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Nach einer aufreibenden Nachtschicht will der Streifenpolizist Sönke Tillmann eigentlich nur noch eines: SCHLAFEN! Als es dann allerdings an seiner Wohnungstür klingelt und sein blutüberströmter Nachbar vor ihm steht, ahnt Sönke noch nicht, welche Konsequenzen das für ihn selbst hat – plötzlich beschuldigt man ihn eines Doppelmordes. Für Wegner und sein Team ist der Fall anfangs völlig klar: Ein Kollege ist durchgedreht und hat für tödliche Fakten gesorgt. Doch dann kommen erste Zweifel auf, schließlich gibt es einen Zeugen, der alles gesehen hat: Herrn Müller. Problematisch ist nur, dass es sich dabei um einen launischen Papagei handelt, der seinen Schnabel nur selten im richtigen Moment öffnet.
(Jeder Wegner-Fall ist eine in sich abgeschlossene Geschichte. Es kann jedoch nicht schaden, auch die vorangegangenen Fälle zu kennen ...;)
Aus der Reihe Wegners erste Fälle:
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Veröffentlichungsjahr: 2022
Herr Müller
Wegners letzte Fälle
von Thomas Herzberg
Alle Rechte vorbehalten
Fassung: 1.0
Cover: Titel: die_freundliche_spinne / photocase.de; Hamburg Skyline: pixelliebe/stock.adobe.com
Covergestaltung (oder Umschlaggestaltung): Marius Gosch, www.ibgosch.de
Die Geschichte ist frei erfunden. Alle Ähnlichkeiten mit lebenden Personen und/oder realen Handlungen oder Schauplätzen sind rein zufällig. Sämtliche Äußerungen, insbesondere in Teilen der wörtlichen Rede, dienen lediglich der glaubhaften und realistischen Darstellung des Geschehens. Ich verurteile jegliche Art von politischem oder sonstigem Extremismus, der Gewalt verherrlicht, zu selbiger auffordert oder auch nur dazu ermuntert!
Ein großes Dankeschön geht an:
Frau Schmidt(für ihre wertvolle Hilfe bei der Entstehung)
meine lieben TestleserInnen Antje, Birgit und Nicolas (in alphabetischer Folge)
Nach einer aufreibenden Nachtschicht will der Streifenpolizist Sönke Tillmann eigentlich nur noch eines: SCHLAFEN! Als es dann allerdings an seiner Wohnungstür klingelt und sein blutüberströmter Nachbar vor ihm steht, ahnt Sönke noch nicht, welche Konsequenzen das für ihn selbst hat – plötzlich beschuldigt man ihn eines Doppelmordes. Für Wegner und sein Team ist der Fall anfangs völlig klar: Ein Kollege ist durchgedreht und hat für tödliche Fakten gesorgt. Doch dann kommen erste Zweifel auf, schließlich gibt es einen Zeugen, der alles gesehen hat: Herrn Müller. Problematisch ist nur, dass es sich dabei um einen launischen Papagei handelt, der seinen Schnabel nur selten im richtigen Moment öffnet.
Das erste Klingeln drang nicht mal bis zu seinem Verstand vor. Das zweite hatte er noch in seinen Traum eingebaut, bei dem es um Benni ging: Den ersten Familien-Bobtail, der schon seit über zwanzig Jahren tot war. Erst das dritte Klingeln schaffte es, ihn richtig aufzuwecken und sorgte gleich für ausgewachsene Wut.
Dafür gab es gute Gründe. Polizeikommissar Sönke Tillmann hatte eine aufreibende Nachtschicht hinter sich. Zusammen mit seinem blutjungen Kollegen war er von einem Einsatzort zum nächsten gerast: hier eine Schlägerei, dort eine Ruhestörung. Das Schichtende lag bereits zum Greifen nahe, da meinte ein treusorgender Familienvater aus Wilhelmsburg, Frau und Tochter gleich im Doppelpack verprügeln zu müssen. Drei Streifenwagenbesatzungen waren nötig, um ihn vom Gegenteil zu überzeugen.
Es klingelte schon wieder. Ein dauerhaftes Schrillen. Entweder der Knopf klemmte oder jemand hatte vollständig den Verstand verloren.
Sönke warf einen Blick auf seinen Wecker. Nicht mal neun. Er lag also erst seit gut einer Stunde im Bett. Sein Schädel dröhnte. Er wollte sich schon seit Wochen eine Verordnung für Massagen besorgen. Doch bei ständiger Zugluft im Streifenwagen, dürften die ohnehin nur für kurzfristige Linderung sorgen, wenn überhaupt. Hamburgs tropenhafter Sommer hatte den Staffelstab an einen mittlerweile ungemütlichen Herbst abgegeben. Die meisten taten sich noch schwer damit, das Ende der Rekordtemperaturen zu akzeptieren. Und dabei stand doch bereits der Winter vor der Tür.
Die Klingel verstummte für einen kurzen Moment und begann sofort wieder aufs Neue.
Sönke schälte sich unter seiner Bettdecke hervor und schaute auf dem Weg in den Flur kopfschüttelnd an sich herunter. Egal! Wer vor seiner Wohnungstür stand, der müsste sich zwangsweise mit Unterhose und Knittershirt anfreunden. Und er hatte bereits die Klinke in der Hand, da hörte er Herrn Müller im Gästezimmer krakeelen. Die Tür dorthin war geschlossen. Aus gutem Grund. Denn der Papagei – ein Erbstück von seiner Mutter, mit gerüchteweise über siebzig Jahren auf dem gefiederten Buckel – wurde es nicht müde, seinen eigenen Namen zu kreischen: »Herr Müller ... Herr Müller!«
»Halt den Schnabel«, zischte Sönke, bevor er vor seiner Wohnungstür ankam. »Ansonsten kommst du am Wochenende in den Kochtopf.« Er musste lachen. Dieser Papagei war sein Heiligtum. Die letzte wirkliche Erinnerung an seine Mutter, die viel zu früh gestorben war.
Er zog an der Klinke und sah durch einen Spalt das Gesicht seines Nachbarn von gegenüber. Aus dem hatte sich sämtliche Farbe verabschiedet, abgesehen von Blutspritzern, teilweise verwischt. Auch Hemd und Hose seines Nachbarn sahen aus, als hätte der gerade Feierabend auf dem Schlachthof gemacht.
