Herr Schlau-Schlau wird erwachsen - Johannes Krätschell - E-Book

Herr Schlau-Schlau wird erwachsen E-Book

Johannes Krätschell

0,0
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Hannes ist fassungslos: Seine Eltern setzen ihn einfach so vor die Tür. Nach 35 Jahren unter einem Dach. Dabei hat er doch nie gestört. Im Gegenteil: Er zahlt pünktlich seinen Mietanteil, wäscht seine Unterhosen selbst und hat nur ein Mal eine Frau mit nach Hause gebracht. Zwischen seinen viertausend Büchern, dem trockenen Rotwein aus Apulien und einem Sofa voller Kindheitserinnerungen war seine Welt bisher übersichtlich und in Ordnung. So unsanft aus dem Nest gestoßen versucht er, voller Selbstmitleid, die abgetragenen Mauern seines Lebens an anderer Stelle wieder aufzubauen. Doch schon am ersten Abend in seiner neuen Wohnung klingelt es an der Tür. Mit einem Begrüßungstropfen und einer Kiste Weinbrandbohnen in den Händen stellt sich sein Nachbar aus dem Erdgeschoss vor. Außerdem hat er ein völlig anderes Lebenskonzept im Gepäck. Johannes Krätschells mitreißender Roman erzählt charmant und aberwitzig Episoden einer verspäteten Menschwerdung. Ein Plädoyer gegen die Angst vor Veränderung und eine Laudatio auf das Leben, wie es eben ist: trostlos, köstlich, tragisch, fabelhaft und vor allem unvorhersehbar.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Seitenzahl: 249

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



periplaneta

Johannes Krätschell wurde 1976 in Berlin-Pankow geboren. Nach seinem Abitur am Carl-von-Ossietzky-Gymnasium und einem einjährigen Auslandsaufenthalt im Nahen Osten studierte er Geschichte und Politikwissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin. Nach seinem Studienabschluss zog es Krätschell in die freie Wirtschaft. Hier war er in unterschiedlichen Positionen in der Marktforschung, bei Konferenzanbietern und Agenturen tätig. Heute arbeitet der Berliner Autor für einen Wissenschaftsverlag. Johannes Krätschell ist verheiratet und hat zwei Töchter.

Seit 2012 schreibt er Kurzgeschichten und tritt damit gegen seinen Autorenkollegen Benjamin Kindervatter im Leseduell deutschlandweit an, beispielsweise in Berlin, Leipzig oder Dresden. Laut leicht zu beeinflussenden Quellen liegt Krätschell in diesem lebenslangen Duell in Führung. Neben diesen Auftritten taucht er auch als Gastleser auf verschiedenen Berliner Lesebühnen auf.

Mit „Herr Schlau-Schlau wird erwachsen“ legt er nun seinen ersten Roman vor. Kollege Kindervatter steuerte das wunderbare Cover bei. Den Roman gibt es auch als komplett in Berlin gefertigte, limitierte Hardcover-Ausgabe, der eine MP3-CD mit der gekürzten Lesebühnenfassung beiliegt.

www.leseduell.de

www.kraetschell.de

Johannes Krätschell

Herr Schlau-Schlau wird erwachsen

periplaneta

JOHANNES KRÄTSCHELL: „Herr Schlau-Schlau wird erwachsen“ 1. Auflage,Januar 2017, Periplaneta Berlin

© 2017 Periplaneta - Verlag und Mediengruppe Inh. Marion Alexa Müller, Bornholmer Str.81a, 10439 Berlin, www.periplaneta.com

Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, Übersetzung, Vortrag und Übertragung, Vertonung, Verfilmung, Vervielfältigung, Digitalisierung, kommerzielle Verwertung des Inhaltes, gleich welcher Art, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlags. Die Handlung und alle handelnden Personen sind frei erfunden.

Projektleitung und Lektorat: Sarah Strehle (www.lektorat-strehle.de) Covergestaltung: Benjamin Kindervatter (www.kindervatter.de) Projektassistenz: Laura Partikel Satz & Layout: Thomas Manegold (www.manegold.de)

print ISBN: 978-3-95996-030-4 epub ISBN: 978-3-95996-031-1

Die Vertreibung

Auch wenn sich meine Eltern Sorgen machten, bei mir war alles in Ordnung. Ich war einfach nur ein ernstes Kind. Ernst und neugierig. Ein Kind eben. Ein weißes Blatt, das beschrieben werden wollte. Meine Neugier war wahrscheinlich nicht typisch kindlicher Natur. Deshalb sorgten sich meine Eltern. Aber mit der Zeit gewöhnten sie sich daran. Ich interessierte mich von Anfang an vor allem für Bücher. Für Worte, Geschichten und Figuren. Bilderbücher gefielen mir zwar, aber mein Herz gehörte den Buchstaben. Leider verstand ich sie nicht sofort und so war ich glücklich, wenn mir vorgelesen wurde. Meine Eltern lasen mir vor, so oft und so lange sie konnten. Damit das ernste Kind glücklich war. Auf dem alten Erkersofa in unserer eigenen Bibliothek.

