Hexenküsse - Jason Dark - E-Book
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Hexenküsse E-Book

Jason Dark

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Beschreibung

Der legendäre Roman des John Sinclair Schöpfers Jason Dark. Erstmals als eBook.

Ein unheimliches Freudenhaus im Wald nahe Dover. Ein ausgebrannter Jaguar am Fuß der Steilklippen, dessen Fahrer das Herz herausgerissen wurde. Ein Banküberfall, bei dem es anscheinend nicht um Geld geht ...

Drei Ereignisse, die auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun haben, entwickeln sich zu John Sinclairs gefährlichstem Fall - denn die Töchter der großen Urmutter Lilith sind erwacht und lauern auf ihre Opfer!

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

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Seitenzahl: 456

Veröffentlichungsjahr: 2020

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Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Hexenküsse

Wie alles begann oder Mein erster Fall

Jason Dark

BASTEI ENTERTAINMENT

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

© 2020 by Bastei Lübbe AG, Köln

Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller

Verantwortlich für den Inhalt

Titelbild: Subbotina Anna/shutterstock

Datenkonvertierung eBook: César Satz & Grafik GmbH, Köln

ISBN 978-3-7517-0167-9

„Geisterjäger“, „John Sinclair“ und „Geisterjäger John Sinclair“ sind eingetragene Marken der Bastei Lübbe AG. Die dazugehörigen Logos unterliegen urheberrechtlichem Schutz. Die Figur John Sinclair ist eine Schöpfung von Jason Dark.

www.john-sinclair.de

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

www.bastei.de

Hexenküsse

Er wollte Sex und dachte nicht an den Tod!

Gounod und Tschaikowsky gehörten zu seinen Lieblingskomponisten. Vor allen Dingen der Russe. Ross Fandon liebte die manchmal schwermütigen Melodien, aber auch die Lieder der Liebe, die ihn auf eine unnachahmliche Art und Weise antörnten.

Wie jetzt.

Er hatte eine CD eingelegt. Die runden Stereo-Lautsprecher hoben sich wie schwarze Köpfe von der Anlage hinter den Rücksitzen ab. Und sie gaben die gesamte Musikfülle voll wieder.

»Ein jeder kennt die Lieb auf Erden!« Fantastisch, diese Arie. Gefühl, Musik und Text waren hier eine einzigartige Verbindung eingegangen, die Ross Fandon so mochte. Er hatte den Motor abgestellt, saß da und lauschte den Klängen.

Ein Ritual war es. Er wusste genau, dass er den Wagen bald verlassen würde. Wenn der letzte Ton verklungen war, würde er die Tür aufstoßen, den Mantelkragen hochstellen und in eine Welt treten, die er sich kaufen konnte.

Manchmal dachte er an die Worte seiner Frau. »Wenn ich dich mit irgendwelchen Weibern erwische«, hatte sie gesagt, »dann mache ich dich fertig, so fertig, dass du kleiner bist als ein Wurm.«

Ja, das hatte Thelma gesagt. Und das würde sie auch tun. Ross kannte seine Ehefrau lange genug. Über zwanzig Jahre hatte er sich mit ihr herumquälen müssen. Wenn sie hinter seine Ausflüge kam, würde sie ihn totprügeln.

Die Arie klang aus.

Ross Fandon hatte bisher konzentriert zugehört. Es kam ihm vor wie ein Riss. Plötzlich befand er sich wieder in dieser verflucht kalten und nüchternen Welt, die er so gar nicht mochte, und er blickte gegen die beschlagenen Scheiben.

Für April war es zu kühl. Vor einigen Tagen hatte es noch geschneit. Jetzt regnete es. Hinzu kam der Dunst, der außerhalb der Städte zu einem dicken Nebel wurde.

Mit dem Handrücken wischte Ross gegen die innere Seite der Scheibe. Viel besser wurde es nicht. Verschwommen war die hohe Mauer zu erkennen, davor standen die Büsche. Kahl die Zweige, die Knospen sah man nur bei Licht.

