Herr Rechtsanwalt, Herr Linksanwalt - Christina Geberg - E-Book

Herr Rechtsanwalt, Herr Linksanwalt E-Book

Christina Geberg

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Beschreibung

Ein Roman, der viele Themen anschneidet, sich jedoch auf die Entwicklung von Gefühlen zwischen den Protagonisten konzentriert. | Eine Handvoll scherzhafter Bemerkungen sorgt dafür, dass die Steuerfachangestellte Nicole beim frisch in die Marienstraße fünf eingezogenen Strafverteidiger Christian Rausch in Ungnade fällt. Zwischen den beiden entbrennt ein Kleinkrieg, der unerwartet sein Ende findet, als sie ihn betrunken und mit Blessuren im Gesicht in seiner Kanzlei vorfindet.

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Seitenzahl: 318

Veröffentlichungsjahr: 2019

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Chris­ti­na Ge­berg

Herr Rechts­an­walt, Herr Links­an­walt

Ro­man

Text: © Co­py­right by Chris­ti­na Ge­berg

Um­schlag­ge­stal­tung: © Chris­ti­na Ge­berg, Shut­ter­stock & spark.ad­o­be

Ver­lag:

Chris­ti­na Ge­berg

chris­ti­na.ge­[email protected]

Druck: epu­bli – ein Ser­vice der neo­pu­bli GmbH, Ber­lin

§1

Haben Sie schon den neu­en Rechts­an­walt ge­se­hen?“ Kla­ra Berg­mann sah ihre Kol­le­gen er­war­tungs­voll an. „Auf der an­de­ren Stra­ßen­sei­te ist zwar eine Wer­be­ta­fel mit sei­nem Ge­sicht, aber… Hach, ich kann mir da nicht hel­fen, ich bin in sol­chen Sa­chen viel zu neu­gie­rig! Es in­ter­es­siert mich wirk­lich, wie er in Per­son so ist.“

Klar­as äl­te­re Kol­le­gin Uta Mei­er, die es nicht mehr weit bis zur Ren­te hat­te, hielt mit der Er­stel­lung ei­ner Ex­cel-Ta­bel­le inne und über­leg­te. „Nein. Ei­gent­lich ziem­lich selt­sam, oder? Vor vier Wo­chen ha­ben die Ar­bei­ten ne­be­n­an auf­ge­hört und drei Tage spä­ter hat­te der Gute be­reits so viel Post im Brief­kas­ten, dass al­les aus dem Schlitz quoll. Trotz­dem ha­ben wir ihn seit­dem kein­mal ge­se­hen. Viel­leicht ei­ner von der Sor­te, die sich prin­zi­pi­ell ein­igelt.“

Ni­co­le Klin­ger hielt sich aus dem Ge­spräch ganz raus; sie kon­zen­trier­te sich auf die Buch­füh­rung, die sie vor ih­rer Mit­tags­pau­se fer­tig ha­ben woll­te. Doch auch sie war dem Rechts­an­walt kein­mal be­geg­net. Die von Kla­ra er­wähn­te Wer­be­ta­fel war Ni­co­le bis­her nicht ein­mal auf­ge­fal­len.

Die Chefin, Mar­ti­na Koch, kam aus ih­rem Büro her­aus und leg­te die Post­map­pe mit un­ter­schrie­be­nen An­schrei­ben auf Klar­as Ar­beits­platz ab. Sie hat­te das Ge­spräch zwi­schen Kla­ra und Frau Mei­er mit­be­kom­men und da sie sehr ger­ne mit ih­ren Mit­a­r­bei­tern plau­der­te, sag­te sie: „Ich habe ihn tat­säch­lich zwei­mal ge­se­hen. Ein­mal sind wir ge­mein­sam im Fahr­stuhl ge­fah­ren, das an­de­re Mal sind wir uns in der Bank be­geg­net.“

Kla­ra Berg­mann wirk­te, als müss­te sie sich in wahn­sin­ni­ger Zu­rück­hal­tung üben, um ihre Chefin nicht mit Fra­gen zu bom­bar­die­ren.

„Nun ja“, sag­te Mar­ti­na Koch mit vor der Brust ver­schränk­ten Ar­men, „das ist ein Gro­ßer, Schlan­ker. Im­mer im An­zug, trägt eine Kra­wat­te mit Pa­ra­gra­phen­zei­chen und sei­ne Haa­re zu ei­nem Zopf. Straf­ver­tei­di­ger eben. Ent­we­der sie sind sehr an­ge­passt oder al­ter­na­tiv. Herr Rausch scheint mir mit sei­nen lan­gen Haa­ren und sei­ner ul­ki­gen Pa­ra­gra­phen­kra­wat­te Letz­te­res zu sein. Ich bil­de mir üb­ri­gens die gan­ze Zeit ein, dass ich sei­nen Na­men von ir­gend­wo­her ken­ne…“

Kla­ra Berg­mann seufz­te ent­zückt, so als hät­te man ihr ge­ra­de aus ei­nem kit­schi­gen Gro­schen­ro­man vor­ge­le­sen. Zu ger­ne hät­te sie ei­ner of­fi­zi­el­len Vor­stel­lung, wie sie der Or­tho­pä­de aus dem zwei­ten Stock vor zwei Jah­ren or­ga­ni­siert hat­te, bei­ge­wohnt, um Chris­ti­an Rausch nä­her ken­nen­zu­ler­nen.

Mar­ti­na Koch ging zu­rück in ihr Büro und schloss die Tür, um in Ruhe mit ei­nem Man­dan­ten zu te­le­fo­nie­ren. Ihre Mit­a­r­bei­ter wid­me­ten sich wie­der ih­ren Auf­trä­gen.

Kla­ra und Frau Mei­er ar­bei­te­ten in Teil­zeit. Ni­co­le ar­bei­te­te als Ein­zi­ge in Voll­zeit und ihr stand eine ein­stün­di­ge Pau­se zu. Es ma­che ihr nichts aus, sag­te Ni­co­le im­mer, dass sie so viel ar­bei­te. Sie fin­de so­wohl in­ner­halb der Wo­che als auch am Wo­chen­en­de Zeit für ihre pri­va­ten Ver­gnü­gen.

Dass es ihr nichts aus­mach­te, war nur die hal­be Wahr­heit. Für Ni­co­le gab es näm­lich schlicht und er­grei­fend kei­nen Grund, um mit den Stun­den her­un­ter­zu­ge­hen. Sie war Sin­gle. Ihre zwei­te und letz­te Be­zie­hung, die ihr viel ab­ver­langt hat­te, war drei Jah­re her und seit­dem war Ni­co­le mit der lie­ben Män­ner­welt über­haupt nicht in Be­rüh­rung ge­kom­men. Wann im­mer es in Mä­dels­run­den um Män­ner ging, hat­te sie nichts bei­zu­tra­gen und hör­te nur zu. Wäh­rend Kla­ra Berg­mann auf Flirt­por­ta­len an­ge­mel­det war und auch Speed-Da­ting aus­pro­biert hat­te, um po­ten­zi­el­le Part­ner ken­nen­zu­ler­nen – sie er­zähl­te ger­ne und viel, was sie auf Por­ta­len und Tref­fen so al­les er­leb­te –, tat Ni­co­le al­les, um ja kei­ne Män­ner ken­nen­zu­ler­nen. Sprich: Sie tat nichts. Ihre Kol­le­gen wuss­ten, dass sie seit drei Jah­ren Sin­gle war. Ni­co­le war acht­und­zwan­zig. Als sie neun­zehn Jah­re alt ge­we­sen war, da hat­te sie mit fünf­und­zwan­zig Jah­ren ver­hei­ra­tet sein und mit acht­und­zwan­zig ein Kind ha­ben wol­len. Ni­co­le wür­de in zwei Mo­na­ten, am fünf­zehn­ten Juli, neun­und­zwan­zig wer­den. Sie war nicht ver­hei­ra­tet. Nicht ein­mal ver­lobt. Ni­co­le hat­te nicht ein­mal einen Part­ner.

Nicht, dass Ni­co­le mit der Män­ner­welt ab­ge­schlos­sen hät­te. Sie woll­te, um Him­mels Wil­len, nicht alle Män­ner über einen Kamm sche­ren. Al­ler­dings wehr­te sich al­les in ihr ge­gen Män­ner und Be­zie­hun­gen. Sie war froh, sich da­für ent­schie­den zu ha­ben, ei­ni­ge Jah­re nach der Aus­bil­dung vor­erst in Voll­zeit zu ar­bei­ten; die Ar­beit hat­te sie nach der Tren­nung von ih­rem Ex-Part­ner auf­ge­fan­gen und sie von ih­rer Trau­er ab­ge­lenkt.

