Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Warum... warum liegt er dort TOT im Wasser?, fragt Elli sich entsetzt. Damit du ihn findest, wispert die kleine Stimme des Schicksals. Das dies sie noch lange beschäftigen wird ahnt Elli spätestens, als sie erfährt, wer der Tote ist. Eine Reise in ihre eigene Vergangenheit beginnt - denn nichts in ihrem Leben kann je wieder so sein, wie es vorher war.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 281
Veröffentlichungsjahr: 2019
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Für meine Kinder Johanna und Leonard und meinem Mann Hans, den besten Lebenskameraden.
Und in liebevoller Erinnerung an meinen Vater Karl.
Ein großes Dankeschön gilt meiner Lektorin Katrin Scheiding, die mir mit Rat und Tat zur Seite gestanden hat und meine Zweifel immer wieder ausräumen konnte.
Novemberblues
Es kommt, wie es kommen muss
Liebe macht blind
Selbst der schlimmste Tag hat nur vierundzwanzig Stunden
Die Erinnerung ist das einzige Paradies, aus dem wir nicht vertrieben werden können
Ein Abschied ist ein bisschen wie sterben
Licht am Ende des Tunnels?
Träume sind Seelengeister, die entfliehen
Leben ist das, was passiert, während wir dabei sind, Pläne zu machen
Schneeweißchen und Rosenrot
Wie soll es weitergehen?
Abends um sieben ist die Welt nicht mehr in Ordnung
Mittendrin und doch außen vor
Motto: Immer optimistisch bleiben!
Innere Stärke – hilft immer
Ohnmacht
Sensationslust stirbt nie aus
Schläge machen nicht brav – nur traurig
Eine Geburtstagsfeier mit einigen Widrigkeiten
Es wird schon werden
Ahnungslos
Mut und Zuversicht
Es geht immer weiter – egal wie
Nie wieder Indianer
Camouflage
Schlimmer geht immer
Schöne Freunde!
Wir schaffen das
Wunderbar getröstet
Wenn Drachen Feuer speien
Wahrheit bringt Klarheit
Trauer
Zuversicht
Eine Überraschung
Es ist, wie es ist
Epilog: Alles wird gut
Ihre Freunde nennen sie Elli. Ihr richtiger Name: Ellen Kaiser, Kaiser geschrieben nicht mit ei in der Mitte, auch nicht mit einem ay, sondern mit ai und ihr Leben ist ganz schön kompliziert.
Elli sitzt schon den ganzen Nachmittag über der Buchführung und ihr Nacken und die rechte Schulter tun ihr inzwischen höllisch weh. Die Zahlenkolonnen verschwimmen bereits vor ihren Augen und rauben ihr sichtlich den letzten Nerv.
Immer das Gleiche, alles muss für die Steuer hundertprozentig in Ordnung sein, sonst dauert es unglaublich lange, bis das Finanzamt die zu viel gezahlte Umsatzsteuervorauszahlung wieder zurückerstattet.
Sie streckt der Länge nach ihre Beine aus und reckt gleichzeitig die Arme in die Luft.
Mit den Beinen macht sie kreisende Bewegungen, um ihren Kreislauf wieder auf Trab zu bringen. Auf dem Teller neben ihr liegt noch ein Rest von der Nussecke, die sie sich am Vormittag am Brotauto gekauft hat. Schnell schiebt sie sich den Rest in den Mund und leckt sich die Finger ab. Schokolade liebt sie über alles, aber Schokoladenflecken hasst sie ebenso. Der Genuss des letzten Krümels versöhnt sie ein kleines bisschen mit der Buchführung, und ihre Laune steigt auf dem Stimmungsbarometer wieder in die Höhe.
Der Blick zur Uhr zeigt ihr, dass es bereits halb vier ist. Na, eine Runde kann sie ja noch drehen, bevor sie zur Chorprobe muss und danach den Rest des Abends mit Hans vor der Fernsehglotze sitzt.
Schnell steht sie auf und lässt alles vorerst auf dem Schreibtisch liegen, aufräumen kann sie später immer noch. Außerdem klaut sowieso kein Mensch diesen Papierwust, und es kommt auch keiner vorbei, der die Arbeit fertig macht.
Immer noch steif vom langen Sitzen, geht sie hinunter, um im Flur die Jacke anzuziehen und die Pantoffeln gegen Walkingschuhe zu tauschen.
Tür auf, raus, Tür zu und abschließen.
Elli steuert ihre Schritte talabwärts. Gleich zu Anfang legt sie ein Tempo vor, als müsste sie auf den Bahnhof, um noch den letzten Zug zu erwischen.
Der schnelle Gang hilft ihr, die Zahlen aus dem Kopf zu streichen, die ihr Kopfzerbrechen bereiten.
Das Finanzamt kennt überhaupt keinen Spaß, und selbst produzierte Fehler sind bei diesen Erbsenzählern nicht mehr auszubügeln. Dort sitzen abgerichtete Füchse, die nur darauf lauern, armen und fleißigen Bürgern wie ihr das Geld aus der Tasche zu ziehen. Freiwillig rücken diese Finanzfüchse jedoch nichts aus ihren Kassen heraus. Dafür muss der Bürger wiederum hartnäckig kämpfen.
Als sie den geschlossenen Drogerie-Markt erreicht, der die exakte Hälfte ihres Weges markiert, fällt ihr zum ersten Mal auf, dass einige Dorfbewohner bereits die Weihnachtsbeleuchtung aus dem Keller gekramt haben. An zwei Fenstern hängen bereits erleuchtete Sterne.