Ross schaute auf seine Rolex.

20 Uhr hatte er als Zeit angegeben. Es fehlte noch eine Minute. 60 Sekunden, und er spürte die Nervosität. Er wusste nicht, was ihn erwartete. Etwas Besonderes sollte es sein. Außergewöhnlich, hatte man ihm gesagt.

Drei Frauen!

Ross Fandon atmete heftiger. Verdammt, drei für ihn allein. Das hatte er noch nicht erlebt. Sie würden ihm alle Wünsche erfüllen, und mit Wünschen war Ross geladen.

Er spürte den Frühling. Seine Gefühle standen in Flammen, wenn er seinen Zustand einmal poetisch beschreiben wollte. Und Flammen mussten gelöscht werden.

Drei Frauen!

Die Zeit war um. Ross startete den Wagen, fuhr noch ein Stück den Weg hoch, um direkt vor der Mauer anzuhalten. Genau um 20 Uhr hatte er sein Ziel erreicht. Fast berührte die lange Schnauze des Jaguar das Gittertor. Die gelben Lichtlanzen der Scheinwerfer leuchteten hindurch, tupften über einen mit Kies bestreuten Weg und verschwanden innerhalb dicker Dunstschwaden.

Er stieg aus. Wie er es sich vorgenommen hatte, stellte er den Mantelkragen hoch. Seine Missionen hatten stets etwas Verschwörerisches an sich, denn so kam er sich vor. Er klingelte.

»Bitte?«, fragte eine Stimme aus dem Lautsprecher.

Ross zuckte zusammen. Allein die Stimme, dieses eine Wort nur. Was darin an Hoffnungen und Versprechungen mitschwangen, war wirklich sensationell. Er bekam einen trockenen Hals.

»Bitte, melden Sie sich!«

Ross hörte die Aufforderung, räusperte sich und sagte seinen Namen mit fremder Stimme. Er war vollkommen durcheinander.

Das ihm antwortende Lachen klang ein wenig kratzig. Die Technik verzerrte die Stimme.

»Ich … ich war hier noch nie«, sagte er. »Deshalb bin ich etwas nervös.«

»Fahren Sie bis zum Haus, Mister.«

»Sehr gern, natürlich.« Fandon nickte, drehte sich um, stieg ein und atmete tief durch. Dabei wischte er sich übers Gesicht. Er fühlte die Nässe unter den Fingerkuppen. Vor Aufregung war er tatsächlich ins Schwitzen gekommen.

Wenn die Frau hielt, was die Stimme versprach, erlebte er den Himmel auf Erden.

Er sah zu, wie das Tor zurückglitt. Keinen Laut vernahm er. Der Motor des Jaguar schnurrte sanft wie eine Katze.

Später knirschte der Kies unter den breiten Reifen. Mit stark gezähmten Pferdestärken kroch der Wagen den geschwungenen Weg entlang. Das Haus war noch nicht zu sehen. Es musste hinter den Bäumen liegen. Außerdem war es bis zur Küste nicht sehr weit.

Menschengroße Laternen säumten den Weg. Die Kuppeln bestanden aus Glas. Sie besaßen seltsame Formen. Keine Birne brannte in ihnen. Ross kamen sie vor wie gespenstische Gesichter.

Dunst lag auf dem glatten Rasen. Die Schwaden waren dünn und schienen mit den Spitzen der kurzen Halme verwachsen zu sein. Manchmal streckte ein Baum seine kahlen Zweige bis über den Weg. Auf Ross wirkten sie wie knorrige Arme.

Er hätte jetzt gern geraucht, doch er unterdrückte das Verlangen und vertröstete sich auf später. Vielleicht würde er auch Champagner trinken. Als er daran dachte, bewegte er die Lippen. Die Hände am Lenkrad zitterten leicht. Schweiß bildete sich auf den Handflächen.