Ich ließ mir bald alle Buchstaben erklären, wiederholte ihren Klang und merkte mir ihre Form. Mit vier Jahren konnte ich selbstständig lesen. Das entlastete meine Eltern und beruhigte sie, da ich ja nicht um des Lesens willen las, sondern eben aus Neugier. Aus dem Grund, der ein Kind zu einem Kind macht. Seiner blanken Neugier wegen.

Das Meiste, das ich mit vier Jahren las, konnte ich nicht begreifen und fragte nach den Hintergründen. Ich fragte nach vergangenen Zeiten, danach, wo Städte und Länder lagen, warum man einen Brief schrieb und wie man kochte. Mit den Jahren erfuhr ich dabei, wie man lebt. Ich erfuhr, wie Freundschaften entstehen, und konnte ganz leicht selbst welche eingehen. Ich kannte das Gefühl, verliebt zu sein, bevor ich mich das erste Mal selbst verliebte.

Die Welt vor der Tür war nicht uninteressant, aber nicht die meine. Meine Welt war die, die sich zwischen zwei Buchdeckeln verbarg. Sie überraschte mich jeden Tag aufs Neue. Hier geschah alles schon, bevor es da draußen passierte. Und so war ich draußen stets auf alles vorbereitet. Meine Freunde waren der Meinung, ich sei schon erwachsen auf die Welt gekommen.

Das empfand ich als Kompliment und lebte mein Leben auch weiterhin mehr drinnen in den Büchern als draußen unter Menschen. Es funktionierte und so wollte ich alt werden.

Doch ohne jede Vorahnung zog ein Schatten auf, der alles zerstören würde.

Es war ein lichter Sommertag und ich saß ohne jede Vorahnung auf dem Lesesofa. Meine Eltern betraten den Raum, nickten mir freundlich zu und baten mich um ein Gespräch im Wohnzimmer. Ich konnte ihren Gesichtern ansehen, dass mich etwas Furchtbares erwartete.

Ohne Umschweife kam meine Mutter auf den Punkt: „Lieber Hannes, dein Vater und ich wollen uns zur Ruhe setzen. Wir haben ein Haus in der Uckermark gekauft und ziehen im Herbst dort ein. Wir wollen näher bei deiner Schwester und den Enkeln sein. Die Wohnung haben wir zu Ende Oktober gekündigt. Das heißt, wir müssen alle bis Ende Oktober ausziehen.“

„Mama, was soll ich in der Uckermark? Ich bin ja gern bei Sarah und meinen Neffen, aber ich will mich nicht zur Ruhe setzen.“

„Nein, das kannst du auch gar nicht. Wie willst du dich zur Ruhe setzen, wenn du noch nie aufgestanden bist?“

„Noch nie aufgestanden? Was soll das heißen? Ich habe studiert, ich habe einen Job, ich zahle hier die Hälfte der Miete …“

„Du bewohnst ja auch die Hälfte der Wohnung.“

„Was heißt die Hälfte bewohnen? Ich habe ein kleines Zimmer, wir teilen Küche und Bad und die Bibliothek steht euch immer offen.“

„Nun, manchmal will man vielleicht auch alleine dort sein, ein Buch aussuchen und auf dem Sofa lesen. Aber ein Raum, in dem du an fünf von sieben Tagen nach Feierabend sitzt und in dem du zwanzig von deinen dreißig Urlaubstagen im Jahr verbringst, steht einem nicht wirklich offen.“

„Wirfst du mir gerade vor, dass ich lese? Ihr wart es doch, die mir Literatur ans Herz gelegt habt. Ihr habt mich lesen lassen. Ihr habt diese Saat gestreut und jetzt beschwerst du dich, dass sie aufgegangen ist?“

„Ich bin glücklich, dass du so eine Freude an Literatur hast und auch dein Beruf damit zu tun hat …“

„Mama, was hat mein Beruf mit Literatur zu tun? Ich schreibe Anleitungen für Kinderspiele für Sechs- bis Neunjährige und Dialoge für Apps und Computerspiele. Mein größter literarischer Erfolg sind die Texte von Prinz Tausendzahl in einer App für Mathe in der ersten Klasse. Das kann ich nicht, weil ich Walter Kempowski gelesen habe, sondern weil ich Mathematik nicht verstehe und mich deshalb vielleicht besser in Kinder hineinversetzen kann. Machst du dich über mich lustig?“

„Nein, das mache ich nicht. Ich glaube, du machst eine gute Arbeit und sie hat mit Sprache zu tun –“

„Ich mache keine gute Arbeit, ich habe einen Job. In einer mittelmäßigen Textagentur. Ich helfe einem egomanischen Zwerg dabei, sich zu bereichern. Einem Zwerg, dem ich nur mangels schlechter Kinderstube nicht längst eins auf die Fresse gehauen habe. Der seine fadenscheinigen Kontakte in Aufträge ummünzt und uns Fußvolk alles Notwendige bis zur Bezahlung zusammenschreiben lässt. Das hat mit Literatur gar nichts zu tun. Und trotzdem brauche ich das Geld, zum Beispiel für die Miete hier. Und wie soll ich aus der Uckermark überhaupt jeden Morgen nach Berlin pendeln? Mein alter Saab hält das nicht lange durch.“

