Hetärengespräche - Lukian - E-Book

Hetärengespräche E-Book

Lukian

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Beschreibung

"Hetärengespräche" ist der Titel einer Sammlung von fünfzehn dialogischen Miniaturen des Lukian von Samosata, geschrieben wahrscheinlich nach 160 n. Chr. Die kleinbürgerliche Halbwelt Athens (Hetären, ihre Liebhaber, Nebenbuhlerinnen, Quacksalber, Matrosen) tritt in Alltagsdramen voller Sorgen, Sentimentalität und Komik auf, ihre Akteure reden die attische Gossensprache. Die voneinander unabhängigen Genreszenen drehen sich um den an eine andere Frau verlorenen Freund; um den Liebhaber, der womöglich heiraten wird; um einen ganzen Eifersuchtsreigen; um die syrische Zauberin, die das Objekt des Verlangens verliebt machen soll; um die Freuden der Homoerotik; um die Feinheiten des Hetärenmetiers und die Psychologie der Kundschaft; um die heimkehrenden angeblichen Kriegshelden; um die Philosophie, die liebesunlustig macht; um die Rückgewinnung eines untreuen Liebhabers; oder auch um den armen Matrosen, den seine Angebetete wegjagt, weil er immer nur Zwiebeln, Käse und Heringe schenkt.

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Hetärengespräche

Lukian

Inhalt:

Lukian – Biografie und Bibliografie

Hetärengespräche

Lukians Traum

Nigrinus

Timon

Der Hahn

Der Lügenfreund

Ikaromenippus

Der Parasit

Das Schiff

Das Gastmahl

Der Verkauf der philosophischen Sekten

Der Fischer

Prometheus

Göttergespräche

Meergöttergespräche

Charon

Totengespräche

Die Überfahrt

Die Höllenfahrt des Menippus

Jupiter Tragödus

Die Götterversammlung

Der überwiesene Jupiter

Hetärengespräche, Lukian

Jazzybee Verlag Jürgen Beck

Loschberg 9

86450 Altenmünster

ISBN: 9783849630973

www.jazzybee-verlag.de

[email protected]

Lukian – Biografie und Bibliografie

Ausgezeichneter griech. Schriftsteller und eklektischer Philosoph, geb. um 125 n. Chr. zu Samosata in der syrischen Provinz Kommagene, gest. um 180, widmete sich zu Antiochia rhetorischen Studien und erwarb sich an verschiedenen Orten als Sachwalter ein so bedeutendes Vermögen (das er im Alter wieder verlor), daß er sein übriges Leben meist zu Athen in Unabhängigkeit als Schriftsteller zubringen konnte. In seinen sonst durchweg in dialogischer Form verfaßten satirischen Schriften, die ihm den Namen des »griechischen Voltaire« verschafft haben, und deren mehr als 80 (obschon nicht alle echt) erhalten sind, erscheint er als Feind der Populärmythologie und des traditionellen Kultus, der theoretischen Philosophie und des unwürdigen Lebens der damaligen Philosophen; ferner als sarkastischer Kritiker des Aberglaubens und der mystischen Schwärmerei seiner Zeit, der Ausartungen in der Literatur, in der Erziehung wie in den Sitten. Seine Richtung ging auf das Praktische, so daß er Neigung zu den Kynikern, später zu den Epikureern zeigte. Die Editio princeps seiner Werke erschien Florenz 1496. Spätere Ausgaben lieferten unter andern: Jacobitz (Leipz. 1836–41, 4 Bde.; Textausgabe 1852–54, 3 Bde.; Auswahl 1862 ff.), Dindorf (Par. 1840; kleinere Ausg., Leipz. 1858–59, 3 Bde.), Bekker (das. 1853, 2 Bde.), Fritzsche (Rost. 1860–82, Bd. 1–3) und Sommerbrodt (Berl. 1888–99, 3 Bde.; Auswahl, 3. Aufl., das. 1893). Von deutschen Übersetzungen sind die von Wieland (Leipz. 1788–91, 6 Bde.), Pauly (Stuttg. 1827–32, 15 Bde.; Auswahl von Teuffel, das. 1854) und Fischer (2. Aufl., Berl. 1884 ff.) zu erwähnen. Vgl. Jacob, Charakteristik Lucians von Samosata (Hamb. 1832); K. F. Hermann, Charakteristik Lucians (in den »Gesammelten Abhandlungen«, Götting.1849); J. Bernays, Lucian und die Kyniker (Berl. 1879); Croiset, Essai sur la vie et les œuvres de Lucien (Par. 1882).

Hetärengespräche

Lukians Traum

Ich hatte vor kurzem aufgehört, die öffentlichen Schulen zu besuchen, und das Alter, wo der Knabe sich in den Jüngling verliert, beinahe erreicht, als mein Vater mit seinen Freunden zu Rate ging, was für eine Profession er mich lernen lassen sollte. Die meisten erklärten sich sogleich gegen das Studieren; es erforderte, meinten sie, große Mühe, lange Zeit und nicht geringen Aufwand; es gehörten schon ziemlich glänzende Glücksumstände dazu; die unserigen wären gering und bedürften vielmehr einer schleunigen Nachhülfe. Wenn ich ein Handwerk erlernte, so würde ich mich gar bald durch meine Kunst selbst ernähren können und nicht nötig haben, so ein großer Bursche als ich schon sei, des Vaters Brot zu essen; ja es würde nicht lange währen, so würde ich meinem Vater selbst zum Troste sein und ihn durch meinen Erwerb unterstützen können.

Es kam also nur noch auf den zweiten Punkt der Beratschlagung an, nämlich welche unter den mechanischen Professionen die beste, d.i. einem freigebornen Menschen anständig und leicht zu erlernen sei, die wenigsten Anstalten und Kosten erfodere und gleichwohl ihren Mann ernähre. Als nun jeder, je nachdem er Kenntnis oder Erfahrenheit hatte, der eine diese, der andere jene herausstrich, wandte sich mein Vater an meinen ebenfalls gegenwärtigen Mutterbruder, der für einen stattlichen Bildhauer und unter den Steinmetzen unsrer Stadt unstreitig für den geschicktesten passierte. »Es wäre nicht erlaubt«, sagte mein Vater, »in deiner Gegenwart einer andern Kunst den Vorzug zu geben; nimm also den Jungen da mit dir nach Hause, und mach uns einen tüchtigen Steinmetzen und Bildhauer aus ihm; an Anlage fehlt es ihm nicht, wie du weißt.« Er bezog sich deshalben auf gewisse Spielwerke, womit ich mich als Knabe abgegeben hatte. Denn sobald ich von meinen Lehrern abgefertigt war, kratzte ich allenthalben Wachs zusammen und machte Ochsen, Pferde, ja, Gott verzeihe mir's! sogar Menschen, und recht ähnlich, wie es meinen Vater dünkte. Dies Kinderspiel, worüber ich manche Ohrfeige von meinen Schulmeistern bekommen hatte, wurde jetzt als ein Beweis meines natürlichen Berufs geltend gemacht; und man faßte die besten Hoffnungen, daß ich es mit diesem plastischen Naturtriebe in kurzem sehr weit in der Kunst bringen würde.

Sobald man also einen glücklichen Tag zum Antritt meiner Lehrjahre gefunden zu haben glaubte, ward ich meinem Oheim übergeben, ohne daß ich mir's eben sonderlich leid sein ließ: im Gegenteil, ich stellte mir's als etwas sehr Lustiges und das mir ein Ansehen unter meinen Kameraden geben würde, vor, Götter zu machen und allerlei kleine Bilderchen für mich selbst und andere, denen ich wohlwollte, zu fertigen.

Inzwischen gab mir mein Oheim, wie es bei Anfängern gebräuchlich ist, ein Grabeisen in die Hand und befahl mir, auf einer am Boden liegenden Tafel sachte damit hin und wider zu fahren: er fügte noch den alten Weidspruch hinzu:

»Wohlangefangen ist halb getan« und überließ mich nun meiner eigenen Geschicklichkeit. Weil ich aber aus Unerfahrenheit zu hart aufdrückte, ging die Tafel entzwei. Darüber entrüstete er sich, griff nach einer neben ihm liegenden Peitsche und gab mir damit einen so unfreundlichen Willkommen, daß mir alle Lust zur Kunst auf einmal verging. Ich lief davon, kam heulend und weinend in das väterliche Haus zurück, erzählte die Geschichte von der Peitsche, wies meine Striemen vor und erhob über die Grausamkeit meines Oheims große Klage; gewiß hätte er aus bloßem Neide so mit mir verfahren, sagte ich, weil er besorgte, ich möchte es ihm dereinst in der Kunst zuvortun. Meine Mutter wurde darüber sehr aufgebracht und machte ihrem Bruder die bittersten Vorwürfe. Indessen kam die Nacht heran. Ich brachte sie in großer Betrübnis und beständigem Nachdenken über mein Schicksal zu, bis ich endlich mit tränenvollen Augen einschlummerte.

