Und anschließend lässt er den Hut rumgehen oder erhebt bei dir eine saftige Gebühr für seine Vorstellung. Willst du das wirklich?«

Denn eigentlich hatte Johannes es doch auch nicht mit dieser vollbebarteten Großstadt-Gattung Mensch, die allzeit den Euro scharf im Blick hat. Er verdiente seine Brötchen ganz bodenständig als Tischler, glaubte an die Grundgütige als das höchste aller Wesen und beschäftigte sich leidenschaftlich mit religiösen, esoterischen und philosophischen Fragen. Sein Pferd hieß Nirwana. Daraus folgte geradezu zwingend, dass es sich bei meinem Freund um alles andere als einen scharf kalkulierenden Geschäftsmann handelte. Kurz gesagt, ich hatte schlichtweg Angst, dass er von irgendwelchen mit allen Wassern gewaschenen Yuppies über den Tisch gezogen wurde und sich erneut verkalkulierte. Denn das hatten wir alles schon ein paarmal durchexerziert. Nur durch meine tatkräftige Hilfe und die seiner anderen Bokauer Freunde hatten er und Hollbakken noch keinen bleibenden Schaden genommen.

Er durchschaute mich. Und bedachte mich mit einem liebevollen Blick.

»Komm einfach zur ersten Nacht, Hanna. Lass dich überzeugen. Und so ganz nebenbei kannst du dann auch auf mich aufpassen, damit ich nicht wieder in niederträchtige Hände gerate.«

»Ich wollte nicht… Also das verstehst du jetzt total falsch«, entgegnete ich lahm.

»Nö, tue ich nicht«, widersprach Johannes vergnügt. »Man kennt sich ja schon ein bisschen länger. Du machst dir Sorgen um mich. Danke dafür. Ich weiß deine Anteilnahme zu schätzen. Na, kommst du?«

Ich zögerte. Solche Veranstaltungen waren wirklich nichts für mich: zu laut, zu voll und zu krawallig. Ich würde mich todsicher total fremdschämen und am liebsten im Erdboden versinken.

»Ich brauche das Geld wirklich ziemlich dringend«, murmelte Johannes, den Blick dabei fest auf meinen Couchtisch gerichtet. »Denn wenn nicht bald etwas geschieht, fällt Hollbakken spätestens im nächsten Jahr mit Donnergetöse in sich zusammen. Das Dach im Haupthaus ist nicht mehr ganz dicht, das müsste dringend repariert werden. Und eins von dem Ausmaß ist sauteuer. Na ja, und wie es um die Nebengebäude steht, weißt du ja selbst.«

Ja. Ich kannte die katastrophale Situation des alten Herrenhauses so gut wie er. Und er war mein Freund. Ich horchte in mich hinein. Vielleicht malte ich ja auch nur den Teufel an die Wand, und das Spektakel würde gar nicht so schlimm werden. Außerdem würden bestimmt viele Menschen aus Bokau und Umgebung schon allein aus schierer Neugierde hingehen. Und wenn ich mich dem Ganzen verweigerte, konnte ich weder bei Bäcker Matulke noch bei unserer alteingesessenen Gastronomin Inge Schiefer oder in unserem neu eröffneten Gourmettempel, der »Heuschrecke«, mitreden. Also, was tun, Hemlokk? Die Antwort lag ja wohl auf der Hand. Ich würde mir die erste FuckUp-Night auf Hollbakken nicht entgehen lassen. Johannes zuliebe. Bokau goes Hollywood! Yeah!

»Gut, ich werde kommen.«

»Super!« Er strahlte, was mich wiederum ziemlich rührte. »Ich wusste es!«

»Na ja, Amerika ist schließlich auch nur entdeckt worden, weil Kolumbus den Seeweg nach Indien finden wollte und sich ordentlich verpeilt hat. Wer weiß also, wozu das alles gut ist«, brummelte ich, um meine Verlegenheit zu überspielen. Johannes lag eindeutig eine Menge an meiner Meinung. Und das ehrte mich sehr. »Wann soll es denn losgehen? Brauchst du Hilfe? Ich habe momentan ein bisschen Luft.«

Das war nicht gelogen, denn Bokau schien nicht nur jahreszeitbedingt, sondern auch ermittlungstechnisch in den Winterschlaf gefallen zu sein. Bis auf den dreckigen Wahlkampf– Klinger hatte vorgestern Butenschön per Twitter bezichtigt, eine dieser unattraktiven Emanzen zu sein, die die Welt und speziell Bokau nicht bräuchte, Butenschön nannte ihn daraufhin im Gegenzug auf Twitter und Facebook einen Geisteszwerg, der mit den unteren Regionen seines Körpers denke– ging alles seinen ordentlichen Gang. Nein, nicht ganz, aber darauf komme ich später.

»Oh, möchtest du vielleicht gleich die erste Moderation übernehmen?« Johannes verzog bei seinen Worten keine Miene, doch ich sah ihm trotzdem an, dass ihn allein die Vorstellung mächtig amüsierte. »Oder gilt dein Angebot nur für den Getränkeeinkauf und fürs Stühleschleppen?«

»Fürs Stühleschleppen. Dafür eigne ich mich mehr«, sagte ich schnell. Zu schnell, denn siedend heiß fiel mir eine noch grässlichere Möglichkeit ein: »Oder willst du etwa selbst den Moderator spielen?«

Johannes lachte.

»Nein, nein, keine Angst. Ich weiß schon, wo meine Grenzen liegen. Na ja, in den meisten Fällen zumindest. Dafür habe ich Malte Wiesheu engagiert. Der makelt mit Immobilien und ist gleichzeitig Eventmanager. Der kann so was richtig gut.«

Als Johannes sich verabschiedete, war es draußen bereits stockfinster– kein Wunder, wir gingen schließlich stramm auf Halloween und damit Ende Oktober zu. Was wiederum für unsere Breitengrade wettermäßig bedeutet, dass es spätestens gegen vier, halb fünf anfängt zu dämmern und dass es entweder stürmt oder nieselt oder sintflutartig schifft und die Wolkendecke bleischwer fast in den kahlen Wipfeln der Bäume hängt. Die Farbe Grau muss man mögen, wenn man im Winter in Schleswig-Holstein wohnt. Sonst kommt man nur schlecht über die frösteligen Monate, denn mit Schnee haben wir es hier oben, obwohl aus südelbischer Sicht praktisch schon an der Packeisgrenze gelegen, eher weniger zu tun.

Auch heute regnete es wieder einmal kräftig. Ich würde also mein Velo im Schuppen stehen lassen und das Auto nehmen. Denn an diesem Abend ging ich essen. Und zwar nicht einen der genialen Inge Schiefer’schen »Heringshappen«– dahinter verbarg sich im Gegensatz zum Namen eine überdimensionale Platte, auf der es den Fisch geräuchert, mariniert, roh, gebraten und sauer eingelegt gab–, sondern in die kürzlich eröffnete »Heuschrecke«, die am anderen Ende von Bokaus Hauptstraße lag.

Der Betreiber hatte unter den aufmerksamen Blicken der Dörfler den gesamten Sommer über eine seit Langem leer stehende Kate komplett entkernt, saniert und umgebaut, und das Ergebnis konnte sich nach landläufiger Meinung sehen lassen: Das Restaurant punktete mit exotischem Charme und wirkte dabei weder steril noch total stylish, trotz seines superangesagten kulinarischen Angebots. Denn der Name des Lokals war Programm: Sven Perrier servierte den Bokauern in der »Heuschrecke« knusprig frittiertes Allerlei aus Insekten, Maden, Grashüpfern und Grillen sowie Algensalat als Essen der Zukunft. Das Angebot war ohne Zweifel gewöhnungsbedürftig, aber als neugieriger Mensch und überzeugte »Feuer& Flämmlerin«– so nannte sich meine Kochgruppe, in der wir regelmäßig indisch-scharf brutzelten, jedoch zunehmend auch mit der norddeutschen Küche liebäugelten– ließ ich mir so etwas natürlich nicht entgehen. Das war das eine.