Und plötzlich, in dem Moment, als der erregte letzte Ton meiner Stimme zwischen den Nolde-Drucken meiner Mutter und dem Ölgemälde der Westminster-Abbey meines Vaters an den Wänden verhallte, wurde mir bewusst: Sie dachten nicht im Traum daran, mich mitzunehmen. Sie wollten mich nicht mehr dabei haben, sich ohne mich zur Ruhe setzen. Nach fünfunddreißig Jahren unter einem Dach stellten sie mir den Stuhl vor die Tür. Als hätte ich hier im Hotel Mama gewohnt und es wäre Zeit, mich rauszuschmeißen. Aber so war es keineswegs. Ich habe meine Wäsche stets selbst und oft genug auch die meiner Eltern gewaschen. Ich habe meine Boxer Größe M neben die Feinripp-Unterhosen mit Linkseingriff meines Vaters auf die gleiche Leine gehängt. Meine Kochkünste stellen jedes Restaurant in den Schatten, das meine Eltern in ihrem Leben besucht haben.

Und ich habe sie geduldig ins digitale Zeitalter begleitet. Egal wie vertieft ich in ein Buch war – wenn mein Vater mich zum sechsten Mal in einer Woche bat, ihm zu zeigen, wie man einer E-Mail einen Anhang hinzufügt, habe ich nicht mal mit den Augen gerollt. Auch wenn die Woche gerade zwei Tage alt war. Ich habe seinen Ordnungssinn übernommen und meine Jacke immer in den Schrank gehängt und meine Schuhe immer ins Schuhregal gestellt, wenn ich nach Hause kam.

Aber ich wusste sofort, woher der Wind plötzlich wehte. Vor drei Wochen, da war ich sicher, hätten sie mich noch mitgenommen, aber dann kam die Geschichte mit Katharina dazwischen. Und daran war eigentlich nur Milan Kundera schuld. Und weil seine Bücher seit 1984 in der Bibliothek standen und meine Eltern sie selbst dorthin gestellt hatten, waren sie im Grunde selbst schuld, dass das passiert war.

Ich habe Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins und Das Buch der lächerlichen Liebe von Kundera jeweils etwa zwanzig Mal gelesen. Einige seiner Helden gehen rein erotische Verhältnisse ein. Nie so sehr, dass sie sich über das Erotische hinaus binden müssen. Nach dem vollzogenen Beischlaf verlassen seine Helden die Wohnung der Frau. Und melden sich erst dann wieder, wenn ihnen nach dieser Frau ist. Oder nie wieder. Sie haben durchaus ein Zuhause, aber dieses teilen sie nicht. Es bleibt ihr unberührtes Reich.

Ein solcher Held war auch ich. Ein solcher Held wollte ich immer sein. Für mich war dieses Reich ein Heim voller Bücher und voller Zeit zum Lesen. Dazwischen ein paar Stunden mit meinen Freunden und ein paar ernstgemeinte Abenteuer. Bis ich Katharina traf, habe ich es immer so gehalten: Gespräche im Park, im Café oder im Auto, Sex bei ihr und gleich danach zurück in mein stilles Zuhause. Zurück auf das Lesesofa, das nicht dem Raum zugewandt, sondern seit allen Zeiten vor dem Fenster mit dem Blick nach draußen stand.

Doch bei Katharina war es dieses eine Mal anders gewesen. Wir hatten uns bei einer T. C. Boyle Lesung kennengelernt.

Es war schnell klar, dass wir danach weiterreden würden. Als wir damit fertig und am nächsten Punkt waren, erklärte Katharina, sie sei neu in Berlin. Ihre Wohnung würde sie erst im nächsten Monat beziehen. Bis dahin schlief sie auf dem Sofa einer alleinerziehenden Freundin mit drei Kindern. Allen Gesetzen zum Trotz gingen wir zu mir. Meine Mutter war in der Schweiz und mein Vater zur Kinderbetreuung bei meiner Schwester in der Uckermark. Ich hatte also nur das Problem, eine Sechszimmerwohnung glaubwürdig als die meine verkaufen zu müssen.

„Das ist ja riesig hier. Wohnst du allein?“

Da dies eine Ausnahmesituation war, erfand ich einfach ein neues Familienmitglied. „Nein, ich teile mir die Wohnung mit meinem Bruder Thomas, der ist aber fast nie in Berlin.“ Immerhin benutzte ich den Vornamen meines Vaters. Ich schob Ka­­tharina in mein Zimmer, das, seit ich lebte, mein Zimmer war. In dem ich noch nie mit einer Frau geschlafen hatte.