»Was ist denn passiert, Herr Jablonski?«, fragte Sönke sofort. Zeitgleich zog er die Tür weiter auf.
»Sie ist tot«, stammelte sein Nachbar.
»Wer ist tot?« Natürlich flammten in Sönkes Kopf sofort die schlimmsten Befürchtungen auf. Und weil sein Nachbar offensichtlich nichts weiter erklären wollte – oder konnte –, musste Sönke zwangsläufig zur Tat schreiten. Die Wohnungstür gegenüber stand offen. In diesem Moment ignorierte er sämtliche Vorschriften und auch gleich alle Vernunft, die sich ein Polizist über die Jahre hinweg aneignet.
Pavel Jablonski schob er lediglich ein kleines Stück beiseite, um ins Treppenhaus zu gelangen. Barfuß ... und immer noch in Unterhose und Knittershirt. Er hatte gerade den ersten Schritt nach vorne gemacht, da hörte er hinter sich Herrn Müller kreischen: »Finger weg!«
Diese unmissverständliche Aufforderung lieferte der Papagei nur dann, wenn sich jemand an dessen Heiligtum zu schaffen machte: Ein Schrank, der unter anderem ein stählernes Schließfach beherbergte, in dem Sönke nach Feierabend seine Dienstwaffe aufbewahrte.
Er wollte schon umdrehen, als von irgendwoher ein leises Wimmern erklang. Vermutlich aus der Wohnung gegenüber. Danach warf Sönke auch noch den letzten Funken Vernunft über Bord und stürmte nach vorne. Im halbdunklen Flur seiner Nachbarn bog er zunächst nach links ab, doch das Wohnzimmer war leer. Dasselbe galt für einen weiteren Raum, in dem zahlreiche Schränke standen und ein Bügelbrett, auf dem sich Wäsche stapelte. Nachdem er auch das Schlafzimmer leer vorfand, blieb nur noch eine Möglichkeit: die Küche. Doch auch dort war auf Anhieb niemand zu sehen.
Er horchte, um herauszufinden, ob sich das Wimmern wiederholte.
Doch da war nichts. Höchstens Martinshörner, noch sehr weit entfernt. Hatte sein Nachbar etwa schon einen Rettungswagen oder die Streifenkollegen informiert? Oder gleich beides?
Sönke wirbelte herum. Anders als bei seiner Wohnung, verfügte die der Jablonskis über eine Speisekammer, in der eine nackte Glühlampe an der Decke für ein wenig Licht sorgte. Doch er musste nicht mal richtig um die Ecke biegen, denn er sah bereits einen Kopf auf dem weißen Fliesenboden zu seinen Füßen. Ein Kopf, der zweifellos zu Magdalena Jablonski gehörte. Überall war Blut, viel zu viel Blut. Die ansonsten strohblonden Locken der Frau sahen beinahe schwarz aus und klebten am Kopf fest. Ein geradezu irrwitziges Bild.
Trotzdem ging Sönke auf der Suche nach einem Puls in die Knie und tastete ihren ebenfalls blutigen Hals ab. Ein überflüssiges Unterfangen. Schließlich war das Gesicht der Frau kreidebleich und ihr Blut hatte sich bis unter die Regale in der Speisekammer verteilt. Klar war: Hier hatte der Sensenmann schon vor einiger Zeit den Kampf um Leben oder Tod für sich entschieden.
Es handelte sich nicht um Sönkes erste Leiche. Und weil die noch warm und beweglich war, schätzte er, dass seine Nachbarin vor zehn, höchstens fünfzehn Minuten ihren letzten Atemzug getan hatte.
›Und woher kam dann das Wimmern?‹, erkundigte sich eine Stimme in seinem Hinterkopf. Doch ihm blieb keine Zeit, eine Antwort zu finden, denn plötzlich hallte ein Schuss durchs Treppenhaus.
Von einer Sekunde zur nächsten erwachte der Polizist in Sönke – viel zu spät! Vergleichbare Situationen hatte er im Laufe etlicher Dienstjahre zigmal erlebt, in der Regel besonnen reagiert und gehandelt. Doch in diesem Fall hatte er komplett versagt, und auch als besorgter Nachbar jeden vernunftgesteuerten Instinkt gründlich ignoriert. Er wollte gerade in den Hausflur zurückkehren – hoffte, dass Pavel Jablonski nicht getürmt war und dort noch stand –, als sich die Ereignisse überschlugen.
Er hörte, wie seine Wohnungstür ins Schloss gedonnert wurde. Kurz darauf hechtete jemand die Treppenstufen hinunter. Zeitgleich wurde ihm sein eigenes Versagen auf bitterste Weise bewusst. Unter anderem auch, dass sein Wohnungsschlüssel noch am Schlüsselbrett neben der Tür hing.
Aber diese neuen Ereignisse hatten auch etwas Positives: Zum ersten Mal wurden Sönkes Gedanken von Vernunft bestimmt. Er hatte einen Schuss gehört. Und wer sagte denn, dass der Schütze nicht im Treppenhaus auf ihn wartete? Er brauchte eine Waffe. Irgendwas, womit er sich im Falle eines Falles verteidigen könnte. Rechts neben Magdalena Jablonskis Leiche lag ein Messer, Klinge und Griff waren blutverschmiert.
Sönke betrachtete seine Hände, an denen ebenfalls Blut klebte. Genau wie an seinen nackten Beinen. Er hatte wohl in der Blutlache gekniet und es nicht mal gemerkt.
Sönke schnappte sich das Messer und tastete sich zentimeterweise durch den Wohnungsflur. Zu hören war nichts, zu sehen sowieso nicht. Als er kurz darauf einen ersten vorsichtigen Blick ins Treppenhaus werfen konnte, waren von unten Schreie zu hören. Offensichtlich seine Kollegen, denn es war ein paar Mal »Polizei« herauszuhören.
Sönke atmete erleichtert aus. Und weil er einem womöglich schießwütigen Beamten keinen Anreiz liefern wollte, ließ er sich auf den Stufen im Treppenhaus nieder. Das Messer lag vor ihm am Boden.