„Schö­nen Fei­er­abend dem­nächst, wir se­hen uns mor­gen!“ Es war drei­zehn Uhr und Uta Mei­er muss­te ih­ren Zug krie­gen.

„Schö­nen Fei­er­abend, Frau Mei­er.“ Ni­co­le lehn­te sich auf ih­rem Dreh­stuhl mit zu­frie­de­ner Mie­ne zu­rück und streck­te sich. Sie hat­te die Buch­füh­rung tat­säch­lich vor der Pau­se ge­schafft und ver­pass­te sich selbst einen men­ta­len Schul­ter­klop­fer. Wenn sie et­was gut konn­te, dann war es ihre Ar­beit. Sie hat­te das Glück, so­fort im rich­ti­gen Be­ruf ge­lan­det zu sein. Ni­co­le war stets sehr in­ter­es­siert ge­we­sen am Aus­bil­dungs­in­halt und Soll und Ha­ben wa­ren für sie seit der ers­ten Stun­de ein Klacks.

Ni­co­le stand auf und öff­ne­te das Fens­ter auf ih­rer Sei­te, das auf einen kla­ren blau­en Mai­him­mel ging. Von un­ten ström­te der Ge­ruch von Es­sen em­por, der Ni­co­le das Was­ser im Mund zu­sam­men­lau­fen ließ. Un­ten be­fand sich das ita­lie­ni­sche Re­stau­rant, wo das ge­sam­te Kanz­lei­team je­des Jahr im Ja­nu­ar an­stel­le ei­ner Weih­nachts­fei­er ge­mein­sam es­sen ging.

Die letz­ten Male hat­te Ni­co­le sich Es­sen von Zu­hau­se mit­ge­bracht, das sie am Abend zu­vor vor­be­rei­tet hat­te. Das Mit­tag­es­sen für heu­te hat­te sie zu Hau­se ver­ges­sen. Son­der­lich dra­ma­tisch war es nicht, da die Kanz­lei im Zen­trum der Stadt lag und man al­les krie­gen konn­te, was der Ma­gen be­gehr­te.

„Wenn Sie noch ein we­nig da­blei­ben, dann bis gleich“, rich­te­te Ni­co­le das Wort an Kla­ra Berg­mann, die frei­wil­lig Über­stun­den mach­te, wenn sie et­was nicht schaff­te. „Wenn nicht, wün­sche ich Ih­nen einen schö­nen Fei­er­abend und bis mor­gen.“

Zwei Stra­ßen wei­ter gab es eine Back­stu­be, die Ni­co­le un­re­gel­mä­ßig fre­quen­tier­te. Sie ge­sell­te sich zu der Men­schen­trau­be, die an der Am­pel auf grü­nes Licht war­te­te, und da fiel ihr die Wer­be­ta­fel auf, die im Schat­ten des Ma­ri­en­ho­tels lag. Die Ta­fel zeig­te das Ge­sicht ei­nes Man­nes über drei­ßig. Er hat­te dun­kel­blon­des, schul­ter­lan­ges Haar, einen vol­len Bart, grau­blaue Au­gen und au­ßer­or­dent­lich dich­te Brau­en, die ihm bei­na­he in die Au­g­äp­fel hin­gen. Eine tie­fe Li­nie teil­te sei­ne Stirn in Zwei und zwi­schen sei­nen Au­gen­brau­en ver­lie­fen drei ver­ti­ka­le Stri­che. Der Mund war zu­sam­men­ge­knif­fen. Der Mann wirk­te streng, hu­mor­los und – ja, tat­säch­lich – böse.

Chris­ti­an Rausch – Rechts­an­walt, Fach­an­walt für Straf­recht, Straf­ver­tei­di­ger war auf wei­ßem Grund un­ter­halb des ver­grö­ßer­ten Fo­tos zu le­sen.

Ni­co­le press­te die Lip­pen fest auf­ein­an­der, wie um Chris­ti­an Rausch nach­zu­ah­men. Amü­siert hol­te sie ihr Han­dy her­aus, fo­to­gra­fier­te die Wer­be­ta­fel ab und schick­te das Foto an eine Freun­din. Nur kurz dar­auf nahm sie eine Au­di­o­nach­richt auf: „Rechts­an­walt für Straf­recht, ha. Der Kerl sieht selbst so aus, als hät­te er je­man­den auf dem Ge­wis­sen. Die Au­gen­brau­en sind wirk­lich eine Ka­ta­s­tro­phe.“ Ni­co­le ki­cher­te und ließ ein paar wei­te­re Sprü­che vom Sta­pel, die ihr in den Sinn ka­men.

Die Am­pel sprang auf Grün und Ni­co­le ging, ge­mein­sam mit den an­de­ren, an den ste­hen­ge­blie­be­nen Au­tos vor­bei über die Stra­ße.

Mit ei­nem be­leg­ten Bröt­chen in der Hand mach­te es sich Ni­co­le an ei­nem frei­en Tisch am Fens­ter be­quem. Wäh­rend sie aß, sah sie ab und zu auf das Dis­play ih­res Han­dys. Als sie auf­sah, stand am Ein­gang zur Bä­cke­rei nie­mand Ge­rin­ge­res als Chris­ti­an Rausch.

Na so­was, dach­te Ni­co­le bei sich und ließ das Han­dy sin­ken. Ni­co­les Ver­wun­de­rung in­ten­si­vier­te sich, als er die Back­stu­be be­trat und sei­nen stren­gen Blick auf sie rich­te­te. Er vi­sier­te sie an wie ein Jä­ger, kam auf sie zu und Ni­co­le lehn­te sich zu­rück wie nach ei­nem In­stinkt han­delnd.

Chris­ti­an Rauschs Ge­sichts­aus­druck wirk­te noch bos­haf­ter als auf der Wer­be­ta­fel und für einen Mo­ment be­kam es Ni­co­le tat­säch­lich mit der Angst zu tun, weil er in per­so­na wie ein ech­ter Ver­bre­cher in er­le­se­ner Gar­de­ro­be aus­sah. Jetzt erst schluck­te sie ihr zer­kau­tes, spei­chel­um­flos­se­nes Es­sen hin­un­ter und starr­te den Mann vor sich an, der um die einen Me­ter neun­zig groß war. Ni­co­le war, als woll­te er et­was sa­gen. Doch ur­plötz­lich, als hät­te man einen He­bel um­ge­legt, wand­te er sich ab und tä­tig­te kurz dar­auf eine Be­stel­lung.

Mei­ne Güte… Was war denn bit­te das für eine Ak­ti­on ge­we­sen? Hat­te Rausch etwa mit­be­kom­men, was sie in der Au­dio an ihre Freun­din über ihn ge­sagt hat­te? Nein, das konn­te nicht sein. An­de­rer­seits war es sehr gut mög­lich, wenn man be­dach­te, dass er kurz nach ihr die Back­stu­be be­tre­ten hat­te. Viel­leicht hat­te er an der Am­pel un­mit­tel­bar hin­ter ihr ge­stan­den…

Rausch nahm sei­ne Be­stel­lung ent­ge­gen und wand­te sich Ni­co­le zu. Aber­mals mach­te er den Ein­druck, et­was sa­gen zu wol­len, doch er ent­schloss sich, wie­der­holt dar­auf zu ver­zich­ten. Er ver­ließ die Back­stu­be und Ni­co­le sank auf ih­rem Stuhl zu­sam­men. Es gab kei­nen Zwei­fel dar­an, dass er an der Am­pel hin­ter ihr ge­we­sen war und al­les ge­hört hat­te. Pein­lich be­rührt be­deck­te Ni­co­le ihre Au­gen mit der Hand. Him­mel, war­um muss­te das aus­ge­rech­net ihr pas­sie­ren?

Der Ap­pe­tit war ihr ver­gan­gen, aber weil sie hung­rig war und woll­te, dass ihr Kopf gleich funk­tio­nier­te, wenn sie den Jah­res­ab­schluss mach­te, aß sie das Bröt­chen auf. Was ge­sche­hen war, war ihr hoch­gra­dig pein­lich und un­an­ge­nehm. Soll­te sie den Rechts­an­walt bei Ge­le­gen­heit dar­auf an­spre­chen und sich bei ihm ent­schul­di­gen? Sie hät­te die Au­dio nicht auf­neh­men sol­len. Aber da­für war es nun zu spät. Wür­de eine Ent­schul­di­gung über­haupt et­was brin­gen? Wahr­schein­lich hat­te er sie in sei­nem Ge­hirn als eine ober­fläch­li­che Zie­ge ab­ge­spei­chert.

