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Ein Roman, der viele Themen anschneidet, sich jedoch auf die Entwicklung von Gefühlen zwischen den Protagonisten konzentriert. | Eine Handvoll scherzhafter Bemerkungen sorgt dafür, dass die Steuerfachangestellte Nicole beim frisch in die Marienstraße fünf eingezogenen Strafverteidiger Christian Rausch in Ungnade fällt. Zwischen den beiden entbrennt ein Kleinkrieg, der unerwartet sein Ende findet, als sie ihn betrunken und mit Blessuren im Gesicht in seiner Kanzlei vorfindet.
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Seitenzahl: 318
Veröffentlichungsjahr: 2019
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Christina Geberg
Herr Rechtsanwalt, Herr Linksanwalt
Roman
Text: © Copyright by Christina Geberg
Umschlaggestaltung: © Christina Geberg, Shutterstock & spark.adobe
Verlag:
Christina Geberg
christina.ge[email protected]
Druck: epubli – ein Service der neopubli GmbH, Berlin
§1
Haben Sie schon den neuen Rechtsanwalt gesehen?“ Klara Bergmann sah ihre Kollegen erwartungsvoll an. „Auf der anderen Straßenseite ist zwar eine Werbetafel mit seinem Gesicht, aber… Hach, ich kann mir da nicht helfen, ich bin in solchen Sachen viel zu neugierig! Es interessiert mich wirklich, wie er in Person so ist.“
Klaras ältere Kollegin Uta Meier, die es nicht mehr weit bis zur Rente hatte, hielt mit der Erstellung einer Excel-Tabelle inne und überlegte. „Nein. Eigentlich ziemlich seltsam, oder? Vor vier Wochen haben die Arbeiten nebenan aufgehört und drei Tage später hatte der Gute bereits so viel Post im Briefkasten, dass alles aus dem Schlitz quoll. Trotzdem haben wir ihn seitdem keinmal gesehen. Vielleicht einer von der Sorte, die sich prinzipiell einigelt.“
Nicole Klinger hielt sich aus dem Gespräch ganz raus; sie konzentrierte sich auf die Buchführung, die sie vor ihrer Mittagspause fertig haben wollte. Doch auch sie war dem Rechtsanwalt keinmal begegnet. Die von Klara erwähnte Werbetafel war Nicole bisher nicht einmal aufgefallen.
Die Chefin, Martina Koch, kam aus ihrem Büro heraus und legte die Postmappe mit unterschriebenen Anschreiben auf Klaras Arbeitsplatz ab. Sie hatte das Gespräch zwischen Klara und Frau Meier mitbekommen und da sie sehr gerne mit ihren Mitarbeitern plauderte, sagte sie: „Ich habe ihn tatsächlich zweimal gesehen. Einmal sind wir gemeinsam im Fahrstuhl gefahren, das andere Mal sind wir uns in der Bank begegnet.“
Klara Bergmann wirkte, als müsste sie sich in wahnsinniger Zurückhaltung üben, um ihre Chefin nicht mit Fragen zu bombardieren.
„Nun ja“, sagte Martina Koch mit vor der Brust verschränkten Armen, „das ist ein Großer, Schlanker. Immer im Anzug, trägt eine Krawatte mit Paragraphenzeichen und seine Haare zu einem Zopf. Strafverteidiger eben. Entweder sie sind sehr angepasst oder alternativ. Herr Rausch scheint mir mit seinen langen Haaren und seiner ulkigen Paragraphenkrawatte Letzteres zu sein. Ich bilde mir übrigens die ganze Zeit ein, dass ich seinen Namen von irgendwoher kenne…“
Klara Bergmann seufzte entzückt, so als hätte man ihr gerade aus einem kitschigen Groschenroman vorgelesen. Zu gerne hätte sie einer offiziellen Vorstellung, wie sie der Orthopäde aus dem zweiten Stock vor zwei Jahren organisiert hatte, beigewohnt, um Christian Rausch näher kennenzulernen.
Martina Koch ging zurück in ihr Büro und schloss die Tür, um in Ruhe mit einem Mandanten zu telefonieren. Ihre Mitarbeiter widmeten sich wieder ihren Aufträgen.
Klara und Frau Meier arbeiteten in Teilzeit. Nicole arbeitete als Einzige in Vollzeit und ihr stand eine einstündige Pause zu. Es mache ihr nichts aus, sagte Nicole immer, dass sie so viel arbeite. Sie finde sowohl innerhalb der Woche als auch am Wochenende Zeit für ihre privaten Vergnügen.
Dass es ihr nichts ausmachte, war nur die halbe Wahrheit. Für Nicole gab es nämlich schlicht und ergreifend keinen Grund, um mit den Stunden herunterzugehen. Sie war Single. Ihre zweite und letzte Beziehung, die ihr viel abverlangt hatte, war drei Jahre her und seitdem war Nicole mit der lieben Männerwelt überhaupt nicht in Berührung gekommen. Wann immer es in Mädelsrunden um Männer ging, hatte sie nichts beizutragen und hörte nur zu. Während Klara Bergmann auf Flirtportalen angemeldet war und auch Speed-Dating ausprobiert hatte, um potenzielle Partner kennenzulernen – sie erzählte gerne und viel, was sie auf Portalen und Treffen so alles erlebte –, tat Nicole alles, um ja keine Männer kennenzulernen. Sprich: Sie tat nichts. Ihre Kollegen wussten, dass sie seit drei Jahren Single war. Nicole war achtundzwanzig. Als sie neunzehn Jahre alt gewesen war, da hatte sie mit fünfundzwanzig Jahren verheiratet sein und mit achtundzwanzig ein Kind haben wollen. Nicole würde in zwei Monaten, am fünfzehnten Juli, neunundzwanzig werden. Sie war nicht verheiratet. Nicht einmal verlobt. Nicole hatte nicht einmal einen Partner.
Nicht, dass Nicole mit der Männerwelt abgeschlossen hätte. Sie wollte, um Himmels Willen, nicht alle Männer über einen Kamm scheren. Allerdings wehrte sich alles in ihr gegen Männer und Beziehungen. Sie war froh, sich dafür entschieden zu haben, einige Jahre nach der Ausbildung vorerst in Vollzeit zu arbeiten; die Arbeit hatte sie nach der Trennung von ihrem Ex-Partner aufgefangen und sie von ihrer Trauer abgelenkt.