»Polizei!«, dröhnte es ein weiteres Mal. Zwei Uniformierte hatten ihn längst gesehen und richteten ihre Dienstwaffen auf ihn. »Machen Sie keine Dummheiten! Schön die Hände hoch!«
Sönke folgte der Anweisung brav und brachte wenigstens ein halbes Grinsen zustande. »Keine Angst, Leute ... wir sind Kollegen.« Sein Blick fand das blutverschmierte Messer, seine Hände und danach seine Knie. Alles zusammen erzählte wohl eine recht eindeutige Geschichte. »Es ist nicht so, wie’s aussieht«, stammelte er. Plötzlich wurde ihm die Tragweite des ersten Eindrucks bewusst. »Ehrlich nicht, Leute!«
»Warum sind die Straßen montags eigentlich voller als an jedem anderen Tag?«, fragte Detlef Busch, als er an diesem Morgen das Büro der Hamburger Mordkommission betrat. »Kann mir das mal jemand erklären?«
Jan Kießling zuckte nur mit den Schultern.
Wegner schaute auf. Bis dahin hatte das Urgestein der Mordkommission in der ›Morgenpost‹ geblättert. Er faltete die Zeitung und schleuderte sie auf seinen Schreibtisch. Sein Gesicht verhieß die Lösung, doch sein Mund lieferte das Gegenteil: »Haben Sie keine anderen Sorgen?« Er warf einen Blick auf die Uhr über der Tür. »Oder soll das ’ne Ausrede sein, weil Sie hier erst um halb zehn aufkreuzen? Wahrscheinlich meint unser frischgebackener Herr Oberkommissar, dass er neuerdings seinen Kollegen die Arbeit überlassen kann.«
»Ich komme direkt vom Gericht«, empörte sich Busch. »Vielleicht haben Sie’s vergessen: Irgendjemand hier bei uns hat Staatsanwalt Ammersbach schon für letzte Woche zwei Ermittlungsakten zugesagt. Im Klartext heißt das: Ich hab auf dem Weg Ihr Versprechen eingelöst. Und Entschuldigung, dass es bei dem Verkehrschaos fast zwei Stunden gedauert hat!«
Wegner nickte zufrieden. »Haben Sie wenigstens was Essbares dabei? Oder kurvt unsere Mimose den ganzen Morgen durch die Stadt, während wir hier verhungern?«
Jan schob sich mit Worten dazwischen: »Ich sorg erst mal für’n frischen Kaffee.« Er schüttelte Busch zur Begrüßung die Hand. Danach zeigte er auf Wegner und flüsterte nur noch. »Er ist auch erst vor ’ner Viertelstunde angekommen. Direkt aus Berlin, von seiner Rita.«
Busch schlenderte in Richtung Schreibtisch. »Und, Cheffe ... schönes Wochenende gehabt?«
»Ich bin nicht schwerhörig«, polterte Wegner zurück. »Lassen Sie sich von Ihrem Kollegen eventuelle Details erklären und mich in Ruhe. Verstanden?«
»Da hat heute einer aber wieder ’ne Laune.« Busch lachte. »Ist übers Wochenende Arbeit reingekommen oder was ist los?«
Jan, der mit dem Kaffeevollautomaten beschäftigt war, schüttelte den Kopf.
Wegner hatte auch eine Erklärung parat: »Seitdem unser neuer Kollege sich um die Ablage kümmert und die Mörder die Lust am Morden verlieren, wird’s hier richtig langweilig.«
»Von mir aus kann’s gern so bleiben«, sagte Busch und bedankte sich mit einem Nicken für seinen Kaffeebecher. »Das Leben ist viel zu schön, um es gewaltsam zu beenden.«
Wegner wollte gerade etwas antworten, als ihn das Telefon davon abhielt. Sämtliche Apparate klingelten zeitgleich, es hatte also jemand die inoffizielle Notrufnummer der Mordkommission gewählt.
Wegner schaute Busch aufmunternd an, der leitete den Blick direkt an Jan weiter. Und da der – als Neuling und Küken der Abteilung – niemanden mehr unter sich hatte, blieb ihm nichts anderes übrig, als zum Hörer zu greifen. »Kießling!«
Jan grunzte in erster Linie unverständliches Zeug und hielt danach Wegner den Hörer wortlos entgegen.
»Was gibt’s denn?«, bölkte der zur Begrüßung hinein. Nach kurzem Zuhören folgte die nächste Frage: »Wo?« Offensichtlich sorgte die Antwort für Klarheit. »Wir machen uns sofort auf den Weg. Und bitte tut mir ’nen Gefallen: Nichts anfassen!«
»Kann mir vielleicht mal jemand sagen, was los ist?«, beschwerte sich Busch, nachdem der Hörer schon einige Zeit auf der Gabel lag. »Oder muss ich dumm sterben?«
Wegner kritzelte noch auf einem Zettel herum. Als er fertig war, schaute er auf und konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. »Sie liefern einem auch den ganzen Tag lang Einladungen – und dann beschweren Sie sich auch noch, wenn einer die annimmt.«
Jan winkte ab und begann mit einer Erklärung: »Die Kollegen vom 33. Kommissariat haben einen von uns festgenommen – wie’s aussieht, gab’s zwei Tote.«
»Und dafür soll ein Polizist verantwortlich sein?«, erkundigte sich Busch zur Sicherheit. »Einer vom Streifendienst?«
Wegner überging die letzte Frage einfach. »Wir lassen hier alles stehen und liegen, und machen uns sofort auf den Weg. Schließlich warten am Südring zwei Leichen auf uns.«
»Das ist ja direkt am Stadtpark«, jubelte Busch. »Da war ich am Wochenende mit ’ner Bekannten ...«
»Mit ’ner Bekannten«, wiederholte Wegner. »Deshalb also die gute Laune heute Morgen.«
Busch schüttelte längst den Kopf. »Mehr müssen Sie nicht wissen, Cheffe.«
Wegners Blick wanderte zu Jan.