Doch was mich an diesem Abend noch mehr an einem Besuch in der »Heuschrecke« reizte, war der Zustand des Wirts: Er war nämlich tot, letzte Woche bei Nacht und Nebel auf einer feuchten, kalten Wiese gestorben; zertrampelt und zerquetscht von einer Kuh, genauer gesagt von einem schottischen Hochlandrind mit blondem Zottelfell und langen, gebogenen Hörnern.

Nun kommt so etwas immer mal wieder vor; besonders in den Sommermonaten liest man des Öfteren von unerfahrenen Wanderern aus den Häuserschluchten der Großstadt, die quer über eine Weide latschen, obwohl die Kühe Kälber haben und es mit der Mutterliebe tierisch genau nehmen, wie jedes Landei weiß. Oder von draufgängerischen Sechzehnjährigen, die sich für Toreros halten und einen Fünfzehn-Zentner-Bullen absichtlich reizen, um ihren Kumpels oder der ersten Freundin zu imponieren. Und natürlich gibt’s auch Bauern, die sich bei einem ihrer Tiere schlicht verrechnen. Mensch und Kuh haben eben manchmal ein Verständigungsproblem, und schließlich können nicht alle Beziehungen so prachtvoll und harmonisch verlaufen wie die von mir und meiner kühischen Nachbarin und Freundin Silvia, die in den Sommermonaten mit ihrer Herde samt Bullen Kuddel auf der Weide direkt gegenüber meiner Villa wohnt. Manchmal knallt’s halt zwischen Homo sapiens und Rindvieh, und das ist dann einfach Pech.

Doch hier lag die Sache anders. Denn in diesem speziellen Fall blieben gleich mehrere Fragen offen, wobei die wichtigste auf meiner Liste zweifellos lautete: Was, zum Teufel, hatte ausgerechnet Sven Perrier in der Natur gewollt? Die Ende Oktober nur noch kalt, dunkel und nass ist? Und auf so einer Weide weitab von jeder vernünftigen Straße gibt es nichts anderes. Aber der Mann war ein reiner Stadtmensch gewesen, das hatte er nicht nur mir gegenüber immer wieder betont. Der Geruch von heißem Asphalt und Abgasen sei ihm tausendmal lieber als der Duft einer frisch gemähten Wiese, der höchstens zu Heuschnupfen führe, hatte er mir anvertraut, als er mir bei meinem letzten Besuch in seinem Lokal einen Vortrag über den Igitt-Faktor des gemeinen Europäers bei Maden gehalten und die Insekten als Proteinquelle der Zukunft gerühmt hatte. Allzu viel Grün verursache ihm zuverlässig Magenschmerzen sowie Brechreiz, und Kühe fand er lediglich in Form von Steaks beachtenswert. Perrier hatte es nur deshalb nach Bokau gezogen, weil hier die Mieten günstig waren und er auf die Touristen hoffte, die seinen Ruf mehren und von unserem Dorf in die weite Welt hinaustragen sollten. Sobald er es sich leisten könne, werde er auf der Stelle nach Hamburg übersiedeln. Oder besser noch nach Singapur, London oder New York, hatte er betont.

Was also, hatte sich das Private Eye in mir daher sofort gefragt, als Bokaus Buschtrommeln Perriers Tod verkündeten, wollte so jemand an einem stockdunklen, regnerischen Oktoberabend mutterseelenallein auf einer abgelegenen, quietschfeuchten und scheißkalten Wiese? Und was hatte ihn auch noch zu allem Überfluss über den Zaun zu den Kühen klettern lassen? Ganz zu schweigen von dem Rätsel, was eine eher zur sanftmütigen Sorte Rindvieh gehörende schottische Highlanderin derart gereizt hatte, dass sie offenbar wutentbrannt auf den Mann zugestürmt war, um ihn mit einem gezielten Schwenker des massigen, behörnten Kopfes umzuschmeißen, bevor sie Perrier mit der ganzen Wucht ihrer dicken Schädelplatte, ihren Hörnern sowie ihren Vorderläufen immer wieder traktiert hatte, bis der sich nicht mehr rührte?

Der Bauer hatte das, was nach dieser Attacke von Sven Perrier übrig gewesen war– man munkelte, dass selbst seine Mutter ihn nur noch an den Schuhen erkannt hätte–, beim morgendlichen Kontrollgang zu seinen Tieren gefunden. Die Mörderin, deren Kopf, Fell und Vorderhufe noch rot vor Blut waren, hatte etwa fünfzig Meter entfernt von ihrem Opfer ruhig neben ihrem Kalb gelegen und wiedergekäut, sich keiner Schuld bewusst, ganz so, als sei nichts geschehen.

Aber es war etwas geschehen; Perrier war mausetot, das war das eine. Und da stimmte etwas eindeutig ganz und gar nicht. Das war das andere. Nein, es handelte sich hundertprozentig nicht um einen tragischen Unfall, wie der offizielle Untersuchungsbefund lautete. Perrier war keineswegs der Mann gewesen, der einfach leichtsinnig über den Zaun kletterte, um den Kühen gute Nacht zu sagen oder das Kalb zu klauen, weil er urplötzlich genug von den Maden gehabt und Lust auf ein frisches Rinderfilet verspürt hatte.

Nein, für derartige Eskapaden war er einfach nicht der Typ gewesen. Gut, er hatte null Komma sechs Promille im Blut gehabt, wie die Untersuchung ergeben hatte. Ein derartiger Wert führt zweifellos zu Reaktionsverzögerungen, jedoch nicht zur Totalabschaltung des Gehirns. Und dessen hätte es bedurft, um sich so zu verhalten, wie Perrier es offiziell getan haben sollte. Denn eine Kuhweide betritt man nun einmal nicht ohne triftigen Grund, und eine Kuh mit Kälbchen lässt man nun einmal als Mensch sowieso besser in Ruhe, weil sich die an sich friedliebende Dame dann im hormonellen Ausnahmezustand befindet und leicht reizbar ist. Perrier war zwar in der Tat ein nicht mit tierischem Verhalten vertrauter Großstädter gewesen, wie die Behörden argumentiert hatten, aber mittlerweile hatte er doch lange genug auf dem Land gelebt, um das wissen zu müssen. Einmal ganz abgesehen von dem Zeitpunkt, an dem sich der »Unfall« ereignet hatte: nämlich im Stockfinsteren, irgendwann zwischen achtzehn und zwanzig Uhr. Genauer wollten die Ärzte sich nicht festlegen. Und nach einem Motiv hatte man nach Analyse der Lage von offizieller Seite erst gar nicht gesucht. Nein, an Sven Perriers grausamem Tod war entschieden etwas faul. Derartige Bären konnte man einem ahnungslosen Stadtsheriff aufbinden, aber nicht mir, dem Bokauer Private Eye mit einem Ruf wie Donnerhall!

Also hatte ich beschlossen, der Sache auf den Grund zu gehen. Das war schließlich meine Profession. Na ja, außerdem langweilte mich die Schmalzheimerschreiberei wieder einmal erheblich. Sülz- oder wechselweise eben Schmalzheimer nenne ich– und niemand anders, da bin ich eigen!– meine Liebesgeschichten, die ich im Brotberuf für die Yellow Press produziere. Denn als Privatdetektivin in Bokau wird man nicht so leicht reich. Der Ort ist klein und kein Mekka für Verbrechen aller Art. Mehrere Weißkittel-Dramolette hatte meine Agentin im Herbst für das kommende Jahr bestellt. Und so ließ Vivian LaRoche unseren Richard am offenen Herzen ebenso wagemutig wie verantwortungsbewusst herumskalpieren, bis das Messer qualmte und die Tränendrüsen der Leserinnen verstopften, während das Herzchen Camilla ob des tapferen Helden mit schöner Regelmäßigkeit dahinschmolz wie eine Schneeflocke in der Sahara. Gääähn!