„Schönen Feierabend demnächst, wir sehen uns morgen!“ Es war dreizehn Uhr und Uta Meier musste ihren Zug kriegen.
„Schönen Feierabend, Frau Meier.“ Nicole lehnte sich auf ihrem Drehstuhl mit zufriedener Miene zurück und streckte sich. Sie hatte die Buchführung tatsächlich vor der Pause geschafft und verpasste sich selbst einen mentalen Schulterklopfer. Wenn sie etwas gut konnte, dann war es ihre Arbeit. Sie hatte das Glück, sofort im richtigen Beruf gelandet zu sein. Nicole war stets sehr interessiert gewesen am Ausbildungsinhalt und Soll und Haben waren für sie seit der ersten Stunde ein Klacks.
Nicole stand auf und öffnete das Fenster auf ihrer Seite, das auf einen klaren blauen Maihimmel ging. Von unten strömte der Geruch von Essen empor, der Nicole das Wasser im Mund zusammenlaufen ließ. Unten befand sich das italienische Restaurant, wo das gesamte Kanzleiteam jedes Jahr im Januar anstelle einer Weihnachtsfeier gemeinsam essen ging.
Die letzten Male hatte Nicole sich Essen von Zuhause mitgebracht, das sie am Abend zuvor vorbereitet hatte. Das Mittagessen für heute hatte sie zu Hause vergessen. Sonderlich dramatisch war es nicht, da die Kanzlei im Zentrum der Stadt lag und man alles kriegen konnte, was der Magen begehrte.
„Wenn Sie noch ein wenig dableiben, dann bis gleich“, richtete Nicole das Wort an Klara Bergmann, die freiwillig Überstunden machte, wenn sie etwas nicht schaffte. „Wenn nicht, wünsche ich Ihnen einen schönen Feierabend und bis morgen.“
Zwei Straßen weiter gab es eine Backstube, die Nicole unregelmäßig frequentierte. Sie gesellte sich zu der Menschentraube, die an der Ampel auf grünes Licht wartete, und da fiel ihr die Werbetafel auf, die im Schatten des Marienhotels lag. Die Tafel zeigte das Gesicht eines Mannes über dreißig. Er hatte dunkelblondes, schulterlanges Haar, einen vollen Bart, graublaue Augen und außerordentlich dichte Brauen, die ihm beinahe in die Augäpfel hingen. Eine tiefe Linie teilte seine Stirn in Zwei und zwischen seinen Augenbrauen verliefen drei vertikale Striche. Der Mund war zusammengekniffen. Der Mann wirkte streng, humorlos und – ja, tatsächlich – böse.
Christian Rausch – Rechtsanwalt, Fachanwalt für Strafrecht, Strafverteidiger war auf weißem Grund unterhalb des vergrößerten Fotos zu lesen.
Nicole presste die Lippen fest aufeinander, wie um Christian Rausch nachzuahmen. Amüsiert holte sie ihr Handy heraus, fotografierte die Werbetafel ab und schickte das Foto an eine Freundin. Nur kurz darauf nahm sie eine Audionachricht auf: „Rechtsanwalt für Strafrecht, ha. Der Kerl sieht selbst so aus, als hätte er jemanden auf dem Gewissen. Die Augenbrauen sind wirklich eine Katastrophe.“ Nicole kicherte und ließ ein paar weitere Sprüche vom Stapel, die ihr in den Sinn kamen.
Die Ampel sprang auf Grün und Nicole ging, gemeinsam mit den anderen, an den stehengebliebenen Autos vorbei über die Straße.
Mit einem belegten Brötchen in der Hand machte es sich Nicole an einem freien Tisch am Fenster bequem. Während sie aß, sah sie ab und zu auf das Display ihres Handys. Als sie aufsah, stand am Eingang zur Bäckerei niemand Geringeres als Christian Rausch.
Na sowas, dachte Nicole bei sich und ließ das Handy sinken. Nicoles Verwunderung intensivierte sich, als er die Backstube betrat und seinen strengen Blick auf sie richtete. Er visierte sie an wie ein Jäger, kam auf sie zu und Nicole lehnte sich zurück wie nach einem Instinkt handelnd.
Christian Rauschs Gesichtsausdruck wirkte noch boshafter als auf der Werbetafel und für einen Moment bekam es Nicole tatsächlich mit der Angst zu tun, weil er in persona wie ein echter Verbrecher in erlesener Garderobe aussah. Jetzt erst schluckte sie ihr zerkautes, speichelumflossenes Essen hinunter und starrte den Mann vor sich an, der um die einen Meter neunzig groß war. Nicole war, als wollte er etwas sagen. Doch urplötzlich, als hätte man einen Hebel umgelegt, wandte er sich ab und tätigte kurz darauf eine Bestellung.
Meine Güte… Was war denn bitte das für eine Aktion gewesen? Hatte Rausch etwa mitbekommen, was sie in der Audio an ihre Freundin über ihn gesagt hatte? Nein, das konnte nicht sein. Andererseits war es sehr gut möglich, wenn man bedachte, dass er kurz nach ihr die Backstube betreten hatte. Vielleicht hatte er an der Ampel unmittelbar hinter ihr gestanden…
Rausch nahm seine Bestellung entgegen und wandte sich Nicole zu. Abermals machte er den Eindruck, etwas sagen zu wollen, doch er entschloss sich, wiederholt darauf zu verzichten. Er verließ die Backstube und Nicole sank auf ihrem Stuhl zusammen. Es gab keinen Zweifel daran, dass er an der Ampel hinter ihr gewesen war und alles gehört hatte. Peinlich berührt bedeckte Nicole ihre Augen mit der Hand. Himmel, warum musste das ausgerechnet ihr passieren?
Der Appetit war ihr vergangen, aber weil sie hungrig war und wollte, dass ihr Kopf gleich funktionierte, wenn sie den Jahresabschluss machte, aß sie das Brötchen auf. Was geschehen war, war ihr hochgradig peinlich und unangenehm. Sollte sie den Rechtsanwalt bei Gelegenheit darauf ansprechen und sich bei ihm entschuldigen? Sie hätte die Audio nicht aufnehmen sollen. Aber dafür war es nun zu spät. Würde eine Entschuldigung überhaupt etwas bringen? Wahrscheinlich hatte er sie in seinem Gehirn als eine oberflächliche Ziege abgespeichert.