So weit, meine Freunde, ist freilich meine Erzählung nichts als ein läppisches Knabengeschichtchen: aber was nun folgt, ist schon weniger unbedeutend und verdient eure ganze Aufmerksamkeit. Es erschien nämlich, mit Homer zu reden,

– – im Schlaf ein göttlicher Traum mir

durch die ambrosische Nacht – –

und zwar so deutlich und lebhaft, als ob ich wachte; dergestalt, daß nach langer Zeit die Bilder dessen, was ich gesehen, noch in meinen Augen sind und die Worte, die ich hörte, noch in meinen Ohren klingen. Zwei Frauenspersonen faßten mich zu gleicher Zeit bei den Händen und zogen mich jede mit solcher Gewalt und Heftigkeit auf ihre Seite, daß sie mich, weil keine die Schande haben wollte nachzugeben, beinahe darüber in Stücken zerrissen hätten. Bald wurde die eine Meister und hatte mich fast ganz, bald darauf fand ich mich wieder in den Armen der andern. Beide verführten ein gewaltiges Geschrei gegeneinander: »Er ist mein«, rief die eine, »ich habe ein älteres Recht an ihn und laß ihn mir nicht nehmen!« – »Er geht dich nichts an«, schrie die andre, »du bemühst dich vergeblich, ihn von mir abzuziehen.« Die erstere hatte ein arbeitsames und männisches Ansehen, ihre Haare waren schmutzig, ihre Hände voller Schwielen, ihr Rock hoch aufgeschürzt, ihre ganze Person mit Kalk bestäubt; kurz, sie sah geradeso aus wie mein Oheim, wenn er Steine polierte. Die andere hingegen war eine Frau von feiner Gesichtsbildung, von edelm Anstand und zierlich gekleidet. Endlich wurden sie zu meinem Glücke einig, es auf mich selbst ankommen zu lassen, bei welcher von beiden ich bleiben wollte. Zuerst fing also jene derbe und männische zu sprechen an:

»Lieber Sohn«, sagte sie, »ich bin die Bildhauerkunst, der du dich gestern zu widmen anfingst und die schon von langem her in deinem Hause einheimisch und, sozusagen, deine Blutsverwandte ist. Denn dein Großvater (hier nannte sie mir den Vater meiner Mutter) war ein Steinmetz, und deine beiden Mutterbrüder stehen unter den Unsrigen im Ruf einer vorzüglichen Geschicklichkeit. Wenn du dich nun der Possen und Lappalien dieser Närrin hier entschlagen und dich mir ergeben willst, so verspreche ich dir dafür ein gutes Auskommen und starke Schultern; die Plagen des Neides sollen dir was Unbekanntes bleiben; du wirst niemals nötig haben, dein Vaterland und deine Familie mit dem Rücken anzusehen; der Ruhm wird dich in deiner eigenen Heimat aufsuchen, und du wirst allgemeinen Beifall nicht durch Worte, sondern durch Werke erhalten. Übrigens stoße dich ja nicht an meinem schlichten Aufzug und dieser schmutzigen Kleidung! Jener große Phidias, der uns den Jupiter sehen ließ, Polykletus, dem seine Juno so viel Ehre macht, der berühmte Myron, der bewunderte Praxiteles haben keinen andern Anfang gehabt, wiewohl sie nun die Kniebeugungen der Menschen mit den Göttern teilen. Wenn du also ihresgleichen würdest, wie könnte es dir fehlen, einen Namen in der Welt zu erhalten? Du würdest sogar deinen Vater beneidenswürdig machen und die Augen der Welt auf deine Vaterstadt ziehen.«

Dieses und noch mehr, wovon ich das meiste wieder vergessen habe, brachte die Kunst, stotternd und in einer pöbelhaften Provinzialmundart, vor. Die gute Frau ließ sich's recht eifrig angelegen sein, mich zu überreden, und konnte lange das Ende nicht finden. Da sie aber doch endlich aufhören mußte, fing die andre folgendermaßen an:

»Ich, mein Sohn, bin die Gelehrsamkeit. Auch in mir siehst du eine Person, deren Gesichte dir nicht fremd ist, wiewohl noch viel daran fehlt, daß du mich völlig kennen solltest. Das beste, was du zu gewarten hättest, wenn du ein Steinmetz würdest, hast du von dieser hier vernommen: nämlich, am Ende würdest du doch nichts mehr sein als ein Handarbeiter, der die ganze Hoffnung seines Fortkommens in der Welt auf seine Hände gründet, ohne Ansehen, wenig besser als ein Taglöhner bezahlt, niedrig und beschränkt in deiner Denkensart, eine unbedeutende Person im gemeinen Wesen, gleich unvermögend, dich deinen Freunden nützlich und deinen Feinden furchtbar zu machen, kurz, wie gesagt, ein bloßer Handwerksmann, einer vom großen Haufen, der sich vor jedem Vornehmern ducken und schmiegen muß, vor jedem Sprecher Respekt hat, ein wahres Hasenleben lebt und immer die Beute des Mächtigern ist. Gesetzt auch, du würdest ein Phidias oder Polykletus und hättest eine Menge bewundernswürdiger Werke gearbeitet: so wird zwar jeder, der sie siehet, deine Kunst erheben, aber gewiß keiner von allen, solange er bei Verstand ist, deinesgleichen zu sein wünschen. Denn wie groß du auch in deinem Fache sein möchtest, wirst du doch immer mit den Leuten, die ihr Leben mit ihren Händen gewinnen müssen, in eine Klasse geworfen werden. Folgest du hingegen mir, so werde ich dich vor allen Dingen mit allem, was die edelsten Menschen der Vorwelt Bewundernswürdiges gesprochen, getan und geschrieben haben, und überhaupt mit allem, was wissenswürdig ist, bekannt machen; vorzüglich aber werde ich dein edelstes Teil, dein Herz, mit Mäßigung, Gerechtigkeit, Frömmigkeit, Sanftmut, Billigkeit, Klugheit und Standhaftigkeit, mit der Liebe zum Schönen und mit Aufstreben nach jeder Vollkommenheit zieren; denn diese Tugenden sind der Seele wahrer unvergänglicher Schmuck. Es soll dir nichts verborgen sein, was ehemals Denkwürdiges geschah, noch was jetzt geschehen muß; ja, du wirst durch mich sogar das Künftige vorhersehen: mit einem Worte, ich will dich in allen göttlichen und menschlichen Dingen, und zwar in kurzer Zeit, vollständig unterrichten. Und nun höre auch, was die Folgen davon sein werden. Du, der nämliche arme Schlucker, der du jetzt bist, eines Mannes ohne Namen Sohn, der noch in Zweifel ist, ob er sich nicht einer so unedlen Kunst ergeben wolle, wirst in kurzem von jedermann beneidet und mit Eifersucht angesehen werden; denn du wirst überall geehrt und gepriesen und als ein Mann von den schätzbarsten Talenten, selbst von denen, die durch Geburt und Reichtum über die andern hervorragen, geachtet werden. Du wirst nicht schlechter als du mich hier siehest gekleidet sein, und man wird dir nicht nur in deinem Vaterlande die Oberstelle einräumen, sondern, wenn du verreisest, wirst du auch im Auslande weder unbekannt noch ohne Ansehen sein; denn ich will dich mit solchen Kennzeichen versehen, daß jeder, der dich erblickt, seinen Nachbar anstoßen und mit dem Finger auf dich weisend sagen wird: das ist der berühmte...! Sobald deinen Freunden oder der ganzen Stadt irgend etwas Wichtiges und Bedenkliches zustößt, werden alle Augen auf dich gerichtet sein; und wenn du zum Reden auftrittst, wird dir die Menge mit weit offnem Munde zuhören und dich anstaunen und wegen der gewaltigen Beredsamkeit dich und den Vater, der einen solchen Sohn aufgestellt hat, selig preisen. Die gemeine Sage, daß einigen unter den Menschen die Unsterblichkeit zuteil werde, will ich an dir wahr machen; denn wenn du auch aus dem Leben scheidest, wirst du doch nicht aufhören, unter den Gelehrten zu wohnen und mit den edelsten Menschen Umgang zu pflegen. Denke an jenen großen Demosthenes, wessen Sohn er war, und welch einen Mann ich aus ihm gemacht habe! War nicht Äschines der Sohn einer Schellentrommelschlägerin? Gleichwohl brachte ich ihn soweit, daß ein König wie Philippus sich um seine Gunst bewarb. Sokrates selbst war, wie du, bei dieser Bildhauerkunst aufgewachsen; aber, weil er in Zeiten das Bessere ergriff und von ihr zu mir überging, hörst du, wie ihm von allen Menschen lobgesungen wird? Und so große und vortreffliche Männer, denen du an Weisheit und Tugend gleich werden könntest – ein Leben voll Ansehen, Ruhm und Ehre, kurz alle die Vorteile, die dir bei mir nicht fehlen können, die schöne Figur, die du in der Welt machen, die allgemeine Achtung und Bewunderung, die du dir durch deine Beredsamkeit und Wissenschaft erwerben würdest, alles das wolltest du von dir stoßen, um in einen armseligen groben Kittel zu kriechen, einen sklavenmäßigen Anstand anzunehmen, Hebel und Grabeisen und Schlägel und Meißel in den Händen zu führen, immer den Kopf auf deine Arbeit gebückt mit Leib und Gemüt am Boden zu kleben und in jeder Betrachtung ein niedriger Mensch zu sein, der nie den Mut hat, sein Haupt wie ein freier Mann zu tragen und wie ein freier Mann zu denken, sondern, im Gegenteil, über dem Bestreben, seinen Werken Ebenmaß und Wohlgestalt zu geben, an nichts weniger denkt, als diese Eigenschaften an sich selbst zu zeigen, und also im Grunde weniger geachtet wird als die Steine, die er bearbeitet.«

Sie war im Begriff noch fortzusprechen, als ich, ohne das Ende ihrer Rede abzuwarten, aufsprang, jener unansehnlichen Taglöhnerin den Rücken kehrte und mich voller Freuden der Gelehrsamkeit in die Arme warf: eine Entschließung, wozu die Erinnerung an die Peitsche, womit mir jene gleich am ersten Tage unserer Bekanntschaft einen so unfreundlichen Einstand gegeben hatte, vielleicht das meiste beitrug. Die Verlassene geriet über die Schmach, die sie von mir zu erleiden glaubte, in die heftigste Gemütsbewegung; sie schlug die Hände zusammen und knirschte mit den Zähnen; ja zuletzt erstarrte sie wie eine zweite Niobe und ward in einen Stein verwandelt; eine Begebenheit, deren Unwahrscheinlichkeit euch meine Erzählung nicht verdächtig machen muß; denn ihr wißt, die Träume sind Wundertäter.