Wer es noch nicht weiß: Vivian LaRoche ist mein Pseudonym, Richard und Camilla heißen Held und Heldin in der gesamten Schreibphase eines Sülzheimers, bis ich sie am Schluss der Geschichte mit individuellen Namen ausstatte. Das ist einfacher und sicherer, weil sonst unter Umständen aus Karsten plötzlich Matthias wird oder aus Heike Sandra, wenn mitten im Schaffensprozess das Mittagessen liegt und man kurzzeitig abgelenkt ist von einer exorbitant leckeren Muschelsuppe. Oder einer selbst gestopften Bratwurst mit Apfelchutney und frischem Brot.

Doch bevor ich in der »Heuschrecke« mit meinen Ermittlungen beginnen konnte, stand noch ein anderer Termin auf meinem Zettel. Denn meiner langjährigen Freundin Marga ging es schlecht. Sehr schlecht sogar. Seit ein paar Wochen hing sie komplett durch. Sie schien plötzlich mit ihrem Sessel verwachsen zu sein, starrte blicklos in Richtung Passader See und ließ sich ums Verrecken nicht dazu bewegen, mir den Grund für ihren veritablen Durchhänger zu verraten. Dabei gehörte sie eigentlich nicht zu der stillen Sorte Mensch, die ihren Frust in sich hineinfraß, sondern platzte im Normalfall trotz ihres Alters– sie ging auf die siebzig zu, genau wusste ich das nicht– vor Energie. Deshalb fand ich die momentane Entwicklung so beängstigend.

Marga sprach wenig, aß wenig und protestierte noch weniger gegen die horrende Verschmutzung der Meere, die zunehmenden Plastikmüllberge in den Ozeanen oder die zu hohen Fischfangquoten für Hering, Butt und Dorsch. Um die darin liegende Dramatik zu erkennen, muss man wissen, dass Marga Schölljahn sich mit Haut und Haaren dem Schutz der Meere vor dem gierigen Zugriff des Menschen verschrieben hatte. Dafür hatte sie bislang allerhand Verrücktes getan– angefangen von waghalsigen Sprayaktionen an vorbeirauschenden, nicht mit einem Abgasfilter ausgestatteten Containerriesen über die christomäßige Verhüllung der Schönberger Seebrücke bis hin zur Gründung einer Partei.

Doch aus Der echten PiratenPartei, besser bekannt als DePP, wurde nichts. Die Sache dümpelte mehr oder minder vor sich hin und kam nicht über die gelegentliche Berichterstattung in der lokalen Presse hinaus. Ich vermutete, dass das zumindest eine der Ursachen für Margas Depression war. Denn darum handelte es sich, wenn ich ehrlich war: um eine satte Depression und nicht mehr um einen schlichten Durchhänger, der sich nach ein paar Tagen Trübsalblasens von allein wieder gibt.

Kurzum, ich machte mir ziemliche Sorgen um meine Freundin und besuchte sie deshalb, sooft es meine Zeit erlaubte; auch wenn es mir zunehmend schwerfiel, weil der Umgang mit einem Menschen in so einem Zustand wirklich nicht leicht ist. Heute wollte ich sie allerdings überreden, mit in die »Heuschrecke« zu kommen. Das würde ihr guttun und meine Mission zudem unauffälliger erscheinen lassen. Es fiel einfach nicht so auf, wenn wir zu zweit waren und ich ganz nebenbei Koch und Kellner Fragen zu Sven Perrier stellte. Dann gingen wir als neugierige Damen durch, die sich trauten, einmal etwas Neues auszuprobieren, und nebenbei ein bisschen quasselten.

Also stopfte ich mein Portemonnaie in den Rucksack, schmiss mich in Jacke und Stiefel, wickelte den Schal fest um den Hals und krönte das Ganze mit einer bunt-bommeligen Pudelmütze Marke Hemlokk’scher Eigenbau. Meine Mutter hatte sie mir letztes Weihnachten zum Fest geschenkt. Ich liebte sie. Anschließend klopfte ich meinem in seiner Krankenkiste schlummernden griechischen Schildkröterich Gustav zum Abschied sanft auf den Panzer und schloss sorgfältig die Tür meiner Villa ab. Sie ist mit ihren zweiundvierzig Quadratmetern zwar klein und nicht mein, aber fein, und sie liegt einsam direkt am Passader See, weshalb ich nicht einmal umziehen würde, wenn eine Mischung aus Brad Pitt, Leonardo DiCaprio und Shia LaBeouf auf einem glänzenden Rappen durch mein kombiniertes Wohn-, Arbeits- und Esszimmer traben würde, um mich in ein französisches Schloss zu entführen. Ganz genau: Ich liebe meine Ruhe ebenso wie meine Unabhängigkeit. Gut gerüstet, machte ich mich also mit der Taschenlampe auf den kurzen Weg hinauf zum Haupthaus etwa einhundert Meter oberhalb meiner Villa.

»Marga, bist du da?«

Ich hatte kurz an die stets unverschlossene Wohnungstür geklopft und war eingetreten. Natürlich war sie da. Leblos wie eine Puppe saß meine Freundin in ihrem Sessel und blickte in die Dunkelheit zum See hinunter; eine ältere Frau mit brav gefalteten Händen im Schoß, deren Kampfgeist erloschen war. Der Anblick zerriss mir schier das Herz. So langsam wie eine von den wärmenden Strahlen der Sonne abhängige wechselwarme Schildkröte im Spätherbst wandte sie den Kopf in meine Richtung.

»Ach, du bist das, Schätzelchen.«

Ich zog mir einen Stuhl heran und setzte mich neben sie. Eine Weile schwiegen wir einfach und schauten gemeinsam in die Dunkelheit.

»Wie geht es dir heute, Marga?«, fragte ich schließlich leise.

»Danke, gut«, lautete die höfliche Antwort. Ich hätte sie am liebsten geschüttelt.

»Aber das stimmt doch nicht«, platzte ich heraus. »Schau dich doch bloß einmal an. Was ist los? Willst du es mir nicht endlich sagen? Vielleicht kann ich dir helfen!«

Ihre Schultern versteiften sich bei meinen Worten kaum merklich, und ihr Gesichtsausdruck wurde noch einen Hauch starrer. Abwehr pur. Es hatte keinen Sinn. Also wechselte ich das Thema. Allerdings hielt ich es für unklug, gleich mit der Tür ins Haus zu fallen. Sie verließ ihre Wohnung nämlich nur noch höchst ungern, wie man sich denken konnte.

»Stell dir vor, Johannes will jetzt FuckUp-Nights auf Hollbakken veranstalten. Das sind diese Dinger–«

»Ja, ich habe davon gehört. Das ist bestimmt richtig. Er braucht das Geld.« Es klang völlig gleichgültig.

»Also ich finde solche Veranstaltungen furchtbar«, probierte ich es noch einmal.

»Er braucht das Geld«, wiederholte sie tonlos. Ende der Durchsage. Früher hätten wir uns mit Lust und Laune die Mäuler über die FUNs zerrissen. Bei ein bis zwei Flaschen Wein und einem ordentlichen Stück Käse. Jetzt drohte sich eine meterdicke Leichendecke des Schweigens über uns zu breiten.