Doch der hob bereits abwehrend die Hände. »Ich hab keine Ahnung. Und wenn, würd ich sowieso nichts sagen!«
***
Seit seiner Festnahme hockte Sönke Tillmann in einem Verhörraum. Er hatte versucht, seinen Streifenkollegen alles zu erklären, doch die schalteten irgendwann auf Durchzug. Das hätte vermutlich jeder getan, wenn eine Tatsachenlage derart eindeutig war. Und obwohl Sönke nicht mal wusste, was während seiner Abwesenheit in seiner eigenen Wohnung passiert war, machten sich diesbezüglich schon die schlimmsten Befürchtungen in ihm breit. Er hatte nur den Schuss gehört und vermutete längst, dass diesem Pavel Jablonski zum Opfer gefallen war. Wo sollte der sonst geblieben sein? Und als kurz darauf Sönkes Wohnungstür ins Schloss knallte, hatte er sich wie ein Volltrottel eine vermeintliche Mordwaffe geschnappt, während der wirkliche Täter durchs Treppenhaus entkommen konnte.
Die Szenerie, auf die seine Streifenkollegen im zweiten Stockwerk dann stießen, ließ kaum Spielraum für Zweifel. Für Außenstehende war alles klar. Viel zu klar!
Sönke konnte es seinen Kollegen nicht mal verübeln, dass die ihn längst vorverurteilt hatten. Er war auf einen billigen Trick hereingefallen. Ein blutüberströmter Hilferuf, der dafür gesorgt hatte, dass bei ihm sämtliche Sicherungen durchgebrannt waren. Dafür gab es gute Gründe, doch die würde er den ermittelnden Beamten zunächst lieber verschweigen. Denn sollte die Wahrheit ans Licht kommen, dann würde die nicht etwa für seine Entlastung, sondern für weitere belastende Indizien sorgen.
Er schüttelte den Kopf und lachte leise. Seine größte Sorge galt Herrn Müller. Wer würde sich von nun an um seinen Papagei kümmern? Zum ersten Mal war er froh, dass seine Mutter vor fünf Jahren an Krebs gestorben war. Wenigstens blieb ihr dieses Chaos erspart ...
Wegner keuchte wie üblich, als er das zweite Stockwerk eines Mehrfamilienhauses am Südring erreichte. Buschs Hand fuhr nach vorne, wofür auch immer. Doch der fing sich gleich einen tödlichen Blick ein und zog seine voreiligen Finger zurück.
»Was ist passiert?«, fragte Wegner einen Kollegen der Spurensicherung, der gerade das Treppenhaus von einer Tür zur anderen durchqueren wollte.
Der Mann, ein Winzling mit grauem Stoppelhaarschnitt, blieb stehen und zeigte nach links. »In der Wohnung da liegt eine tote Frau – zur Hälfte in der Küche und der Rest in der Speisekammer. Und in der da ...« Der nächste Fingerzeig galt der Wohnungstür gegenüber. »... haben die Kollegen einen toten Mann gefunden. Auf den ersten Blick wurde der mit einem nahezu aufgesetzten Kopfschuss hingerichtet. Genaueres gibt’s später von der Rechtsmedizin.«
»Habt ihr die Waffe gefunden?«, wollte Wegner wissen.
Das sorgte nicht nur für energisches Nicken, es folgte auch gleich eine Erklärung und Vorverurteilung: »Ne Walther P99 ... garantiert Tillmanns Dienstwaffe.«
Wegner lehnte sich nach vorne. Jan und Busch, die ihn flankierten, taten es ihm gleich. »Wir reden von einem Kollegen. Und so lange nicht eindeutig geklärt ist, wer hier den Abzug betätigt hat, ist der unschuldig. Kapiert?«
Der Mann von der Spurensicherung brachte zwar erneut ein Nicken zustande, doch das mündete in mitleidvolles Lächeln. »Warte ab, was wir bis jetzt schon alles gefunden haben. Danach wirst du ...«
»Wir machen uns ein eigenes Bild!«, fuhr Wegner dazwischen. Er wirbelte herum und hätte dabei beinahe Jan die Treppenstufen hinuntergestoßen. »Ihr zwei schaut euch den toten Mann an, ich übernehm die Frau.«
»War ja klar«, moserte Busch auf dem Weg zur Wohnungstür. Er warf einen Blick über die Schulter, Wegner war durch die Tür gegenüber bereits verschwunden. »Der Alte pickt sich wieder mal die Rosinen raus. Typisch!«
Jan schob ihn lachend vor sich her. »Ich hab das Gefühl, Rosinen finden wir hier gar keine. Und jetzt geh schon!«
Kurz darauf hatten die beiden das Wohnzimmer von Sönke Tillmann erreicht. Dort waren zwei Kollegen der Spurensicherung gerade damit beschäftigt, mit durchsichtigen Klebestreifen Faserspuren aufzunehmen. Der Tote lag zwischen Couchtisch und Sofa. Einen halben Meter entfernt lag die erwähnte Pistole.
Busch zeigte darauf. »Habt ihr die Seriennummer schon gecheckt?«
»Wann denn?«, empörte sich einer der Kollegen. »Glaubt ihr, wir können hexen?«
»Wäre ja auch mal was ganz Neues«, flüsterte Busch grinsend in Jans Richtung.
Der wollte gerade antworten, als ein Uniformierter das Wohnzimmer betrat und den beiden Ermittlern Kopien aus dem Melderegister entgegenhielt. »Euer Toter hier heißt Pavel Jablonski. Nebenan kümmert sich Wegner um seine Frau: Magdalena.«
»Klingt irgendwie polnisch«, sagte Busch und schnappte nach einem der Ausdrucke. »Aber die beiden wohnen unter der Adresse hier schon seit über fünfzehn Jahren. Schätze, die sind längst eingedeutscht.«
Jan stand in der offenen Tür zum Schlafzimmer. Als sein Kollege neben ihm ankam, fasste er den Anblick bereitwillig in Worte: »Wenn du mich fragst, hat da ein eifersüchtiger Ehemann zwei Turteltauben in flagranti erwischt. Und weil der Tillmann sich nicht anders zu helfen wusste, hat er das Problem von seinem Freund Walther lösen lassen. Ein Schuss, ein Treffer.«
»Herr Müller«, kreischte es von irgendwo her. Kurz darauf erneut. »Herr Müller!«
»Was ist das denn?«, fragte Busch.