Der Park schwieg. Die Luft drückte den Dunst nach unten. Die Bäume kamen ihm wie gebeugt dastehende Riesen vor, und die Buschgruppen erinnerten ihn an Grenzen, die Wege zu anderen Welten markierten.

Ross fühlte die seltsame Atmosphäre, in die er hineinfuhr.

Vielleicht musste das so sein, ihm stand schließlich ein Abenteuer besonderer Art bevor.

Noch eine Kurve.

Weit geschwungen war der Weg. Wie der erste Bogen einer großen Acht kam er Ross vor. Der Wagen rollte vor der beleuchteten Freitreppe des Hauses aus.

Das Ziel!

Ross Fandon atmete tief durch. Jetzt gab es kein Zurück mehr. Als er ausstieg, dachte er für einen Moment an seine Frau.

Wenn Thelma ihn jetzt hätte sehen können, sie hätte getobt, ihn als glatzköpfigen, geilen Widerling beschimpft, der scharf auf junges Fleisch war und sich zur Hölle scheren sollte.

Okay, er war keine Schönheit. Die meisten Haare fehlten ihm. Sport hatte er auch nie betrieben, und sein Bauch wölbte sich vor wie eine Kugel. Aber er hatte Geld!

Die Stufen waren ein wenig glitschig. Moos wuchs auf dem Gestein. Überhaupt machte das Haus einen heruntergekommenen Eindruck, selbst in der Dunkelheit, dies konnten auch nicht die blattlosen Efeuranken verdecken, die sich wie dünne Schlangen an dem Gemäuer hochzogen.

Die Tür schien stabil zu sein. Sie bestand aus Holz, das eine seltsame Maserung zeigte. Wenn Ross Fandon die Linien verfolgte, glaubte er, ein Gesicht zu erkennen. Eine Fratze, höchstwahrscheinlich die einer Frau.

Es waren böse Züge. Sie gefielen dem Mann nicht, und er blickte an ihnen vorbei.

Links entdeckte er einen Klingelknopf im Mauerwerk. Drücken brauchte er ihn nicht, denn die Tür schwang auf, als wäre sie von Geisterhänden bewegt worden.

Ross Fandon erschrak und zuckte sogar zurück. Nicht einmal ein Lächeln wollte ihm gelingen, dafür kroch ihm eine Gänsehaut über den Rücken, die erst verschwand, als die Tür etwa auf halber Breite zur Ruhe kam.

So blieb sie.

Die Schwelle lag dicht vor ihm, doch Ross traute sich plötzlich nicht, sie zu überschreiten. Seine Erwartung war verflogen und hatte einer gewissen Reue Platz geschaffen. Er fragte sich, ob er hier überhaupt richtig war.

»Tritt bitte näher!«, rief eine Frau aus einem dunklen Zimmer. Diese Aufforderung unterbrach seine Gedanken. Zudem kannte Ross die Stimme vom Lautsprecher, und es war der Klang, der ihn alle Ängste und Sorgen vergessen ließ.

Mit der rechten Hand stieß er die einen Spaltbreit offene Tür noch ein wenig weiter nach innen und betrat das Zimmer, wobei er ein Zittern in den Kniekehlen nicht unterdrücken konnte.

Hinter der Tür lag schon der Teppich. Der Mann hatte das Gefühl, auf weichen Rasen zu treten. Seine Schritte waren lautlos.

Das interessierte ihn aber nicht, denn er sah die Frau.

Sie stand dort, wo die einzige Lichtquelle des Raumes allmählich von der Dunkelheit verschluckt wurde, sodass ein Teil der Gestalt im Schatten blieb.