»Es ist nun Zeit«, sagte die andere, indem sie mich freundlich ansah, »daß du für diese gerechte Entscheidung meiner Sache von mir belohnet werdest. Wohlan! komm und besteige diesen Wagen (indem sie dies sprach, stand ein Wagen neben ihr, mit geflügelten Pferden, die dem Pegasus glichen, bespannt), und du sollst sehen, wie viele sehenswürdige Dinge dir unbekannt geblieben wären, wenn du dich nicht für mich erklärt hättest.« Ich stieg ein, und sie ergriff die Zügel und kutschierte; wir fuhren durch die Lüfte empor, und indem wir so vom Aufgang bis zum Niedergang dahinfuhren, sah ich eine unendliche Menge Städte, Völker und Reiche unter mir, während ich überall, wie ein andrer Triptolemus, im Vorbeiziehen etwas auf die Erde herabstreute. Was es eigentlich war, erinnere ich mich nicht mehr; nur dies weiß ich noch, daß die zu mir aufschauenden Leute Freude darüber bezeugten und mir überall, wo ich vorbeiflog, Lob und gute Wünsche nachriefen.

Nachdem sie nun alle diese Dinge mir, und hinwieder jenen dankbaren Seelen mich gezeigt hatte, brachte sie mich wieder an Ort und Stelle; aber nicht mehr in meinem vorigen Aufzuge: denn mir deuchte, ich käme in einer prächtigen Kleidung zurück. Es schien mir auch, als ob sie meinen Vater, der dabeistand und mich erwartete, auf die stattliche Figur, worin ich zurückkam, aufmerksam machte und ihm etwas darüber sagte, daß er mich beinahe so übel beraten hätte. – Und dies ist es, was mir von dem Traumgesichte noch erinnerlich ist, das sich mir in meiner ersten Jugend darstellte und vermutlich ein bloßes Werk der heftigen Gemütsbewegung war, in welche mich die Furcht vor der Peitsche meines Oheims gesetzt hatte. Indem ich dies erzähle, höre ich jemand sagen: Nun, bei Gott! das nenn ich einen langen und advokatenmäßigen Traum! – Vermutlich war es ein Wintertraum, setzt ein anderer hinzu, wenn die Nächte am längsten sind – oder vielleicht gar dreinächtig wie Herkules, sagt ein dritter. Aber was kam ihn an, daß er uns für gut genug hält, solchen Possen zuzuhören? Uns so ein kindisches Nachtstückchen von einem vor Alter grau gewordenen Traume zu erzählen! Wahrlich, eine frostige Unterhaltung! Oder sieht er uns etwa gar für Traumdeuter von Profession an? – Das nicht, mein Freund! – Als Xenophon einst seinen Traum erzählte, wie ihm vorgekommen sei, als höre er einen plötzlichen Donnerschlag und der Blitz falle in sein väterliches Haus usw. (ihr kennt die Stelle), da war seine Meinung wohl auch nicht, seine Zuhörer, in einem Augenblicke, wo sie den Feind im Nacken hatten und ihre Sachen in einem verzweifelten Zustande waren, mit einer zur Kurzweil erdichteten Posse zu unterhalten, sondern seine Erzählung hatte einen nützlichen Zweck. Ebenso habe auch ich bei Erzählung meines Traumes keine geringere Absicht, als junge Leute dadurch zum Studieren und zu allem, was das Schönste und Edelste im Leben ist, aufzumuntern; zumal wenn sich etwa ein guter Kopf unter ihnen befände, der aus bloßer Dürftigkeit irgendeine schlimme Partei ergreifen wollte und also Gefahr liefe, ein schönes Naturell im Keime verderben zu lassen. Ich bin gewiß, ein solcher wird sich durch meine Erzählung gestärkt fühlen. Er wird mich zum Beispiele nehmen und bedenken, in was für Umständen ich mich der Gelehrsamkeit gewidmet und, ohne durch meine damalige Armut den Mut zu verlieren, zu dem, was das Schönste und Edelste ist, mich emporgearbeitet habe: kurz, was ich einst war, und wie ich jetzt zu euch zurückgekommen bin – wenigstens mit keinem unberühmtern Namen, als sich irgendein Bildhauer unsrer Zeit gemacht hat.

Nigrinus

Zueignungsschreiben Lukians an Nigrinus

Das Sprichwort sagt, »eine Nachteule nach Athen«, weil es lächerlich wäre, wenn jemand Nachteulen nach Athen tragen wollte, wo deren schon so viele sind. Ebenso lächerlich würde ich mich machen, wenn ich etwas geschrieben hätte, um eine Probe meines schriftstellerischen Talentes abzulegen, und schickte es dem Nigrinus zu; das hieße in der Tat, Nachteulen nach Athen tragen! Da es mir aber bloß darum zu tun ist, dir meine dermalige Gesinnung und den gewiß nicht flüchtigen Eindruck zu zeigen, den dein Vortrag auf mich gemacht hat, so kann ich billig hoffen, der Ausspruch des Thucydides, »Unwissenheit macht verwegen, Überlegung furchtsam«, werde nicht auf mich angewendet werden können. Denn es ist augenscheinlich, daß nicht meine Unwissenheit allein, sondern auch die Liebe zur Philosophie, die dein Vortrag in mir entzündet hat, Ursache an meiner Verwegenheit ist.

Lukian, sein Freund.

DER FREUND. Wie ganz ungewöhnlich feierlich bist du zurückgekommen, Lukian! Es ist ja, als ob du in den Wolken schwebtest? Anstatt dich, wie gewöhnlich, in ein Gespräch mit mir einzulassen, würdigst du mich nicht einmal eines Anblicks; man dächte, du wärest auf einmal in einen andern Menschen verwandelt worden, so vornehm schaust du über alles weg. Ich möchte doch wohl von dir hören, was die Ursache eines so seltsamen Betragens sein kann.

LUKIAN. Was könnt es anders sein, Freund, als die Glückseligkeit?

FREUND. Die Glückseligkeit? Was meinst du damit?

LUKIAN. Und eine Glückseligkeit, die ich, ohne daran zu denken, gleichsam vor meinen Füßen gefunden habe. Kurz, du siehest mich durch den unverhofftesten Zufall von der Welt zu einem beneidenswürdigen, seligen, oder in der Theatersprache zu reden, dreimal seligen Menschen gemacht.

FREUND. Herkules! und das in so kurzer Zeit?

LUKIAN. Allerdings.

FREUND. Was kann dir denn so Außerordentliches begegnet sein, daß du so darüber zu triumphieren Ursache hättest? Erkläre dich deutlicher. Denn ich möchte mich nicht nur so summarisch mit dir freuen, sondern das Ganze mit allen seinen Umständen hören.

LUKIAN. Zum Jupiter, ist es etwa nichts Wundervolles, aus einem armen Sklaven auf einmal ein freier und sogar ein reicher Mann, und aus einem unverständigen windichten Menschen das völlige Gegenteil geworden zu sein?

FREUND. O was sehr Großes! Aber noch begreife ich nicht, was du damit sagen willst.

LUKIAN. Ich hatte mich nach der Stadt begeben, um einen gewissen Augenarzt aufzusuchen, weil es mit meinem Übel am Auge immer schlimmer wurde.

FREUND. Das alles weiß ich, und es lag mir nicht wenig am Herzen, daß du einem geschickten Manne in die Hände fallen möchtest.