Ni­co­le seufz­te und tipp­te mit dem Fin­ger­na­gel ge­gen den Tisch. Nun, sie hat­te den Mann heu­te das ers­te Mal in vier Wo­chen ge­se­hen. Es war pu­rer, un­g­lü­ck­li­cher Zu­fall ge­we­sen, dass er sich heu­te hin­ter ihr be­fun­den hat­te, und viel­leicht wür­de sie ihn einen Mo­nat lang nicht se­hen. Chris­ti­an Rausch schien ge­fragt und viel­be­schäf­tigt zu sein. Mit Si­cher­heit wür­de er das Gan­ze nach ei­nem Mo­nat wie­der ver­ges­sen ha­ben.

§2

Eine Be­trieb­sprü­fung stand dem­nächst an und der Man­dant hat­te Ni­co­le und ih­rer Chefin am Frei­tag­nach­mit­tag einen gro­ßen Kar­ton vol­ler Ord­ner ge­bracht. Heu­te war Mon­tag und Ni­co­le stand be­reits kurz nach sie­ben vor der Kanz­lei. Mit ge­run­zel­ter Stirn such­te sie in ih­rer Ta­sche nach dem Schlüs­sel. Ni­co­le woll­te es ein­fach nicht glau­ben, dass sie ihn zu Hau­se ver­ges­sen hat­te. Wü­tend über sich selbst hock­te sie sich hin und kipp­te den ge­sam­ten In­halt der Ta­sche auf den Bo­den aus. Sli­p­ein­la­gen, Na­gel­lack, der schon längst ver­trock­net war, ein No­tiz­block mit kit­schi­gem Mo­tiv, Haus­sch­lüs­sel mit ei­ner plü­schi­gen Kat­ze als An­hän­ger und vie­le an­de­re Din­ge bil­de­ten im Nu einen klei­nen See, den Ni­co­le mit bei­den Hand­flä­chen teil­te und dann al­les ein­mal um­dreh­te. Von dem Schlüs­sel fehl­te jede Spur. Das war ihr noch nie pas­siert. Ni­co­le biss sich frus­triert auf die Lip­pe. Groß­ar­tig.

Kla­ra kam stets vier­tel vor acht. Bis da­hin war es noch eine hal­be Stun­de und Ni­co­le muss­te drin­gend zur Toi­let­te. Die Schlüs­sel für den Brief­kas­ten und die Toi­let­te, die die Kanz­lei Koch mit den an­de­ren auf der Eta­ge teil­te, la­gen auf der The­ke in der Kü­che. Der ei­ser­nen Stil­le nach zu ur­tei­len war Ni­co­le die Ers­te hier. Mög­li­cher­wei­se war sie als Ers­te über­haupt ge­kom­men. Sie wür­de zum Haupt­bahn­hof ge­hen und dort eine Toi­let­te auf­su­chen müs­sen.

Ni­co­le woll­te ge­ra­de da­mit be­gin­nen, die aus­ge­schüt­te­ten Ge­gen­stän­de miss­ge­stimmt wie­der in ihre Ta­sche zu pa­cken, als sie den Fahr­stuhl hör­te und dann das Kla­ckern von Ab­sät­zen. Es wa­ren al­ler­dings kei­ne Frau­en­schu­he, die das Kla­ckern ver­ur­sach­ten. Chris­ti­an Rausch hielt vor der Tür zu sei­ner Kanz­lei inne und sah zu Ni­co­le her­über.

Sie blin­zel­te. Dann stell­te sie fest, dass sie nach wie vor breit­bei­nig hock­te und ihr gel­ber Rock ein or­dent­li­ches Stück weit hoch­ge­rutscht war. In der einen Hand hielt sie zwei Sli­p­ein­la­gen, in der an­de­ren ih­ren Haus­sch­lüs­sel mit dem Kat­ze­n­an­hän­ger. Ni­co­le schnapp­te hör­bar nach Luft, press­te die Ober­schen­kel zu­sam­men und ver­steck­te die Ein­la­gen und den An­hän­ger hin­ter ih­rem Rü­cken, wäh­rend sie ver­such­te, auf ih­ren fla­chen Schu­hen nicht nach hin­ten zu kip­pen. Ihr Un­ter­leib be­gann zu span­nen. Schief lä­chelnd, hin­rei­chend rosa um die Nase, sag­te sie dann: „Gu­ten Mor­gen.“

„Gu­ten Mor­gen“, ant­wor­te­te der An­walt kühl und blick­te da­bei skep­tisch drein.

Weil sie es nicht mehr in der Po­si­ti­on aus­hielt, stopf­te Ni­co­le den In­halt ih­rer Hän­de seit­lich in die Ta­sche, rich­te­te sich un­be­hol­fen auf und strich ih­ren Rock glatt. „Mein Name ist Klin­ger, Ni­co­le Klin­ger. Ich ar­bei­te in der Kanz­lei Koch und habe den Kanz­leisch­lüs­sel da­heim ver­ges­sen.“

Jetzt erst be­trach­te­te sie Chris­ti­an ge­nau: Um sein Haar schlang sich im Nacken ein Zopf­gum­mi, er trug ein wei­ßes Hemd, dazu eine Kra­wat­te mit Pa­ra­gra­phen­zei­chen und dun­kel­blaue Ho­sen; über sei­ne lin­ke Arm­beu­ge hat­te er sei­nen Sak­ko ge­wor­fen.

Weil Chris­ti­an sie im­mer noch an­sah, füg­te sie zu ih­rer Er­klä­rung ner­vös hin­zu: „Das pas­siert mir für ge­wöhn­lich nicht.“ Das Herz klopf­te un­ru­hig in ih­rer Brust und sie hat­te den Ein­druck, dass er sie mit sei­nem stump­fen Blick dazu zwin­gen woll­te, sich zum Don­ners­tag zu äu­ßern. Sie hat­te nicht das Ge­fühl, dass es ein gu­ter Zeit­punkt war. Ni­co­le war nicht vor­be­rei­tet. „Ehm… Mir ist das wirk­lich sehr pein­lich, Herr Rausch, aber… könn­ten Sie mir, even­tu­ell“, Ni­co­le drucks­te kurz her­um, „die Toi­let­te auf­ma­chen?“ Ihr Ge­sicht glich ei­ner To­ma­te und sie senk­te be­schämt und mit glü­hen­den Oh­ren den Kopf.

„Ich ver­ste­he. Das kann ich ge­wiss“, er­wi­der­te Rausch wie ein Kind, das die höf­li­che In­di­rekt­heit ge­flis­sent­lich miss­ver­stand, und öff­ne­te die Tür zu sei­ner Kanz­lei, „aber ich wer­de es nicht tun. Ent­schul­di­gen Sie mich.“

Ver­wirrt starr­te Ni­co­le auf die Stel­le, wo der An­walt eben noch ge­stan­den hat­te. War das etwa sei­ne Ra­che an ihr? Nie und nim­mer wür­de sie es jetzt noch bis zum Haupt­bahn­hof schaf­fen! Nie und nim­mer!

Mit zu­sam­men­ge­press­ten, zit­tern­den Schen­keln ging Ni­co­le zum Auf­zug; an Trep­pen­stei­gen war nicht zu den­ken. Vol­ler Un­ge­duld trat sie auf der Stel­le. Ni­co­le war im Auf­zug, noch be­vor die Tü­ren voll­stän­dig auf­ge­glit­ten wa­ren. Meh­re­re Male tipp­te sie auf den Knopf mit der Let­ter E drauf und be­te­te, dass al­les gut ge­hen wür­de.

Im ge­gen­über­lie­gen­den Ho­tel bat sie die jun­ge Dame an der Re­zep­ti­on dar­um, die Toi­let­te zu be­nut­zen. Das kos­te­te Über­win­dung, es war schließ­lich ein Lu­xus­ho­tel, in wel­chem schon Schau­spie­ler und Prä­si­den­ten über­nach­tet hat­ten.

Er­leich­tert ging Ni­co­le auf die Stra­ße. Dort oben sein woll­te sie jetzt nicht. Ers­tens hat­te es kei­nen Sinn, zwei­tens woll­te sie Chris­ti­an Rausch nicht be­geg­nen, falls es ihm ein­fie­le, vor die Tür zu ge­hen. Aus die­sem Grund be­schloss Ni­co­le, einen klei­nen Spa­zier­gang zu ma­chen und ge­gen Vier­tel vor acht wie­der hier zu sein, hof­fend, dass sich Kla­ra heu­te nicht krank­mel­den woll­te.