Tief in der Nacht wurde ich halbwach und spürte, dass mein Bett zum ersten Mal nicht nur von mir warm war. Sie musste gerade erst gegangen sein. Aber an mein müdes Ohr drang immer noch ihre Stimme. Und komischerweise auch die Stimme meines Vaters. Das musste ein absurder Traum sein oder etwas jenseits meiner Vorstellungskraft. Doch es klang ganz real.

Ein Zweiundsiebzigjähriger emeritierter Professor für Theologie ging mit nichts am Leib, außer seinen roten Pantoffeln, zum Bad. Er konnte nicht wissen, dass das Licht im Bad bereits an war, also drückte er auf den Lichtschalter, was sofort einen spitzen Schrei aus dem Innern des Badezimmers hervorrief. Diesen Schrei brachte er aber nicht mit plötzlicher Dunkelheit in Verbindung, daher öffnete er langsam die unverschlossene Badezimmertür und starrte aus dem dunklen Flur hinein ins dunkle Badezimmer, um hinter das Phänomen des spitzen Schreis zu gelangen. Das Phänomen, das eines großen Schattens gewahr wurde, dessen grauer Haarschopf durch das Mondlicht vom Badfenster aufleuchtete, quittierte diese Erscheinung mit einem weiteren, diesmal langgezogenen, Schrei. Der von Vorlesungen und Reden geübte Bariton meines Vaters beantwortete den zweiten Schrei mit einem drohenden „Wer ist da?“. Das Phänomen sprang da­rauf im Affekt auf den Klodeckel und war sich sicher, einen bösen Geist aus jahrhundertealter Ruhe aufgescheucht zu haben. Erst da drückte mein Vater auf den Lichtschalter, was die Situation aber nicht wirklich entspannte. Das Licht der Badlampe enthüllte, dass beide Beteiligten splitterfasernackt waren.

„Wer sind Sie?“, fragte mein Vater, als Katharina auf dem Klodeckel stehend versuchte, mit den Händen ihre Scham und zugleich mit den Oberarmen ihre Brüste zu verdecken. Mein Vater verdeckte nichts, sondern baute sich drohend noch weiter auf.

Mit gesenktem Blick und zitternder Stimme versuchte Katharina, die Situation zu entschärfen. „Du bist bestimmt der Thomas … oder?“

„Woher kennen Sie meinen Namen und wie kommen Sie in meine Wohnung?“

„Hannes hat mich reingelassen … und auch erzählt, dass du hier wohnst, aber eigentlich nie da bist … Und ich wusste auch nicht, dass du so viel älter bist.“

„Älter? Älter als wer?“

„Na, als Hannes.“

„Jünger als Hannes kann ich ja kaum sein.“

„Aber auch nicht so viel älter.“

„Warum?“

„Na, du bist doch sicher zwanzig oder dreißig Jahre älter als er.“

„Zweiunddreißig Jahre, um genau zu sein.“

„Siehst du, das ist doch ungewöhnlich, so ein Altersunterschied.“

„Ich wüsste nicht, was daran ungewöhnlich sein soll.“

„Zweiunddreißig Jahre älter. Du könntest sein Vater sein.“

„Ich könnte was?“

„Du könntest sein Vater sein. Mit zweiunddreißig Jahren ein Kind zu bekommen ist ja nicht so ungewöhnlich.“

„Junge Frau, wollen Sie mich verschaukeln?“

„Nein, natürlich nicht, aber …“

„Was hat Ihnen Hannes denn von mir erzählt?“

„Nichts eigentlich. Nur, dass du fast nie da bist.“

„Das ist Ansichtssache. Er ist ja quasi immer hier. Also ab dem Spätnachmittag. Manchmal geht er abends weg, aber sonst hockt er immer in der Bibliothek. Aber auch, wenn ich das Haus öfter als er verlasse, bin ich ja nicht gleich nie hier.“

„Ich will das auch gar nicht ausdiskutieren. Klär das selbst mit deinem Bruder.“

„Wieso sollte ich diese Frage mit meinem Bruder klären? Der lebt in Nürnberg und war seit drei Jahren nicht in dieser Wohnung.“

„Nein, das musst du mit deinem andren Bruder klären.“

„Mit welchem anderen Bruder? Ich habe nur den einen.“

An dieser Stelle stieß ich, ebenfalls völlig nackt, hinzu.

„Ach Hannes, da bist du ja. Die junge Dame meinte, du hättest sie hier reingelassen. Aber jetzt, da ihr beide im Adams- und Evaskostüm rumlauft, erhellt das die Sache. Hättest du doch was gesagt.“

„Ich dachte, du bist bei Sarah.“

„War ich ja auch. Aber Friedrich ist krank und Sarah bleibt mit ihm zu Hause. Da braucht sie keinen Babysitter und ich konnte los.“

„Dann häng doch einfach mal deinen Mantel an die Garderobe oder lass deine Schuhe im Flur stehen. Dann weiß man, dass du da bist.“

„Das machst du doch auch nicht!“

„Ja, aber nur, weil du das schon immer –“

Da unterbrach uns Katharina. „Ich würde mir jetzt gerne was anziehen. Mir ist kalt und mir ist unwohl dabei, nackt mit zwei nackten Brüdern in einem Bad zu stehen.“

„Brüdern?“, fragte mein Vater. „Jetzt fällt der Groschen. Brüder!“ Und dann brach etwas aus ihm heraus, das ich eigentlich immer an ihm geliebt habe. Sein tiefes, kehliges Lachen. Ein Lachen, das den ganzen Körper schüttelt.