LUKIAN. Da ich mir nun vorgenommen hatte, dem platonischen Philosophen Nigrinus, den ich schon so lange nicht gesehen, einen Besuch zu machen, stand ich früh auf und begab mich nach seiner Wohnung. Ich klopfe an, ein Bedienter meldet mich, und ich werde sogleich vorgelassen. Wie ich hineinkomme, finde ich ihn mit einem Buch in der Hand, von einer Menge Büsten alter Weisen, die im Kreise herum standen, umgeben und auf einem Tische vor ihm eine kleine mit geometrischen Figuren beschriebene Tafel und eine Sphäre aus dünnen Rohrstäben, die, wie es schien, das Weltsystem vorstellen sollte. Er empfing mich ungemein leutselig und erkundigte sich, wie es mir gehe. Nachdem ich ihm von allem umständlichen Bericht gegeben hatte, nahm ich mir die Freiheit, ihn ebenfalls zu fragen, wie er sich befinde und ob er nicht einmal wieder eine Reise nach Griechenland zu tun gedenke? Dies brachte ihn auf das rechte Kapitel, Freund! Er ließ sich in einen großen Diskurs über seine Grundsätze und Gesinnungen ein und sprach so schön und – göttlich, möchte ich fast sagen, daß ich seine Rede wie lauter Ambrosia einschlürfte und etwas dabei empfand, das über allen den Zauber ging, den die Dichter ihren Sirenen und Nachtigallen und Homer seinem Lotos zugeschrieben. Denn er ging so weit, der Philosophie selbst und der Freiheit, die aus ihr entspringe, eine Lobrede zu halten und alles, was der große Haufe zu den Gütern zählet, großes Vermögen, Ruhm, öffentliche Würde, höchste Gewalt über ganze Provinzen, Gold und Purpur – kurz, alles, was in den Augen der meisten, und bisher auch in den meinigen, einen Wert hat, als sehr verächtliche Dinge zu belachen. Ich hörte ihm mit gieriger, scharf angespannter Aufmerksamkeit zu: aber wie mir eigentlich dabei zumute war, würde ich auf der Stelle schwerlich haben sagen können, so mancherlei Gedanken liefen mir durch den Kopf. Bald machte es mich ganz traurig, daß gerade das, was mir bisher das Liebste gewesen war, so übel mitgenommen werden sollte, und ich hätte beinahe weinen mögen, wie ich es so zu Boden getreten sah; bald kamen mir ebendiese Dinge wieder verächtlich und lächerlich vor, und es wurde mir so leicht ums Herz, als ob ich aus einer finstern Höhle, worin ich mein voriges Leben zugebracht, auf einmal in die reinste Luft versetzt wäre und in eine Welt voll Licht und Klarheit hinausschaute. Das seltsamste war, daß ich darüber mein krankes Auge gänzlich vergaß, während mein inwendiges Auge in kurzem so scharf sehen lernte, als es vorher, ohne daß ich es gemerkt hatte, blind gewesen war. Nach und nach kam ich endlich in den Zustand, weswegen du mich soeben zur Rede stelltest. Ich fühle mich wirklich von seinen Reden emporgehoben, nehme einen höhern Flug und bin schlechterdings unfähig, etwas Kleines mehr zu denken; kurz, mir deucht, die Philosophie habe ungefähr die Wirkung auf mich getan, die der Wein auf die Indier getan haben soll. Denn da sie von Natur schon wärmer als andre Menschen sind, tranken sie kaum von einem so starken Getränke, als sie auf der Stelle betrunken wurden und noch einmal so arg schwärmten als andere. Geradeso gehe ich dir begeistert und wie berauscht von den Reden meines Philosophen herum.

FREUND. Und du nennest das berauscht? In meinen Augen ist es Nüchternheit und Weisheit. Wie sehr wünschte ich, wenn es möglich wäre, diese Rede gleich aus deinem Munde zu hören! Und in der Tat, es wäre nicht recht von dir, einem Freunde, dessen Denkart und Neigungen so sehr mit den deinigen zusammenstimmen, einen solchen Wunsch zu versagen.

LUKIAN. Sei ruhig, mein Bester. Du bist nicht begieriger, sie zu hören, als ich, sie dir vorzutragen; und wenn du mir nicht zuvorgekommen wärest, würde ich dich selbst gebeten haben, mir deine Ohren zu leihen. Ich möchte dich gern als einen Zeugen gegen den großen Haufen aufstellen, daß ich nicht ohne alle Vernunft schwärme. Überdies ist es mir selbst angenehm, mir das Gehörte öfters ins Gedächtnis zurückzurufen; auch bin ich schon ziemlich darin geübt: denn sogar wenn mir niemand zuhört, wiederhole ich zwei- oder dreimal des Tages bei mir selbst, was er mir gesagt hat; und es geht mir hierin ordentlich wie den Verliebten, die in Abwesenheit der geliebten Person ihre einzige Freude daran haben, alle Reden und Handlungen derselben in ihrem Gedächtnis zu wiederholen, und, vertieft in diese, gerade, als ob ihre Geliebten noch gegenwärtig wären, das Gefühl ihrer Leiden durch die angenehme Täuschung betrügen. Bei manchen geht es so weit, daß sie sogar mit ihnen zu reden glauben und über Dinge, die sie ehmals von ihnen gehört haben, in ebenso großes Entzücken geraten, als ob sie ihnen in diesem Augenblick erst gesagt worden wären; kurz, sie beschäftigen ihre Seele so ganz mit Erinnerung des Vergangnen, daß sie keine Zeit haben, das Gegenwärtige zu fühlen. Ebenso, da mir die Philosophie selbst ihre Gegenwart entzogen hat, verschaffe ich mir keinen geringen Trost, indem ich alles, was ich damals hörte, wieder in mein Gedächtnis versammle und mir immer von neuem entwickle. Gleich einem, der in stockfinstrer Nacht auf dem Meere segelt, habe ich die Augen immer auf diesen Leuchtturm gerichtet; bei allem, was ich vornehme, denke ich mir diesen Mann gegenwärtig und glaube, daß er mir noch immer sage, was er mir damals sagte; ja zuweilen, sonderlich, wenn ich meine Einbildungskraft mit Fleiß darauf anstrenge, sehe ich sein Gesicht vor mir, und der Ton seiner Stimme klingt in meinen Ohren. Denn wirklich läßt sich mit Wahrheit auf mich anwenden, was jener Komiker vom Perikles sagte: daß er einen Stachel in seinen Zuhörern zurückgelassen habe.

FREUND. Halt ein, mein bewundernswürdiger Herr! oder vielmehr, tu ein paar Schritte zurück und mache mich endlich einmal so glücklich, deinen Philosophen selbst zu hören; denn du glaubst nicht, wie sehr du mich durch alle diese Umschweife marterst.

LUKIAN. Du hast recht! Ich fange an – Aber vorher noch eins, Freund! Du hast doch in deinem Leben schon schlechte tragische und wohl auch komische Schauspieler gesehen? Ich rede von denen, die des Auspfeifens gewohnt sind und die ein Stück zuweilen so übel mißhandeln, daß sie endlich vom Theater heruntergejagt werden, wiewohl das Stück öfters gut und sogar ein Preisstück ist.

FREUND. Ich kenne ihrer mehr als zu viele; aber was willst du damit?

LUKIAN. Nichts als daß ich sehr besorge, du werdest finden, daß ich es meinem Autor nicht besser mache; es sei nun, daß ich dies oder jenes nicht im gehörigen Zusammenhang vortrage oder wohl gar aus Unverstand zuweilen den Sinn der Rede selbst verderbe, so daß du dich unvermerkt genötigt finden könntest, das Stück selbst zu verurteilen. Was meinen Anteil daran betrifft, den will ich dir gerne preisgeben: aber es sollte mich nicht wenig verdrießen, wenn das Meisterstück eines andern mit mir fallen müßte und durch meine Schuld beschimpft würde. Vergiß also während dieses ganzen Diskurses keinen Augenblick, daß unser Poet selbst an allen diesen Sünden unschuldig ist und, weit von der Bühne entfernt, sich nichts um das bekümmert, was auf dem Schauplatze vorgeht. Mich betrachte lediglich als einen Schauspieler, der dir eine Probe von seinem Gedächtnis geben will; denn wirklich spiele ich hier bloß die Rolle eines Gesandten in einer Tragödie. Wenn dich also zuweilen dünkt, ich sage etwas, das besser sein könnte, so denke nur gleich, daß es besser war und daß es der Dichter ohne allen Zweifel anders gesagt hatte. Mich selbst kannst du übrigens auszischen, soviel du willst, ich werde es nicht übelnehmen.

FREUND. Nun, das gesteh ich beim Hermes! du hast mir da ein so schulgerechtes Proömium hergedrechselt, daß es ein Professor der Rhetorik nicht kunstmäßiger verlangen könnte. Vermutlich wirst du noch hinzusetzen wollen, eure Konversation sei ein bloßes Impromptu gewesen, du seiest gar nicht vorbereitet, es habe sich ihm selbst besser zuhören lassen und ich würde eben mit dem wenigen vorliebnehmen müssen, was du davon, soviel möglich, aus deinem Gedächtnis würdest zusammenstoppeln können und dergleichen. Nicht wahr? – Aber du kannst das alles bei mir ersparen. Bilde dir ein, du habest alles gesagt, was sich in einer Vorrede über die Sache sagen läßt, und daß man zum Klatschen und bravo zu schreien nicht bereitwilliger sein kann, als ich es bin: nur fange einmal an! Denn das sag ich dir, wenn du noch länger zauderst, so werde ich dir's gedenken, wenn es zur Hauptsache kommt, und so scharf pfeifen, als es mir immer möglich sein wird.