Hat­ten Chris­ti­an ihre Wor­te tat­säch­lich der­art ge­kränkt? Sie war seit­dem nicht mit sich selbst im Rei­nen ge­we­sen. Sie ge­hör­te zu den Men­schen, die das schlech­te Ge­wis­sen wo­chen­lang ver­fol­gen konn­te. Aber blö­de Sprü­che, die wit­zig sein soll­ten, wa­ren doch kein Grund, ihr nicht die Toi­let­te zu öff­nen!

Ni­co­le blieb ste­hen und zwang sich zur Ruhe. Sie woll­te nicht dar­über nach­den­ken, so em­pört sie im Nach­hin­ein über das Ver­hal­ten des Rechts­an­walts auch sein moch­te. Sie hoff­te, dass sie und Herr Rausch nun quitt wa­ren und es kein bö­ses Blut zwi­schen ih­nen ge­ben wür­de.

§3

Ni­co­le und Chris­ti­an be­geg­ne­ten sich die rest­li­che Wo­che und am Mon­tag nicht.

Am Diens­tag roll­te Ni­co­le einen Bü­ro­wa­gen vol­ler Ord­ner Rich­tung Fahr­stuhl. Die Ord­ner muss­ten alle im Kel­ler ar­chi­viert wer­den, da­mit die Ak­ten­schrän­ke nicht mehr so über­voll wa­ren.

Der Fahr­stuhl war laut An­zei­ge im vier­ten Stock, da kam Chris­ti­an aus sei­ner Kanz­lei her­aus. Sei­ne Tür war dem Auf­zug am nächs­ten und er ent­deck­te Ni­co­le so­fort.

„Gu­ten Tag“, grüß­te sie den Rechts­an­walt und lä­chel­te ihn an. Durch den Grö­ßen­un­ter­schied von etwa drei­ßig Zen­ti­me­tern muss­te sie den brau­nen Lo­cken­kopf he­ben.

Chris­ti­an duf­te­te nach ei­ner in­ten­si­ven Kom­po­si­ti­on aus Pat­schu­li, Rose und Veil­chen. Für einen Au­gen­blick wur­de Ni­co­le ganz schum­me­rig von die­sem Duft, der zu ihr hin­über­schwapp­te. Ein schö­ner Win­ter­duft, aber an sol­chen war­men Ta­gen ein ab­so­lu­ter Na­sen­kil­ler und Kopf­schmer­zen­ver­ur­sa­cher.

Chris­ti­an, die Haa­re wie­der zum Zopf, der Bart zwar ge­pflegt, aber dicht, ganz in Schwa­rz und Weiß ge­klei­det, grüß­te halb­her­zig zu­rück. Sei­ne Pa­ra­gra­phen­kra­wat­te, an der er sich einen Nar­ren ge­fres­sen zu ha­ben schien, war wie­der mit von der Par­tie.

Erst schob Ni­co­le den Wa­gen in den Auf­zug. Chris­ti­an folg­te und be­tä­tig­te über den Wa­gen hin­weg die Tas­te ins Erd­ge­schoss. Um in den Kel­ler zu ge­lan­gen, war eine Schlüs­seldre­hung er­for­der­lich. Ni­co­le dreh­te den Schlüs­sel und drück­te auf das Un­ter­ge­schoss. Ei­gent­lich müss­te das Qua­drat jetzt rot leuch­ten. Das tat es aber nicht. Ver­wirrt wie­der­hol­te Ni­co­le die nö­ti­ge Pro­ze­dur, doch auch beim zwei­ten und beim drit­ten Mal klapp­te es nicht. Ver­är­gert zog Ni­co­le den Schlüs­sel her­aus und un­ter­such­te ihn wie ein au­ßer­ge­wöhn­li­ches Ar­te­fakt. Da­bei stell­te sie fest, dass der Schlüs­sel ein we­nig an­ders aus­sah als sonst. War er etwa er­neu­ert wor­den und Frau Koch hat­te ver­ges­sen, es ih­nen zu sa­gen? Muss­te sie also an­ders vor­ge­hen?

Chris­ti­ans Duft schnür­te ihr in die­sem en­gen Raum all­mäh­lich die Keh­le zu.

„Krie­gen Sie es nicht hin, gleich­zei­tig zu dre­hen und zu drü­cken, Frau Klin­ger?“

Ni­co­le zuck­te kurz zu­sam­men und schiel­te zu Chris­ti­an hin­über. Das Gan­ze war ihr auch so schon pein­lich ge­nug und der Kerl mein­te auch noch, sei­nen Senf da­zu­ge­ben zu müs­sen. Sie ver­such­te es noch ein­mal ver­geb­lich im Al­lein­gang und hör­te, wie Chris­ti­an Rausch laut, da­mit sie es ja hör­te, mit der Zun­ge schna­lz­te. Oh, sie hass­te es, wenn Men­schen das mach­ten.

Ni­co­le wand­te sich dem Rechts­an­walt zu. „Der Schlüs­sel ist neu“, sag­te sie, um einen neu­tra­len Ton be­müht. „Ich muss noch raus­fin­den, wie er fun-“

„Ge­ben Sie ihn mir“, schnitt Chris­ti­an ihr das Wort ab und streck­te die Hand­flä­che aus.

Das her­ri­sche Ge­ba­ren des Rechts­an­walts ge­fiel ihr über­haupt nicht. Plötz­lich konn­te Ni­co­le ih­ren Wunsch, sich bei ihm zu ent­schul­di­gen, und das schlech­te Ge­wis­sen, das sie ge­plagt hat­te, nicht ver­ste­hen. Den­noch gab sie ihm den Schlüs­sel­bund. Mach’s doch bes­ser, dach­te sie ge­reizt und wünsch­te, dass er schei­ter­te.

Chris­ti­an schaff­te es, dass das Qua­drat mit dem Buch­sta­ben U auf­leuch­te­te.

Mit her­un­ter­ge­klapp­ter Kinn­la­de nahm Ni­co­le den Schlüs­sel­bund wie­der ent­ge­gen.

„Wenn Sie se­hen, dass Ihr Mo­dus Pro­ce­den­di drei­mal hin­ter­ein­an­der schei­tert, soll­ten Sie sich et­was an­de­res ein­fal­len las­sen. Das ist eine Fra­ge der fun­da­men­ta­len In­tel­li­genz, über die wir Men­schen ei­gent­lich schon seit ge­rau­mer Zeit ver­fü­gen.“

Sie woll­te ihn mit sei­ner Pa­ra­gra­phen­kra­wat­te stran­gu­lie­ren. Oder ihm mit dem Um­satz­steu­er­recht in­klu­si­ve der Durch­füh­rungs­ver­ord­nung und dem An­wen­dungs­er­lass links und rechts eine scheu­ern, dass ihm Hö­ren und Se­hen ver­gin­gen. Al­ter­na­tiv das kom­men­tier­te Ein­kom­men­steu­er­recht – Haupt­sa­che et­was, das weht­at.

Der Auf­zug blieb ste­hen und Chris­ti­an ging schnel­len Schrit­tes hin­aus, ohne sich zu ver­ab­schie­den. Ni­co­le fuhr eine Eta­ge tie­fer und schob den Wa­gen wü­tend durch die Gän­ge des Kel­lers. Es war kühl und roch nach Mo­der und die­ser Ge­ruch tat gut, denn er ver­trieb Chris­ti­ans pe­ne­tran­tes Pa­r­füm aus ih­ren ar­men Na­sen­höh­len.

„Krie­gen Sie es nicht hin, gleich­zei­tig zu dre­hen und zu drü­cken, Frau Klin­ger?“, äff­te sie vor der Tür in den Kel­ler­raum Chris­ti­an Rausch nach, wäh­rend sie den Schlüs­sel­bund nach dem rich­ti­gen Schlüs­sel ab­such­te. „Ge­ben Sie mir den Schlüs­sel!“ Sie schnaub­te. „Mo­dus Pro­ce­dings­bums, eine Fra­ge der fun­da­men­ta­len In­tel­li­genz, bah!“

Ni­co­le be­gann mit der Sor­tie­rung der Ak­ten­ord­ner und po­w­er­te sich aus. Wie sie es ge­schafft hat­te, sich im Auf­zug zu be­herr­schen, wie sie es ge­schafft hat­te, ins­be­son­de­re auf sei­nen fi­na­len Kom­men­tar nichts zu­min­dest un­ter­schwel­lig Be­lei­di­gen­des zu er­wi­dern, wuss­te sie nicht.