Sie schüttelt den Kopf. Für ihren Geschmack ein bisschen zu früh, schließlich beginnt die Adventszeit erst in drei Wochen.
Missmutig darüber biegt Elli in die untere Dorfstraße ein. An deren Ende taucht unter dem Eingangsportal des Friedhofs die alte Frau Färber auf ihrem Stock gestützt auf, grüßt kurz und wackelt nach Hause, ohne sich weiter zu Elli umzudrehen. Ansonsten ist keine Menschenseele auf der Straße zu sehen.
Es dämmert bereits, und Elli stapft mit forschem Schritt, die Hände noch tiefer in die Jackentaschen vergraben, alleine durch die Straße. In den meisten Häusern brennt bereits die Deckenbeleuchtung und spendet goldenes Licht. Jetzt nur noch den kleinen Anstieg die Kirchstraße hinauf bewältigen und rechts wieder hinunter, dann ist sie wieder in ihrem geliebten kleinen Tal. Dreiviertel schlägt die Kirchenuhr. Elli vernimmt ihren tiefen Schlag und atmet tief durch.
Hier liegen auf dem linken Gehweg die letzten hartnäckigen Blätter des ausklingenden Jahres. Der erste Nachtfrost hat sie nun endgültig von ihren Bäumen gelöst und der Wind fegt sie wirbelnd zu großen Haufen zusammen. Elli stapft extra durch die Blätter, um ihr Rascheln zu hören.
Sie liebt den Herbst mit seiner einzigartigen, bunten Farbenpracht. Müßiggang stellt sich ein, alles wird ruhiger. Die Tage werden kürzer und die Nächte länger. Die aktive Zeit der Ausflüge an den Baggersee und die geselligen Grillpartys sind vorbei. Es ist dafür zu kalt geworden.
Auch im Garten ist alles abgeerntet. Nur die Beete muss Hans noch einmal umgraben.
Im Tal ist es merklich ruhiger geworden, die Besucherströme zur Burg sind jetzt endgültig verebbt, die Burg geschlossen. Elli ist gefühlt höchstens zwanzig Minuten unterwegs und doch froh, dass sie sich überhaupt dazu aufgerafft hat. Ihre Strecke ist insgesamt drei Kilometer lang.
Sie ist die Route mit dem Auto abgefahren um zu wissen, wie lang sie ist. Wenn sie all diesen Sportexperten glauben darf, sind das die drei Kilometer, die zu einer gesunden Lebensweise beitragen. Für diese Erkenntnis verdienen diese Fitnesspäpste auch noch horrende Summen.
Die drei Kilometer befreien sie an diesem späten Nachmittag endlich von den lästigen Zahlen, die ihr immer noch im Kopf herumschwirren, und ihre Figur freut sich sicherlich ebenfalls.
Die Wechseljahre setzen der nämlich ganz erheblich zu und peppen sie bereits mit kleinen Michelin-Röllchen auf. Furchtbar sieht das aus. Was hat sie schon alles gegen diese widerlichen Röllchen unternommen?
Erst hat sie wochenlang mehrere Eiweißshakes, die nach Tapetenkleister schmecken, getrunken. Nicht, dass sie weiß, wie Tapetenkleister schmeckt, doch kann sie sich dieses Geschmackserlebnis aufgrund der widerlichen Shakes lebhaft vorstellen. Auch hat sie Trennkost zelebriert, Kalorien gezählt und am Schluss der ganzen Prozedur einfach tagelang gar nichts mehr gegessen.
Das Einzige, was in dieser Zeit hundertprozentig geschrumpft ist, ist ihr Geldbeutel gewesen – und die gute Laune. Von Hans’ Laune ganz zu schweigen. Die ganze Ernährungsumstellerei hat ihn furchtbar genervt und dazu ist er ungenießbar, wenn er nicht satt wird.
»Hach ja«, Elli grinst, als sie an die Zeit zurückdenkt. »Mit seiner ›Ich armer Mann bekomme nichts mehr zu essen und werde immer dünner‹-Miene ist er durch das Haus gelaufen.« Elli hegt sogar den Verdacht, dass er in ihren Abnehmphasen in seinen Mittagspausen an eine Imbissbude gefahren ist, um seine Ration an Kalorien aufzufüllen, damit nicht noch seine Hose anfängt, zu rutschen.
Erst an dem Abend, an dem er von ihr wieder eine ganz normale Mahlzeit mit allem Pipapo gekocht bekommen hat, hat er sie angestrahlt und laut »Halleluja« ausgerufen. Dabei hat er sich so über seinen Teller hergemacht, als hätte er wochenlang gar nichts mehr zu essen bekommen.
Sie geht nah am Bach entlang und ihr wird’s langsam kalt.
November eben. Elli wünscht sich jetzt ihre wattierte Jacke herbei. Diese wollte sie auch zuerst anziehen, hat sich jedoch für die dünnere entschieden. Der erste Gedanke ist wie immer der beste. Die Hände tief in die Taschen der viel zu dünnen Jacke vergraben, führt sie ihr Heimweg entlang der Häuserreihe zurück.
Auf der anderen Seite steht lediglich eine alte große Industrieanlage. Diese Industrieanlage ist vor langer Zeit einem verheerenden Hochwasser zum Opfer gefallen und steht seitdem still. Sie ist Ende des achtzehnten Jahrhunderts nach Vorbildern vieler englischen Industrieanlagen gebaut worden.