Katharina stand immer noch zitternd auf dem Klodeckel.

„Gute Nacht, Bruder“, brachte mein Vater mit vor Lachen erstickter Stimme hervor und ging aufs Gästeklo.

Dann traf mich ein Blick, der ganze Landstriche hätte auslöschen können.

„War das dein Vater? War das gerade dein nackter Vater, den ich für deinen Bruder gehalten habe? Hast du mich gerade nackt und allein gelassen, damit ich das herausfinde? Du bist eine Art von Arschloch, die mir bisher nicht untergekommen ist, eine Art von Arschloch, wie ich es mir in den dunkelsten Stunden nicht hätte ausmalen können. Gib mir jetzt bitte zwei Minuten, dann bin ich weg. Und ich Idiotin dachte noch vor zehn Minuten, dass ich hier gern länger bleiben würde. Bleib da stehen, in zwei Minuten kannst du in deine Welt zurück.“

Als ich in mein Bett zurückging, war es völlig kalt. Und drei Wochen später bekam ich die Rechnung für Katharinas Besuch.

„Mama, ihr habt gar nicht vor, in der Uckermark mit mir zusammenzuleben, oder?“

„Nein, wie kommst du darauf?“

„Weil wir schon seit fünfunddreißig Jahren zusammenleben.“

„Und das ist mehr als genug, Hannes. Vielleicht machst du dich ja jetzt auf in dein eignes Leben. Wenn fünfunddreißig Jahre nicht reichen, dich aus dem Nest zu stoßen, dann muss eben das ganze Nest weg. Wir gehen ja auch nicht deinetwegen. Aber wir bleiben deshalb auch nicht. Wir werden bald alt sein und bis dahin wollen wir eine Weile für uns oder bei den Enkeln sein.“

„Wo soll ich hin?“

„Das überlassen wir ganz dir. Aber wenn du hier Miete zahlen kannst, dann auch woanders.“

„Woanders, woanders. Das ist meine Heimat hier, mein ganzes Leben, meine Bücher, alles.“

„Die Bücher kannst du mitnehmen.“

„Wie bitte?“

„Ja, die Bibliothek gehört dir. Inklusive Sofa.“

„Ihr gebt die Bibliothek einfach her? Wie einen Haufen Papier?“

„Nein, wir geben sie in die besten Hände.“

„Und das Lesen gebt ihr auch gleich auf?“

„Nein, aber dein Vater und ich haben ja einen Kindle.“

„Ihr habt was?“

„Einen Kindle. Das ist so ein E-Book-Reader –“

„Mama, ich weiß, was ein Kindle ist. Aber ihr? Einen Kindle? Ist euch denn nichts heilig?“

„Doch, unser Seelenfrieden.“

„Ach so, und den habe ich gestört und deshalb werde ich nun vertrieben. Ist das wegen neulich, Papa? Sag doch auch mal was! Das ist doch nur wegen der Frau von neulich, oder? Das kommt nie wieder vor, versprochen!“

Erst versuchte mein Vater, es runterzuschlucken, aber umso stärker brach sein Lachen dann Sekunden später aus ihm hervor. Und auch meiner Mutter standen plötzlich Lachtränen in den Augen und sie begann zu beben.

„Macht euch nur lustig über mich. Ich kann gerade leider nicht mitlachen. Ich muss mir nämlich mal eben ein neues Leben suchen. Warum habt ihr eigentlich die Wohnung gleich gekündigt, ich hätte sie vielleicht irgendwie weitermieten können?“

„Genau deshalb, Hannes.“

„Weshalb?“

„Damit du dir ein neues Leben suchen musst. Es wird Zeit, erwachsen zu werden.“

Dass jemand mit fünfunddreißig beginnt, erwachsen zu werden, hat man schon gehört. Aber das gilt doch nicht für mich. Natürlich kenne ich auch Leute, die jenseits der Jahre leben, in denen sich andere eine Familie zulegen, plötzlich acht statt vier Stunden Schlaf benötigen und bemerken, dass eine Küchenmaschine einen größeren Kaufwunsch auslöst als ein Festivalticket. Jeder kennt Menschen oder hat von ihnen gehört, die diese Jahre in studentischer Lebensweise, aber mit mehr Geld in der Tasche und professionalisierten Hobbys verbracht haben. Doch irgendwann bemerken auch diese Menschen, dass ihre erwachsenen Freunde nur noch selten am selben Kneipentresen sitzen. Sie bemerken, dass sie keinen Beitrag mehr zu den diskutierten Themen liefern können. Das hab ich alles schon beobachtet und vorher gelesen. Das höfliche Interesse, wenn sie von ihren Freizeitaktivitäten sprechen, hält das Gegenüber nicht lange aufrecht. Denn ein angebrochenes Gespräch über den letzten Elternabend oder die neue Kita-Leitung, ein Gespräch mit einem anderen Erwachsenen wartet noch auf seine Vollendung. Und dann werden diese Leute auch erwachsen und holen die ganze Familienarie nach. Solche Leute kennt man oder hat von ihnen gehört, aber mit fünfunddreißig Jahren erwachsen werden, das passiert anderen. Nicht mir.