Nicole seufzte und tippte mit dem Fingernagel gegen den Tisch. Nun, sie hatte den Mann heute das erste Mal in vier Wochen gesehen. Es war purer, unglücklicher Zufall gewesen, dass er sich heute hinter ihr befunden hatte, und vielleicht würde sie ihn einen Monat lang nicht sehen. Christian Rausch schien gefragt und vielbeschäftigt zu sein. Mit Sicherheit würde er das Ganze nach einem Monat wieder vergessen haben.
§2
Eine Betriebsprüfung stand demnächst an und der Mandant hatte Nicole und ihrer Chefin am Freitagnachmittag einen großen Karton voller Ordner gebracht. Heute war Montag und Nicole stand bereits kurz nach sieben vor der Kanzlei. Mit gerunzelter Stirn suchte sie in ihrer Tasche nach dem Schlüssel. Nicole wollte es einfach nicht glauben, dass sie ihn zu Hause vergessen hatte. Wütend über sich selbst hockte sie sich hin und kippte den gesamten Inhalt der Tasche auf den Boden aus. Slipeinlagen, Nagellack, der schon längst vertrocknet war, ein Notizblock mit kitschigem Motiv, Hausschlüssel mit einer plüschigen Katze als Anhänger und viele andere Dinge bildeten im Nu einen kleinen See, den Nicole mit beiden Handflächen teilte und dann alles einmal umdrehte. Von dem Schlüssel fehlte jede Spur. Das war ihr noch nie passiert. Nicole biss sich frustriert auf die Lippe. Großartig.
Klara kam stets viertel vor acht. Bis dahin war es noch eine halbe Stunde und Nicole musste dringend zur Toilette. Die Schlüssel für den Briefkasten und die Toilette, die die Kanzlei Koch mit den anderen auf der Etage teilte, lagen auf der Theke in der Küche. Der eisernen Stille nach zu urteilen war Nicole die Erste hier. Möglicherweise war sie als Erste überhaupt gekommen. Sie würde zum Hauptbahnhof gehen und dort eine Toilette aufsuchen müssen.
Nicole wollte gerade damit beginnen, die ausgeschütteten Gegenstände missgestimmt wieder in ihre Tasche zu packen, als sie den Fahrstuhl hörte und dann das Klackern von Absätzen. Es waren allerdings keine Frauenschuhe, die das Klackern verursachten. Christian Rausch hielt vor der Tür zu seiner Kanzlei inne und sah zu Nicole herüber.
Sie blinzelte. Dann stellte sie fest, dass sie nach wie vor breitbeinig hockte und ihr gelber Rock ein ordentliches Stück weit hochgerutscht war. In der einen Hand hielt sie zwei Slipeinlagen, in der anderen ihren Hausschlüssel mit dem Katzenanhänger. Nicole schnappte hörbar nach Luft, presste die Oberschenkel zusammen und versteckte die Einlagen und den Anhänger hinter ihrem Rücken, während sie versuchte, auf ihren flachen Schuhen nicht nach hinten zu kippen. Ihr Unterleib begann zu spannen. Schief lächelnd, hinreichend rosa um die Nase, sagte sie dann: „Guten Morgen.“
„Guten Morgen“, antwortete der Anwalt kühl und blickte dabei skeptisch drein.
Weil sie es nicht mehr in der Position aushielt, stopfte Nicole den Inhalt ihrer Hände seitlich in die Tasche, richtete sich unbeholfen auf und strich ihren Rock glatt. „Mein Name ist Klinger, Nicole Klinger. Ich arbeite in der Kanzlei Koch und habe den Kanzleischlüssel daheim vergessen.“
Jetzt erst betrachtete sie Christian genau: Um sein Haar schlang sich im Nacken ein Zopfgummi, er trug ein weißes Hemd, dazu eine Krawatte mit Paragraphenzeichen und dunkelblaue Hosen; über seine linke Armbeuge hatte er seinen Sakko geworfen.
Weil Christian sie immer noch ansah, fügte sie zu ihrer Erklärung nervös hinzu: „Das passiert mir für gewöhnlich nicht.“ Das Herz klopfte unruhig in ihrer Brust und sie hatte den Eindruck, dass er sie mit seinem stumpfen Blick dazu zwingen wollte, sich zum Donnerstag zu äußern. Sie hatte nicht das Gefühl, dass es ein guter Zeitpunkt war. Nicole war nicht vorbereitet. „Ehm… Mir ist das wirklich sehr peinlich, Herr Rausch, aber… könnten Sie mir, eventuell“, Nicole druckste kurz herum, „die Toilette aufmachen?“ Ihr Gesicht glich einer Tomate und sie senkte beschämt und mit glühenden Ohren den Kopf.
„Ich verstehe. Das kann ich gewiss“, erwiderte Rausch wie ein Kind, das die höfliche Indirektheit geflissentlich missverstand, und öffnete die Tür zu seiner Kanzlei, „aber ich werde es nicht tun. Entschuldigen Sie mich.“
Verwirrt starrte Nicole auf die Stelle, wo der Anwalt eben noch gestanden hatte. War das etwa seine Rache an ihr? Nie und nimmer würde sie es jetzt noch bis zum Hauptbahnhof schaffen! Nie und nimmer!
Mit zusammengepressten, zitternden Schenkeln ging Nicole zum Aufzug; an Treppensteigen war nicht zu denken. Voller Ungeduld trat sie auf der Stelle. Nicole war im Aufzug, noch bevor die Türen vollständig aufgeglitten waren. Mehrere Male tippte sie auf den Knopf mit der Letter E drauf und betete, dass alles gut gehen würde.
Im gegenüberliegenden Hotel bat sie die junge Dame an der Rezeption darum, die Toilette zu benutzen. Das kostete Überwindung, es war schließlich ein Luxushotel, in welchem schon Schauspieler und Präsidenten übernachtet hatten.
Erleichtert ging Nicole auf die Straße. Dort oben sein wollte sie jetzt nicht. Erstens hatte es keinen Sinn, zweitens wollte sie Christian Rausch nicht begegnen, falls es ihm einfiele, vor die Tür zu gehen. Aus diesem Grund beschloss Nicole, einen kleinen Spaziergang zu machen und gegen Viertel vor acht wieder hier zu sein, hoffend, dass sich Klara heute nicht krankmelden wollte.