Für die Fabrikarbeiter entstand in unmittelbarer Nähe ein zusätzliches Wohnhaus, damit die Arbeiter möglichst dicht bei ihrer Arbeitsstelle wohnen konnten. Damit schlug der Unternehmer zwei Fliegen mit einer Klappe, denn er konnte bei erhöhter Auftragslage schnell auf seine Arbeiter zurückgreifen und sie zu mehr Arbeitsstunden ausnutzen. Viele Menschen verdienten hier unter erschwerten Bedingungen vom Ende des achtzehnten bis zum Ende des zwanzigsten Jahrhunderts ihr täglich Brot.
Dies ist nur noch Geschichte. Eine Geschichte, wie das Märchen von Dornröschen. Seit mehr als zwanzig Jahren wächst das große Gebäude mit Unkraut und wilden Dornenhecken zu. Letztere sind mittlerweile so hoch, dass Elli bei ihrem Anblick ins Träumen gerät. Es sieht nach einem verwunschenen großen, alten Gebäude aus, nur, dass es kein Schloss ist.
Als nach so vielen Jahren des Stillstands zwar kein Prinz, aber immerhin eine Genossenschaft für regenerative Energie das alte Gebäude wachküssen wollte, waren viele umweltbewusste Bewohner des Ortes vor Freude aus dem Häuschen.
Endlich passierte mal was mit dem alten Kasten. Viele interessierte Bürger unterstützten die Genossenschaft, die mit Wasserkraft eigenen Strom erzeugen wollte.
Auch diese alte Fabrik hatte mithilfe von Turbinen in ihrer Glanzzeit ihre eigene Elektrizität erzeugt und somit ihre Spinnerei, Weberei und Färberei betrieben. Und genau dort wollten die jungen Techniker der Energiegenossenschaft mit einer neuen Wasserkraftanlage Strom erzeugen. Nicht nur, dass das Fabrikgebäude davon profitiert hätte, nein, sogar der ganze Ort wäre mit umweltfreundlicher Energie versorgt worden.
Leider machten alle die Rechnung ohne den Besitzer und seine Pächter.
Nach wenigen Monaten mühseliger Arbeit und Schufterei stellte sich leider heraus, dass das anfänglich gemeinnützige Projekt doch der Profitgier der Entscheider zum Opfer fiel. Danach nahm die Genossenschaft Abstand von diesem Projekt.
Fazit: Investor weg und Helfer weg. Sollten der Besitzer und die Pächter nun selbst nach einem neuen Investor suchen. Es interessiert im Ort nach diesem unschönen Ende sowieso keine Menschenseele mehr, wie es mit der alten Ruine weitergehen wird. Elli interessiert es erst recht nicht. Wenn sie bloß daran denkt, wie ihr Hans und ihr Sohn monatelang mit viel Herz und Verstand bei der Sache waren und auch noch viel Geld in diese Wiederbelebungsversuche gesteckt hatten, alles umsonst.
All diese Mühe ist zum Schluss für die Katz gewesen. Wenn Elli an die Zeit zurückdenkt, könnte sie dem einen dieser Pächter auf die andere Wange auch noch eine Ohrfeige verpassen. Eine Ohrfeige fing er sich nämlich für sein unfaires Verhalten, und die nimmt ihm keiner mehr weg.
Vergessen wird sie diese Episode nicht, aber der Mittelpunkt im Weltgeschehen ist sie auch nicht und somit ist das Thema für Elli endgültig abgehakt.
Für einen kalten Tag ohne Niederschlag und Nebel ist es heute schon früh dunkel. Die Wettervorhersage vom Vorabend stimmt. Es ist noch nicht einmal sechzehn Uhr und die Straßenlaternen beginnen schon langsam, ihr diffuses Licht auf den Bürgersteig zu werfen. Ein seltsames Licht. Es schaltet sich automatisch über eine Sensoranlage bei Dämmerungsbeginn ein. Erst erstrahlt es hellgelb, dann wechselt es langsam in einen Rot-Orangeton über.
Genau dieser unirdische Farbton taucht plötzlich vor Ellis Augen am Himmel auf.
Immer im späten Herbst und Winter wiederholt die Natur dieses Phänomen. Nur sie bringt solch schöne Farbenspiele zustande. Sie lässt ein Licht erscheinen, als ob die Engel im Himmel mit dem Plätzchenbacken beschäftigt wären. Es erinnert Elli an ihre Kindheit, als ihre Welt noch ohne Furcht war.
In all den vielen Jahren ist dieses Naturschauspiel etwas Beständiges, etwas Beruhigendes und vor allem ein Schauspiel, das Elli immer und immer wieder berührt. Und vielleicht verfärbt sich der Himmel gerade deshalb wieder in dieses Lichtspiel, um ihr ein Stück Sicherheit und Zuversicht auf dem Nachhauseweg zu geben.
Dieser Gedanke kommt Elli auf einmal in den Sinn – vielleicht schickt der liebe Gott ihr gerade einen schönen Wegbegleiter, ein bezauberndes Abendrot.
In ihrer Kindheit hat ihr Vater oftmals die Geschichte von den Engeln erzählt, die Plätzchen backen, für alle Kinder dieser Welt. Elli hat damals an die Geschichte ihres Vaters geglaubt und konnte sich die Himmelsbäckerei in ihrer Fantasie lebhaft vorstellen.
Sie sah die Engel in ihren langen weißen Kleidern emsig den Teig rühren und kneten. Sie waren auch im Gesicht bekleckert und wenn sie sich unbeobachtet fühlen, steckten sie sich schnell ein gebackenes Plätzchen in den Mund. Wie gerne wäre sie früher bei diesen Himmelswesen gewesen. Einfach in einer großen Schar goldlockiger und fröhlicher Bäckerinnen ein kleiner Engel sein.