Eine hal­be Stun­de spä­ter wa­ren Chris­ti­an und Ni­co­le wie­der ge­mein­sam im Auf­zug. Ni­co­le ver­mu­te­te, dass er bei der Bank ge­we­sen war. Die Ent­schul­di­gung konn­te Herr Rechts­an­walt ver­ges­sen, eben­so das freund­li­che Grü­ßen. Hät­te sie die­sen däm­li­chen Bü­ro­wa­gen nicht bei sich, hät­te sie die Trep­pe ge­nom­men. Ni­co­le drück­te sich de­mon­s­tra­tiv in die rech­te Ecke des Auf­zugs, als hät­te Chris­ti­an eine an­ste­cken­de Krank­heit. Chris­ti­an im Ge­gen­zug tat, als wäre sie gar nicht da.

„Die­ser däm­li­che An­walt“, mur­mel­te Ni­co­le, als sie Frau Mei­er den Ord­ner, den sie aus dem Kel­ler ho­len soll­te, auf den Tisch stell­te.

Kla­ra war ge­ra­de im Be­spre­chungs­zim­mer; ein Man­dant war zum Un­ter­schrei­ben sei­ner Ein­kom­men­steu­er­er­klä­rung ge­kom­men. Wäre Kla­ra im Raum ge­we­sen und die Tür ins Büro ih­rer Chefin nicht ge­schlos­sen, hät­te Ni­co­le ge­schwie­gen.

„Wir sind ge­mein­sam Auf­zug ge­fah­ren“, er­klär­te Ni­co­le und war froh, ih­rem in­fer­na­li­schen Är­ger Luft ma­chen zu kön­nen.

Uta Mei­er schüt­tel­te un­gläu­big den Kopf. „Da ist je­mand über­haupt nicht im Rei­nen mit sich selbst.“

„Da ist je­mand ganz schön frus­triert und un­zu­frie­den, wenn Sie mich fra­gen“, sag­te Ni­co­le und setz­te sich an ih­ren Ar­beits­platz.

§4

Als Ni­co­le zum Brief­kas­ten trat, um die Ci­ti­post zu ho­len, öff­ne­te sich die Ein­gangs­tür. Ni­co­le schau­te au­to­ma­tisch zu ih­rer Lin­ken und run­zel­te die Stirn, weil sie ein be­kann­tes Ge­sicht er­blick­te.

„Ni­co­le!“ Die blon­de Frau in knie­lan­gem Blei­stift­rock und Rü­schen­blu­se lä­chel­te breit.

„Mag­da, ist denn das zu fas­sen!“

Mag­da­le­na Bi­els­ka war eine ehe­ma­li­ge Mit­schü­le­rin von Ni­co­le. Sie wa­ren nicht be­freun­det ge­we­sen, hat­ten sich aber in un­re­gel­mä­ßi­gen Ab­stän­den mit­ein­an­der aus­ge­tauscht. Als sie das letz­te Mal mit­ein­an­der ge­schrie­ben hat­ten, hat­te Mag­da­le­na ein­hun­dert Ki­lo­me­ter ent­fernt Jura stu­diert und war ge­pen­delt.

Bei­de Frau­en fie­len aus al­len Wol­ken, als sie beim ge­mäch­li­chen Trep­pen­stei­gen fest­stell­ten, dass sie seit Wo­chen im glei­chen Ge­bäu­de, auf der glei­chen Eta­ge ar­bei­te­ten und den je­weils an­de­ren bis jetzt kein ein­zi­ges Mal ge­se­hen hat­ten. Sie fin­gen zu un­ter­schied­li­chen Zei­ten an, hat­ten zu un­ter­schied­li­chen Zei­ten Pau­se und Mag­da­le­na hat­te eine Stun­de vor Ni­co­le Fei­er­abend.

Ni­co­le woll­te in Er­fah­rung brin­gen, was mit Mag­da­le­n­as Stu­di­um pas­siert sei, doch Mag­da­le­na block­te ge­zwun­ge­ner­ma­ßen ab. „Ich will mich nicht ver­spä­ten. Will un­ger­ne raus­fin­den, was Herr Rausch von Ver­spä­tun­gen hält.“

Ni­co­le ver­dreh­te in­ner­lich die Au­gen. Wahr­schein­lich muss­te man bei Herrn Rausch einen Euro in die Kas­se le­gen, wenn man spä­ter kam.

„Wenn du Lust hast, kön­nen wir nach­her was es­sen ge­hen. Ich woll­te heu­te noch ein paar Er­le­di­gun­gen in der Stadt ma­chen. Eine Stun­de reicht mir, das passt ja. Ich könn­te di­rekt am Ein­gang auf dich war­ten.“

„Ger­ne!“

Mag­da­le­na drück­te ei­lig Ni­co­les Hand, ehe sich die bei­den trenn­ten.

Punkt sieb­zehn Uhr mach­te Ni­co­le Fei­er­abend, ver­ab­schie­de­te sich von ih­rer Chefin und traf sich un­ten mit Mag­da­le­na. Sie über­leg­ten kurz, wo­hin sie ge­hen woll­ten, und schließ­lich ent­schie­den sie sich für das ita­lie­ni­sche Re­stau­rant ne­be­n­an.

„Also“, be­gann Mag­da­le­na, als sie Platz auf ro­ten, wie mit Samt be­zo­ge­nen Stüh­len ge­nom­men hat­ten, „mein Jura-Stu­di­um habe ich ab­ge­bro­chen und habe dann eine Aus­bil­dung zur Rechts­an­walts­fach­an­ge­stell­ten im Kon­gress­vier­tel ge­macht. Die Aus­bil­dung habe ich vor drei Jah­ren be­en­det, habe zwei­ein­halb Jah­re im al­ten Be­trieb ge­ar­bei­tet und such­te mir dann einen neu­en Be­trieb. So bin ich zu Herrn Rausch ge­kom­men.“

„Wie ist es, für ihn zu ar­bei­ten?“, er­kun­dig­te sich Ni­co­le und fal­te­te die Spei­se­kar­te aus­ein­an­der. Sie stell­te es sich nicht son­der­lich schön vor.

„Er ist oft schlecht ge­launt. Nicht ge­reizt, er lässt es auch nicht an uns aus. Ganz ko­misch ist das… Spre­chen tut er über sein Pri­vat­le­ben gar nicht. Wir wis­sen nicht, ob er eine Part­ne­rin hat, ob er schon Kin­der hat… Wo­bei ich mir Letz­te­res nicht be­son­ders gut vor­stel­len kann. All­zu alt dürf­ten die Kin­der nicht sein, aber er bleibt ewig lan­ge im Büro und kommt manch­mal auch vor uns. Fast so, als wür­de er dort über­nach­ten.“

Der Kell­ner brach­te ih­nen ihre Ge­trän­ke in Win­desei­le und nach­dem sie von ih­rem al­ko­hol­frei­en Cock­tail ge­ni­ppt hat­te und sich ver­ge­wis­sert hat­te, dass Rausch nicht ir­gend­wo in der Nähe war, er­zähl­te Ni­co­le von den Auf­ein­an­der­tref­fen mit Chris­ti­an.

„Er hat dich nicht pin­keln las­sen? Wow, er hat sich dir ge­gen­über wirk­lich schei­ße ver­hal­ten. Zu uns ist er for­dernd und sei­nen Tote-Spra­chen- und Fremd­wort-Fim­mel könn­te er ru­hig links lie­gen las­sen, weil wir ihn stel­len­wei­se gar nicht ver­ste­hen und nach­fra­gen müs­sen. Aber er lässt sei­ne Lau­ne, wie ge­sagt, nicht an uns aus und zahlt an­ge­mes­sen. Ich schät­ze, du bist nach dem Kom­men­tar zu sei­nem Aus­se­hen bei ihm un­ten durch. We­nigs­tens ar­bei­tet ihr nicht zu­sam­men. Igno­ri­er ihn ein­fach, wenn ihr euch nicht ver­steht“, schlug Mag­da­le­na amü­siert vor und lenk­te die Un­ter­hal­tung in an­de­re Bah­nen.