Hatten Christian ihre Worte tatsächlich derart gekränkt? Sie war seitdem nicht mit sich selbst im Reinen gewesen. Sie gehörte zu den Menschen, die das schlechte Gewissen wochenlang verfolgen konnte. Aber blöde Sprüche, die witzig sein sollten, waren doch kein Grund, ihr nicht die Toilette zu öffnen!
Nicole blieb stehen und zwang sich zur Ruhe. Sie wollte nicht darüber nachdenken, so empört sie im Nachhinein über das Verhalten des Rechtsanwalts auch sein mochte. Sie hoffte, dass sie und Herr Rausch nun quitt waren und es kein böses Blut zwischen ihnen geben würde.
§3
Nicole und Christian begegneten sich die restliche Woche und am Montag nicht.
Am Dienstag rollte Nicole einen Bürowagen voller Ordner Richtung Fahrstuhl. Die Ordner mussten alle im Keller archiviert werden, damit die Aktenschränke nicht mehr so übervoll waren.
Der Fahrstuhl war laut Anzeige im vierten Stock, da kam Christian aus seiner Kanzlei heraus. Seine Tür war dem Aufzug am nächsten und er entdeckte Nicole sofort.
„Guten Tag“, grüßte sie den Rechtsanwalt und lächelte ihn an. Durch den Größenunterschied von etwa dreißig Zentimetern musste sie den braunen Lockenkopf heben.
Christian duftete nach einer intensiven Komposition aus Patschuli, Rose und Veilchen. Für einen Augenblick wurde Nicole ganz schummerig von diesem Duft, der zu ihr hinüberschwappte. Ein schöner Winterduft, aber an solchen warmen Tagen ein absoluter Nasenkiller und Kopfschmerzenverursacher.
Christian, die Haare wieder zum Zopf, der Bart zwar gepflegt, aber dicht, ganz in Schwarz und Weiß gekleidet, grüßte halbherzig zurück. Seine Paragraphenkrawatte, an der er sich einen Narren gefressen zu haben schien, war wieder mit von der Partie.
Erst schob Nicole den Wagen in den Aufzug. Christian folgte und betätigte über den Wagen hinweg die Taste ins Erdgeschoss. Um in den Keller zu gelangen, war eine Schlüsseldrehung erforderlich. Nicole drehte den Schlüssel und drückte auf das Untergeschoss. Eigentlich müsste das Quadrat jetzt rot leuchten. Das tat es aber nicht. Verwirrt wiederholte Nicole die nötige Prozedur, doch auch beim zweiten und beim dritten Mal klappte es nicht. Verärgert zog Nicole den Schlüssel heraus und untersuchte ihn wie ein außergewöhnliches Artefakt. Dabei stellte sie fest, dass der Schlüssel ein wenig anders aussah als sonst. War er etwa erneuert worden und Frau Koch hatte vergessen, es ihnen zu sagen? Musste sie also anders vorgehen?
Christians Duft schnürte ihr in diesem engen Raum allmählich die Kehle zu.
„Kriegen Sie es nicht hin, gleichzeitig zu drehen und zu drücken, Frau Klinger?“
Nicole zuckte kurz zusammen und schielte zu Christian hinüber. Das Ganze war ihr auch so schon peinlich genug und der Kerl meinte auch noch, seinen Senf dazugeben zu müssen. Sie versuchte es noch einmal vergeblich im Alleingang und hörte, wie Christian Rausch laut, damit sie es ja hörte, mit der Zunge schnalzte. Oh, sie hasste es, wenn Menschen das machten.
Nicole wandte sich dem Rechtsanwalt zu. „Der Schlüssel ist neu“, sagte sie, um einen neutralen Ton bemüht. „Ich muss noch rausfinden, wie er fun-“
„Geben Sie ihn mir“, schnitt Christian ihr das Wort ab und streckte die Handfläche aus.
Das herrische Gebaren des Rechtsanwalts gefiel ihr überhaupt nicht. Plötzlich konnte Nicole ihren Wunsch, sich bei ihm zu entschuldigen, und das schlechte Gewissen, das sie geplagt hatte, nicht verstehen. Dennoch gab sie ihm den Schlüsselbund. Mach’s doch besser, dachte sie gereizt und wünschte, dass er scheiterte.
Christian schaffte es, dass das Quadrat mit dem Buchstaben U aufleuchtete.
Mit heruntergeklappter Kinnlade nahm Nicole den Schlüsselbund wieder entgegen.
„Wenn Sie sehen, dass Ihr Modus Procedendi dreimal hintereinander scheitert, sollten Sie sich etwas anderes einfallen lassen. Das ist eine Frage der fundamentalen Intelligenz, über die wir Menschen eigentlich schon seit geraumer Zeit verfügen.“
Sie wollte ihn mit seiner Paragraphenkrawatte strangulieren. Oder ihm mit dem Umsatzsteuerrecht inklusive der Durchführungsverordnung und dem Anwendungserlass links und rechts eine scheuern, dass ihm Hören und Sehen vergingen. Alternativ das kommentierte Einkommensteuerrecht – Hauptsache etwas, das wehtat.
Der Aufzug blieb stehen und Christian ging schnellen Schrittes hinaus, ohne sich zu verabschieden. Nicole fuhr eine Etage tiefer und schob den Wagen wütend durch die Gänge des Kellers. Es war kühl und roch nach Moder und dieser Geruch tat gut, denn er vertrieb Christians penetrantes Parfüm aus ihren armen Nasenhöhlen.
„Kriegen Sie es nicht hin, gleichzeitig zu drehen und zu drücken, Frau Klinger?“, äffte sie vor der Tür in den Kellerraum Christian Rausch nach, während sie den Schlüsselbund nach dem richtigen Schlüssel absuchte. „Geben Sie mir den Schlüssel!“ Sie schnaubte. „Modus Procedingsbums, eine Frage der fundamentalen Intelligenz, bah!“
Nicole begann mit der Sortierung der Aktenordner und powerte sich aus. Wie sie es geschafft hatte, sich im Aufzug zu beherrschen, wie sie es geschafft hatte, insbesondere auf seinen finalen Kommentar nichts zumindest unterschwellig Beleidigendes zu erwidern, wusste sie nicht.