»Nebenan hockt ein Papagei«, erklärte der Kollege in Uniform mit vielsagender Miene. »Und der hat nur einen Spruch im Programm ...«
»Herr Müller?«
»Sieht so aus.«
***
Auch in der Wohnung gegenüber waren die Kollegen der Spurensicherung längst aktiv. Wegner hatte zwei von ihnen aus der Küche vertrieben und war dort auf einen Stuhl gefallen. Er wollte sich in aller Ruhe ein Bild von der Situation machen und daraus einen möglichen Tathergang rekonstruieren. Hier sprachen sämtliche Tatsachen für sich. Mit dem blutigen Messer, das als Beweisstück noch immer auf dem Boden im Treppenhaus lag, hatte vermutlich alles angefangen. Magdalena Jablonski wies auf den ersten Blick drei Stichverletzungen auf. Eine seitlich, in Höhe der Hüfte, eine weitere in der Achselhöhle und eine letzte im Halsbereich. Sie trug einen Bademantel, vermutlich aus Polyester. Darunter war sie – von halterlosen Strümpfen abgesehen – nackt. Eine ihrer üppigen Brüste wurde zur Hälfte verdeckt, die andere war vollständig entblößt. Selbst im Falle einer Toten hätte Wegner am liebsten für ein wenig Intimsphäre gesorgt. Doch dafür war er viel zu sehr Profi und wollte das Originalmotiv für den Polizeifotografen nicht verändern.
Wegner stand auf und beugte sich zur Hälfte über die Leiche. Die Messerstiche allein hatten dem Täter wohl nicht ausgereicht. An der Türfüllung zur Speisekammer waren auf den ersten Blick drei Blutspuren zu erkennen. Die erklärten auch, warum der Schädel der Frau erhebliche Verletzungen aufwies. Jemand hatte ihn mit voller Wucht gegen das Holz der Füllung gedonnert und allein damit schon für ein unausweichliches Todesurteil gesorgt.
»Ihre Unterwäsche liegt übrigens in der Wohnung nebenan«, flüsterte Busch, der sich auf leisen Sohlen an Wegners Seite geschlichen hatte. Er zeigte auf die Leiche und konnte sich sogar seinen üblichen Frohsinn verkneifen. »Mitten auf dem Bett – auch rot, passend zu den Strümpfen.«
Jan stand in der offenen Tür zur Küche und warf einen Blick über die Schulter. »Die Kollegen nehmen alles mit: Computer, Notizen ... ich hab gesagt, die sollen auch das komplette Wohnzimmer einpacken. Vielleicht finden wir durch Zufall was.«
Wegner machte zwei vorsichtige Schritte nach hinten – er wollte nicht in die Blutlache treten – und fiel wieder auf den Küchenstuhl. Sein Fazit klang verheerend: »Ich weiß nicht, wie’s euch geht – bei mir wird’s von Leiche zu Leiche schlimmer.«
»Sönke Tillmann hockt in einem Verhörraum im 33. Revier«, erklärte Busch nach kurzem Zögern. »Ich sag’s ja nur ungern, aber die Sache ist ziemlich eindeutig: Als man ihn im Treppenhaus vorgefunden hat, waren seine Hände und Knie blutverschmiert. Direkt vor ihm lag ein Messer, ebenfalls voller Blut.« Busch warf einen kurzen Blick auf die Leiche. »Ich weiß, ich darf nicht voreilig urteilen – aber ich schätze, dabei handelt es sich um eine Tatwaffe.«
Auch Jan wagte einen zaghaften Vorstoß: »Und ich wette mein nächstes Monatsgehalt, dass es sich bei der gefundenen Walther um Tillmanns Dienstwaffe handelt. Wenn das der Fall ist, fehlt uns nur noch sein Geständnis.«
Wegner holte hörbar Luft. »Vielleicht darf ich euch zwei Anfänger daran erinnern, dass wir nicht für ein Gerichtsurteil, sondern für Ermittlungen zuständig sind.« Er starrte Busch und Jan nacheinander durchdringend an. »Auch, wenn die Situation noch so eindeutig zu sein scheint: Ich hab schon ganz andere Sachen erlebt – und hinterher war’s doch der Gärtner.«
Busch summte gleich den dazu passenden altbekannten Song von Reinhard Mey, verstummte jedoch abrupt, als Wegner energisch fortfuhr: »Auf jeden Fall hat uns dieser Sönke Tillmann einiges zu erklären. Und Sie ...«, er zeigte auf Jan, »... kümmern sich darum, dass ein Kollege von der Spurensicherung ins 33. Revier rüberfährt und Proben von allen Spuren nimmt, die an unserem Freund Tillmann zu finden sind. Hab ich mich klar ausgedrückt?«
»Wird erledigt! Wollen wir ihn später alle gemeinsam in die Mangel nehmen?«
»Das würde Ihnen so passen!« Wegner warf einen Blick in die Runde und stöhnte genervt. »Ihr zwei sorgt hier dafür, dass jeder noch so kleine Hinweis eingetütet wird. Und passt auf, dass ihr den Kollegen nicht im Weg steht.«
»Und was haben Sie vor?«, wollte Busch wissen.
Wegner verzichtete auf eine Antwort.