»Bei Bäcker Matulke hat man mir heute Morgen erzählt, dass sogar die Pilcherine und Fridjof Plattmann schon in der ›Heuschrecke‹ waren«, steuerte ich daher leicht angefasst auf mein eigentliches Ziel zu. Alles andere war offenbar verschwendete Liebesmüh. »Ich hätte ja zu gern einmal deren Gesichter gesehen, wenn sie in einen krossen Engerling beißen.«

Fridjof Plattmann war unser aller Vermieter. Wie meine Villa gehörte auch das Haupthaus diesem Bokauer Bauern mit einem ausgeprägten Sinn für Humor, wie er letzten Sommer mit der Schöpfung eines Kornkreises unter Beweis gestellt hatte. Er stritt seine Urheberschaft zwar immer noch ab, aber ich glaubte ihm kein Wort. Und bei der Pilcherine handelte es sich um die örtliche Tierärztin, Frau Dr.Renate Wurz, die im letzten Sommer ihre Leidenschaft fürs Schreiben von Sülzheimern entdeckt und mich zu ihrer Mentorin erkoren hatte. Erst drastische Maßnahmen meinerseits hatten sie davon absehen lassen, mich weiter ständig mit ihrem Quark zu belästigen.

»Die Pilcherine und der Plattmann, eh?« Endlich– eine Reaktion!

»Genau die. Siehst du«, fuhr ich entschlossen fort, als sie nicht weiter reagierte, »sogar die sind neugierig. Dann solltest du dich wohl auch einmal zu einem Besuch aufraffen.« Ich strahlte sie an, als sei ich soeben erst auf diese Bombenidee gekommen. »Was hältst du davon, wenn wir heute Abend gemeinsam in die ›Heuschrecke‹ gehen und uns ein paar schöne frittierte Fliegen gönnen?«

»Och, ich habe eigentlich gar keinen Hunger«, lehnte Marga ab. Ihr Gesicht war schmal und grau, und die schlaff herabhängenden Falten an ihrem Hals schienen über Nacht länger und tiefer geworden zu sein. Sie hatte ordentlich abgenommen in letzter Zeit, ohne Frage. »Aber es ist lieb von dir, dass du fragst.«

Mit einer Abfuhr hatte ich natürlich gerechnet. Also brachte ich das erste schwerere Geschütz in Stellung.

»Hör zu, Marga. Ob dein Magen knurrt oder nicht, ist jetzt nicht das Thema. Auf den Appetit kommt es an. Was du auf der Zunge spürst, verstehst du! Und der Quallensalat ist dort wirklich eine Wucht. Oberlecker. Mit klein geschnittenen Gurken und Frühlingszwiebeln, angemacht in einer Marinade aus Erdnussbutter, Sojasoße, Essig, Zucker, Zitronensaft, Salat- und Chiliöl. Ich habe es mir genau beschreiben lassen. Die Quallenstreifen schmecken darin wirklich pikant«, versuchte ich sie sozusagen anzufüttern.

Und tatsächlich– Marga gestattete sich den Anflug eines Lächelns. Immerhin.

»Das glaube ich dir ja alles, Schätzelchen. Aber sei mir nicht böse. Ich mag einfach nicht. Obwohl es gut klingt. Na ja, zumindest interessant.«

Auch damit hatte ich gerechnet. Man ist schließlich nicht umsonst ein höchst erfolgreiches Private Eye. Denn zu diesem Job gehört unabdingbar, dass man sich von den Schachzügen seines Gegenübers keinesfalls überraschen lassen darf. Die kennt oder ahnt man im Voraus und überlegt sich eine Möglichkeit, wie sie zu parieren sind. Sonst ist man verloren.

»Marga«, begann ich also streng und zündete damit Stufe zwei meiner Argumentationsrakete, »dann vergiss eben das Essen. Du kannst ja auch nur etwas trinken. Aber du musst dringend einmal raus aus deiner Bude, hörst du! Ich bin deine Freundin, und ich sage dir, es wird allerhöchste Zeit, dass du etwas anderes siehst als deine Wohnung. Wenn das so weitergeht, setzt du noch Moos an. Du musst wieder unter Menschen, sonst versauerst du langsam.«

»Ja«, sagte sie folgsam, »da hast du wohl recht. Aber mir ist einfach nicht danach.«

»Dann gib dir einen Schubs, verdammt! Ich brauche dich. Du würdest mir einen großen Gefallen tun.«

Hemlokk, ermahnte ich mich im selben Moment. Ganz ruhig. Damit erreichst du gar nichts. Sagte ich bereits, dass Taktik manchmal nicht zu meinen Stärken gehört? Marga warf mir einen unergründlichen Blick zu.

»Ich danke dir für deine Sorge um mich, Schätzelchen. Wirklich. Ich finde das sehr nett und geradezu rührend. Aber du brauchst mich bestimmt nicht.«

Nett! Du großer Gott. Sie wusste genau, wie ich das Wort hasste, weil es so lilalau und beliebig war. Wenn sie mich angebrüllt hätte, hätte ich mich weitaus wohler gefühlt. Diese emotionslose Höflichkeit war schlimmer zu ertragen als all ihre bekloppten Pläne zum Schutz der Meere zusammen. Aber einen Pfeil, nein, wenn man es genau nahm sogar zwei, hatte ich noch im Köcher. Ich beugte mich zu ihr hinüber, nahm ihre Hände in meine und blickte ihr fest in die Augen.

»Gut, du willst nichts essen, du willst nicht raus. Das nehme ich zur Kenntnis. Aber zwei Sachen sprechen dagegen. Einmal brauche ich dich nämlich wirklich als Tarnung, Marga. Und zwar dringend. Weil ich unauffällig Fragen zu Sven Perriers Tod stellen muss. Das war also keineswegs nur so dahergesagt.«

»Soso.« Endlich meinte ich einen Funken von Leben in ihren Augen zu entdecken. »Lass mich raten, Schätzelchen. Du hältst sein Sterben nicht für eine natürliche Angelegenheit.«

»Richtig.«

»Und du bist sicher, dass das nicht einzig und allein an deinem Beruf liegt? Dass du überall Morde witterst, meine ich, weil du als Privatdetektivin arbeitest und alles nur durch diese Brille siehst?«

»Absolut sicher. Da stimmt etwas nicht«, erwiderte ich feierlich.

Immerhin schien sie über meine Worte nachzudenken, wobei sie eine Schnute zog, die bei einer Dame in ihrem Alter nur witzig aussah.

»Okay«, sagte sie dann gedehnt. »Ich nehme das ebenfalls zur Kenntnis. Und was ist mit zweitens?«

Für einen Moment hatte ich den Faden verloren und schaute sie ratlos an.

»Du hast von zwei Sachen gesprochen, Schätzelchen«, erinnerte sie mich prompt.

Sieh an, etwas von der alten Marga war also durchaus noch vorhanden. Vor Erleichterung hätte ich ihr fast einen freundschaftlichen Rippenstoß versetzt, konnte mich jedoch im letzten Moment bremsen.

»Ja, habe ich.« Ich senkte meine Stimme zu einem dramatischen Bühnenflüstern, denn jetzt kam das ultimative Marga-Argument. »Du weißt natürlich, dass die Zahl der Quallen weltweit alarmierend zunimmt. Weil sie nur aus Glibber und Wasser bestehen und ihnen die zunehmende Übersäuerung der Meere deshalb nichts anhaben kann.«

Kunstpause. Sie gab ein Geräusch von sich, das wohl eine Art Zustimmung signalisieren sollte. Doch ihre Miene war wachsam bis misstrauisch.