Eine halbe Stunde später waren Christian und Nicole wieder gemeinsam im Aufzug. Nicole vermutete, dass er bei der Bank gewesen war. Die Entschuldigung konnte Herr Rechtsanwalt vergessen, ebenso das freundliche Grüßen. Hätte sie diesen dämlichen Bürowagen nicht bei sich, hätte sie die Treppe genommen. Nicole drückte sich demonstrativ in die rechte Ecke des Aufzugs, als hätte Christian eine ansteckende Krankheit. Christian im Gegenzug tat, als wäre sie gar nicht da.
„Dieser dämliche Anwalt“, murmelte Nicole, als sie Frau Meier den Ordner, den sie aus dem Keller holen sollte, auf den Tisch stellte.
Klara war gerade im Besprechungszimmer; ein Mandant war zum Unterschreiben seiner Einkommensteuererklärung gekommen. Wäre Klara im Raum gewesen und die Tür ins Büro ihrer Chefin nicht geschlossen, hätte Nicole geschwiegen.
„Wir sind gemeinsam Aufzug gefahren“, erklärte Nicole und war froh, ihrem infernalischen Ärger Luft machen zu können.
Uta Meier schüttelte ungläubig den Kopf. „Da ist jemand überhaupt nicht im Reinen mit sich selbst.“
„Da ist jemand ganz schön frustriert und unzufrieden, wenn Sie mich fragen“, sagte Nicole und setzte sich an ihren Arbeitsplatz.
§4
Als Nicole zum Briefkasten trat, um die Citipost zu holen, öffnete sich die Eingangstür. Nicole schaute automatisch zu ihrer Linken und runzelte die Stirn, weil sie ein bekanntes Gesicht erblickte.
„Nicole!“ Die blonde Frau in knielangem Bleistiftrock und Rüschenbluse lächelte breit.
„Magda, ist denn das zu fassen!“
Magdalena Bielska war eine ehemalige Mitschülerin von Nicole. Sie waren nicht befreundet gewesen, hatten sich aber in unregelmäßigen Abständen miteinander ausgetauscht. Als sie das letzte Mal miteinander geschrieben hatten, hatte Magdalena einhundert Kilometer entfernt Jura studiert und war gependelt.
Beide Frauen fielen aus allen Wolken, als sie beim gemächlichen Treppensteigen feststellten, dass sie seit Wochen im gleichen Gebäude, auf der gleichen Etage arbeiteten und den jeweils anderen bis jetzt kein einziges Mal gesehen hatten. Sie fingen zu unterschiedlichen Zeiten an, hatten zu unterschiedlichen Zeiten Pause und Magdalena hatte eine Stunde vor Nicole Feierabend.
Nicole wollte in Erfahrung bringen, was mit Magdalenas Studium passiert sei, doch Magdalena blockte gezwungenermaßen ab. „Ich will mich nicht verspäten. Will ungerne rausfinden, was Herr Rausch von Verspätungen hält.“
Nicole verdrehte innerlich die Augen. Wahrscheinlich musste man bei Herrn Rausch einen Euro in die Kasse legen, wenn man später kam.
„Wenn du Lust hast, können wir nachher was essen gehen. Ich wollte heute noch ein paar Erledigungen in der Stadt machen. Eine Stunde reicht mir, das passt ja. Ich könnte direkt am Eingang auf dich warten.“
„Gerne!“
Magdalena drückte eilig Nicoles Hand, ehe sich die beiden trennten.
Punkt siebzehn Uhr machte Nicole Feierabend, verabschiedete sich von ihrer Chefin und traf sich unten mit Magdalena. Sie überlegten kurz, wohin sie gehen wollten, und schließlich entschieden sie sich für das italienische Restaurant nebenan.
„Also“, begann Magdalena, als sie Platz auf roten, wie mit Samt bezogenen Stühlen genommen hatten, „mein Jura-Studium habe ich abgebrochen und habe dann eine Ausbildung zur Rechtsanwaltsfachangestellten im Kongressviertel gemacht. Die Ausbildung habe ich vor drei Jahren beendet, habe zweieinhalb Jahre im alten Betrieb gearbeitet und suchte mir dann einen neuen Betrieb. So bin ich zu Herrn Rausch gekommen.“
„Wie ist es, für ihn zu arbeiten?“, erkundigte sich Nicole und faltete die Speisekarte auseinander. Sie stellte es sich nicht sonderlich schön vor.
„Er ist oft schlecht gelaunt. Nicht gereizt, er lässt es auch nicht an uns aus. Ganz komisch ist das… Sprechen tut er über sein Privatleben gar nicht. Wir wissen nicht, ob er eine Partnerin hat, ob er schon Kinder hat… Wobei ich mir Letzteres nicht besonders gut vorstellen kann. Allzu alt dürften die Kinder nicht sein, aber er bleibt ewig lange im Büro und kommt manchmal auch vor uns. Fast so, als würde er dort übernachten.“
Der Kellner brachte ihnen ihre Getränke in Windeseile und nachdem sie von ihrem alkoholfreien Cocktail genippt hatte und sich vergewissert hatte, dass Rausch nicht irgendwo in der Nähe war, erzählte Nicole von den Aufeinandertreffen mit Christian.
„Er hat dich nicht pinkeln lassen? Wow, er hat sich dir gegenüber wirklich scheiße verhalten. Zu uns ist er fordernd und seinen Tote-Sprachen- und Fremdwort-Fimmel könnte er ruhig links liegen lassen, weil wir ihn stellenweise gar nicht verstehen und nachfragen müssen. Aber er lässt seine Laune, wie gesagt, nicht an uns aus und zahlt angemessen. Ich schätze, du bist nach dem Kommentar zu seinem Aussehen bei ihm unten durch. Wenigstens arbeitet ihr nicht zusammen. Ignorier ihn einfach, wenn ihr euch nicht versteht“, schlug Magdalena amüsiert vor und lenkte die Unterhaltung in andere Bahnen.
Sie unterhielten sich über ihre Arbeit im Allgemeinen, über Männer – Magdalena war seit Kurzem Single und es fiel ihr leicht, Nicoles abwehrende Haltung nachzuvollziehen –, über Gott und die Welt und aßen hausgemachte Pasta. Nicole erzählte über die morgige Betriebsprüfung. Den Mandanten durfte sie nicht nennen und so erzählte sie nur, dass sie und ihre Chefin aufgeregt und auch ein wenig angespannt seien. Der Prüfer habe am Telefon nett geklungen, aber das habe nichts zu sagen.