LUKIAN. Nicht nur alles, was du da berührtest, wollte ich gesagt haben, sondern auch dies noch: daß ich mich weder an die Ordnung seines Vortrags noch an seine Worte binden werde; denn beides würde mir schlechterdings unmöglich sein. Ebensowenig werde ich ihm die Rede in den Mund legen, aus Furcht, auch noch in einem andern Punkte den vorbelobten Schauspielern ähnlich zu werden; die, wenn sie die Rolle eines Agamemnon oder Kreon oder Herkules auf sich genommen haben, in königlichem Schmuck einherschreitend und mit einem grimmigen Heldengesicht einen entsetzlichen Rachen aufsperren, um ein kleines dünnes weibermäßiges Stimmchen herauszulassen, das selbst für eine Hekuba oder Polyxena noch viel zu schmächtig wäre. Damit mir also nicht vorgeworfen werden könne, daß ich eine für meinen Kopf viel zu große Larve umgebunden habe und der Rolle, die ich vorstelle, Schande mache, will ich ohne Larve und bloß in eigener Person sprechen, um nicht, wenn ich etwa fiele, den Helden, den ich vorstelle, mit mir zur Erde zu ziehen.

FREUND ungeduldig. Wie ich sehe, wird der Mensch mit seinen Gleichnissen von Tragödien und Schauspielern heute nicht fertig werden.

LUKIAN. Ich bin wirklich fertig und schreite zur Sache. Nigrinus also fing seinen Diskurs mit einer Lobrede auf Griechenland und besonders auf die Athenienser an, denen er's zu großem Verdienst anrechnete, daß sie, sozusagen, bei Philosophie und Armut auferzogen würden und, weit entfernt, es gern zu sehen, wenn ein Einheimischer oder Fremder sich anmaßte, den Luxus bei ihnen einzuführen, vielmehr denjenigen, der mit solchen Gesinnungen zu ihnen komme, umzustimmen und unvermerkt an andere Sitten und an ihre eigene einfache Lebensweise zu gewöhnen wüßten. Zum Beispiele führte er einen von diesen vergoldeten Herren an, der in einem überaus prächtigen Aufzug, mit einer ganzen Heerschar von Höflingen und Bedienten und in reicher schimmernder Kleidung, zu Athen ankam und nicht zweifelte, daß ihn die ganze Stadt als einen sehr beneidenswürdigen glückseligen Sterblichen betrachten und mit tiefer Ehrfurcht zu ihm emporschauen würde. Den Atheniensern hingegen kam es vor, es stehe gar nicht wohl mit dem guten Männchen; und sie ließen sich's aus Mitleiden recht angelegen sein, ihm eine bessere Erziehung zu geben. Sie benahmen sich dabei nicht so grob, daß sie ihm verwehrt hätten, in einer freien Stadt nach seinem Belieben zu leben: aber wenn er ihnen auf dem Übungsplatze oder in den öffentlichen Bädern beschwerlich war und mit der Menge seiner Leute so viel Raum einnahm, daß die Ab- und Zugehenden sich mit Mühe durchpressen mußten, hörte man jemand ganz gelassen und als ob es nicht eben gerade auf jenen gemünzt sei, sagen: »Er fürchtet vermutlich, seines Lebens hier nicht sicher zu sein, und doch ist's Friede im ganzen Bade; wofür hat er nötig, eine Armee mit sich zu bringen?« – Dies hörte jener und nahm sich die Lehre zu Herzen. Mit eben dieser gutlaunigen Urbanität zogen sie ihm seine bunten und bepurpurten Kleider ab. – »Ist's schon Frühling?« hieß es – oder: »O seht doch den schönen Pfauen« – oder: »Sie gehören vielleicht seiner Mutter« – und was dergleichen mehr war. In dieser Manier bespotteten sie alles übrige, wodurch er sich auszeichnete; bald die vielen Ringe, womit er seine Finger besteckte, bald seine affektierte Frisur, bald den ausschweifenden Aufwand seiner Tafel; und mit allem dem brachten sie es doch so weit, daß er unvermerkt eine vernünftigere Vorstellungsart annahm und, dank der öffentlichen Erziehung, die er zu Athen genossen hatte! um sehr viel besser wieder abreisete als er gekommen war. – Zum Beweise aber, daß es keine Schande bei ihnen ist, seine Armut öffentlich zu gestehen, erwähnte er eines Wortes, das er an den panathenäischen Kampfspielen öffentlich aus dem Munde des ganzen Volkes gehört zu haben sich erinnerte. Es war nämlich ein Bürger angehalten und vor den Kampfrichter geführt worden, weil er den Spielen in einem bunten Rocke zugesehen hatte. Die Umstehenden hätten aus Mitleiden für ihn gebeten, und da der Herold anzeigte: dieser Mann habe gegen das Gesetz gehandelt, da er in einer solchen Kleidung den Spielen zugesehen – hätten alle Anwesenden aus einem Munde gerufen: er verdiene dieses Anzugs wegen Verzeihung, denn er habe keinen andern. – Diese Züge also lobte er und sagte überhaupt noch viel Schönes von der Freiheit, die zu Athen herrsche, und daß jeder da leben könne, wie es ihm gefalle, und von der Stille und Geschäftslosigkeit, die bei ihnen so groß als möglich sei. Kurz, für einen rechtschaffnen Mann, der seine Sitten rein erhalten wolle, den Reichtum zu verachten gelernt habe und die unverfälschte Natur zur Regel seines Lebens mache, mit einem Worte, für einen Philosophen, könne nichts Schicklichers und Angemeßners sein als der Aufenthalt zu Athen. Wer hingegen den Luxus liebe, sich durch den Glanz des Goldes anködern lasse und die Glückseligkeit nach bepurpurten Röcken und nach Gewalt und Einfluß gebenden Verhältnissen abmesse; wer die Süßigkeit der Freiheit nie gekostet und, unter Schmeichlern und Sklaven aufgewachsen, das wahre Schöne und Gute nie zu sehen bekommen habe; oder wer seine ganze Seele dem Dienst der Wollust übergeben habe und, von ihrem betrüglichen Zauberwerk und Gaukelspiel getäuscht, in den Freuden des Komus, des Bacchus und der Venus das höchste Glück des Lebens setze; oder wen das Geklingel der Instrumente und der Kitzel leichtfertiger Tänze und wollüstiger Lieder glücklich machen könne – solche Menschen müßten Rom zu ihrem Sitz erwählen. Denn hier seien dessen, was sie über alles liebten, alle Straßen und alle Plätze voll; da könne man die Wollust durch alle Pforten der Seele, durch Augen und Ohren, Nase und Gaumen und jeden andern Kanal, allenthalben in sich ziehen. Hier fließe sie unaufhaltsam in einem ewig vollen trüben Strom daher und erweitere alle Wege dergestalt, daß Ehebruch und Geldsucht und Meineid und alle andern Laster, die in ihrem fruchtbaren Schlamme ausgebrütet werden, zugleich mit hereinbrechen, die ganze Seele überschwemmen und jedes Gefühl von Scham, Gerechtigkeit und Tugend gewaltsam mit sich reißen: wenn diese aber einmal verloren seien, bleibe jene ein ausgewaschner dürrer Boden, worin alle Arten wilder Begierden schnell emporschießen und nichts Gesundes neben sich aufkommen lassen. – Diese Vorstellung machte er mir von der Stadt und von dem, was ein Fremder in ihr lernen könnte. »Wie ich also«, sagte er, »aus Griechenland zurückkam und mich dieser Stadt wieder näherte, hielt ich still und zog mich selbst mit jenen Homerischen Worten zur Rechenschaft meiner Hieherkunft. »Unglückseliger, warum verließest du das Licht der Sonne, Griechenland, und jenes glückliche Leben der Freiheit und kamst hierher in dies Getümmel von prachtvoller Dienstbarkeit, von Aufwartungen und Gastmählern, von Sykophanten, Schmeichlern, Giftmischern, Erbschleichern und falschen Freunden? Oder was willst du anfangen, da du dich weder von hier losmachen noch mit diesen Menschen nach ihrer Weise leben kannst?« Ich ging also mit mir zu Rate und faßte die Entschließung, mich selbst, wie Jupiter dort den Hektor, aus den Pfeilen und aus dem Staub und dem wilden Getümmel und der blutigen Schlacht – – zu entfernen, mich in mein Haus einzuschließen und eine Lebensart – wie untätig und weibermäßig sie auch den meisten scheinen mag – zu erwählen, wo die Philosophie und Plato und die Wahrheit meine tägliche Gesellschaft sind. Übrigens habe ich hier die beste Gelegenheit, wie aus einer hohen Warte, zu beobachten, was unter mir in dieser volkreichen Stadt vorgeht; Dinge, wovon manche dem Zuschauer eine ganz angenehme Unterhaltung und Stoff zu lachen genug geben, andere hingegen verführerisch genug sind, um die Festigkeit eines Mannes, dem es Ernst ist, weise zu sein, auf die stärkste Probe zu stellen. Denn (weil man doch von dem Bösen auch das Gute sagen soll, das damit verbunden ist) glaube nicht, daß es irgendeine größere Kampfschule für die Tugend oder eine bessere Gelegenheit, die Stärke unserer Grundsätze und unsre Standhaftigkeit im Guten zu bewähren, geben könne als diese Stadt und ihre Lebensart. Es ist nichts Kleines, so vielen reizenden Gegenständen, die unablässig durch Augen und Ohren unsern Begierden nachstellen, immer Widerstand zu tun. Hier ist kein Ausweg; man muß, wie Ulysses, schlechterdings bei diesen Sirenen vorüberfahren, und das nicht etwa mit gebundnen Händen und zugeklebten Ohren wie er, sondern frei, mit offnen Sinnen und mit diesem echten Mute, der sich Kräfte zutraut, der Gefahr Trotz zu bieten. Und wo könnte man sich von dem hohen Werte der Philosophie lebendiger überzeugen, als wo man immer so unendlich viele Torheit vor Augen hat? Wo könnte man alles, was der Zufall zu geben vermag, herzlicher verachten lernen, als wo man, wie in einem großen und aus den mannigfaltigsten Personen zusammengesetzten Drama, bald den gewesenen Sklaven als Herrn, bald den vormaligen Reichen als Bettler, den Bettler dagegen wieder als Statthalter oder König herauskommen und in einer Folge weniger Szenen Freunde in Feinde und Günstlinge in Flüchtlinge verwandelt sieht? Denn das ist das allererstaunlichste, daß, wiewohl uns Fortuna so laut bezeugt, daß nichts Zuverlässiges an ihren Gunstbezeugungen sei, demungeachtet Menschen, die dies alle Tage mit Augen sehen, Reichtum und Macht mit der hitzigsten Begierde verfolgen und immer voller Hoffnungen herumgehen, die nie zur Wirklichkeit kommen. – Ich sagte vorhin, die Dinge, die hier täglich zu sehen sind, ließen es einem unbefangenen Zuschauer nicht an Stoff zur Gemütsbelustigung und zum Lachen fehlen. Denn wie sollte man z.B. nicht über den reich gewordenen Gecken lachen, der euch mit Affektation seinen Purpurlappen in die Augen spielen läßt, die Finger ausspreitet, damit seine Ringe in die Augen fallen, und vor lauter Hoffart eine Menge anderer Ungezogenheiten begeht? Das allerungereimteste ist, daß diese Herren, wenn sie ehrliche Leute, die ihnen auf der Straße begegnen, grüßen wollen, einen fremden Mund dazu gebrauchen und sich einbilden, man solle es für eine große Gnade halten, wenn sie einen Blick auf uns geworfen haben. Andere, die noch vornehmer tun, nehmen sogar Kniebeugungen an, und nicht etwa von weitem, wie es bei den Persern gebräuchlich ist: man muß zu ihnen hingehen und, indem man schon im Annähern seine Seele vor ihnen erniedrigt, mit niedergeschlagenen Augen und demütiger Gebärde sich beugen und ihnen den Rock oder die Hand küssen, eine Ehre, die von solchen, die dazu nicht einmal gelangen können, mit eifersüchtigen Augen angesehen wird; indessen der eingebildete große Mann dasteht und ein Vergnügen daran findet, die Dauer einer so schmeichelhaften Täuschung zu verlängern. Indessen lobe ich sie darum, daß sie uns andere gemeine Leute für zu gering achten, uns zu ihren Lippen zuzulassen. Aber noch viel lächerlicher als sie selbst sind diejenigen, die ihnen den Hof machen und durch unablässiges Aufwarten sich um ihre Gnade bewerben. Die armen Leute stehen schon um Mitternacht auf, laufen in der ganzen Stadt herum und belagern die Türen, wo sie sich von einem unverschämten Türhüter ausschließen lassen müssen und oft mit Hunden, Schmarotzern und andern solchen Ehrentiteln, die sie geduldig einstecken, empfangen werden. Und was ist es denn zuletzt, was sie mit diesem mühseligen Kreislauf erringen? Nichts als die lästige und an so vielen Übeln fruchtbare Glückseligkeit, einen Platz an der Tafel ihres hohen Patrons zu finden. Und oh! was müssen sie sich da nicht erst gefallen lassen! was müssen sie nicht verschlingen! wie viel nicht oft wider Willen austrinken und wie viel Unziemliches schwatzen! – bis endlich die Stunde kommt, wo sie murrend und mißmutig davongehen, um sich entweder über die schlechte Mahlzeit aufzuhalten oder über die Grobheit und Filzigkeit des Hausherrn Klagen zu führen. Alle Straßen sind dann voller Leute, die ihrem überladenen Magen Luft machen und vor den Schlupflöchern der gemeinsten Gassennymphen einander in die Haare geraten; die meisten liegen den folgenden Tag krank und geben den Ärzten Gelegenheit zu ihren Zirkelbesuchen, wiewohl (was noch das lustigste ist) manche nicht einmal Zeit haben, krank zu sein. Übrigens halte ich diese Schmarotzer für eine verderblichere Brut als diejenigen selbst, die sich von ihnen schmeicheln lassen; weil man wohl sagen könnte, daß sie beinahe allein an dem Übermute der letztern schuld sind. Denn da diese sich von jenen Elenden ihrer Reichtümer halben glücklich preisen hören und ihre Vorsäle alle Morgen mit Leuten angefüllt sehen, die sich ihnen nicht anders als wie Sklaven ihren Gebietern nähern, was müssen sie nicht endlich von sich selber denken? Würden es hingegen jene miteinander abreden, auch nur eine kleine Zeit lang von dieser freiwilligen Knechtschaft abzustehen: meinst du nicht, die Reichen würden gar bald vor die Tür der Armen kommen und ihnen noch die besten Worte geben, daß sie ihr Glück nicht ohne Zuschauer und Zeugen und ihre großen Paläste und prächtige Speisezimmer nicht ohne Wert und Gebrauch lassen möchten? Denn was ihnen ihre Reichtümer schätzbar macht, ist nicht sowohl das Vergnügen, reich zu sein, als von andern deswegen glücklich gepriesen zu werden; und es ist nun einmal nicht anders, als daß die schönste Wohnung und die herrlichsten Gerätschaften von Gold und Elfenbein ihren Eigentümern nichts helfen, wenn niemand da ist, der sie bewundert. Dieses Vorteils sollte man sich also bedienen, ihrem Reichtum die Verachtung als einen Damm entgegenzusetzen und ihre Größe dadurch in ihren eigenen Augen herabzuwürdigen: anstatt daß sich jetzt alles vereiniget, ihnen durch die übertriebenste Ehrfurcht und Aufwartung den Kopf zu verrücken. – Doch daß Leute ohne Erziehung, die ihre rohe Unwissenheit selbst offenherzig gestehen, sich so betragen, möchte noch zu dulden sein: aber daß so mancher, der einen Philosophen vorstellen will, sich noch weit lächerlicher aufführt, dies ist in der Tat abscheulich. Wie denkst du, daß mir zumute sein müsse, wenn ich einen solchen öfters schon bejahrten Mann mitten unter einem Schwarm von Schmarotzern, wo er gerade seines Habits und Aussehens wegen mehr in die Augen fällt, bei irgendeinem Großen den Nachtreter machen oder mit den Bedienten, die zur Tafel einladen, sich vertraulich besprechen sehe? Was mich am meisten ärgert, ist, daß solche Männer nicht auch ihren Bart und Mantel ablegen, da sie doch in allem andern mit den übrigen Personen des Lustspiels einerlei Rolle spielen – oder es ihnen vielmehr noch zuvortun? Denn wo ist ein Schmarotzer, dem nicht durch eine Vergleichung mit der Rolle, die diese Männer an den Tafeln ihrer hohen Gönner spielen, Unrecht geschehen würde? Stopfen sie sich nicht weit ungezogener mit Speisen voll? betrinken sie sich nicht weit öffentlicher? sind sie nicht immer die letzten, die von der Tafel aufstehen? und wer ist hurtiger als sie, ihre Säcke mit den Überbleibseln des Gastmahls anzufüllen? Einige, die an mehr Urbanität als andere ihresgleichen Anspruch machen, fangen gar zu singen an.«