»Die Übersäuerung lässt diese Viecher total kalt, während ihre Fressfeinde immer weniger werden, weil die nämlich mit dem sauren Zeug nicht umkönnen und reihenweise wegsterben. Bald wird die Ostsee daher nur noch ein einziger riesiger Wackelpudding sein, wenn nichts geschieht und wir nichts unternehmen.«

Stimmte das so? Na ja, es war vielleicht ein wenig überzogen, aber in etwa und von der Tendenz her war das schon richtig, denke ich.

»Ja, ich weiß. Es ist furchtbar.« Immerhin schielte Marga jetzt nicht mehr halb aus dem Fenster in die stockfinstere Nacht, sondern sah mich mit beiden Augen an.

»Zumal man diese Billiarden und Trillionen von Quallen weder fangen noch vierteilen kann«, schob ich geschwind hinterher, um sie bei der Stange zu halten.

»Ja, das weiß ich auch.« Sie hörte mir tatsächlich zu. Das war nicht immer so gewesen.

»Also«, fuhr ich entschlossen fort, »muss man sie anders bekämpfen.« Zwei, drei Sekunden ließ ich verstreichen, um die Wirkung meiner Worte noch zu steigern. »Nämlich indem man es so macht wie die Chinesen.«

Plötzlich schienen die Muskeln in Margas Gesicht wieder zu funktionieren. Nichts hing mehr. Ich meinte sogar so etwas wie ein leichtes Interesse in ihren Zügen zu entdecken. Heureka, mein Plan konnte gelingen!

»Aufessen?«, schlug sie schließlich nach kurzer Überlegung vor, als ich eisern schwieg.

»Ganz genau«, bestätigte ich feierlich. »Was man nicht im Kampf besiegen kann, verspachtelt man einfach. Das ist eine uralte chinesische Kriegstaktik und… äh… Weisheit.«

Draußen pfiff eine Bö durch die kahlen Äste der Pappeln, die das Grundstück begrenzten. Es war ein urtümliches, elementares Geräusch. Ich mochte es sehr.

»Konfuzius?«, fragte Marga beiläufig, und ich meinte jetzt tatsächlich mehr als den Hauch eines echten Lächelns auf ihrem blassen Gesicht erkennen zu können.

ZWEI

Marga war tatsächlich mitgekommen. Brummelnd und höchst widerwillig zwar, aber sie hatte sich ebenfalls in Jacke und Stiefel gezwängt und war mir gefolgt. Ich war mächtig stolz auf mich gewesen, denn das hatte seit Wochen niemand mehr geschafft: weder ihre alten beziehungsweise jugendlichen Kumpel Theo und Krischan noch mein Freund und Liebhaber Harry Gierke, der seit Kurzem als gefühlter Einsiedel, weil ohne seinen heiß geliebten Neffen Daniel, auf der gleichen Etage wie Marga in der Nachbarwohnung hauste. Brav hatte sie sogar den von mir so gepriesenen Quallensalat bestellt, während ich mich an die Medusen als Sushi gewagt hatte, was in Japan der neueste Schrei sei, wie mir der jugendliche Kellner– blütenweißes Hemd, lange schwarze Schürze einschließlich des so oft damit einhergehenden leicht blasierten Gesichtsausdrucks– wiederholt versicherte: kein Gramm Fett, kein Cholesterin, dafür jede Menge hochgesunder Spurenelemente; kurzum, es sei eine Mischung, die für Business-Powerfrauen oder… äh… im Alter nicht zu toppen sei. Dabei hatte er mich so treuherzig angeblickt wie ein Dackel, der soeben die Fleischwurst vertilgt hat.

Mhm. Ich glaubte kaum, dass ich in seinen vielleicht knapp fünfundzwanzigjährigen Augen als Business-Powerfrau durchging. Sei’s drum, ich nahm es dem Bürschchen nicht übel. Als ich unter dreißig gewesen war, hatte ich auch alle Leute über dieser magischen Grenze automatisch für scheintot gehalten. So ist das eben. Ändern wird sich das nie. Und um es gleich vorwegzunehmen: Das Mahl war für einen mittel- bis nordeuropäischen Gaumen tatsächlich gewöhnungsbedürftig, drücken wir es einmal so aus. Vor die Wahl gestellt, hätte ich den hierzulande in der Winterzeit allgegenwärtigen Grünkohl mit Kassler und Kochwurst eindeutig vorgezogen– selbstverständlich in der norddeutschen süßen Variante.

Unser Kellner hieß Karl und war von der mitteilungsbedürftigen Sorte. Kumpel Rico, der Koch, und er planten, das Restaurant nach dem Tod des Chefs in Eigenregie weiterzuführen, erzählte er uns ungefragt, kaum dass wir saßen. Denn das Lokal sei Abend für Abend rappelvoll, wie Perrier es prophezeit habe; es gebe also selbst in einem Dorf wie Bokau mit seinen knapp dreihundert Einwohnern, der einen Hauptstraße, dem Bäcker und Inge Schiefers bislang einziger Gaststätte einen Bedarf an Exotischem.

Ich sah ihm großzügig nach, dass ihm bei seinen Ausführungen eindeutig das Wort »Kaff« auf den Lippen gelegen hatte. Man könne auch sagen, die Leute dürsteten regelrecht nach etwas Neuem, hatte er uns ernst mitgeteilt, während er unsere Bestellung aufnahm. Es war der einzige Moment gewesen, wo ich meinte, von Marga ein leises Gnuckern zu hören. Das tat gut! Denn der Junge würde sich tatsächlich noch wundern. Ich teilte ihre Meinung. Wenn der erste Hype vorbei war und sich die Aufregung um die frittierten Maden gelegt hatte, würden etliche Leute mit ziemlicher Sicherheit wieder brav zu Inge Schiefers Fleischtöpfen zurückkehren. Erst dann begann für die »Heuschrecke« die eigentliche Bewährungsprobe. Ich hatte es ohnehin von Anfang an verblüffend gefunden, dass auch so viele der nun nicht gerade für ihre Offenheit gegenüber Neuem berühmten Bokauer zumindest ein Mal den Weg in dieses Etablissement gefunden hatten. Aber vielleicht lag das an dem Marketing-Trick Perriers: Zwei Tische in dem ohnehin nicht sehr großen Lokal hatte er vom ersten Tag an ausdrücklich für Einheimische reserviert, damit sie auf jeden Fall einen Platz bekämen, wenn sie dem Klischee vom kulinarisch hinterwäldlerischen Dörfler etwas entgegensetzen wollten. Tja, und da musste man sich doch einfach mal hier reinwagen und zeigen, dass man zu diesem erlesenen Kreis der Privilegierten gehörte.

Als Karl mit unserer Bestellung abgezogen war, schaute ich mich interessiert im Lokal um. So ganz verdenken konnte man dem Bürschchen dessen Enthusiasmus allerdings auch nicht. Denn wir waren beileibe nicht die einzigen Gäste an diesem trüb-nebligen Oktoberabend, die sich in der von der Dekoration her zwischen blumigem Hawaii-Ambiente und treudeutschem Biedermeier schwankenden Speisestätte den Bauch mit sojagetränkten Quallen und frittierten Engerlingen vollschlugen. Neben uns saßen zwei junge Frauen aus dem Neubaugebiet, die sich ein ganzes Medusenbüfett bestellt hatten und quietschend und prustend in jedes Schüsselchen piksten. Ich kannte sie lediglich vom Sehen, hatte jedoch noch nie ein Wort mit ihnen gewechselt. Etwas weiter weg hatte ein älteres Ehepaar Platz genommen; ihm sah man an, dass sie ihm lediglich die Wahl zwischen Scheidung, Tod und Schlimmerem sowie dieser Glibbermasse gelassen hatte. Sie hingegen wirkte ausgesprochen fröhlich und kaute hingebungsvoll, während er äußerst spitzzähnig lediglich hin und wieder etwas in den Mund schob. Sie hießen Berkner oder so ähnlich und wohnten in Passade. Die anderen Gäste waren mir fremd.