Sie un­ter­hiel­ten sich über ihre Ar­beit im All­ge­mei­nen, über Män­ner – Mag­da­le­na war seit Kur­z­em Sin­gle und es fiel ihr leicht, Ni­co­les ab­weh­ren­de Hal­tung nach­zu­voll­zie­hen –, über Gott und die Welt und aßen haus­ge­mach­te Pas­ta. Ni­co­le er­zähl­te über die mor­gi­ge Be­trieb­sprü­fung. Den Man­dan­ten durf­te sie nicht nen­nen und so er­zähl­te sie nur, dass sie und ihre Chefin auf­ge­regt und auch ein we­nig an­ge­spannt sei­en. Der Prü­fer habe am Te­le­fon nett ge­klun­gen, aber das habe nichts zu sa­gen.

Die zwei Frau­en be­zahl­ten kurz nach zwan­zig Uhr.

„Ich gebe dir mal mei­ne neue Han­dy­num­mer“, sag­te Mag­da­le­na, als sie aus dem Re­stau­rant tra­ten. „Wir kön­nen uns je­der­zeit ger­ne ver­ab­re­den, wenn du magst. Auch am Wo­chen­en­de.“

Mag­da­le­na muss­te zur Bus­hal­te­stel­le, Ni­co­le zur Bahn. Sie tausch­ten eine kur­ze Um­ar­mung aus.

„Lass dich von Herrn Rausch nicht zu sehr är­gern“, riet Mag­da­le­na Ni­co­le au­gen­zwin­kernd. Dann ging sie über die Stra­ße zur Bus­hal­te­stel­le.

Ni­co­le at­me­te tief durch und sah die Ma­ri­en­stra­ße fünf hoch. Ein Fens­ter der Kanz­lei Rausch ging auf das Ma­ri­en­ho­tel. Die Vor­hän­ge wa­ren aus­ein­an­der­ge­zo­gen, Licht brann­te im Raum und Chris­ti­an Rausch trat ans Fens­ter. Ni­co­le jag­te ein un­an­ge­neh­mer Schau­er den Rü­cken hin­un­ter, als hät­te sie so­eben eine fet­te Ka­ker­la­ke in der Kü­che ent­deckt.

Rausch te­le­fo­nier­te und zog mit ei­ner Hand erst den einen, dann den an­de­ren Vor­hang zu, so als hät­te er Ni­co­le ge­se­hen und woll­te nicht, dass sie in sei­ne Kanz­lei gu­cken konn­te.

Ni­co­le dreh­te sich vom Ge­bäu­de weg und ging zum Haupt­bahn­hof. In der Bahn nahm sie nach lan­ger Zeit das Han­dy wie­der in die Hand. Sie hat­te zwei An­ru­fe von ih­rer Freun­din Anna ver­passt. Da Ni­co­le es über­haupt nicht moch­te, in der Bahn zu te­le­fo­nie­ren, und sie zu­dem un­ter­ir­disch fuh­ren, schrieb Ni­co­le Anna eine Nach­richt, in der sie nach dem Grund der An­ru­fe frag­te und von ih­rem Tref­fen mit Mag­da­le­na Bi­els­ka be­rich­te­te.

Et­was spä­ter be­trat Ni­co­le ihre Zwei­zim­mer­woh­nung. Sie warf ihre Ta­sche auf das Bett und dusch­te sich aus­gie­big. Beim Ein­cre­men ih­rer Bei­ne merk­te sie aus den Au­gen­win­keln, dass ihr Han­dy auf­leuch­te­te. Anna rief an. Ni­co­le zupf­te sich ein Kos­me­tik­tuch her­aus, wisch­te sich rasch die Hän­de ab und nahm den An­ruf ent­ge­gen. Wie Anna so war, woll­te sie al­les wis­sen, was Ni­co­le und Mag­da­le­na be­spro­chen hat­ten.

„Du hat­test vor­hin an­ge­ru­fen“, er­in­ner­te Ni­co­le Anna, nach­dem sie sich or­dent­lich über Herrn Rausch aus­ge­las­sen hat­te. „Was gab’s?“

„Ah, ja“, mach­te Anna, ki­cher­te wie ein klei­nes Mäd­chen und sag­te, ohne um den hei­ßen Brei her­um­zu­re­den: „Ich habe für dich ein Blind Date or­ga­ni­siert.“

Ni­co­le blin­zel­te. Es dau­er­te, bis sie be­griff. „D-Du hast was?“, stot­ter­te sie. „Du hast was?“

„Dir ein Blind Date or­ga­ni­siert“, wie­der­hol­te Anna wie selbst­ver­ständ­lich. „Weißt du, ich habe schon län­ger das Ge­fühl, dass du zu den Leu­ten ge­hörst, die man zu ih­rem Glück zwin­gen muss. Du bist bald vier Jah­re Sin­gle und ar­bei­test Voll­zeit. Weißt du, war­um du im­mer noch Voll­zeit ar­bei­test? Weil du kei­nen Mann hast. Wenn du einen ver­nünf­ti­gen Freund hät­test, dann wür­dest du nicht den gan­zen Tag in die­ser Kanz­lei sit­zen.“

Ni­co­le saß mit of­fe­nem Mund auf ih­rem Bett und wur­de im­mer wü­ten­der. „Bist du des Wahn­sinns“, zisch­te sie ihre Freun­din an. Anna sprach wah­re Wor­te, aber Ni­co­le woll­te ihr ge­ra­de kei­nes­falls Recht ge­ben. „Da be­steht über­haupt kein Zu­sam­men­hang. Ich ar­bei­te Voll­zeit, weil ich das möch­te. Das hat nichts da­mit zu tun, dass ich kei­nen Mann habe, son­dern da­mit, dass ich mehr Geld ver­die­nen will, und so­lan­ge ich…“

„Ach, Ni­co­le. Ich weiß es bes­ser, glaub mir.“

„Nein, das tust du nicht. Ich wer­de das Blind Date nicht wahr­neh­men, das kannst du ver­ges­sen.“ So et­was Dreis­tes hat­te Anna sich noch nie er­laubt.

„Willst du nicht ein­mal wis­sen, wie er ist? Viel­leicht ver­steht ihr euch gut. Und sag jetzt nicht, dass du das be­zwei­felst! Hör auf, so vor­ein­ge­nom­men zu sein, so wirst du dir viel­leicht dei­nen Traum­prin­zen ent­ge­hen las­sen.“

„Ja, das Sa­gen Ü-Fünf­zi­ger auch ger­ne, wenn man in der Bahn lie­ber in sein Smart­pho­ne starrt, als die Män­ner in der Ab­tei­lung ab­zuch­e­cken. Ver­giss es.“

„Haha, wirk­lich wit­zig, du hät­test Ko­mi­ker wer­den sol­len. Ich wer­de nicht ab­sa­gen. Wenn du willst, gebe ich dir sei­ne Num­mer und du kannst es selbst ma­chen.“

„SAG MA-“

„Wenn we­der du noch ich ab­sa­gen, wird er mor­gen ganz al­lei­ne am Treff­punkt sein. Der arme Kerl.“ Anna seufz­te aber­mals.

Was um al­les in der Welt war nur in Anna ge­fah­ren? Ni­co­le wuss­te, dass Anna es läs­tig fand, wenn sich Ni­co­le zu be­stimm­ten The­men, die in der Mä­dels­run­de be­spro­chen wur­den, nicht äu­ßern konn­te. Aber ein Blind Date zu or­ga­ni­sie­ren, ohne ihre Freun­din dar­über in Kennt­nis zu set­zen, ohne ihr Ein­ver­ständ­nis ein­zu­ho­len, war da­ne­ben. Lei­der kann­ten sich Ni­co­le und Anna viel zu lan­ge und Anna wuss­te, wel­che Knöp­fe sie bei ih­rer Freun­din drü­cken muss­te, um ih­ren Wil­len durch­zu­set­zen. Ni­co­le be­kam ein schlech­tes Ge­wis­sen und eine Vier­tel­stun­de spä­ter sag­te sie: „Du wuss­test doch, dass mor­gen der ers­te Tag der Be­trieb­sprü­fung ist. Hät­test du das Date nicht auf ir­gend­wann an­ders le­gen kön­nen?“

„Mor­gen? Ach Mist. Tut mir leid, ich hat­te das ganz ver­ges­sen. Ich dach­te, die ist erst nächs­te Wo­che. Oh, Ni­co­le, das tut mir so leid. Das habe ich wirk­lich ver­peilt. Aber das ist doch nicht so schlimm, oder? Es wird be­stimmt ein sehr ent­spann­ter Abend und du kannst ab­schal­ten.“