Jan lieferte die Erklärung: »Ist klar: Wir sollen nicht fragen.«
Wegner nickte zwar, aber er war noch nicht fertig: »Außerdem sorgt ihr dafür, dass der Berg nachher zum Propheten kommt.«
»Was soll das denn heißen?«, erkundigte sich Busch misstrauisch. »Außerdem würde mich interessieren, wer in diesem Fall der Berg, und wer der Prophet ist?«
Wegner stöhnte genervt. »Mein Gott! Da hatte ich gehofft, ich könnte Ihnen nach so vielen gemeinsamen Jahren mal ’ne Metapher zumuten.«
»Metapher?«
»Das ist nicht Ihr Ernst, oder?«
»Natürlich nicht!« Busch lächelte künstlich. »Was dürfen wir denn unter Ihrer ach so köstlichen Metapher verstehen, Erhabener?«
Wegners Gesicht machte klar, dass ihm eine passende Attacke auf der Zunge lag. Doch dann beließ er es doch bei einer Erklärung: »Das sollten sogar Sie verstehen, Busch: Ihr zwei holt diesen Tillmann auf dem Rückweg zum Präsidium ab, und dort kommt er vorerst in ’ne Arrestzelle. Wenn wir ungefähr wissen, was hier passiert ist, will ich mir seine Geschichte in aller Ruhe bei Kaffee und Kuchen anhören – und nicht auf der Besucherritze im 33. Revier.«
Busch nahm Haltung an und salutierte angedeutet. »Aye, Sir!«
»Wir haben aber noch ein weiteres Problem«, erklärte Jan mit gequälter Stimme. »In der Wohnung nebenan hockt ein Papagei.«
»Der schreit die ganze Zeit Herr Müller«, fügte Busch grinsend hinzu. »Schätze, das ist sein Name.«
Wegner zuckte nur mit den Schultern und wartete einfach auf die Fortsetzung.
»Was sollen wir mit dem machen, Cheffe? Hierlassen können wir ihn ja schlecht.«
»Papageien sind extrem empfindlich.« Diese Feststellung in wissenschaftlichem Tonfall stammte von Jan. »Je älter sie sind, desto ...«
»Und was soll ich daran ändern?«, fuhr Wegner dazwischen. »Etwa Herrn Müller mit nach Hause nehmen? Ne WG ins Leben rufen?«
»Ich glaube, im Tierheim geht er sofort ein«, sagte Busch. »Und der Tillmann wird so schnell nicht wieder auf freien Fuß kommen. Also muss ihn einer von uns mitnehmen, bis wir ’ne Lösung gefunden haben.«
Nach dieser Feststellung richteten sich zwei Augenpaare auf Jan. Der sah regelrecht geschockt aus. »Ich hab nur ’ne winzige Einzimmerbude. Und bei mir ist es so hellhörig, dass ich jedes Mal höre, wenn mein Nachbar seine Frau besteigt.«
»Und?« Wegner grinste im Kreis.
»Das passiert nur noch alle vier Wochen und er hält nicht lange durch«, erklärte Jan lachend.
»Herr Müller!«, kreischte es aus einiger Entfernung bis ins Treppenhaus. In der Wohnung gegenüber hatte offensichtlich jemand die Tür zum Gästezimmer geöffnet und damit gleich für eine lautstarke Erinnerung gesorgt.
»Was will denn unser Herr Müller?«, fragte Wegner und erntete dafür zweifaches Schulterzucken. Zeit für ein Machtwort: »Kollege Kießling kennt sich ja offensichtlich bestens mit Vögeln aus. Und falls der Nachbar Probleme macht, erpressen wir ihn mit ein paar schlüpfrigen Details in Sachen Liebesleben. Da fällt uns schon was ein.«
»Ist das Ihr Ernst?«, erkundigte sich Jan fassungslos.
»Nur das mit dem Papagei – der Rest ist mir völlig wurscht.«
Auch als Polizist wurde man als vermeintlicher Straftäter zunächst erkennungsdienstlich behandelt. Dieses Prozedere hatte Sönke Tillmann gerade hinter sich gebracht, als ein Kollege der Spurensicherung den Verhörraum betrat.
»Ich soll Proben nehmen«, erklärte der, ohne ihm dabei in die Augen zu sehen. »Von Händen und Knien.« Der Mann schleuderte eine ausgebeulte Jogginghose auf den Tisch. »Danach dürfen Sie da reinschlüpfen.«
Zu großzügig, dachte Sönke. Doch er verkniff sich vorsichtshalber jeden Kommentar. Ansonsten würde er auch weiterhin in eine kratzige Wolldecke gehüllt und in Unterhosen hier rumhocken.
Nachdem der Kollege sich ohne ein weiteres Wort aus dem Staub gemacht hatte und die Tür zum Verhörraum hinter ihm ins Schloss fiel, wurde Sönke nicht zum ersten Mal von fürchterlicher Resignation übermannt. Er wollte jemandem gegenübersitzen, endlich seine Variante der Geschehnisse erklären. Und weil die der Wahrheit entsprach, konnte er sich gar nicht in Widersprüche verwickeln. Er brauchte einfach nur zu sagen, was passiert war. Irgendwo musste es doch eine Lücke in der vermeintlichen Beweiskette geben. Eine Hintertür, durch die er ohne jeglichen Restverdacht in die Freiheit marschieren könnte.
Aber wie?
Und wo war Pavel Jablonski geblieben? War sein Nachbar tatsächlich einem Schuss zum Opfer gefallen? Wenn nicht, dann könnte der schnell für klare Verhältnisse sorgen ... alles erklären.
Doch welchen Grund hätte der dafür? Ein weiteres Problem kam Sönke in den Sinn. Dessen Ursprünge lagen zwar ein paar Jahre zurück, aber vermutlich nicht lange genug, um in Vergessenheit zu geraten.
Verdammter Mist! Er hatte sich – von wem auch immer – wie ein dummer Schuljunge an der Nase herumführen lassen.
***
»Lange nicht gesehen, Manfred.« Jochen Gerdes, seines Zeichens Chef der Polizei in Hamburg-Billstedt begrüßte seinen Besucher mit festem Handschlag. »Und stell dir vor: Ich weiß auch schon genau, was dich herführt.«
Wegner fiel auf einen Stuhl vor dem Schreibtisch und schlug die Beine übereinander. Er und sein Gegenüber waren lange genug Polizisten, um zu wissen, wann es überflüssig war, um den heißen Brei herumzureden. »Dieser Sönke Tillmann, was ist das für’n Typ?«
»Wo hat man ihn eigentlich hingebracht?«
»Erst mal ins Dreiunddreißigste ... kannst du bitte meine Frage beantworten, Jochen!«
Der überlegte einen Moment, aber das wohl nur der Form halber. »Sönke Tillmann und ich sind keine Freunde, aber das hat nichts mit dem Vorfall von heute zu tun.«
»Sondern?«
»Er ist einer von diesen typischen ... Quertreibern. Hat immer was zu meckern, bei jeder Besprechung das letzte Wort und selten ein offenes Ohr für andere.«
»Redest du immer noch von Tillmann oder von dir?«, fragte Wegner lachend nach.