Das alles nun fand Nigrinus sehr lächerlich. Besonders erwähnte er auch der Philosophen für bare Bezahlung, welche die Tugend wie anderes Marktgut feilbieten und deren Schulen er deswegen Krambuden und Garküchen nannte. Seiner Meinung nach sollte derjenige, der den Reichtum verachten lehrt, vor allen Dingen zeigen, daß er selbst über allen Gewinst erhaben sei. Er für seine Person lebte gänzlich nach diesem Grundsatze. Er schenkte seine Zeit allen, die mit ihm umzugehen wünschten, unentgeltlich; er unterstützte diejenigen, die es bedurften, und war ein Feind von allem Überfluß und Luxus. Weit entfernt, nach fremdem Gute zu trachten, sorgte er nicht einmal dafür, dem Verfall seines eigenen zuvorzukommen. So hatte er z.B. ein Landgut, das er nicht weit von der Stadt besaß, in vielen Jahren nur nicht zu sehen verlangt: er behauptete sogar, daß er nicht Herr davon sei, und wollte vermutlich damit sagen, daß die Natur uns kein Eigentumsrecht an etwas dergleichen gebe, sondern daß wir bloß durch das Gesetz und durch Erbfolge und Übergabe die Nutznießung solcher Güter auf eine unbestimmte Zeit übernehmen und so lange für die Herren gehalten werden, bis wir sie, nach Verfluß unsers Termins, wieder an einen andern überlassen müssen, der nun diesen Titel auf gleiche Bedingung genießt. Überhaupt kann man sagen, daß er sowohl in Absicht auf die Mäßigkeit, Anständigkeit und Simplizität in allem, was das Äußerliche der Person und die Lebensweise betrifft, als in Absicht der innern Ruhe und Heiterkeit der Seele, der Übereinstimmung mit sich selbst und der gefälligsten Anmut im Betragen denjenigen, die ihm nacheifern wollen, die schönsten Vorbilder darstellt. Besonders pflegte er diejenigen, die seines Umgangs genossen, zu ermahnen, daß sie ihre Besserung ja nicht aufschieben möchten, wie die meisten tun, indem sie sich gewisse Festzeiten oder andere solenne Tage zur Epoche setzen, wo sie anfangen wollen, nicht mehr unredlich zu sein und ihre Pflichten zu erfüllen. Das Streben nach dem Guten leide nicht den geringsten Aufschub, sagte er. Hingegen tadelte er gewisse Philosophen, die es für Tugendübungen halten, wenn sie junge Leute allerlei körperliche Leiden und Martern auszustehen nötigen, sie binden und geißeln lassen oder auch wohl (um die Artigen zu machen) ihnen mit einem Schabeisen alle Haare vom Leibe herunterschaben. Er behauptete, in der Seele müsse vielmehr der Grund zu dieser Härte und Gleichgültigkeit gegen körperliche Schmerzen gelegt werden, und wer Menschen bilden wolle, müsse teils auf ihre natürliche Leibes- und Gemütsbeschaffenheit, teils auf ihr Alter und ihre vorige Erziehung Rücksicht nehmen, damit er nicht in den Fehler verfalle, ihnen etwas über ihr Vermögen zuzumuten. Denn man habe Beispiele, sagte er, daß manche, die auf eine so unvernünftige Art behandelt worden, sogar darüber gestorben seien, und ich selbst sah einen solchen jungen Menschen in Nigrins Hause, der jene Disziplin gekostet hatte, aber sobald er Gelegenheit bekam, richtigere Grundsätze zu hören, stehenden Fußes seinen ersten Meistern entlief und sich zum Nigrinus rettete, bei dem er, dem Ansehen nach, sich wieder sehr gut erholt hatte.