Elli kann den Duft der Plätzchen auf ihrem Nachhauseweg förmlich riechen und trotz des kalten Windes wird ihr richtig warm ums Herz bei dieser schönen Erinnerung.
Das tut gut.
Langsam geht sie auf eine lange Kurve zu. Wie in all den Jahren zuvor ist dieser Wegabschnitt für sie mit einem tiefen Unbehagen verbunden. Auch heute kann sie dieses Gefühl nicht abschütteln. Egal, wie sehr sie sich seelisch für den Anblick wappnet, es überfällt sie jedes Mal, wenn ihre Schritte sie an ihrem Elternhaus vorbeiführen.
Tausendmal hat sie sich selbst gut zugeredet, damit dieses ungute Gefühl verschwindet, aber es hilft nicht. Das ungute Gefühl ergreift immer wieder von ihr Besitz. Ellis Herz klopft so wild, dass es schmerzt und ihr Atem geht in schnellen, abgehackten Stößen.
Im Nachhinein betrachtet ist das Unbehagen in den letzten Jahren immerhin ein kleines bisschen kleiner geworden, aber trotzdem immer noch so mächtig, dass sie diesen Bereich des Weges nicht gerne zu Fuß geht. Der kurze Augenblick des Friedens, der angenehme Traum beim Anblick des feuerroten Abendhimmels ist dahin.
Elli findet es selbst richtig unheimlich, wie dieser kleine Streckenabschnitt all ihre positiven Energien und Gedanken aus ihr heraussaugt und sie leer zurücklässt.
Wann immer sich die Möglichkeit ergibt, bevorzugt sie das Auto oder auch das Fahrrad, um schnell durch diesen Bereich hindurchzusausen. Hauptsache fort!
Jede andere Person würde womöglich den Kopf schütteln und ihr Verhalten als albern abtun. Auch könnte man Elli sogar deswegen für instabil oder für traumatisiert halten.
Ehrlich, sie war von jedem etwas, doch das wird nur eine Person verstehen, die Ähnliches erlebt hat. Außerdem spricht sie nicht über ihre Gefühle, die sie immer wieder im Bereich ihres Elternhauses empfindet. Muss sie ja auch nicht.
Elli sieht bereits die große Umspannstation des großen Energieversorgers und kurz dahinter die ersten Nussbäume. Seit man diese in den Siebzigerjahren nach Fertigstellung der Straßenkanalisation und der neuen Teerdecke entlang des Bürgersteigs gepflanzt hat, sind sie zu stattlichen Bäumen herangewachsen.
Im Frühjahr machen die herabfallenden Blüten die Straße rutschig, im Sommer bieten die Bäume kleine Schatteninseln, im Herbst sind sie der Treffpunkt aller Walnussliebhaber, denn ihre Nüsse sind groß und lecker. Nach der Ernte werfen die Bäume, wie auf Kommando, ihre welken Blätter ab. Diese können bei schlechtem Wetter dem Fußgänger ganz schön gefährlich werden. Deshalb nimmt ein netter älterer Herr, der ebenfalls in diesem Bereich wohnt, seinen Besen in die Hand und kehrt akribisch den Bürgersteig sauber.
Elli findet die Hilfsbereitschaft des alten Herrn wundervoll, zumal er dem Gemeindemitarbeiter somit ein gutes Stück Arbeit abnimmt. Er ist noch einer der wenigen noch verbliebenen Mitmenschen, die bei Problemen sofort mit anpacken. Zögerlich geht Elli die nächsten paar Meter weiter, und ihr Atem stockt. Sie versucht zu schlucken, aber ein dicker Kloß im Hals lässt es nicht zu. Ihre Hände sind schweißnass geworden und ihre Knie zittern leicht.
Sie ist vor ihrem Elternhaus angekommen.
Seit Elli es das letzte Mal betreten hat, scheint sich auf den ersten Blick nichts verändert zu haben. Äußerlich ist das vermutlich tatsächlich der Fall, nicht jedoch für Elli. Für sie hat sich alles verändert, seit sie nicht mehr darin willkommen ist.
Majestätisch steht es da in seiner ganzen Pracht.
Vor dem Haus immer noch ein Vorzeigegarten mit viel Wiese, umsäumt von all den Palmlilien, die ihr Vater in den Siebzigerjahren als kleine Ableger von irgendwoher mitgebracht hatte. Sie haben sich rasant vermehrt und sehen im Sommer mit ihren weißen, hohen Blütenständen sehr edel aus.
Mancher Spaziergänger bleibt deshalb stehen und bewundert die herrlichen Pflanzen.
An dem Tag, als ihr Elternhaus notariell in den Besitz ihres Bruders übergegangen ist, hat sie geweint, nicht weil ihr Bruder jetzt das Haus und die angrenzende Wiese voller Obstbäume besitzt, sondern weil mit diesem Tag auch etwas in ihr zu Ende ging.
Die Besitzübertragung ist das Ende eines Lebensabschnitts gewesen und hat sie gezwungen, ihre Jugend und die damit verbundenen Erinnerungen an dieses Elternhaus endgültig loszulassen.
Die Erinnerung an die Zeit, in der sie sich dort willkommen gefühlt hatte, fällt ihr heute schwerer denn je.
In den vergangenen sieben Jahren wurde der Garten, in dem ihr Vater liebevoll gewerkelt hat, von einer Behindertenwerkstätte aus der nahe gelegenen Kreisstadt gepflegt.