Sein Gegenüber hatte den Witz als solchen entlarvt und fuhr fort: »Davon abgesehen ist er gar kein schlechter Polizist. Wobei es in den letzten zwei Jahren den einen oder anderen Vorfall gab.«
»Muss ich fragen, oder rückst du von allein mit den Hintergründen raus?«
»Bei der letzten Sache ging’s um ’nen Kollegen hier aus unserem Kommissariat. Er und Tillmann sind nach Schichtende aneinandergeraten. Es wurde auch handgreiflich und ...«
»Wer war schuld?«
»Beide oder keiner«, erwiderte Jochen Gerdes. »Wenn sich die Gemüter ein wenig abgekühlt haben, dann will sich plötzlich niemand mehr an was erinnern. Du kennst das doch.«
»Du hast von mehreren Vorfällen gesprochen. Was war noch?«
»Vor zwei Jahren gab’s Streit bei ’ner Verkehrskontrolle. Seinerzeit hat ein Autofahrer Anzeige gegen Tillmann erstattet. Aber die Ermittlungen wurden eingestellt, weil ...«
»... es zufällig ein paar Zeugen in Uniform gab, die für unseren Kollegen ausgesagt haben«, vervollständigte Wegner. »Ganz ehrlich: Ich finde so was zum Kotzen!«
Gerdes kämpfte mit aller Kraft gegen ein Grinsen und verlor. »Wenn ich mich an deine Karriere in unserem Laden erinnere, dann brauchtest du doch jeden zweiten Monat Freunde, die bereit waren, gleich drei Augen zuzudrücken.«
»Erzähl das bloß keinem – was war sonst noch?«
»Kleinigkeiten.« Jochen Gerdes tippte mit dem Finger auf einer Personalakte herum. »Aber ich weiß, was du mich fragen willst ...«
Wegner schaute auf, sah ungewohnt interessiert aus und lud sein Gegenüber mit einer Handbewegung zum Fortfahren ein.
»Ich weiß es nicht, Manfred. Auf den ersten Blick wirkt Sönke Tillmann ziemlich beherrscht – routiniert.«
»Und auf den zweiten ...?«
»Es kann schon ganz schön zur Sache gehen, wenn er mit irgendwas nicht einverstanden ist. Es gab mal ’ne Weihnachtsfeier, da mussten drei Kollegen schlichten, bis endlich Ruhe herrschte. Da war ’ne Menge Alkohol im Spiel, aber das allein ...«
»Im Suff entblößen Menschen ihren wahren Charakter«, fuhr Wegner mit seiner Erklärung der Umstände dazwischen. Er wollte fortfahren, doch die Tür flog auf und hielt ihn davon ab.
Kurz darauf stand ein Polizeimeister in Uniform mitten im Büro des Revierleiters. Der hatte auch gleich die passende Frage parat: »Schon mal was von Anklopfen gehört, junger Mann?«
»Wo ist mein Bruder?«, kam es keuchend zurück.
Wegner musterte das Namensschild an einer Uniformjacke. Der Name darauf – ebenfalls Tillmann – erklärte schon das Meiste.
Jeder weiteren Nachfrage kam der junge Mann ohnehin zuvor: »Wo hat man Sören hingebracht? Geht‘s ihm gut?«
Wegner hatte sich erhoben und legte seinem uniformierten Kollegen eine Hand auf die Schulter. »Keine Angst, wir kümmern uns um ihn.«
»Was heißt denn ›kümmern‹?«
Diese Nachfrage sorgte einen Moment für Ratlosigkeit. Doch Wegner war lange genug im Geschäft, um eine Erklärung liefern zu können: »Wir werden jeder Spur nachgehen, um herauszufinden, ob Ihr Bruder tatsächlich für diese Sache verantwortlich ist. Und wenn das der Fall ist, dann ...«
»Ist es nicht!«, fauchte der junge Uniformierte dazwischen.
»Dann lassen Sie uns unsere Arbeit machen. Und falls Sie Recht haben, bin ich der Erste, der Ihrem Bruder mit Vergnügen die Hand zum Abschied schüttelt.«
»Wenn das hier noch lange dauert, dann gibt’s gleich die nächste Leiche«, beschwerte sich Busch. Zeitgleich zog er an der Kühlschranktür von Sönke Tillmann. »Mein Gott ... da kriegt man ja das Heulen.«
Jan, der bisher auf einem Stuhl am Küchentisch gesessen hatte, erhob sich, um seinem Kollegen über die Schulter zu schauen. »Typischer Junggeselle. Sieht bei mir auch nicht anders aus.«
»Wenigstens ein paar Scheiben Brot und ’ne Streichwurst sollte doch jeder im Kühlschrank haben. Oder etwa nicht?«
»Herr Müller!«, krächzte es aus dem Gästezimmer, wie gefühlte tausend Male zuvor.
»Der Vogel macht mich noch wahnsinnig!«, fluchte Busch. »Kann dieser Sönke Tillmann nicht ’ne Schlange oder ’ne Schildkröte haben?«
»Wir könnten den Vogel einpacken und uns beim Edeka am Wiesendamm halbe Hähnchen holen«, schlug Jan vor. »Dann weiß er wenigstens, was ihm blüht, wenn er den Schnabel nachts nicht halten will.«
»Kriegst du das wirklich hin?« Busch klang aufrichtig besorgt. »Wenn es für dich ein Problem ist, frag ich ’ne Freundin, ob er bei ihr unterkommen kann. Die hatte jahrelang zwei Wellensittiche: Tom und ...«
»Jerry?«
»Nö. Hermann, nach ihrem Vater.«
Jan verfolgte mit Blicken zwei Kollegen der Spurensicherung, die nacheinander an der Küchentür vorbeischlenderten. Erst als die außer Hörweite waren, sprach er weiter. »Mal ganz ehrlich: Hast du schon mal einen Fall erlebt, bei dem alles so eindeutig ist?«
»Du meinst also, wir haben unseren Mörder bereits in Gewahrsam?«
Jan nickte.