Von diesen Dingen kam er nun wieder auf andere Gegenstände, besonders auf das immerwährende Getümmel der Stadt und das ewige Drängen und Treiben ihrer Einwohner und auf das Theater und den Circus und die Bildsäulen berühmter Wagenlenker, die da zu sehen sind, und auf die Namen der Rennpferde und wie in allen Gassen und Winkeln von nichts als von diesen Dingen gesprochen werde. Denn wirklich scheine die Pferdewut dermalen die herrschende Leidenschaft zu sein und sogar Männer, die man bisher unter die vorzüglichsten gezählt, angefallen zu haben. Nach diesem berührte er noch ein anderes Kapitel, die weitläuftigen Geschäfte, die sie sich mit ihren Leichenbegängnissen und Testamenten machten, wo er im Vorbeigehen sagte, die Römer gäben in ihrem ganzen Leben nur einmal einen wahren Laut von sich, in ihren Testamenten nämlich, als der einzigen Gelegenheit, wo es ihnen nichts mehr schaden könne, die wahren Gedanken ihres Herzens kund werden zu lassen. Aber da konnte ich mich des Lachens nicht enthalten, wie er hinzusetzte, sie schienen in ihre platte Denkart und Albernheit so verliebt zu sein, daß sie nichts Angelegneres hätten, als sie sogar in ihr Grab mitzunehmen und zum Überfluß noch ein schriftliches Denkmal ihrer Torheit zu hinterlassen. So verordneten zum Exempel die einen in ihrem Testamente, daß ihre schönsten Kleider, oder was ihnen sonst von ihren Sachen das Liebste gewesen, mit ihnen auf dem nämlichen Scheiterhaufen verbrannt werde; andere, damit es ihnen auch nach ihrem Tode nicht an Bedienung fehle, daß gewisse von ihren Sklaven neben ihren Gräbern wohnen, noch andere, daß ihre Grabsteine immer mit frischen Blumen bekränzt werden müßten. Man könne sich nun leicht einbilden, sagte er, was diejenigen in ihrem Leben getan haben müßten, die über das, was nach ihrem Tode geschehen sollte, solche Verfügungen machten. Denn das seien die großen Männer, die ein seltenes Gerichte mit Gold aufwägen, ihre Speisesäle mit kostbaren Essenzen übergießen, mitten im Winter das Haus voller Rosen haben, die bloß durch die Unzeit und Seltenheit einen Wert in ihren Augen bekommen, in der rechten Zeit hingegen, wo die Natur sie hervortreibt, als was Gemeines verachtet werden: kurz, das seien die Leute, bei denen sogar der Wein, den sie trinken, parfümiert sein müsse. Denn was er am schärfsten an ihnen durchzog, war, daß sie nicht einmal ihrer Begierden zu genießen verständen, sondern auch in diesen die Natur verfehlten, die Grenzen verwirreten und, wenn sie ihre Sinnen durch alle Arten von Schwelgerei abgenützt hätten, sich sogar (wie unsre Dichter sagen) »neben der Türe« mit Gewalt einen Eingang machen wollten. Er nannte dies Solözismen in der Wollust machen; und aus diesem Grunde fand er es lächerlich, daß die Leute ihre Blumenkränze am unrechten Orte trügen; »denn«, sagte er, »da sie doch die Kränze von Veilchen und Rosen deswegen tragen, weil ihnen der Geruch derselben angenehm ist, so sollten sie diese Blumen nicht auf dem Kopfe, sondern so nahe als möglich unter der Nase tragen, um desto mehr von dieser Wollust einziehen zu können«. (Mir fiel Momus hiebei ein, der den Neptun tadelte, daß er dem Stier die Hörner nicht vor die Augen gesetzt habe.) Nicht weniger kamen ihm diejenigen sehr lächerlich vor, die das große Geschäfte ihres Lebens daraus machen, über die Kunst zu essen zu grübeln und ihre Tafel immer mit einer ungeheuern Mannigfaltigkeit der feinsten Ragouts und des leckersten Backwerks besetzt zu haben. Er meinte, er verlohne sich nicht der Mühe, sich wegen vier Daumen, als welches ungefähr das Maß des längsten menschlichen Gaumens sei, so viel zu schaffen zu machen. Aller Genuß, den diese Leckermäuler von ihren teuern Schüsseln hätten, wäre auf den Augenblick des Essens eingeschränkt, sobald dieser vorbei sei, gewähre die Sättigung von den köstlichsten Speisen nicht mehr Vergnügen als von den einfachsten; und diese durchstreichende Wollust eines Augenblicks sei es gleichwohl, was so viele mit Aufopferung eines großen Vermögens erkauften. In solche Torheiten, setzte er hinzu, verfalle man, wenn man die wahren Vergnügungen nicht kenne, welche die Philosophie demjenigen so reichlich gewährt, der sich entschließen kann, sie durch Arbeit zu verdienen. – Nächst diesem kam er auch auf den Besuch der öffentlichen Bäder und machte mir eine umständliche Abschilderung von dieser Lustbarkeit: wo man das Vergnügen hat, von der Menge Bedienten, die ihren Herren dahin folgen, erdrückt zu werden, alle Arten Grobheiten von ihnen auszustehen und alle Augenblicke irgendeinem aufgedunsenen Wanste aus dem Wege gehn zu müssen, der sich, wie ein toter Leichnam, auf den Armen seiner Bedienten aus dem Bade tragen läßt. Was er aber am meisten zu hassen schien und was gleichwohl in der Stadt, und besonders in den Bädern, so gewöhnlich ist, war die Mode, etliche Sklaven vor sich her gehen zu lassen, die bei jedem Stein oder Grübchen, worüber man zu schreiten hat, »aufgeschaut!« oder »auf die Seite!« rufen müssen, um den gnädigen Herrn zu erinnern, daß er vor seine Füße hinsehe. Er fand es ganz abscheulich, daß Leute, die sich zum Essen mit ihren eigenen Händen und Mäulern und zum Hören mit ihren eigenen Ohren behelfen können, bei ganz gesunden Augen fremde nötig haben, um vor sich hin zu sehen, und daß sogar Männer von der ersten Klasse auf öffentlichen Plätzen und bei hellem Mittag es dulden können, sich wie arme Krüppel und Blinde bei den Ohren führen zu lassen.