Ich bin zu jedem Thema aussagefähig. Keine Lebenslage, keine Gewissensfrage ist so besonders, dass sie nicht schon in irgendeinem Buch beschrieben und beantwortet worden wäre. Es war doch ich, der schon erwachsen auf die Welt gekommen ist. Ich kann mit Freunden, die gerade von einer Reise aus den Neuengland-Staaten zurückkehren, vortrefflich vom Indian Summer in Maine sprechen, ohne jemals dort gewesen zu sein. Eine frisch verlassene Bekannte findet in mir den idealen Gesprächspartner, da ich etliche verlassene und wieder erstarkte Romanheldinnen kenne und auch meinen Freud und meinen Jung gelesen habe. Ich war erwachsen von Geburt an und konnte es somit gar nicht mehr werden.

Meine Eltern wollten einfach ihre Ruhe haben, ganz plötzlich. Sie hatten keine Lust auf meine Frauenbesuche, einverstanden, würde nie wieder vorkommen. Und trotzdem zerstörten sie die Welt, die sie selbst erschaffen hatten. Dieses „Es wird Zeit, erwachsen zu werden“ klang mir laut in den Ohren. Besonders laut, als ich in einer leeren Wohnung stand, die bald mein Zuhause sein sollte.

Sie lag nur vier Straßen entfernt von meinem alten Zuhause und trotzdem in einem fernen, fremden Land. Ich sprach kein Wort, aber von den leeren Wänden schallte die Stimme meiner Mutter zurück wie ein Fanal: „Es wird Zeit … es wird Zeit … es wird Zeit … erwachsen zu werden.“

Ein Troll ohne Verständnis

Ich habe gelesen, dass ein Umzug ein Grund zur Freude sein kann. Freunde von mir hatten es zumindest so beschrieben. Ein Umzug war etwas, das man mit anderen Freunden machte und anschließend gemeinsam feierte. Mir kam das völlig absurd vor, brachte Umziehen doch nur Probleme mit sich. Die Mietpreise in Pankow erschlugen mich, die Kosten für eine Umzugsfirma auch. Ich verbrachte meine Wochenenden in Schlangen von Menschen, die zu Wohnungsbesichtigungen kamen. Sie waren alle schlecht vorbereitet. Keiner hatte das Formular der Hausverwaltung vorher ausgefüllt und nur die Hälfte hatte Gehaltsnachweise dabei. Ich legte den Menschen, die diese Wohnungen vermittelten, stets den vorher zugeschickten Fragebogen, fünf statt drei Gehaltsnachweise vor und plauderte so lange, bis ich die Frage stellen konnte, ob sie lieber Weiß- oder Rotwein tranken. Je nach Antwort überreichte ich dann eine von den zwei Flaschen in meiner Tasche und ging. Nach drei Wochen hatte ich vier Zusagen.

Ich entschied mich für eine Wohnung, deren großer Balkon mir egal war, die aber ein sehr großes Erkerzimmer hatte. Das Lesesofa sollte einen guten Platz haben. Außerdem war der Straßenname schön. Ein französischer Name, nach einem Hugenotten. Gaillardstraße. Zu meinem Glück war Herr Breitbarth, der längst pensionierte Schreiner meiner Familie, bereit, noch einmal Hand anzulegen. Er baute die neuen Regale für die Bibliothek und bekam meine gesamten Ersparnisse dafür. Was mir noch fehlte, war Zeit zum Umziehen. Zeit, viertausend Bücher in die Regale zu stellen. Und die musste ich dem Troll abtrotzen.

Der Troll war der Inhaber von Besttext. Er war mein Arbeitgeber und der Herr von jedem, der als Gegenleistung für ehrliche Arbeit so etwas Unverschämtes wie ein Gehalt verlangte. Er hatte ein exzellentes Netzwerk in die Politik und generierte Aufträge, für die der Steuerzahler aufkam, um den Kindern im Land Kompetenz und Bildung zu vermitteln. Ich war seit fünfzehn Jahren sein Angestellter. Sein erster und treuster. Kinder haben ihn nie interessiert. Aber er hatte den Markt sehr früh erkannt, den der demografische Wandel und die PISA-Studien hervorgebracht hatten. Er hatte den Entscheidungsträgern dieses Landes immer Projekte vorgeschlagen, die ihr Image polieren konnten. Er verkaufte ihnen eine Hochglanz-Lösung, mit der sie die eigene Fantasie- und Wirkungslosigkeit überdecken konnten. So wuchs der Laden rasant und wir benötigten bald neue Mitarbeiter. Das war nicht schwierig. Der Boom Berlins als Medienstadt spülte täglich junge Menschen an, die auf der Suche nach einem modernen Beruf waren. Einem Beruf, der zum Lifestyle passte. Junge Menschen, denen man Arbeitszeiten von zehn Uhr morgens bis dreiundzwanzig Uhr abends als Work-Life-Balance verkaufen konnte.