Im Frühjahr und auch im Herbst rollen die Gartenspezialisten aus dieser Werkstatt an und arbeiten unter der Aufsicht ihres Betreuers und auch Ellis Bruders wie die Wiesel.
Die vor Jahrzehnten angelegten Trockenmauern für den Rebenanbau sind von ihrem Vater nach Fertigstellung des Hauses gerodet und mit Obstbäumen und Sträuchern bepflanzt worden. Auch dieser extrem steilliegende Teil oberhalb des Hauses obliegt jetzt der regelmäßigen Pflege dieser karitativen Einrichtung.
Selten sieht Elli ihren Bruder dort arbeiten und wenn, dann trägt er dazu Handschuhe. Sogar zum Nüsseaufheben zieht er Handschuhe an, um sich seine gepflegten Hände nicht zu beschmutzen.
Meistens mäht er die Wiese und drückt dabei jedem Bekannten, der vorübergeht, ein Gespräch auf die Backe. Selbst die junge Nachbarin ist nicht vor ihm sicher. Sie geht sehr ungern vor die Haustür, wenn Ellis Bruder sich draußen aufhält. Dies hat sie Elli während des Besuchs eines Fußballspiels erzählt. »Ja«, denkt Elli, »mein Bruder ist schon immer eine penetrante Person gewesen und glaubt, ein Superadonis zu sein.«
Wie sich leider für sie schmerzlich herausgestellt hat, ist sie früher doch sehr naiv gewesen. Insbesondere wenn es um die Einschätzung ihrer Mutter und ihres Bruders gegangen ist.
Die beiden hatten schon vor dem Tod ihres Vaters ein fast symbiotisches Verhältnis zueinander, vor allen Dingen, wenn es darum gegangen ist, ihre egoistischen Interessen wahrzunehmen. Nur hat Elli dies damals nicht wahrgenommen.
Etwas langsamer, um nicht umzuknicken oder gar hinzufallen, geht sie weiter. Mit den Augen sucht und fixiert sie ihr nächstes Ziel und schafft es so, mühsam und beherrscht an ihrem Elternhaus vorbeizugehen. Als ihr Vater gestorben war hat ihre Mutter seinen Lieblingsplatz eingenommen.
Sein schöner alter Ohrensessel steht noch immer direkt hinter der Schiebetür und wird von der Gardine verdeckt. Sogar das eine oder andere Mittagsschläfchen hielt er darin, als er noch gelebt hat, und nun sitzt ihre Mutter in diesem Sessel und kann nun jeden Fußgänger und jedes Auto unbemerkt beobachten.
Wenn sie jetzt ausgerechnet in diesem Augenblick dort sitzt, möchte Elli ihr nicht noch zusätzlich einen Triumph gönnen, indem sie umknickte oder gar stolperte. Das wäre ihr persönlicher Albtraum. Ganz bewusst geht sie Schritt für Schritt langsam weiter, hoffend, dass alles gut bleibt.
Es kostet Elli jedes einzelne Mal enorme Anstrengung und oft wird ihr davon richtig schlecht. Kaum, dass Elli etwas Abstand zwischen sich und ihr Elternhaus gebracht hat, spürt sie, wie ihr Atem sich normalisiert und der Kloß im Hals sich auflöst. Die Anspannung fällt langsam von ihr ab und sie spürt, wie ihre Muskeln sich lösen.
Die nächste Rechtskurve ist kurz und läuft in eine lange Gerade aus. Dreihundert Meter schnurgerade nach vorne, die Elli in einem flotten Tempo zurücklegen kann. Froh, so gut an ihrem Elternhaus vorbeigekommen zu sein, geht sie beschwingt an der Metallbaufirma vorbei.
Auf dem Bürgersteig begegnet ihr Hermine, die beste Hobbybäckerin der Straße. Sie ist gerade dabei, mit ihrem Pudel Fridolin nach Hause zurückzukehren.
Elli spürt, wie sich ihr Gesicht beim Anblick der lieben Nachbarin zu einem Lächeln verzieht. »Guten Abend, Hermine!« Zumindest ein Teil der schlechten Laune, die sie angesichts ihres Elternhauses überkommen hat, weicht dank der freundlichen Frau von ihr. Sie beugt sich herunter und streichelt den Pudel.
»Oh, schönen Abend, Elli. Bei Fuß, Fridolin.« Hermine lächelt freundlich und der Pudel wedelt fröhlich mit dem Schwanz. »Wie geht es dir?«
Elli horcht in sich hinein. Ja, wie geht es ihr? Noch vor wenigen Metern hätte sie gesagt, dass sie sich hundeelend fühlt, aber dieses Gefühl ist inzwischen verflogen. »Es geht mir gut. Danke.«
Für einen kleinen Plausch mit ihr hat sie auf jeden Fall noch Zeit.
»Möchtest du einen Christstollen? Ich eröffne bald die Weihnachtsbäckerei bei mir zu Hause.« Fridolin gibt zustimmend kleine, glucksende Laute von sich.