Ich hatte mit meiner Fragerei gewartet und versucht, mich mit Marga zu unterhalten, bis die meisten Testesser gegangen waren und Karl etwas mehr Luft hatte. Zunächst hatte ich ihn nochmals in ein harmloses Gespräch über Bokau und die Aussichten der »Heuschrecke« verwickelt, wobei ich Marga unter dem Tisch mehrmals auf den Fuß trat, damit sie sich an dem Geplauder beteiligte. Nach einer etwas holperigen Anlaufphase machte sie ihre Sache ganz ordentlich, erzählte, dass sie schon einmal Schlange gekostet habe, und erwähnte sogar Johannes’ FuckUp-Night-Projekt, was Karl höchst interessant fand. Er schöpfte keinen Verdacht, als ich ihn fragte, was er denn von Sven Perriers merkwürdigem Abgang aus dieser Welt halte: durch eine Kuh, ich bitte Sie! Eine blödere Art, zu Tode zu kommen, gäbe es ja wohl kaum.

Na ja, es sei schon irgendwie ziemlich tragisch gewesen, hatte er achselzuckend gemeint, aber Rico und er hätten sich darüber eigentlich nicht groß Gedanken gemacht. Weil es doch ein Unfall gewesen sei und sie beide sich eher nicht ausmalen wollten, wie Sven… Und außerdem sei dies ihre Chance. Sie hätten deshalb hinterher, wie er es ebenso trocken wie emotionsfrei formulierte, ausschließlich über das Restaurant und ihre Zukunft geredet. Ob sie die Speisekarte erweitern sollten etwa. Vielleicht um Schnitzel mit Pommes und Seelachsfilet in Eihülle, weil ja nun einmal nicht alle Leute Quallen mögen. Das sei sicher eine gute Idee, hatte Marga sanft bemerkt. Ich hatte geschwiegen. Karl und sein Partner waren durch das Ableben ihres Chefs offensichtlich nicht gerade bis ins Innerste erschüttert worden. Die beiden jungen Männer interessierten sich ausschließlich für ihr eigenes Schicksal und ihre Zukunft. An dem Tod Perriers sei ihnen also rein gar nichts seltsam vorgekommen, hatte ich schließlich noch einmal deutlicher nachgeschoben. Hatte es vielleicht vorher irgendwelche Auffälligkeiten gegeben? War jemand sauer auf Perrier gewesen? Hatte ihn jemand bedroht?

Karl schaute mich mit kugelrunden Augen an. Marga produzierte ein gekünsteltes glockenhelles Gegiggel. Man mache sich ja manchmal die blödsinnigsten Gedanken, kam sie mir ungelenk zu Hilfe. Sven Perrier habe so lebenslustig gewirkt. Und er sei ein feiner Kerl gewesen. Deshalb sei sein Ende so unvorstellbar. Ich stimmte dem umgehend zu.

Na ja, meinte Karl zögernd, ihm sei nichts in der Richtung aufgefallen. Gar nichts. Und Rico bestimmt auch nicht. Alles sei völlig normal gewesen, soweit er es sagen könne. Außerdem seien Perrier und sie lediglich Geschäftspartner gewesen, keine Freunde. Sven habe ihnen nichts Privates erzählt. Und jeder sei sich selbst der Nächste, nicht wahr?

Trotzdem hätte ich schon ein bisschen mehr an Betroffenheit erwartet, wenn der Chef von einer wild gewordenen Kuh zertrampelt wird.

»Klinger ist nicht gut auf uns zu sprechen«, sagte Karl plötzlich, nachdem er ein Bier am Nachbartisch serviert hatte. »Der hat mal getwittert, dass so ein Ekel-Fraß, wie wir ihn in der ›Heuschrecke‹ anbieten würden, nicht zu Bokau passt und er deshalb solche Lokale glatt verbieten würde, wenn die nicht sowieso pleitegingen.«

Den Tweet hatte ich gelesen. Die Wortwahl des Bürgermeisters in spe war allerdings weitaus drastischer ausgefallen, woraufhin unsere Ostseebeauftragte für Brüssel und Berlin irgendetwas von der anscheinend angeborenen bodenlosen Dumpfbackigkeit so manches Möchtegern-Volksvertreters geschwafelt hatte. Unterstes Niveau bei beiden. Aber darüber konnte ich mich im stillen Kämmerlein aufregen. Jetzt war Karl dran.

»Hatten Perrier und Klinger denn Kontakt?«, fragte ich ihn ganz direkt. »Privat, von Mensch zu Mensch, oder in den sozialen Netzwerken vielleicht?«

»Null Check«, teilte er mir achselzuckend mit. »Hier im Restaurant haben sie sich meines Wissens zumindest nicht getroffen. Das hätte ich ja gesehen. Aber vielleicht haben sie mal telefoniert. Am Abend vor seinem Tod hat Perrier jedenfalls einen Anruf erhalten. Ich stand direkt daneben.«

Er fummelte jetzt an seiner Schürze herum und war gleichzeitig abgelenkt durch ein junges Mädchen, das ihre gebleachten Zähne hingebungsvoll in etwas kross Frittiertem versenkte und dabei selbst zum Anbeißen aussah.

»Von Klinger?«, bohrte ich nach.

»Äh… wie?«

»Könnte der Anrufer Klinger gewesen sein?«

»Keine Ahnung. Ich weiß es nicht. Das sagte ich doch schon«, kam es pampig zurück. »Der Mensch hat nicht so laut gesprochen, dass ich etwas verstehen konnte. Und Sven hat nur mit Ja oder Nein geantwortet und den nicht mit Namen angesprochen. Unser Chef hielt seine Privatangelegenheiten sowieso gern unterm Deckel.«

Ja, kurz danach sei Perrier dann aufgebrochen, teilte er mir immer noch abgelenkt durch das junge Mädchen mit. Aber er, Karl, habe sich darüber keine Gedanken gemacht– natürlich, ich hatte auch nichts anderes mehr erwartet–, der Laden sei voll gewesen, und Sven habe nichts gesagt.

»Ihr Chef hat das Restaurant zur Hauptessenszeit verlassen. Und das ist Ihnen nicht merkwürdig vorgekommen?« Unwillkürlich schüttelte ich den Kopf. Wie vernagelt konnte man denn sein?

»Nö. Sie sagen es ja selbst: Er war der Chef. Also war es seine Sache. Und ich hatte wirklich alle Hände voll zu tun. Und Rico in der Küche auch«, verteidigte sich Karl, verlagerte sein Körpergewicht vom rechten auf das linke Bein und schob es angriffslustig vor. »Hören Sie, dieser Klinger wird doch Sven nicht umgebracht haben, nur weil er keine Quallen und Maden mag. Und ob Perrier noch andere Feinde gehabt hat, weiß ich nicht. Ich habe auch keinen Schimmer, was er ausgerechnet auf dieser blöden Wiese wollte. Was geht Sie das eigentlich alles an? Sven Perrier ist tot und begraben. Daran ist nichts Merkwürdiges.«

Und dann beugte sich dieser rotwangige Milchbubi zu mir herab und zischte wütend: »Sie sind diese Detektivin, richtig? Daran liegt es denn wohl auch, dass Sie überall nur Morde sehen und Tote nicht ruhen lassen können.« Marga besaß immerhin so viel Anstand zu hüsteln. Genau das waren ihre Worte gewesen. »Nein, die blöde Kuh hat Sven auf dem Gewissen. Das war’s. Nichts steckt dahinter. Gar nichts. Rico und ich wären Ihnen sehr dankbar, wenn Sie das beherzigen würden. Negative Schlagzeilen und üble Nachrede können wir nämlich nicht gebrauchen, die sind äußerst schlecht fürs Geschäft.«

War das etwa eine lupenreine Drohung? Na warte, Freundchen. So sprang man nicht mit Hanna Hemlokk um. Ich fixierte ihn kühl.