Der Troll hieß eigentlich Thomas von Rollheim. Und er stellte fast jeden neuen Bewerber ein. Frauen nur, wenn sie attraktiv waren, aber eigentlich jeden männlichen Bewerber, der ihm erzählte, er sei unglaublich flexibel und wolle richtig was bewegen. Man hätte meinen können, die Personalkosten gingen durch die Decke, aber für jeden Neueingestellten wurde ein bestehender Mitarbeiter gefeuert.

„Hannes, der Herr Fritsch ist noch richtig hungrig, der will noch was bewegen. Der macht den Job von Sascha in der halben Zeit und doppelt so gut. Und seit seine Freundin schwanger ist, ist Sascha in Gedanken doch die ganze Zeit schon beim Geburtsvorbereitungskurs. Da muss man ehrlich sein und sich trennen. Der hat hier so viel gelernt, eigentlich müsste er mir ein Honorar zahlen. Da brauchst du nicht so sozialdemokratisch gucken.“

„Ich frage mich nur, wer jetzt die Dialoge für den Kidsplay-Auftrag zu Ende schreiben soll. Wir müssen in zwei Wochen das komplette Skript für das Spiel liefern. Kann der Herr Fritsch sich in eine hungrige dicke Libelle versetzen, die Lebensmittel danach befragt, ob sie gesund für sie sind? Oder in einen Schokoriegel, einen Apfel oder in eine Schüssel Müsli, die der Libelle antwortet? Sascha kann das.“

„Frag dich lieber, warum der Sascha damit zwei Wochen vorm Liefertermin noch nicht fertig ist. Kidsplay produziert das fürs Bundesgesundheitsministerium. Das ist ein Key-Account, den dürfen wir nicht verprellen. Die sollen beim nächsten Mal direkt bei uns anfragen. Sorg bitte dafür, dass Sascha eine ordentliche Übergabe macht.“

„Der hat sich heute Morgen krankgemeldet.“

„Da siehst du es wieder. Ich spüre, wenn ein Mitarbeiter illoyal wird. Es war höchste Zeit, sich von Sascha zu verabschieden. Außerdem, was will er eigentlich? Er war noch in der Probezeit.“

„Das ist ja hier keine Ausnahme.“

„Na und? Dann sind die andern jetzt gewarnt. Wir dürfen diesen Auftrag nicht verkacken. Dafür trägst du mir Sorge.“

Der Troll hatte mir geringfügige Kompetenzen gegeben, mit denen ich so etwas wie der Chef vom Dienst war und den Laden in seiner Abwesenheit am Laufen halten konnte. Das beinhaltete vor allem fast tägliche Statusabfragen bei den Mitarbeitern, da der Kobold nach seiner Einstellung niemandem etwas zutraute.

Meine Kompetenzen reichten zum Kontrollieren und so weit, dass ich die Arbeit, die ich nicht selbst übernehmen wollte, auf andere Schultern verteilen konnte. Und er brauchte mich, da ich jeden Kunden kannte und bei Problemen mit einem neuen Text­entwurf zufriedenstellen konnte. Was ich tun musste, machte ich, ohne mich anstrengen zu müssen. Ich konnte immer um fünf Uhr Schluss machen und nach Hause fahren. Die jungen Kollegen taten mir leid, aber es bekümmerte mich nicht lange. Den Troll konnte ich nicht mehr ändern. Er zahlte mein Gehalt stets pünktlich und das, seitdem ich mein Studium beendet hatte. Doch als ich den Mietvertrag unterschrieben hatte und wusste, dass ich in zwei Monaten die Bibliothek allein einräumen müsste, da hatte ich zum ersten Mal einen Wunsch an den Troll. Ich brauchte Zeit. Ich musste ihn um etwas bitten.

Er kam wie immer zwei Stunden nach mir ins Büro und stellte sich neben mich, um zu überprüfen, ob ich gerade privat surfte oder arbeitete. Von diesem Platz konnte ich ihn leicht verscheuchen. Ich musste mich nur gerade hinsetzen und schon war ich fast so groß wie er. Das war seine größte Schwachstelle, die trollhafte Größe. Er setzte sich rasch auf seinen Platz mir gegenüber und lehnte sich so weit nach hinten, dass die komplette Behaarung seines Bauches freilag.