Noch ehe Elli wirklich darüber nachdenken kann, hat ihr Kopf bereits genickt. Christstollen von Hermine sind einfach die besten weit und breit. »Ich nehme gleich zwei Stück. Aber bitte einen ohne Rosinen, die mag Johanna nicht so recht und es wäre schade, wenn das Kind deswegen auf Stollen verzichten müsste.«
Hermine lacht. »Natürlich. Das gute Kind soll ja auch etwas Köstliches zur Adventszeit haben. Dann backe ich für sie ganz besonders viel Marzipan und Mandeln rein.«
»Du bist ein Schatz.« Elli lächelt sie dankbar an. »Aber für mich bitte ganz klassisch mit Zitronat und Rumrosinen, ja? Aber Hauptsache, Johanna kommt auch in den Genuss von etwas so Gutem wie deinem Christstollen.«
Derweil springt der Pudel vor lauter Übermut an Elli rauf und runter, um ein Leckerli zu erhaschen. Doch heute trägt sie eine andere Jacke und hat dabei vergessen, den Beutel mit den Hundekeksen umzupacken. Der arme Kerl macht die tollsten Sprünge nach ihren Keksen.
»Tut mir leid.« Elli tätschelt seinen Kopf. »Heute muss ich dich leider enttäuschen. Aber das nächste Mal habe ich wieder etwas ganz Feines für dich dabei, ja?«
Die Sprünge des Pudels lassen nach, das kluge Tier hat sie offensichtlich verstanden.
Während des Plauschs mit Hermine hat der Pudel sie allerdings vor lauter Freude mit seiner langen Laufleine eingewickelt, sodass sie sich erst mal lachend befreien muss.
Hermine verspricht, sich zu melden, sobald die Christstollen fertig gebacken sind, und wünscht ihr und ihrem Mann noch einen schönen gemütlichen Abend.
Elli geht auf dem Bürgersteig weiter, der jetzt direkt am Bach entlangführt. Der Bach ist hier viel wilder, da kleine und große Hinkelsteine für leichte Strudel sorgen. Auch das Flussbett ist hier viel schmaler als im weiteren Verlauf des Baches.
Eine steil abfallende Uferbefestigung ist dort schon vor Jahren angelegt worden. Dicke, schwere Basaltsteine und Bruchsteinblöcke hat man für diesen Zweck herangefahren und mit großem Gerät in der Bachböschung aufgestapelt. Mit den Jahren haben die großen Steine teilweise Moos angesetzt und zwischen ihnen lugt Topinambur hervor, eine wilde Sonnenblume.
Die grobe Befestigung wirkte auf sie und viele Bewohner der Straße so beängstigend, sodass sie lieber zu Fuß die viel befahrene Straße nehmen, statt den Bürgersteig zu benutzen.
Laut der damaligen Berechnung der Straßenbaubehörde soll man angeblich aufgrund des Neigungswinkels aber nicht direkt ins Wasser fallen.
Wie beruhigend für denjenigen, der fällt. Und an das alljährliche Hochwasser haben die Behörden bei ihrer Planung überhaupt nicht gedacht. Nachträglich sind vor einigen Jahren Hecken und Haselnusssträucher entlang dieser groben Uferbefestigung gepflanzt worden, die von ihrem Hans einmal im Jahr in Form geschnitten werden. Vereinzelt sind Walnussbäume dazwischen angepflanzt, doch diese Nüsse fallen meistens buchstäblich ins Wasser.
Allmählich wird es dunkler. Elli kommt auf ihrem Weg an der alten Holzbrücke vorbei, die ihren Freunden von der anderen Bachseite gehört und alljährlich in liebevoller Arbeit und mit viel Stöhnen in einem neuen, kräftigen Rot neu gestrichen wird.
Die Kleingartenbesitzer, die zu ihren Gärten auf der anderen Bachseite wollen, pilgern zu jeder Tages- und Nachtzeit ebenfalls über die Brücke, um zu säen, zu pflanzen, zu gießen oder zu ernten. Deshalb reibt sich die rote Farbe ständig ab und jedes Jahr geht die Streicherei ihrer Freunde mit viel Brimborium wieder von vorne los. Außerdem lieben es Wanderer und Jugendliche auf Schulausflügen, sich in lässigen Posen auf ihr fotografieren zu lassen. Noch etwas, das nicht gerade zur Haltbarkeit der Farbe beiträgt.
Die Brücke wird vorsorglich bereits zwei Tage vorher für die ganze Aktion von Ellis Freundin, einer freischaffenden Künstlerin, gesperrt. Zusätzlich hängt sie noch ein von Hand gemaltes Plakat mit genauer Wegbeschreibung als Alternative auf, die für die Zeit der Brückensperrung zu den Gärten genutzt werden soll. Das ganze Plakat bekommt von ihr mit wenigen Strichen noch eine Skizze des Weges sowie die Initialen ihres Namens verpasst.
Elli schmunzelt bei dem Gedanken daran. Die Gartenfreunde sind allesamt sehr beschäftigte Rentner und jeder Umweg ist für sie eine Qual. Rentner haben doch bekanntlich nie Zeit, wird gemunkelt. Trotzdem respektieren sie die Arbeit ihrer Freundin und gehen grummelnd den längeren Weg zu den Gärten, nicht ohne sich über das Für und Wider dieser grässlichen Farbe lautstark über die Zäune ihrer Gärten hinweg auszutauschen.
Die Brücke allein ist schon einen Schnappschuss wert, zumal sie in unmittelbarer Nähe eines Wasserfalls errichtet worden ist. Im Sommer wimmelt es dort vor Touristen, die vor oder nach ihrer Burgbesichtigung die Schönheit des tosenden Wasserfalls einfangen wollen.
Elli träumt sich in die schöne Zeit zurück, als sie dort mit Freundinnen im tiefen Bereich oberhalb des Wasserfalls, geschwommen ist und dann in eine noch fernere Vergangenheit, damals, als sie noch sehr klein war und mit ihrem Vater zusammensaß und ihre Beine von dem großen Stein ins Wasser hat baumeln lassen.