„Hm“, mach­te Ni­co­le, längst nicht über­zeugt. Wenn der Prü­fer mor­gen et­was fin­den wür­de, dann wür­de ihre Lau­ne an­schlie­ßend im Ei­mer sein. Und wenn ihre Lau­ne im Ei­mer sein wür­de, könn­te sie viel­leicht pat­zig wer­den. „Du kannst den Ter­min wirk­lich nicht ver­le­gen?“

„Bei ihm geht es nur mor­gen so gut, da­nach ist er für eine Wei­le sehr be­schäf­tigt. Also… Ob mit oder ohne Prü­fung, es wäre so­wie­so auf mor­gen hin­aus­ge­lau­fen.“

Ni­co­le leg­te sich hin und rieb sich die Na­sen­wur­zel. „Okay, mei­net­we­gen. Mei­net­we­gen. Kannst du mir ein paar Sa­chen über ihn er­zäh­len?“

„Dann ist es kein Blind Date mehr.“

„Ich bin mir ziem­lich si­cher, dass es dann trotz­dem eins ist.“

„Also gut. Er heißt Nick­las Be­cker. Er ist Ar­chi­tekt und ein Jahr jün­ger als du. Ich habe ihn beim Tan­zen ken­nen­ge­lernt. Ich fin­de ihn sym­pa­thisch, aber da ich be­setzt bin, woll­te ich ihn an dich wei­ter­rei­chen.“

Je schnel­ler ich es hin­ter mir habe, des­to bes­ser, dach­te sich Ni­co­le. Dann wür­de sie sich mit dem Ar­chi­tek­ten eben di­rekt nach der Be­trieb­sprü­fung tref­fen. Sie hat­te es bis jetzt oft ge­nug ge­schafft, sich nach ei­nem ner­ven­auf­rei­ben­den Ar­beits­tag zu­sam­men­zu­rei­ßen. Mor­gen wür­de ihr das si­cher auch ge­lin­gen.

§5

Die Be­trieb­sprü­fung fing gut an. Aber ab der Mit­tags­pau­se be­gann der Prü­fer, un­zäh­li­ge Un­stim­mig­kei­ten zu fin­den, und ließ ent­we­der Ni­co­le oder Frau Koch zu sich ru­fen, um über sei­ne Fun­de zu spre­chen.

Wie es aus­sah, wür­de die vom Man­dan­ten ge­führ­te Kas­se kom­plett ver­wor­fen wer­den müs­sen. Und das be­deu­te­te, dass sie alle eine Schät­zung er­war­te­te. Aber die Kas­se war nicht das ein­zi­ge Pro­blem und Ni­co­le hat­te gro­ße Angst, dass der Prü­fer wei­te­re Sa­chen fin­den könn­te, die nicht in Ord­nung wa­ren. Es war nicht Ni­co­les Schuld und auch nicht die Schuld ih­rer Chefin. Den­noch war den bei­den angst und ban­ge, um den Man­dan­ten, mit dem sie schon lan­ge zu­sam­me­n­a­r­bei­te­ten.

Ni­co­le war schlecht ge­launt und hat­te über­haupt kei­ne Lust auf das Blind Date. Ab­sa­gen war al­ler­dings nicht drin und so mach­te sich Ni­co­le auf der Toi­let­te ein we­nig frisch, be­vor sie los­ging. Auf dem Weg zur Mar­kus­kir­che, wo sie den Ar­chi­tek­ten tref­fen soll­te, dach­te Ni­co­le an die schö­nen Din­ge des Le­bens und ihre Lau­ne hob sich ein we­nig.

Ni­co­le und Nick­las, der auf ei­ner Bank ge­war­tet hat­te, er­kann­ten sich pro­blem­los. Er war ein schlan­ker Mann mit sanf­ten Ge­sichts­zü­gen, brau­nen Au­gen und dun­kel­blon­dem Haar. Die Op­tik stimm­te. Aber ent­ge­gen des­sen, was Chris­ti­an Rausch al­ler Wahr­schein­lich­keit nach dach­te, war Op­tik für Ni­co­le längst nicht al­les.

„Ich dach­te, wir könn­ten viel­leicht in den Eis­la­den in der Alt­stadt“, schlug Nick­las vor.

„Hört sich gut an“, sag­te Ni­co­le lä­chelnd. „Du und Anna kennt euch also vom Tan­zen?“

„Ja, also…“

Wie Ni­co­le fest­stell­te, re­de­te Nick­las viel und ger­ne – über sich. Er gab Ni­co­le nicht die Zeit, auf sein Ge­sag­tes ein­zu­ge­hen oder Fra­gen zu stel­len. Erst dach­te Ni­co­le, dass das von ei­ner mög­li­chen Auf­re­gung kom­men könn­te. Im Eis­la­den, nach­dem sie einen Ba­na­nen- und einen Scho­ko­la­den­be­cher be­stellt hat­ten, wur­de klar, dass Nick­las ein­fach ego­zen­trisch war. Mitt­ler­wei­le wuss­te sie, was er in sei­ner Frei­zeit mach­te, was sei­ne Lieb­lings­se­ri­en, Lieb­lings­fil­me und -rei­se­zie­le wa­ren, aber er wuss­te nur, wie sie hieß und was sie be­ruf­lich mach­te. Für mehr schien er sich auch nicht zu in­ter­es­sie­ren.

„Du bist Steu­er­fach­an­ge­stell­te, nicht wahr?“

Ni­co­le glaub­te schon, er woll­te mehr über ihre Per­son in Er­fah­rung brin­gen, doch Nick­las re­de­te ein­fach wei­ter: „Im Mo­ment wer­den Steu­er­fach­an­ge­stell­te über­all ge­sucht, aber ir­gend­wann wird gar kein Be­da­rf an die­sen Men­schen be­ste­hen. Der Be­ruf ist nicht so si­cher, wie vie­le mei­nen. Ir­gend­wann wer­den An­ge­stell­te wie du kom­plett von Ma­schi­nen er­setzt wer­den. Falls du eine Zu­kunft auf dem Ar­beits­markt willst, soll­test du dich wirk­lich schnellst­mög­lich wei­ter­bil­den oder dir einen ganz an­de­ren Be­ruf su­chen.“

Ni­co­le koch­te vor Wut. Die schlech­te Lau­ne über den Ver­lauf der Be­trieb­sprü­fung kam hoch und misch­te sich mit der Auf­re­gung über die­sen da­her­ge­lau­fe­nen Ar­chi­tek­ten­fle­gel, der ihr ihre Ar­beit ma­dig ma­chen woll­te. „Ich lie­be mei­nen Be­ruf“, sag­te sie auf­ge­bracht. Sie fisch­te ihr Por­te­mon­naie aus der Ta­sche, klatsch­te Mün­zen auf den Tisch und schob sie zum ver­dutz­ten Nick­las hin­über, ehe sie auf­stand.

„Schö­nen Tag noch!“ Ni­co­le ging und Nick­las hielt sie nicht ein­mal auf, so sehr hat­te sie ihn über­rum­pelt. Ei­ni­ge Schau­lus­ti­ge reck­ten Ni­co­le die Köp­fe nach.

So­bald sie den Eis­la­den ver­las­sen hat­te, nahm Ni­co­le eine kur­ze, aber aus­sa­ge­kräf­ti­ge Au­di­o­nach­richt an Anna auf: „Dass du mir nie wie­der ir­gend­ein Blind Date or­ga­ni­sierst.“

§6

Am Don­ners­tag stand vor dem Auf­zug ein Mann mit glän­zen­dem, zu­rück­ge­gel­tem Haar. Er hät­te in ei­nem Ma­fi­a­film mit­spie­len kön­nen. Sein Ge­sicht zier­te eine gro­ße Na­r­be, die sich von sei­nem lin­ken Ohr über sei­ne spit­ze Nase hin­weg bis zum rech­ten Ohr streck­te. Im rech­ten Ohr­läpp­chen schim­mer­te ein Ohr­ring.

Ni­co­le woll­te einen Bo­gen um ihn ma­chen, doch er sprach sie an und hielt ihr eine Vi­si­ten­kar­te hin:

Rechts­an­walt | Fach­an­walt für Straf­recht | Straf­ver­tei­di­ger

Chris­ti­an Rausch

- Ga­ran­tiert kein Links­an­walt! –

„Das ist fünf­te Stock, ja?“, frag­te der Mann in ge­bro­che­nem Deutsch.

Ni­co­le nick­te. „Ich fah­re auch in den fünf­ten“, sag­te sie, als sich der Mann be­dank­te und sich um­sah. Es käme ko­misch, jetzt noch die Trep­pe zu neh­men.