Welch ein Weib! – Ross Fandon liebte die Heldinnen, die Göttinnen und die Liebesdienerinnen der griechischen Mythologie. Diese Frau trug ein weißes Gewand, das ihr bis zu den Knöcheln reichte und an der Hüfte von einer dunklen Kordel gehalten wurde, die mit Goldfäden durchwebt war. Eine wahre Haarflut umschwebte ihren Kopf. Ross konnte nicht genau sagen, um welch eine Farbe es sich dabei handelte. Er tippte auf ein sattes Braun, vielleicht aber auch mit einem Stich ins Rötliche. Da war er sich nicht sicher. Das Gesicht der Frau lag zum Teil im Schatten. Dennoch glaubte Ross, nie ein schöneres oder ebenmäßigeres gesehen zu haben. Diese Frau war für ihn ein Wunder.

»Willst du nicht näher kommen?«, wurde er gefragt. Als die Aufforderung unterstreichende Geste streckte die Frau die rechte Hand aus. »Und schließe die Tür ruhig hinter dir. Wir wollen ja unter uns bleiben, Ross. Oder nicht?«

»Natürlich.« Fandon erkannte seine Stimme kaum wieder. Mit dem Ellbogen gab er der Tür einen Stoß. Sie fiel leise ins Schloss, und Ross hielt seine Blicke auf die Frau gerichtet, die ihren Zeigefinger bewegte und den Mann lockte.

Er schwebte auf sie zu. Die Einrichtung des Zimmers nahm er überhaupt nicht wahr, er hatte nur Augen für die Frau, die auf ihn wartete und ihn, als er dicht vor ihr stand, anfasste. Ihre Finger berührten die seinen.

Der erste Kontakt war wie ein elektrischer Impuls. Ross zuckte regelrecht zusammen, was die Frau zu einem leisen Lachen veranlasste. »Mir scheint es, du hast Angst vor mir …«

Er schüttelte den Kopf. »Nein, sicher nicht. Es ist nur alles so …« Er fand das richtige Wort nicht, aber das Wesen vor ihm half:

»So märchenhaft?«

»Ja, richtig. Das ist das Wort.«

»Vielleicht erlebst du ein Märchen?«

»Es wäre zwar schön«, sagte er rau. »Aber ich liebe die Realität. Märchen sind wie Seifenblasen. Sie platzen zu leicht, wenn du verstehst, was ich meine.«

»Schon.«

Er schaute sie an. Unter dem Gewand war sie nackt. Er sah ihre Brust. Hochangesetzt mit kleinen, spitzen Warzen, die gegen den Stoff drückten.

Ross konnte sich nicht mehr beherrschen, hob die Hände und strich leicht über den hauchdünnen Stoff.

»Das alles wird dir gehören«, sagte die Frau.

Als hätte er etwas Verbotenes getan, so hastig zuckten seine Hände wieder zurück, und die Frau vor ihm begann zu lachen. »Ich heiße übrigens Yvonne.«

»Ein schöner Name.«

»Findest du?«

»Sicher.«

Ross war total erregt. Der Anblick dieser Frau hatte ihn aufgeputscht.

»Woran denkst du?«, fragte sie.

»Du bist doch nicht allein?«

»Nein, die anderen beiden warten.«

Er sah sich um. »Und wo? Ich sehe niemanden.«

Yvonne lachte leise. »Dieses Haus«, so erklärte sie, »steckt voller Geheimnisse. Es gibt Dinge, die du siehst, und welche, die du nicht sehen kannst. Du hast uns gewählt, uns drei, und du wirst etwas erleben, das einmalig ist.«

»Das hoffe ich.«

Yvonne beugte sich vor. Dabei bemerkte der Mann, dass ihre Augen grünlich schimmerten. »Was du hier geboten bekommst, gibt es nirgendwo auf der Welt, das kann ich dir versprechen. Es ist die einmalige Art der Liebe. Eine Liebe, die in Tausenden von Jahren nur sehr wenige erfahren haben. Du gehörst zu den Auserwählten.«

Ross nickte. Allmählich fand er seine Selbstsicherheit zurück. »Na ja«, sagte er, »das ist alles nicht schlecht, aber ich habe schon öfter ähnliche Worte gehört. Haltet ihr auch, was ihr versprecht?«

»Noch mehr, mein Lieber, noch mehr.« Yvonne lächelte dabei, doch das Lächeln erreichte ihre Augen nicht. Sie blieben unbeteiligt und glitten über die Gestalt des Mannes wie der taxierende Blick eines Auktionators bei einem nicht sehr solvent aussehenden Kunden.