»Ich gebe Ihnen einen guten und kostenlosen Rat, Karl. Halten Sie besser die Luft an. Ich kann ziemlich ungemütlich werden, wenn man mich unter Druck setzen will.«

»Das stimmt«, assistierte Marga eifrig. Weil sie mir vor noch nicht einmal zwei Stunden exakt die gleiche professionelle Deformation unterstellt hatte? »Das Schätzelchen hier hat eine ziemlich fiese Ader. Man denke nur an die bedauernswerte Pilcherine. Das arme, arme Mädchen. Glatter Nervenzusammenbruch, nachdem Hanna mit ihr fertig war. Da half auch nichts Ambulantes mehr.«

In Karls Augen begann es zu flackern, obwohl er bestimmt nicht wusste, wer die Pilcherine oder ihre namensgebende Rosamunde waren. Na also, ging doch. Lässig bestellte ich für Marga und mich noch einen Jubi statt eines teureren japanischen Reisschnapses, dann brachen wir auf.

In dieser Nacht schlief ich schlecht. Ob mir das Quallen-Sushi, so schrecklich bekömmlich und obergesund es auch sein mochte, bleischwer im Magen lag oder ob das stete Heulen des Windes an meinen Nerven zerrte– ich konnte es nicht sagen. Wie gerädert schwang ich mich am nächsten Morgen aus dem Bett und wankte unter die Dusche. Im Sommer wäre ich jetzt an die Ostsee gefahren und hätte mir ein klares Hirn erschwommen. Aber bei satten drei Grad plus und einem zünftigen Nordoststurm, der einem auf dem Deich nicht nur die Nasenspitze rot färbte sowie zuverlässig die Nebenhöhlen einfrieren ließ? Nein danke. Ich ließ sogar die Vorhänge zu, während ich frühstückte, denn ein kurzer Blick aus dem Fenster auf den Passader See zeigte mir, dass wieder einmal Grau die Farbe des Tages war: das Wasser hellgrau, der Himmel steingrau und die umliegenden Felder braungrau. Die Natur lag da wie tot.

Und das war ein Gedanke, der mich umgehend zu meinem Schildkröterich trieb. Denn der verblichene Sven Perrier hin oder her, in seinem Zustand konnte der ebenso warten wie die Beschäftigung mit Klinger und dem Kellner Karl. Gustav war nämlich ernsthaft krank. Seit Wochen schon. An einem wunderschönen Spätsommertag hatte er Knall auf Fall das Fressen eingestellt, und ich machte mir zunehmend Sorgen um ihn. Mit seinen rund fünfundvierzig Jahren war er schließlich noch ein Krötenmann im besten Alter. Das Hannelörchen, seine tierische Lebensgefährtin und Mutter der vier Strandknacker, schlummerte mittlerweile süß und selig neben ihrem Nachwuchs im vier Grad kalten Kühlschrank. Bei Gustav hatte ich mich das nicht getraut und ihn in diesem Herbst nicht in den Winterschlaf geschickt, sondern stattdessen in einer grün übermalten hölzernen Weinkiste neben dem dänischen Kaminofen geparkt, den mir mein Vermieter Fridjof Plattmann als Dankeschön für einen gelösten Fall spendiert hatte.

»Na, Junge«, sagte ich leise zu Gustav, als ich mich neben seine Behausung kniete. Er lebte schon in meiner Familie, bevor ich geboren wurde. Wir waren zusammen aufgewachsen. Daher verband uns einiges. »Wie geht’s uns denn heute?«

Dabei wedelte ich aufmunternd mit einem knackigen Eisbergsalatblatt vor seinen Nasenlöchern herum. »Riech doch mal. Mhmmm, wie das duftet! Total oberlecker, findest du nicht?«

Nein, tat er nicht, schon klar. Aber was redet man mit einem kranken Schildkröterich? Künftige FuckUp-Events auf Hollbakken waren ebenso wenig sein Thema wie ein von der Highlanderin zerquetschter Gastwirt und dessen verdächtiger Kellner samt Kumpel. Arwed Klinger mit seinen schwachsinnigen Tweets hatte ihn noch nie interessiert, soweit ich es beurteilen konnte, und als echte Hilfe bei der Frage, wie ich möglichst elegant herausbekam, wer Perriers letzter Anrufer gewesen war, würde er sich auch nicht entpuppen. Solche Dinge sprengten Gustavs geistige Kapazitäten. Tja, mein Schatz war nun einmal nicht so helle. Dafür konnte er als Reptil nichts. Es lag halt an seiner Platzierung auf einer eher niedrigen Evolutionsstufe. Ich gestand es in Gustavs Gegenwart nur ungern ein: Aber in diesem Moment fehlte mir Silvia sehr, meine kühische Nachbarin und Freundin von der Wiese gegenüber. Mit ihr konnte ich nämlich Privates und Berufliches besprechen, sie hatte selbst in kniffligen Fällen immer eine Antwort parat. Doch die Gute war bis zum Mai nicht zugriffig und weilte, wie schon erwähnt, mit ihrer Herde den Winter über im Stall. Letzte Woche hatte der Bauer sie abgeholt.

Natürlich war ich mit Gustav auch schon beim Tierarzt gewesen. Der hatte zwar sorgenvoll sein Löwenhaupt geschüttelt und ihn von oben und unten sowie von vorn und hinten geröntgt, was mich eine Stange Geld gekostet hatte, aber eine Diagnose war dabei nicht herausgekommen.

»Das gibt’s«, hatte der Veterinär am Schluss der Untersuchung achselzuckend erklärt. »Manchmal fressen sie eben nicht. Ich kann nichts entdecken. Organisch fehlt ihm nichts.«

Ich hatte mich nicht zurückhalten können.

»Sie meinen«, hatte ich zuckersüß geflötet, »sein Leiden ist eher seelischer Natur? Vielleicht hat er Zoff mit dem Hannelörchen? Oder es kriselt zwischen uns, aber er traut sich nicht, den Mund aufzumachen?«

Der Mann hatte uns wortlos die Tür aufgehalten. Humorloser Knilch!

»Hör mal«, sagte ich jetzt zu Gustav, der mit geschlossenen Kauleisten zu mir hochblickte. Seine Äuglein blitzten immerhin noch. Noch! Ich hatte mich mittlerweile neben ihn gesetzt und schlürfte an meiner letzten Tasse Tee. »Ich denke, wir sollten es noch einmal… tja… trotz aller Widrigkeiten, sag ich mal, miteinander versuchen. Was meinst du? Ich brauche einfach jemanden zum Reden. Und vielleicht lenkt dich das ja von deinem seelischen Kummer ab.«

Er gähnte, sodass ich die winzige rosa Zunge sehen konnte. Na bitte. Wenn das kein einladendes, lautes »Ja« war!

»Also, hör zu. Diesem Karl aus der ›Heuschrecke‹ ist der Tod seines Chefs offensichtlich völlig wurscht. Ich finde das ein bisschen seltsam«, begann ich. »Als ob er zusammen mit seinem Kumpel Rico nur darauf gewartet hätte, das Restaurant zu übernehmen. Das wäre ein bärenstarkes Mordmotiv. Ob der mich mit dem Anruf angelogen hat, um mich mit einer falschen Fährte gezielt in die Irre zu führen? Weil in Wahrheit Karl und Rico Perrier auf die Wiese gelockt haben?«

Gustav sah mir fest in die Augen. Silvia hätte sich deutlicher geäußert. Ach verdammt. Aber konnte der Gute etwas dafür? Nein, natürlich nicht. Es war meine Aufgabe, seine Kommentare zu lesen und zu interpretieren.