Ihr Vater hat ruhig neben ihr gesessen und seine HB-Zigaretten geraucht, während er die Angelschnur fest im Blick behalten hat. Auch heute noch wird das Wehr an heißen Sommertagen von kleinen und großen Kindern zum Schwimmen genutzt.
Waren zwei oder drei Forellen im Eimer gelandet, ging es heim, um diese auszunehmen, in Mehl zu wenden und in Butter zu braten.
Diese Art der Zubereitung überließ ihr Vater gerne ihrer Mutter. Dazu gab es entweder die restlichen Kartoffeln vom Mittagessen oder einfach nur ein paar Scheiben Brot mit Butter. War das eine Delikatesse. Elli erinnert sich sehr gerne an diese Zeit zurück. Sie vermisste ihren Vater immer noch.
An diesem Abend begegnet Elli niemandem mehr auf diesem Wegstreckenabschnitt, weder Einheimischen noch Touristen. Die Burg hat bereits an Allerheiligen ihr großes Eingangstor geschlossen und öffnet erst wieder am Karfreitag des nächsten Jahres. Die Zeit nutzt der Burgverwalter für anfallende Renovierungsarbeiten, aber auch, um Zeit für sich und seine Familie zu haben. Außerdem braucht so ein altes Gemäuer ebenso eine Ruhepause für sich selbst.
Der Geräuschpegel, den die Deutschen, Engländer, Holländer, Chinesen, Japaner, die Amerikaner und Besucher viele anderer Nationalitäten tagtäglich produziert haben, kann sich in dieser Zeit der Ruhe aus den dicken Mauern verflüchtigen und einer tiefen, nichts spürenden Ruhe Platz machen.
Das Rauschen des nahe gelegenen Wasserfalls signalisiert ihr, dass sie in wenigen Minuten wieder zu Hause ist. Der Wasserfall, ein mehrere hundert Jahre altes Stauwehr, ist Zeitzeuge zweier Mühlenbetriebe, die schon Anfang des sechzehnten Jahrhunderts mit Wasserkraft die Mühlsteine angetrieben haben.
Die rote Brücke ihrer Freunde kam erst viele Jahre später hinzu, und dennoch liegen beide harmonisch nebeneinander.
Hier, oberhalb des Wasserfalls, fühlen sich auch die Enten quietschfidel. Mehrere Entenpärchen leben dort das ganze Jahr einträchtig miteinander.
Im späten Frühjahr liegen die geschlüpften Entenküken mit ihren Müttern zum Sonnenbaden auf der Wehrkrone. Der herausragende Felsbrocken bietet einen idealen Platz für die ersten Schwimmversuche.
Leider haben die Entenmamas jedes Jahr mehrere Küken zu beklagen, die der Gefräßigkeit vieler Raubtiere, die ebenfalls hier leben, zum Opfer fallen. Doch eine kleine Schar Küken überlebt Gott sei Dank und wächst heran, und die Bewohner der Straße füttern ihre Enten gerne mit Brot.
Die Küken wirken auf Elli jedes Jahr wie drollige kleine Federbälle und begeistern sie immer wieder aufs Neue.
Niemand begegnet ihr ...
Sie kommt nach einigen weiteren Schritten auf der Höhe des Wehrs an. Die Sichtverhältnisse sind nicht die besten, es dunkelt rasch und es wird zunehmend diesig um das Wasser herum, aber trotzdem ist irgendetwas anders als sonst. Etwas ist dort, was dort nicht hingehört. Die Wehrkrone ist nur bei starkem, mehrtägigem Regen überflutet. Ansonsten schaut immer ein Teil des Felsens heraus.
Irgendetwas hängt an diesem großen Felsen auf der Wehrkrone fest. Auf dem gegenüberliegenden Uferweg bemerkt Elli im aufsteigenden Dunst der Feuchtigkeit einen reglos stehenden Reiher, eine schmale silberne Silhouette in der Dunkelheit, fast wie ein Geistervogel.
Zwei Enten flattern plötzlich aufgeregt aus dem Wasser und fliegen weiter stromaufwärts.
Ruhe legt sich wieder trügerisch über den Bach. Eigentlich passiert hier nie etwas. Eigentlich.
Neugierig geworden reckte Elli sich über das festmontierte Eisengeländer am Ufer und späht hinüber zu dem Felsen.
Hier fehlt eine zusätzliche Straßenlaterne, stellt sie fest. Das ist ihr noch nie zuvor aufgefallen. Die Bäume am Wasserfall verschlucken beinahe das wenige Licht der weit entfernt stehenden Straßenlaterne nahezu vollständig.
Erlen und Weiden überspannen hier das Wehr wie eine Haube.
Elli spürt das Grauen in sich aufsteigen und ihr Herz wummert schmerzhaft in ihrer Brust.
Sie sieht genauer hin und erkennt eine im Wasser treibende Person. Sofort fangen ihre Gedanken an zu rasen und sie spürt Übelkeit in sich aufsteigen. Instinktiv kramt Elli ihr Handy aus der Tasche. Gleichzeitig versucht sie, über das Geländer zu klettern, und lässt dabei fast das Handy fallen. Hastig steckt sie es wieder in ihre Jackentasche zurück und schafft es mit etwas Akrobatik über das Geländer.
Vorsichtig beginnt sie den Abstieg die glitschige Böschung hinunter und hält sich dabei an den vertrockneten Balsaminen fest. Nur mühsam kommt sie vorwärts. Ihre Füße setzt sie dabei immer seitlich auf die unebenen Stellen, um einen festeren Stand beim Abwärtssteigen zu bekommen. Das nasse Gras macht es ihr dabei nicht leichter.