Die zwei Frauen bezahlten kurz nach zwanzig Uhr.
„Ich gebe dir mal meine neue Handynummer“, sagte Magdalena, als sie aus dem Restaurant traten. „Wir können uns jederzeit gerne verabreden, wenn du magst. Auch am Wochenende.“
Magdalena musste zur Bushaltestelle, Nicole zur Bahn. Sie tauschten eine kurze Umarmung aus.
„Lass dich von Herrn Rausch nicht zu sehr ärgern“, riet Magdalena Nicole augenzwinkernd. Dann ging sie über die Straße zur Bushaltestelle.
Nicole atmete tief durch und sah die Marienstraße fünf hoch. Ein Fenster der Kanzlei Rausch ging auf das Marienhotel. Die Vorhänge waren auseinandergezogen, Licht brannte im Raum und Christian Rausch trat ans Fenster. Nicole jagte ein unangenehmer Schauer den Rücken hinunter, als hätte sie soeben eine fette Kakerlake in der Küche entdeckt.
Rausch telefonierte und zog mit einer Hand erst den einen, dann den anderen Vorhang zu, so als hätte er Nicole gesehen und wollte nicht, dass sie in seine Kanzlei gucken konnte.
Nicole drehte sich vom Gebäude weg und ging zum Hauptbahnhof. In der Bahn nahm sie nach langer Zeit das Handy wieder in die Hand. Sie hatte zwei Anrufe von ihrer Freundin Anna verpasst. Da Nicole es überhaupt nicht mochte, in der Bahn zu telefonieren, und sie zudem unterirdisch fuhren, schrieb Nicole Anna eine Nachricht, in der sie nach dem Grund der Anrufe fragte und von ihrem Treffen mit Magdalena Bielska berichtete.
Etwas später betrat Nicole ihre Zweizimmerwohnung. Sie warf ihre Tasche auf das Bett und duschte sich ausgiebig. Beim Eincremen ihrer Beine merkte sie aus den Augenwinkeln, dass ihr Handy aufleuchtete. Anna rief an. Nicole zupfte sich ein Kosmetiktuch heraus, wischte sich rasch die Hände ab und nahm den Anruf entgegen. Wie Anna so war, wollte sie alles wissen, was Nicole und Magdalena besprochen hatten.
„Du hattest vorhin angerufen“, erinnerte Nicole Anna, nachdem sie sich ordentlich über Herrn Rausch ausgelassen hatte. „Was gab’s?“
„Ah, ja“, machte Anna, kicherte wie ein kleines Mädchen und sagte, ohne um den heißen Brei herumzureden: „Ich habe für dich ein Blind Date organisiert.“
Nicole blinzelte. Es dauerte, bis sie begriff. „D-Du hast was?“, stotterte sie. „Du hast was?“
„Dir ein Blind Date organisiert“, wiederholte Anna wie selbstverständlich. „Weißt du, ich habe schon länger das Gefühl, dass du zu den Leuten gehörst, die man zu ihrem Glück zwingen muss. Du bist bald vier Jahre Single und arbeitest Vollzeit. Weißt du, warum du immer noch Vollzeit arbeitest? Weil du keinen Mann hast. Wenn du einen vernünftigen Freund hättest, dann würdest du nicht den ganzen Tag in dieser Kanzlei sitzen.“
Nicole saß mit offenem Mund auf ihrem Bett und wurde immer wütender. „Bist du des Wahnsinns“, zischte sie ihre Freundin an. Anna sprach wahre Worte, aber Nicole wollte ihr gerade keinesfalls Recht geben. „Da besteht überhaupt kein Zusammenhang. Ich arbeite Vollzeit, weil ich das möchte. Das hat nichts damit zu tun, dass ich keinen Mann habe, sondern damit, dass ich mehr Geld verdienen will, und solange ich…“
„Ach, Nicole. Ich weiß es besser, glaub mir.“
„Nein, das tust du nicht. Ich werde das Blind Date nicht wahrnehmen, das kannst du vergessen.“ So etwas Dreistes hatte Anna sich noch nie erlaubt.
„Willst du nicht einmal wissen, wie er ist? Vielleicht versteht ihr euch gut. Und sag jetzt nicht, dass du das bezweifelst! Hör auf, so voreingenommen zu sein, so wirst du dir vielleicht deinen Traumprinzen entgehen lassen.“
„Ja, das Sagen Ü-Fünfziger auch gerne, wenn man in der Bahn lieber in sein Smartphone starrt, als die Männer in der Abteilung abzuchecken. Vergiss es.“
„Haha, wirklich witzig, du hättest Komiker werden sollen. Ich werde nicht absagen. Wenn du willst, gebe ich dir seine Nummer und du kannst es selbst machen.“
„SAG MA-“
„Wenn weder du noch ich absagen, wird er morgen ganz alleine am Treffpunkt sein. Der arme Kerl.“ Anna seufzte abermals.