Er durchging noch viele andere Dinge dieser Art – aber es ist Zeit, daß ich – seinem Beispiel folge und aufhöre. Ich hatte ihm bisher wie ein bezauberter Mensch unbeweglich zugehört, so groß war meine Furcht, den Augenblick, wo er wieder schweigen würde, zu beschleunigen. Wie er aber von selbst aufhörte, ging es mir anfangs wie den Phäaziern beim Homer: ich sah ihn eine Weile in einer Art von Entzückung schweigend an; bald darauf ergriff mich eine Art von schwindlichter Betäubung, der Schweiß brach mir aus, ich wollte reden, und die Worte blieben mir im Halse stecken; sogar die Stimme verließ mich, meine Zunge konnte nur stammelnde Laute hervorbringen, und zuletzt fing ich vor lauter Verlegenheit zu weinen an. Denn seine Rede hatte mir nicht etwa nur so zufälligerweise an der Haut hingestreift; die Wunde war tief und entscheidend, kurz, er hatte so gut gezielt, daß er mich, wenn ich so sagen kann, mitten durch die Seele geschossen hatte. Denn, wenn es mir anders erlaubt ist, meine Meinung von den Reden der Philosophen zu sagen, so denke ich so davon: Ich vergleiche die Seele eines wohlgearteten Menschen mit einem Zweck von einem sehr zarten Stoffe, nach welchem die Philosophen als ebenso viele Bogenschützen zielen. Nun gibt es deren eine Menge, die ihre Köcher mit Pfeilen von allen möglichen Formen angefüllt haben: aber darum schießen doch nicht alle gut nach dem Ziele. Einige spannen die Sehne zu straff und drücken den Pfeil mit größerer Gewalt ab als nötig ist: sie treffen also zwar geradesweges, aber ihre Pfeile bleiben nicht stecken, sondern dringen durch und lassen die Seele mit einer weitoffnen Wunde zurück, um deren Heilung sich niemand bekümmert. Andere drücken ihre Pfeile mit so wenig Stärke und von einer so schlaffen Sehne ab, daß sie entweder gar nicht zum Ziele kommen, sondern oft mitten im Fluge kraftlos niederfallen, oder wenn sie auch das Ziel erreichen, kaum eine leichte Ritze an der Oberfläche desselben machen. Was aber ein tüchtiger Schütz ist, wie der unsrige, der untersucht vor allen Dingen das Ziel, worauf er schießen will, ob es sehr weich oder vielleicht gar härter als der Pfeil selbst ist; denn es gibt solche, denen kein Pfeil etwas anhaben kann. Hat er dies alles wohl erforscht, dann taucht er seinen Pfeil – nicht in Gift, wie die Skythen zu tun pflegen, noch in den Milchsaft des Feigenbaums, wie die Kretenser – sondern bestreicht ihn mit einem lieblichen und sanftbeißenden Balsam und schießt ihn dann mit scharfzielendem Auge und fester Hand ab, so daß er gerade tief genug eindringt, um steckenzubleiben und mit der balsamischen Kraft, die er verbreitet, die ganze Seele zu durchdringen. Daher kommt es dann, daß die Zuhörer eine Art von süßem Schmerz dabei empfinden, der ihnen wollüstige Tränen aus den Augen preßt, wie dies auch mir begegnete, da ich die Kraft der Arznei sanft durch meine Seele rinnen fühlte, so daß ich ihm gerne, wie Homers Agamemnon dem Teukrus, zugerufen hätte:

O triff immer so fort, denn jeder Pfeil ist ein Lichtstrahl!

Aber freilich nicht für alle! Denn wie nicht alle, welche die phrygische Flöte hören, zu schwärmen und zu rasen anfangen, sondern nur diejenigen, die von der Göttermutter unmittelbare ergriffen werden und die dann auch, sooft sie dieselbe Melodie hören, durch die bloße Erinnerung wieder in einen ähnlichen Paroxismus fallen, ebenso gehen auch nicht alle, die einen Philosophen hören, begeistert und verwundet weg, sondern die allein, die eine gewisse natürliche Verwandtschaft mit der Philosophie auf die Welt mitgebracht haben.

FREUND. Was für große, wundervolle und göttliche Dinge sind das, Freund, die du uns da vorgetragen hast! Nun sehe ich erst, wie viele Ursache du hattest, zu sagen, daß du mit Ambrosia und Lotos gesättigt worden seiest! Denn ich selbst habe, während du sprachst, etwas Ähnliches erfahren, und seitdem du aufgehört hast, ist mir ordentlich weh ums Herz, oder, um mich deines Ausdrucks zu bedienen, ich fühle, daß ich so gut verwundet bin wie du. Du darfst dich das nicht wundern lassen. Denn du weißt, daß diejenige, die von tollen Hunden gebissen worden, nicht nur selbst wütend werden, sondern daß sich diese Art von Wut auch durch den Biß der Gebißnen fortpflanzt und so einer Menge anderer mitgeteilt werden kann.

LUKIAN. Du gestehst also unverhohlen, daß du nun so gut schwärmest als ich selbst?

FREUND. Allerdings, und ich möchte dich daher wohl gebeten haben, auf ein gemeinschaftliches Heilmittel bedacht zu sein.

LUKIAN. Ich denke, wir werden es eben wie Telephus machen müssen.

FREUND. Wie meinst du das?

LUKIAN. Zu dem, der uns verwundet hat, gehen und ihn bitten, daß er uns wieder heile.

Timon

Timon, Jupiter, Merkur, Plutus, Penia, Gnathonides, Philiades, Demea, Thrasykles.

TIMON. »O Jupiter, Schutzgott der Freundschaft, der Geselligkeit und des häuslichen Glückes, Schirmer der Fremdlinge, Rächer des Meineids, Wolkenversammler, Blitzeschleuderer« oder mit welchem andern Namen die angedonnerten hirnwütigen Dichter – zumal wenn sie um Ausfüllung eines Verses verlegen sind – dich begrüßen: wo bleibt dein »mächtigkrachender Blitz«, dein »weitbrummender Donner« und dein »flammenzückender, allblendender, schrecklich-schmetternder Wetterstrahl«? – Augenscheinlich sind alle diese Dinge, das Geprassel der Worte abgerechnet, lauter Possenwerk und poetischer Dampf. Dein so viel besungenes »weittreffendes, immerfertiges Geschoß« ist, ich weiß nicht wie, gänzlich erloschen und erkaltet und hat auch nicht den kleinsten Funken von Zorn gegen die Lasterhaften mehr in sich. Ein Bösewicht, der im Begriff ist, einen falschen Eid zu schwören, würde sich eher vor einer gestrigen Lichtschnuppe als vor deines »allbezwingenden Blitzes Flamme« fürchten: Kurz, du scheinst ihnen anstatt des Donnerkeils einen Löschbrand zu schleudern, von dem sie weder Feuer noch Rauch befürchten; das ärgste, was ihnen begegnen kann, wenn er sie trifft, ist, mit Kohlstaub bedeckt zu werden. Ist es bei solcher Bewandtnis wohl zu verwundern, daß ein Salmoneus sich unterstand, dir entgegenzudonnern? ein Unternehmen, womit ein so stolzer und hitziger Mann gegen einen so kaltlebrichten Jupiter noch wohl zu Rande zu kommen hoffen durfte. Denn warum sollte er das nicht, da du so hart schläfst, als ob du einen Schlaftrunk bekommen hättest, und weder Ohren für falsche Schwüre noch Augen für die andern Übeltäter der Menschen hast? Wie kann man anders denken, als daß deine Augen vor Alter endlich blöde und deine Ohren dickhäutig geworden sein müssen? Denn in deinen jungen Jahren ließ sich freilich nicht mit dir scherzen; da warst du leicht aufzubringen, und dein Zorn war schrecklich in seinen Ausbrüchen. Da vergönntest du den Lasterhaften und Gewalttätigen keinen Waffenstillstand. Dein Keil war noch in seiner vollen Kraft, deine Ägide immer in Bewegung; immer hörte man das Brüllen deines Donners, und deine Blitze fuhren immer hin und her, wie die Wurfpfeile in einem Scharmützel. Die Erde bebte noch, als ob sie in einem Siebe geschüttelt würde, der Schnee fiel klumpenweise, es hagelte Felsenstücke, und, um mich recht tragisch auszudrücken, reißend und gewaltig platzten damals die Regengüsse herunter, jeder Tropfe ein Strom! – dergestalt, daß unter Deukalions Regierung, ehe man die Hand umkehren konnte, eine so entsetzliche Überschwemmung entstand, daß alle Fahrzeuge, auf die sich die Menschen geflüchtet hatten, untergingen und mit Not ein einziger Nachen auf dem Lykorischen Berge sitzen blieb, worin ein lebendiger Funke sich erhielt, um einer neuen, noch schlimmern Menschenrasse das Dasein zu geben. Dafür aber geben sie dir auch den verdienten Lohn für deine schläfrige Untätigkeit. Denn wer opfert dir wohl heutzutage noch oder bringt dir Kränze, wenn es nicht etwa irgendein Anwohner des Olympus ist, der es gleichwohl nicht als etwas, wozu er sich verbunden glaubte, sondern, ohne was dabei zu denken, aus bloßer alter Sitte und Gewohnheit so mitmacht? Kurz, sie machen so wenig Zeremonie mehr mit dir, daß du, o Edelster aller Götter, unvermerkt die Rolle eines zweiten Saturnus spielen wirst. Ich sage nichts davon, wie oft sie dir deine Tempel ausgeraubt: haben sie sich doch unterstanden, zu Olympia sogar an dich selbst Hand anzulegen! Und du, der sich den »Hochbrausenden« schelten läßt, wecktest nicht einmal die Hunde oder riefst die Nachbarn auf, damit sie zusammenlaufen und der Räuber, ehe sie noch mit ihrer Beute davongegangen, sich bemächtigen könnten: sondern der großmächtige »Gigantenwürger« und »Titanenbändiger« saß, mit einem zehnellenlangen Blitz in der Hand, da und ließ sich in aller Gelassenheit von den Dieben die goldnen Locken abscheren. – Wenn wird denn einmal die Zeit kommen, mein vortrefflicher Herr, wo du aufhören wirst, alle diese Dinge so sorglos zu übersehen? Wenn wirst du endlich einmal allem diesem Unfug Einhalt tun? Wie oft müßtest du wohl die Welt verbrennen oder ersäufen, um die Menschen für ihren überschwenglichen Übermut nach Verdienst zu züchtigen?