Endlich hat sie es geschafft und wieder festen Boden unter den Füßen.
Nun steht sie auf dem Anfang der Wehrkrone und greift wieder in ihre Jackentasche, um mit ihrem Handy einen Notruf abzusetzen. Vor Aufregung und Angst zittert ihr Handy so stark in ihrer Hand, dass sie den gespeicherten Notruf gar nicht drücken kann. Rasch steckt sie es wieder in ihre Jacke zurück und versucht, irgendwie zu der Person im Wasser zu gelangen. Lieber will sie erst einmal die Person vor dem Ertrinken retten, den Notruf kann sie später immer noch wählen.
Vorsichtig geht Elli in die Hocke und passt dabei auf, dass sie nicht das Gleichgewicht verliert. Sobald sie nah genug ist, streckt sie beide Arme nach der Person aus, um sie aus dem Wasser zu ziehen. Zumindest versucht sie es. Immer und immer wieder zieht sie an dem Menschen, schafft es jedoch nicht, ihn zu bewegen. Vorsichtig kniet sie sich auf das nasse Gestein, um einen besseren Halt zu haben, doch vergebens.
Die Person liegt weiterhin mit dem Gesicht im Wasser. Aus der Nähe erkennt Elli, dass sie eine dunkle Jacke trägt und recht groß und somit schwer ist. Trotzdem gibt sie nicht auf.
Bei jedem Versuch, die reglose Person umzudrehen, schwappt Wasser über ihre Beine und durchnässt ihre Jacke.
Schnell lassen Ellis Kräfte nach und sie muss sich eingestehen, dass sie nicht stark genug ist, um die Person zu drehen. Sie ist einfach zu schwer für sie. Mit beiden Händen versucht sie ein letztes Mal, wenigstens das Gesicht aus dem Wasser zu drehen. Selbst das gelingt ihr nicht. An irgendetwas hängt er – wieso denkt sie, dass die Person ein Mann ist? – unter Wasser fest.
»Lieber Gott«, denkt Elli, »warum ist der nur so schwer? Wasser treibt doch angeblich auf und macht alles viel leichter.«
Wenn sogar die Physik sie im Stich lässt, kann sie nur noch eins für die Person tun. Sie nimmt mit klammen Fingern ihr Handy wieder aus der Jackentasche und versucht, den Notruf abzusetzen. Wie durch ein Wunder klappt es beim ersten Versuch.
»Polizeiinspektion eins, Hauptwachtmeister Alfred Schmitt am Telefon. Was kann ich für Sie tun?«
Stockend, als sei Elli eine Schülerin der ersten Klasse, nennt sie ihren Namen und ihren Standort.
Polizist Schmitt fragte sie, ob sie verletzt sei.
Auf diese Frage hin reagiert sie nicht direkt, sondern muss sich einen Moment sammeln. »Nein, bin ich nicht«, keuchte sie hervor, »aber ich habe hier im Wasser einen Verletzen oder sogar Toten gefunden und kann ihn alleine nicht aus dem Wasser ziehen.« Sie erklärt ihm dann noch einmal ruhiger, wo genau sie sich befindet und schildert ihm die Situation inmitten des Bachs.
Der diensthabende Polizist wiederholt Ellis Angaben. »Bleiben Sie weiterhin so mutig, bis die Feuerwehr und die Polizei eintreffen. Ich habe die Rettungsleitstelle über Funk informiert. Sie werden bald zu Ihnen kommen«, sagte er mit seiner tiefen Stimme. »Sie legen nicht auf, ja? Ich spreche mit Ihnen, bis jemand bei Ihnen ist, damit Sie nicht allein sind.«
Ellis Herz pocht so stark gegen ihre Rippen, dass sie glaubt, es explodiere gleich. Ihr Kopf dröhnt.
Mittlerweile ist es stockdunkel auf der Wehrkrone und dem Felsen und Elli glaubt, vor Angst ohnmächtig zu werden. Die Kraft in ihren Armen lässt erschreckend schnell nach und trotzdem zieht sie mit dem Mut der Verzweiflung immer wieder mit einer Hand an dem Oberkörper, damit er sich vielleicht doch noch dreht.
»Sind Sie noch da?«, flüsterte Elli in den Hörer.
»Bitte bleiben Sie ganz ruhig, ich bin noch da«, antwortet der Beamte. »Es wird nicht mehr lange dauern und die Rettungskräfte sind bei Ihnen.«
Seine Worte dringen nur mühsam wie durch einen Schleier zu Elli durch. »Schrecklich, alles nur schrecklich«, denkt sie und die Angst lähmt sie zusätzlich.
Die nächste Straßenlaterne schickte nur noch einen Restschimmer durch den aufsteigenden Nebel über dem Wasser. Elli fühlt sich wie in einem alten Edgar-Wallace-Film, aber das sagt sie dem Polizisten nicht. Wie ein Mantra wiederholt sie nur immer und immer wieder, dass die Rettungskräfte sich beeilen müssen.
Und dann bricht die Verbindung plötzlich ab.
Mit voller Wucht kriecht die Kälte nun in ihre Knochen. Nass bis an die Oberschenkel kniet sie auf diesem verdammten Felsen und fühlte sich mutterseelenallein. Diese Hilflosigkeit ist neu für sie und mehr als beängstigend. »Ob die Person noch lebt? Kann das kalte Wasser die Herzfrequenz so herunterfahren, dass ein Mensch es trotzdem überlebt?«