»Ich sehe zumindest nichts, was für Sönke Tillmann spricht. Bin gespannt, mit welcher Geschichte uns der Typ nachher kommt.«
»Alles andere als ein Geständnis wär für mich ’ne Überraschung«, sagte Jan. Er verstummte kurz, weil aus dem Nebenraum mehrfach ein gekrächztes »Herr Müller« bis in die Küche drang. »Und ich hab übrigens auch Kohldampf.« Er zeigte lachend über die Schulter in Richtung Gästezimmer und danach auf den Backofen. »Wenn wir hier noch lange rumhocken, reicht mir vielleicht auch ein halber Papagei.«
Busch überlegte kurz. »Wir lassen unseren Doppelmörder von den Streifenkollegen zum Präsidium rüberbringen und kümmern uns lieber um unsere leeren Bäuche. Was meinst du?«
»Nehmen wir meinen neuen Untermieter dann gleich mit?«
»Wolltest du noch mal zurückkommen?«
»Nö.«
»Dann schnapp dir den Käfig und ein Handtuch aus dem Badezimmer. Vielleicht gibt er Ruhe, wenn wir ihm vorgaukeln, es wäre Nacht.«
»Ich hab schon vor ’ner Stunde die Vorhänge zugezogen und ein Tischtuch um seinen Käfig gewickelt.«
»Herr Müller!«, erklang es von nebenan. Lauter, als alle Male zuvor.
Busch hatte das passende Fazit parat: »Hat offensichtlich nicht geholfen.«
***
Als Wegner am Nachmittag ins Büro der Mordkommission zurückkehrte, fand er sämtliche Schreibtische verwaist vor. Und er wollte schon den Telefonhörer in die Hand nehmen, als Busch und Jan hereinplatzten, verdächtig gute Laune im Gepäck.
»Wo ist er?«, fragte Wegner gleich zur Begrüßung.
»Den Papagei haben wir auf dem Weg bei Jan abgeladen«, erklärte Busch viel zu fröhlich. »Jetzt hockt er in seiner Küche und kann durch das Fenster sogar den Michel sehen. Bei der Aussicht sitzt er bestimmt bald mit offenem Schnabel auf seiner Stange.«
Weil Wegner überhaupt nicht reagierte, versuchte es Jan mit einer Erklärung. »Ich glaube, der Chef meint Sönke Tillmann.«
»Müsste jeden Moment hier ankommen«, erklärte Busch völlig unbekümmert. »Zwei Kollegen aus dem Dreiunddreißigsten bringen ihn her.«
Wegner fiel gegen die Stuhllehne und verschränkte die Hände vor der Brust. »Hab ich nicht gesagt, dass ihr ...?«
»Ich weiß: die Geschichte mit dem Berg und dem Propheten.« Busch hob eine Tüte hoch und raschelte damit. »Hier sind ein halbes Hähnchen und dunkelbraune Pommes mit Mayo. Wir dachten, Sie haben vielleicht Hunger. Aber wenn Sie nicht wollen, dann freut sich Kruse aus der Verwaltung bestimmt über ...«
Wegner grapschte bereits in die Luft und sorgte damit für Fakten. »Hoffentlich lassen die sich mit dem Tillmann noch’n bisschen Zeit. Hab keine Lust, dass der mir beim Futtern auf die Finger glotzt.«
Passend zu dieser Feststellung klopfte es an die Tür. Jan, der noch immer mitten im Raum stand, wirbelte herum und öffnete die nur einen Spalt. Er schaute in die Gesichter zweier Uniformierter, die Sönke Tillmann im Schlepptau hatten.
»Sorry, Kollegen. Wir brauchen hier noch mindestens zehn Minuten ... sind mitten im Verhör.«
Einer der Uniformierten lehnte sich nach vorne, schnupperte in die Luft. »Riecht es bei euch nach Hähnchen?«
»Das kommt von nebenan. Besser, ihr gebt uns ’ne Viertelstunde Zeit – bis später.«
Wegner zeigte lachend auf Jan. »Von dem können Sie sich mal ’ne Scheibe abschneiden, Busch.«
»Kein Interesse, Cheffe. Ich hatte auch grad Hähnchen und Pommes.«
Jan schob sich mit Worten dazwischen, um einer ernsthaften Auseinandersetzung zuvorzukommen. »Ich konnte nur kurz einen Blick auf diesen Tillmann werfen.« Sein Gesicht verzog sich auf der Suche nach einer unverfänglichen Beschreibung. Offensichtlich erfolglos. »Der Typ sieht echt beschissen aus.«
»Würde ich auch, wenn ich zwei Menschen auf dem Gewissen hätte«, erklärte Busch gewohnt unbekümmert. »Als Polizist weiß der viel zu gut, was ihm blüht.«
Wegner war mit seinen schmierigen Fingern beschäftigt und leckte einen nach dem anderen ab, bevor er sein Statement lieferte. »Jetzt hört mir mal beide gut zu: Wir haben es hier mit einem Kollegen zu tun. Und gerade für den gilt so lange die Unschuldsvermutung, bis das Gegenteil zweifelsfrei feststeht. Haben wir uns verstanden?«
»Der Tathergang ist ziemlich offensichtlich«, protestierte Busch vorsichtig. »Sönke Tillmann hatte ein Verhältnis mit seiner polnischen Nachbarin. Die findet sich zum Schäferstündchen bei ihm ein, der Ehemann kommt überraschend dazu und unser Kollege weiß sich nicht anders zu helfen, als seinen Nebenbuhler zu erschießen. Bingo!«
Wegner nickte, aber das hatte garantiert nichts mit Zustimmung zu tun. Dementsprechend fiel seine Nachfrage aus: »Nehmen wir mal an, Ihre abenteuerliche Geschichte stimmt – warum ist unser Kollege denn danach in die Wohnung nebenan marschiert, um dort seine Geliebte abzuschlachten? Hat unser Sherlock Holmes dafür auch ’ne halbwegs vernünftige Erklärung?«
»Vielleicht wollte sie ihn ans Messer liefern«, flüsterte Jan. »Die Frau hatte ein Verhältnis mit ihrem Nachbarn – okay. Aber dass der gleich ihren Ehemann erschießt, war so wahrscheinlich nicht abgesprochen. So was führt in vielen Fällen zu einer Überreaktion.«