Er kratzte ein bisschen darin herum und stellte Fragen. „Hannes, wer hat jetzt den Hut auf bei diesem Projekt, dieses, du weißt schon, dieser sprechende Stift, der Kindern vorliest? Dieses Spanisch-Lernbuch?“

„Die deutschen Texte macht jetzt Carola, die spanischen immer noch Almudena. Ich schick dir wegen der aufgelaufenen Kosten nachher das Reporting. Aber wenn du gerade da bist, ich hab da ein Anliegen.“

„Ein Anliegen?“ Das war ein Reizwort, was den Troll sofort in die Aufrechte brachte, auch wenn er dadurch nicht viel größer als im Liegen war. „Was für ein Anliegen?“

„Ich muss meinen Weihnachtsurlaub in den Oktober vorverlegen.“

„Bist du verrückt, weißt du, was hier im Oktober los ist? Das ist Geschäftsjahresende, da hagelt es Aufträge.“

„Ich weiß, aber ich muss umziehen und ich habe eine Menge Bücher auszupacken. Das würde ich gern in Ruhe machen und die zehn Tage würden sehr helfen. Oder wenigstens sieben, oder fünf.“

„Vergiss es gleich wieder. Ich bezahl dich viel zu gut, als dass du mitten im Herbst hier Pause machst. Frag doch ein paar Kollegen, ob sie dir ein Wochenende helfen. Du bist doch hier sehr beliebt.“

„Ich glaube, du überschätzt meine Beliebtheit ein wenig.“

„Und wenn schon. Man muss ja nicht mit jedem befreundet sein, nur weil man zusammenarbeitet. Distanz im Beruf hat noch keinem geschadet.“

„Kann ja sein, aber das löst mein Umzugsproblem nicht.“

„Ich werde es auch nicht lösen. Und ich hab jetzt ein Bewerbungsgespräch. Eine hübsche orientalische Brünette, die könnte dieses Integrationsprojekt für Flüchtlinge übernehmen. Bei der sieht man schon auf dem Bewerbungsfoto, dass sie noch richtig hungrig ist.“

„Meinst du, sie soll ‚Samira lernt Deutsch‘ übernehmen?“

„Ja, laut Bewerbung spricht sie fließend Türkisch.“

„Jemand, der fließend arabisch spricht, wäre mir lieber.“

„Arabisch, Türkisch. Das ist doch dieselbe Soße. Die macht das schon. Ich erklär der das. Und schlag dir deinen Urlaub aus dem Kopf, bis ich zurück bin.“

Dann ging er. Ich überlegte kurz, was jetzt die größere Aufgabe war. Sandra zu sagen, dass sie so gut wie gefeuert war oder der neuen Kollegin zu erklären, dass ihr Türkisch nicht gefragt war, egal, was der Troll gesagt hatte. Aber eigentlich war beides lächerlich gegen die Herkulesaufgabe, viertausend Bücher allein und nach Feierabend in meiner neuen Wohnung einzusortieren. Ich würde das über Weihnachten machen müssen. Vor Silvester würde die Bibliothek nicht stehen.

Besuch aus dem Erdgeschoss

Es war noch nicht spät an diesem ersten Abend in meiner neuen Wohnung. Die frühe Dunkelheit Ende Oktober vor den Fenstern war geradezu hell, verglichen mit der Finsternis in meinem Herzen. Mein ganzes Leben war aus seinen vertrauten Regalen in graubraune Kartons gewandert. Die neuen Regale waren schön, aus Kirschholz wie ihre Vorgänger und reichten vom Boden bis zur Decke. Doch hatten sie noch nichts zu erzählen.

Immerhin hatte das Lesesofa seinen Platz vor dem Fenster. Mit der Rückenlehne zum Raum, wie es immer gestanden hatte. So blickte ich durch ein fremdes Fenster hinaus in einen fremden Herbsthimmel. Ich hielt das Klingeln an meiner Tür für ein Versehen und ging in die Küche. Auch beim zweiten Klingeln blieb ich dort und stellte die Weingläser in den Schrank. Beim dritten Klingeln aber ging ich zur Tür und lauschte.

Der Klingler stand nicht unten auf der Straße. Er stand vor meiner Tür. Ich blickte vorsichtig durch den Spion. Ein Mann mit einem nachlässig rasierten Gesicht lachte mich freundlich an und nickte. Da öffnete ich.

Es sei guter Brauch, sich den neuen Nachbarn vorzustellen, sagte er. In meiner bisherigen, bürgerlichen Vorstellung ging dafür der Neuankömmling auf die Alteingesessenen zu, aber mein unbekannter Besucher legte dieses ungeschriebene Gesetz anders aus. In der Hand hielt er eine Flasche Kröver Nacktarsch und eine Kiste Weinbrandbohnen und bat um Einlass. Er ignorierte meine höflichen Einwände, dass ich gerade erst eingezogen sei und nicht mal einen richtigen Sitzplatz anbieten könne, und trat ein.

„Wieso? Da steht doch een Sofa. Dit reicht dicke für uns beede.“ Und schon nahm er Platz. Ich setzte mich dazu.