Was um alles in der Welt war nur in Anna gefahren? Nicole wusste, dass Anna es lästig fand, wenn sich Nicole zu bestimmten Themen, die in der Mädelsrunde besprochen wurden, nicht äußern konnte. Aber ein Blind Date zu organisieren, ohne ihre Freundin darüber in Kenntnis zu setzen, ohne ihr Einverständnis einzuholen, war daneben. Leider kannten sich Nicole und Anna viel zu lange und Anna wusste, welche Knöpfe sie bei ihrer Freundin drücken musste, um ihren Willen durchzusetzen. Nicole bekam ein schlechtes Gewissen und eine Viertelstunde später sagte sie: „Du wusstest doch, dass morgen der erste Tag der Betriebsprüfung ist. Hättest du das Date nicht auf irgendwann anders legen können?“
„Morgen? Ach Mist. Tut mir leid, ich hatte das ganz vergessen. Ich dachte, die ist erst nächste Woche. Oh, Nicole, das tut mir so leid. Das habe ich wirklich verpeilt. Aber das ist doch nicht so schlimm, oder? Es wird bestimmt ein sehr entspannter Abend und du kannst abschalten.“
„Hm“, machte Nicole, längst nicht überzeugt. Wenn der Prüfer morgen etwas finden würde, dann würde ihre Laune anschließend im Eimer sein. Und wenn ihre Laune im Eimer sein würde, könnte sie vielleicht patzig werden. „Du kannst den Termin wirklich nicht verlegen?“
„Bei ihm geht es nur morgen so gut, danach ist er für eine Weile sehr beschäftigt. Also… Ob mit oder ohne Prüfung, es wäre sowieso auf morgen hinausgelaufen.“
Nicole legte sich hin und rieb sich die Nasenwurzel. „Okay, meinetwegen. Meinetwegen. Kannst du mir ein paar Sachen über ihn erzählen?“
„Dann ist es kein Blind Date mehr.“
„Ich bin mir ziemlich sicher, dass es dann trotzdem eins ist.“
„Also gut. Er heißt Nicklas Becker. Er ist Architekt und ein Jahr jünger als du. Ich habe ihn beim Tanzen kennengelernt. Ich finde ihn sympathisch, aber da ich besetzt bin, wollte ich ihn an dich weiterreichen.“
Je schneller ich es hinter mir habe, desto besser, dachte sich Nicole. Dann würde sie sich mit dem Architekten eben direkt nach der Betriebsprüfung treffen. Sie hatte es bis jetzt oft genug geschafft, sich nach einem nervenaufreibenden Arbeitstag zusammenzureißen. Morgen würde ihr das sicher auch gelingen.
§5
Die Betriebsprüfung fing gut an. Aber ab der Mittagspause begann der Prüfer, unzählige Unstimmigkeiten zu finden, und ließ entweder Nicole oder Frau Koch zu sich rufen, um über seine Funde zu sprechen.
Wie es aussah, würde die vom Mandanten geführte Kasse komplett verworfen werden müssen. Und das bedeutete, dass sie alle eine Schätzung erwartete. Aber die Kasse war nicht das einzige Problem und Nicole hatte große Angst, dass der Prüfer weitere Sachen finden könnte, die nicht in Ordnung waren. Es war nicht Nicoles Schuld und auch nicht die Schuld ihrer Chefin. Dennoch war den beiden angst und bange, um den Mandanten, mit dem sie schon lange zusammenarbeiteten.
Nicole war schlecht gelaunt und hatte überhaupt keine Lust auf das Blind Date. Absagen war allerdings nicht drin und so machte sich Nicole auf der Toilette ein wenig frisch, bevor sie losging. Auf dem Weg zur Markuskirche, wo sie den Architekten treffen sollte, dachte Nicole an die schönen Dinge des Lebens und ihre Laune hob sich ein wenig.
Nicole und Nicklas, der auf einer Bank gewartet hatte, erkannten sich problemlos. Er war ein schlanker Mann mit sanften Gesichtszügen, braunen Augen und dunkelblondem Haar. Die Optik stimmte. Aber entgegen dessen, was Christian Rausch aller Wahrscheinlichkeit nach dachte, war Optik für Nicole längst nicht alles.
„Ich dachte, wir könnten vielleicht in den Eisladen in der Altstadt“, schlug Nicklas vor.
„Hört sich gut an“, sagte Nicole lächelnd. „Du und Anna kennt euch also vom Tanzen?“
„Ja, also…“
Wie Nicole feststellte, redete Nicklas viel und gerne – über sich. Er gab Nicole nicht die Zeit, auf sein Gesagtes einzugehen oder Fragen zu stellen. Erst dachte Nicole, dass das von einer möglichen Aufregung kommen könnte. Im Eisladen, nachdem sie einen Bananen- und einen Schokoladenbecher bestellt hatten, wurde klar, dass Nicklas einfach egozentrisch war. Mittlerweile wusste sie, was er in seiner Freizeit machte, was seine Lieblingsserien, Lieblingsfilme und -reiseziele waren, aber er wusste nur, wie sie hieß und was sie beruflich machte. Für mehr schien er sich auch nicht zu interessieren.
„Du bist Steuerfachangestellte, nicht wahr?“
Nicole glaubte schon, er wollte mehr über ihre Person in Erfahrung bringen, doch Nicklas redete einfach weiter: „Im Moment werden Steuerfachangestellte überall gesucht, aber irgendwann wird gar kein Bedarf an diesen Menschen bestehen. Der Beruf ist nicht so sicher, wie viele meinen. Irgendwann werden Angestellte wie du komplett von Maschinen ersetzt werden. Falls du eine Zukunft auf dem Arbeitsmarkt willst, solltest du dich wirklich schnellstmöglich weiterbilden oder dir einen ganz anderen Beruf suchen.“
Nicole kochte vor Wut. Die schlechte Laune über den Verlauf der Betriebsprüfung kam hoch und mischte sich mit der Aufregung über diesen dahergelaufenen Architektenflegel, der ihr ihre Arbeit madig machen wollte. „Ich liebe meinen Beruf“, sagte sie aufgebracht. Sie fischte ihr Portemonnaie aus der Tasche, klatschte Münzen auf den Tisch und schob sie zum verdutzten Nicklas hinüber, ehe sie aufstand.
„Schönen Tag noch!“ Nicole ging und Nicklas hielt sie nicht einmal auf, so sehr hatte sie ihn überrumpelt. Einige Schaulustige reckten Nicole die Köpfe nach.
Sobald sie den Eisladen verlassen hatte, nahm Nicole eine kurze, aber aussagekräftige Audionachricht an Anna auf: „Dass du mir nie wieder irgendein Blind Date organisierst.“
§6
Am Donnerstag stand vor dem Aufzug ein Mann mit glänzendem, zurückgegeltem Haar. Er hätte in einem Mafiafilm mitspielen können. Sein Gesicht zierte eine große Narbe, die sich von seinem linken Ohr über seine spitze Nase hinweg bis zum rechten Ohr streckte. Im rechten Ohrläppchen schimmerte ein Ohrring.
Nicole wollte einen Bogen um ihn machen, doch er sprach sie an und hielt ihr eine Visitenkarte hin:
Rechtsanwalt | Fachanwalt für Strafrecht | Strafverteidiger
Christian Rausch
- Garantiert kein Linksanwalt! –
„Das ist fünfte Stock, ja?“, fragte der Mann in gebrochenem Deutsch.
Nicole nickte. „Ich fahre auch in den fünften“, sagte sie, als sich der Mann bedankte und sich umsah. Es käme komisch, jetzt noch die Treppe zu nehmen.