Ni­co­le über­leb­te die Auf­zug­fahrt und wink­te dem Mann, der bei Herrn Rausch einen Ter­min hat­te, zum Ab­schied zu. Hof­fent­lich war sie so­eben nicht mit ei­nem Mör­der Auf­zug ge­fah­ren.

Kla­ra war in der Kü­che. Sie hat­te Tee ge­kocht und ließ die Ther­mo­s­kan­ne of­fen, da­mit der Tee ab­kühl­te. „Gu­ten Mor­gen, Frau Klin­ger! Der Be­trieb­sprü­fer ist heu­te auch da, oder?“

„Gu­ten Mor­gen“, er­wi­der­te Ni­co­le. „Ja, Herr Noll ist heu­te da. Mor­gen nicht, da­für nächs­te Wo­che wie­der. Er ar­bei­tet sehr ge­nau. Schlecht für uns, aber er nimmt sei­ne Ar­beit ernst und da­vor habe ich gro­ßen Re­spekt.“

Ni­co­le setz­te sich in ih­ren Stuhl, ließ den PC hoch­fah­ren und mel­de­te sich an.

Der Be­trieb­sprü­fer wur­de ge­gen halb neun von Ni­co­le empfan­gen und ins Be­spre­chungs­zim­mer ge­führt. Kla­ra mach­te ihm Kaf­fee und leg­te auf die Un­ter­tas­se Kek­se dazu. Ob Herr Noll Kla­ra ge­fiel oder sie nur da­für sor­gen woll­te, dass er sich hier wohl­fühl­te und es mensch­lich Plus­punk­te gab, wuss­te Ni­co­le nicht zu sa­gen. Kla­ra schwärm­te nicht von Herrn Noll, was sonst ihre Art war. Mög­li­cher­wei­se schwärm­te sie nicht pu­blik, weil er bis zum Ende der Be­trieb­sprü­fung im Grun­de ihr al­ler Geg­ner war.

Kla­ra te­le­fo­nier­te mit ei­nem Man­dan­ten und Frau Mei­er be­sprach et­was hin­ter ver­schlos­se­ner Tür mit Frau Koch, als es an der Tür klin­gel­te. So­weit Ni­co­le wuss­te, hat­te Frau Koch nichts be­stellt und im Ka­len­der war kein Man­dan­ten­be­such ein­ge­tra­gen. Viel­leicht woll­te je­mand sei­ne Un­ter­la­gen ab­ge­ben.

Ga­ran­tiert-kein-Links­an­walt Chris­ti­an Rausch stand vor ihr, als sie auf­mach­te. Sie starr­te ihn an, als wäre er ganz plötz­lich vor ihr auf­ge­taucht wie ein ma­gi­sches We­sen.

„Wäre Frau Mar­ti­na Koch für einen Au­gen­blick zu spre­chen?“

Ni­co­le fass­te sich wie­der und ging zur Sei­te, da­mit Chris­ti­an ein­tre­ten konn­te. Sie sprach zu ihm wie zu ei­nem ge­wöhn­li­chen Man­dan­ten: „Sie ist ge­ra­de in ei­nem Mit­a­r­bei­ter­ge­spräch. Sie kön­nen ger­ne Platz im War­te­zim­mer neh­men und ich sage Frau Koch Be­scheid, dass Sie da sind, Herr Rausch. Kann ich schon aus­rich­ten, wor­um es geht?“

„Nein, dan­ke.“

Was will der denn hier?, dach­te Ni­co­le sich, als sie bei Frau Koch klopf­te und gleich da­nach die Klin­ke her­un­ter­drück­te.

„Herr Rausch möch­te mit Ih­nen spre­chen“, in­for­mier­te sie ihre Chefin über die Tür­schwel­le, wor­auf­hin sich Frau Koch und Frau Mei­er einen ver­wun­der­ten Blick zu­wa­r­fen.

Ni­co­le zuck­te die Ach­seln. „Er woll­te mir nicht sa­gen, was er be­re­den möch­te.“

Zehn Mi­nu­ten spä­ter wuss­te Ni­co­le Be­scheid: Er hat­te wis­sen wol­len, wel­ches IT-Un­ter­neh­men die Kanz­lei Koch be­treu­te und wie viel sie für den Ser­vice zahl­ten.

„Könn­ten Sie das bit­te zu Herrn Rausch brin­gen?“, frag­te Frau Koch und drück­te Ni­co­le einen Um­schlag in die Hand.

Ni­co­le konn­te nicht nein sa­gen.

Ge­ra­de woll­te sie klin­geln, da wur­de die Tür ge­öff­net. Es war Chris­ti­an, der of­fen­bar auf dem Weg zur Toi­let­te war.

„Frau Ko-“

„Ge­ben Sie den Um­schlag bit­te ei­nem mei­ner Mit­a­r­bei­ter.“ Und dann schloss die­ser Mist­kerl tat­säch­lich die Tür.

Ni­co­le blieb drau­ßen ste­hen wie ein Hund, der nicht ins In­ne­re durf­te, und starr­te das Kanz­lei­lo­go an, so als woll­te sie von ihm die Er­klä­rung für Chris­ti­ans schä­bi­ges Ver­hal­ten er­hal­ten. Die­ser Mann hat­te ent­we­der kei­ne gute Er­zie­hung ge­nos­sen oder hass­te sie ab­grund­tief und woll­te sie zum Nar­ren hal­ten. Gut, die An­ti­pa­thie be­ruh­te zwei­fels­oh­ne auf Ge­gen­sei­tig­keit. Aber sie hat­te ihm die Tür nicht vor der Nase zu­ge­schla­gen.

Ni­co­le dreh­te sich um und war­te­te auf Chris­ti­ans Rü­ck­kehr.

Er war über­rascht, sie samt dem Um­schlag auf der Will­kom­mens­mat­te vor­zu­fin­den.

„Ich sag­te Ih­nen doch, Frau Klin­ger, dass Sie den Um­schlag ei­nem mei­ner Mit­a­r­bei­ter ge­ben sol­len“, sag­te er streng und be­trach­te­te sie ganz ge­nau, wie um hin­ter eine ge­hei­me Ab­sicht ih­rer­seits zu kom­men.

„Ja, das ha­ben Sie ge­sagt“, er­wi­der­te Ni­co­le be­bend. „Sie schei­nen kei­ne gute Kin­der­stu­be ge­nos­sen zu ha­ben. Man schlägt ei­ner Per­son nicht die Tür vor der Nase zu. Au­ßer viel­leicht, wenn es zum drit­ten Mal hin­ter­ein­an­der die Zeu­gen Je­ho­vas sind. Das ist eine Fra­ge fun­da­men­ta­len An­stands, über den wir Men­schen ei­gent­lich seit ge­rau­mer Zeit ver­fü­gen. Ich fin­de Ihr Ver­hal­ten mir ge­gen­über nicht gut und füh­re es auf mei­ne scherz­haf­ten Be­mer­kun­gen zu Ih­rem Äu­ße­ren zu­rück. Sie schei­nen mir sehr nach­tra­gend zu sein.“

Er mach­te den Mund auf und Ni­co­le fühl­te sich an den Tag zu­rück­er­in­nert, an dem sie ihn das ers­te Mal in per­so­na ge­se­hen hat­te, in der Back­stu­be. Die­ses Mal je­doch sag­te er et­was. „Ich wür­de Sie bit­ten, zur Sei­te zu ge­hen.“

Ni­co­le dach­te gar nicht dar­an. Sein Ver­such, sich aus der Kon­ver­sa­ti­on her­aus­zu­ma­nö­vrie­ren, mach­te sie nur wü­ten­der. „Nein. Nicht, be­vor wir nicht die Fron­ten ge­klärt ha­ben.“

Chris­ti­an starr­te sie un­ver­wandt an und schwieg mit zu­sam­men­ge­knif­fe­nen Lip­pen. Ni­co­le glaub­te, dass er den Mund nie­mals wie­der in ih­rer Ge­gen­wart auf­ma­chen wür­de, da sag­te er: „Ich habe nicht den En­thu­si­as­mus dazu, in Di­a­log mit ei­ner ein­fa­chen, ober­fläch­li­chen Steu­er­fach­an­ge­stell­ten zu tre­ten.“ Er schnapp­te ihr den Brief aus der Hand. „Ge­hen Sie zu­rück in die Kanz­lei und wursch­teln Sie sich wei­ter durch Ihre Auf­trä­ge durch, an­statt je­man­den zu be­leh­ren, de-“