»Du meinst also«, fuhr ich nachdenklich fort, »da könnte durchaus etwas dran sein. Denn das stimmt schon vom Motiv her gesehen. Die wollen die ›Heuschrecke‹ übernehmen. Aber ihr Alibi wird sich nicht leicht knacken lassen. Eigentlich müssten die beiden ja zum Zeitpunkt von Perriers Tod im Lokal gewesen sein. Mit fünfzig hungrigen Zeugen drumherum, wenn der Laden voll besetzt war, wie Karl behauptet. Aber du hast natürlich völlig recht: Ich muss da auf jeden Fall nachhaken. Und was hältst du von der Klinger-Verbindung, die Karl angedeutet hat?«

Gustavs Haupt war auf den Boden gesunken. Er schnarchte. Und zwar ziemlich laut. Ich kannte das schon; die Müdigkeit übermannte ihn immer ganz plötzlich.

»Nichts. Aha.« Ich wackelte bedächtig mit dem Kopf. »Wenn du dich da man nicht irrst. Ich bin ganz und gar nicht deiner Meinung. Dem Klinger traue ich alles zu; der würde für ein bisschen Aufmerksamkeit seine Oma ermorden. Vielleicht wollte er Sven ja auch nicht gleich umbringen, sondern nur… tja, was weiß ich? Auf jeden Fall muss ich mich um diesen seltsamen Anruf kümmern und sehen, was es damit auf sich hat. Denn höchstwahrscheinlich war das der Mörder, der Perrier zur Wiese gelockt hat.«

Keine Antwort. Silvia wäre jetzt mit der Zunge in beide Nasenlöcher geschluppt– erst ins linke, dann ins rechte– oder hätte einen heißen Strahl abgelassen, um mir zu zeigen, dass sie mein Vorgehen billigte.

»Und zum Charakter von schottischen Highlandern kannst du natürlich auch nichts Erhellendes beisteuern, mhm?« Ich hörte selbst, dass ich ein bisschen grantig klang. »Die gelten nämlich gemeinhin als ziemlich friedfertig, was die ganze Angelegenheit noch seltsamer macht.«

Wieder keine Reaktion. Gustav war eindeutig überfordert. Ich brach das Experiment ab.

»Hannelore und deiner Brut geht es in ihrem Luxus-Iglu gut«, teilte ich ihm stattdessen barsch mit. »Ich habe gestern nach ihnen gesehen.«

Damit in diesem Punkt keine Missverständnisse aufkommen: Sie haben einen eigenen Kühlschrank, der in meinem Fahrradschuppen steht, denn ins Gemüsefach meiner Kühlbox kommen mir die Herzchen nicht. Zugegeben, das Ganze hört sich für menschliche Ohren eher furchtbar, weil wie lebendig begraben an, aber in unseren unwirtlichen Breitengraden ist das die zuverlässigste Methode, um die Tiere unfallfrei über die kalte Jahreszeit zu bekommen. Schildkröten sind nun einmal wechselwarm, was bedeutet, dass sie gnadenlos von der Außentemperatur abhängig sind. Ab Oktober haben sie deshalb im Norden Deutschlands keine Chance mehr. Daher bade ich sie um diese Zeit in warmem Wasser, auf dass der Darm leer werde und sie nicht von innen verschimmeln, lasse sie wieder herunterkühlen, und ab geht’s in den Frierer bei besagten konstanten vier Grad Celsius. Einmal in der Woche gibt es eine ordentliche Portion Luft, und im April wecke ich sie wieder auf. Dann werden sie erneut warm gebadet, damit alles in die Gänge kommt, bevor ein weiterer aufregender Sommer beginnt. Na ja, aufregend nach Krötenmaßstäben halt. Diese Methode ist ebenso genial wie ideal für eine gesunde Kröte, die ordentlich Speck unterm Panzer hat. Nur hatte Gustav genau das eben nicht, und ich wusste nicht so recht, wie es mit ihm weitergehen sollte.

»Ach du Schreck«, entfuhr es mir entgeistert. Das breit feixende rote Rentier auf Harrys grün-pulloverner Brust schien mir kumpelhaft zuzuzwinkern. »Hast du den etwa selbst gehäkelt oder trägst du den undercover?«

Ich hatte meinen Liebsten mehrere Tage nicht gesehen, weil er genauso wie ich zu tun gehabt hatte. Das kam öfter vor. Wir waren schließlich kein altes Ehepaar, das nur noch die gemeinsamen Mahlzeiten und die tägliche Dosis Fernsehen verbindet. Jeder führte sein eigenes, mehr oder minder packendes Leben. Er arbeitete als freier Journalist und war bereits so mancher Schweinerei im Land zwischen den Meeren und darüber hinaus auf die Spur gekommen. Ich hatte ihm– in aller Bescheidenheit– so einige Male dabei geholfen. Den ganz großen Durchbruch hatte er allerdings noch nicht geschafft, worunter er in regelmäßigen Abständen litt. Dann musste ich ihn trösten und wieder aufrichten, was ich gern tat. Denn er stand mir in meinen Fällen ebenfalls ohne Wenn und Aber zur Seite, wenn Not am Mann war. Jetzt hockte dieses journalistische Naturtalent mit ausgebreiteten Armen auf der Seitenlehne meiner roten Couch, das rechte Bein tippte auf den Boden, das linke hing pendelnd in der Luft.

»Weder noch, Hemlokk. Ich habe ihn online bestellt. Du bist einfach nicht auf den Laufstegen dieser Welt zu Haus. Weihnachtsmotive sind nämlich der letzte Schrei bei Menschen, die nicht nur modisch etwas auf sich halten.«

Bei diesen güldenen Worten bedachte er mich mit einem derart nachsichtigen Lächeln, dass mein Blutdruck augenblicklich in gefährliche Höhen schoss.

»Davon werden diese Teile auch nicht schöner«, blaffte ich ihn an. »Und man muss nicht auf jeder Welle mitschwimmen, Harry. Das steht nirgendwo geschrieben. Und außerdem bist du dafür zu alt.«

Zugegeben, ich hatte an diesem Abend nur mäßig gute Laune, weil ich in den letzten Tagen in der Alibisache keinen Millimeter weitergekommen war, obwohl ich mich wirklich dahintergeklemmt hatte. Es war noch relativ leicht gewesen, einige von den Gästen, die an jenem Abend in der »Heuschrecke« gegessen hatten, ausfindig zu machen. Bauer Plattmann samt Ehefrau war zum Beispiel zu später Stunde auf eine Mehlwurmplatte eingekehrt– die schmeckten ähnlich wie Heuschrecken leicht nussig, hatte mir mein Vermieter mit undurchdringlicher Miene mitgeteilt. Beide Plattmänner hatten sich willig befragen lassen, obwohl sie durchblicken ließen, dass sie mein Engagement für übertrieben hielten. Sie hatten zwar sowohl Karl als auch Rico immer wieder mal gesehen. Doch sie konnten nicht beschwören, dass die beiden Männer ständig im Restaurant gewesen waren. Rico hätte in der Küche werkeln oder aber Sven Perrier vor die Hörner und Hufe der Highlanderin treiben können. Und einmal habe nicht Karl sie bedient, sondern eine junge Aushilfskraft mit grünen Stoppelhaaren und Tattoos am ganzen Körper. Wo der Mann sich in dieser Zeit herumgetrieben habe? Nichts Genaues wusste man nicht. Plattmanns konnten es einfach nicht sagen.