Nicole überlebte die Aufzugfahrt und winkte dem Mann, der bei Herrn Rausch einen Termin hatte, zum Abschied zu. Hoffentlich war sie soeben nicht mit einem Mörder Aufzug gefahren.
Klara war in der Küche. Sie hatte Tee gekocht und ließ die Thermoskanne offen, damit der Tee abkühlte. „Guten Morgen, Frau Klinger! Der Betriebsprüfer ist heute auch da, oder?“
„Guten Morgen“, erwiderte Nicole. „Ja, Herr Noll ist heute da. Morgen nicht, dafür nächste Woche wieder. Er arbeitet sehr genau. Schlecht für uns, aber er nimmt seine Arbeit ernst und davor habe ich großen Respekt.“
Nicole setzte sich in ihren Stuhl, ließ den PC hochfahren und meldete sich an.
Der Betriebsprüfer wurde gegen halb neun von Nicole empfangen und ins Besprechungszimmer geführt. Klara machte ihm Kaffee und legte auf die Untertasse Kekse dazu. Ob Herr Noll Klara gefiel oder sie nur dafür sorgen wollte, dass er sich hier wohlfühlte und es menschlich Pluspunkte gab, wusste Nicole nicht zu sagen. Klara schwärmte nicht von Herrn Noll, was sonst ihre Art war. Möglicherweise schwärmte sie nicht publik, weil er bis zum Ende der Betriebsprüfung im Grunde ihr aller Gegner war.
Klara telefonierte mit einem Mandanten und Frau Meier besprach etwas hinter verschlossener Tür mit Frau Koch, als es an der Tür klingelte. Soweit Nicole wusste, hatte Frau Koch nichts bestellt und im Kalender war kein Mandantenbesuch eingetragen. Vielleicht wollte jemand seine Unterlagen abgeben.
Garantiert-kein-Linksanwalt Christian Rausch stand vor ihr, als sie aufmachte. Sie starrte ihn an, als wäre er ganz plötzlich vor ihr aufgetaucht wie ein magisches Wesen.
„Wäre Frau Martina Koch für einen Augenblick zu sprechen?“
Nicole fasste sich wieder und ging zur Seite, damit Christian eintreten konnte. Sie sprach zu ihm wie zu einem gewöhnlichen Mandanten: „Sie ist gerade in einem Mitarbeitergespräch. Sie können gerne Platz im Wartezimmer nehmen und ich sage Frau Koch Bescheid, dass Sie da sind, Herr Rausch. Kann ich schon ausrichten, worum es geht?“
„Nein, danke.“
Was will der denn hier?, dachte Nicole sich, als sie bei Frau Koch klopfte und gleich danach die Klinke herunterdrückte.
„Herr Rausch möchte mit Ihnen sprechen“, informierte sie ihre Chefin über die Türschwelle, woraufhin sich Frau Koch und Frau Meier einen verwunderten Blick zuwarfen.
Nicole zuckte die Achseln. „Er wollte mir nicht sagen, was er bereden möchte.“
Zehn Minuten später wusste Nicole Bescheid: Er hatte wissen wollen, welches IT-Unternehmen die Kanzlei Koch betreute und wie viel sie für den Service zahlten.
„Könnten Sie das bitte zu Herrn Rausch bringen?“, fragte Frau Koch und drückte Nicole einen Umschlag in die Hand.
Nicole konnte nicht nein sagen.
Gerade wollte sie klingeln, da wurde die Tür geöffnet. Es war Christian, der offenbar auf dem Weg zur Toilette war.
„Frau Ko-“
„Geben Sie den Umschlag bitte einem meiner Mitarbeiter.“ Und dann schloss dieser Mistkerl tatsächlich die Tür.
Nicole blieb draußen stehen wie ein Hund, der nicht ins Innere durfte, und starrte das Kanzleilogo an, so als wollte sie von ihm die Erklärung für Christians schäbiges Verhalten erhalten. Dieser Mann hatte entweder keine gute Erziehung genossen oder hasste sie abgrundtief und wollte sie zum Narren halten. Gut, die Antipathie beruhte zweifelsohne auf Gegenseitigkeit. Aber sie hatte ihm die Tür nicht vor der Nase zugeschlagen.
Nicole drehte sich um und wartete auf Christians Rückkehr.
Er war überrascht, sie samt dem Umschlag auf der Willkommensmatte vorzufinden.
„Ich sagte Ihnen doch, Frau Klinger, dass Sie den Umschlag einem meiner Mitarbeiter geben sollen“, sagte er streng und betrachtete sie ganz genau, wie um hinter eine geheime Absicht ihrerseits zu kommen.
„Ja, das haben Sie gesagt“, erwiderte Nicole bebend. „Sie scheinen keine gute Kinderstube genossen zu haben. Man schlägt einer Person nicht die Tür vor der Nase zu. Außer vielleicht, wenn es zum dritten Mal hintereinander die Zeugen Jehovas sind. Das ist eine Frage fundamentalen Anstands, über den wir Menschen eigentlich seit geraumer Zeit verfügen. Ich finde Ihr Verhalten mir gegenüber nicht gut und führe es auf meine scherzhaften Bemerkungen zu Ihrem Äußeren zurück. Sie scheinen mir sehr nachtragend zu sein.“
Er machte den Mund auf und Nicole fühlte sich an den Tag zurückerinnert, an dem sie ihn das erste Mal in persona gesehen hatte, in der Backstube. Dieses Mal jedoch sagte er etwas. „Ich würde Sie bitten, zur Seite zu gehen.“
Nicole dachte gar nicht daran. Sein Versuch, sich aus der Konversation herauszumanövrieren, machte sie nur wütender. „Nein. Nicht, bevor wir nicht die Fronten geklärt haben.“
Christian starrte sie unverwandt an und schwieg mit zusammengekniffenen Lippen. Nicole glaubte, dass er den Mund niemals wieder in ihrer Gegenwart aufmachen würde, da sagte er: „Ich habe nicht den Enthusiasmus dazu, in Dialog mit einer einfachen, oberflächlichen Steuerfachangestellten zu treten.“ Er schnappte ihr den Brief aus der Hand. „Gehen Sie zurück in die Kanzlei und wurschteln Sie sich weiter durch Ihre Aufträge durch, anstatt jemanden zu belehren, de-“