Ross Fandon spürte eine gewisse Unsicherheit in sich aufsteigen. Er begann zu lächeln, hob die Schultern und sprach vom Geld, während er gleichzeitig den rechten Arm anwinkelte und die Hand in den Jackettausschnitt wandern ließ.

»Ich habe gehört, dass ihr nicht billig seid. Wenn wir uns über den Preis …«

»Aber nicht doch, mein Lieber. Du brauchst nichts zu zahlen«, sagte Yvonne leise.

Ross war erstaunt. Seine kleinen Augen wurden groß. »Wieso? Ich komme als Kunde …«

»Wir reden später darüber«, erwiderte Yvonne und fügte ein »Wenn überhaupt« hinzu.

Fandon hob seine rundlichen Schultern. »Mir soll es recht sein. Erst das Vergnügen, dann …« »Der Tod«, vollendete Yvonne.

»Was?«

Sie lachte und bot ihm ihren Arm. »Es ist eine Redensart, die ich einmal aufgeschnappt habe.«

»Ach so.«

»Wir werden diesen ungastlichen Raum verlassen, mein Lieber«, erklärte Yvonne. »Lass dich führen.«

»Sehr gern. Darf man fragen, wohin wir gehen?«

»Ich verrate es ungern. Aber hast du schon mal etwas von einem Liebeskeller gehört?«

»Liebeskeller?«

»Ja, wir haben ihn. Dort wird dir etwas geboten, von dem du in deinen kühnsten Träumen noch nichts gehört hast.«

Ross leckte sich die Lippen. »Davon hat mir mein Freund aber nichts gesagt.«

Yvonne blieb stehen. »Hast du mit ihm gesprochen?«

»Nein, kaum. Ich meine vorher …«

Sie lachte. »Sicher, ich verstehe. Der Liebeskeller ist geheim und vielleicht einmalig in der Welt.«

»Dann lasse ich mich überraschen.«

Sie schritten in dem schummrigen Licht auf eine Pendeltür zu, die auf der Innenseite ein dickes rotes Polster zeigte. Yvonne schob sie auf. Beide durchquerten einen Gang und kamen zu einem Aufzug.

Yvonne hielt dem Gast die Tür auf. Der war Überraschungen mittlerweile gewohnt und wunderte sich auch nicht, dass die Wände tapeziert waren. Mit roter Tapete! Im Aufzug hing auch ein Bild, auf dem das Gesicht einer Frau abgebildet war.

Ross starrte dieses Gesicht an. Der Zeichner hatte einen dicken Pinsel verwendet und die Striche weich gezogen, sodass sie an manchen Punkten verliefen. Auch schien die Farbe unterschiedlich stark aufgetragen zu sein. Im Bereich der Augen und der Stirn war sie nur hauchdünn.

Ross wollte das Bild berühren. Ein scharfer Zuruf stoppte ihn.

»Nicht anfassen!«

Fandon drehte sich um. »Wieso?«

»Das Gesicht zeigt Lilith!«, erklärte Yvonne mit einer Stimme, in der Ehrfurcht mitschwang.

Der Mann verzog die Lippen. »Lilith?«, fragte er. »Tut mir leid, ich kenne die Dame nicht.«

Die Augen der rothaarigen Frau bekamen einen schwärmerischen und nahezu entrückten Glanz. »Lilith ist uralt. Fast so alt wie die Welt. Wie es Adam und Eva gegeben hat oder Kain und Abel, so hat es auch Lilith gegeben …«

»Wer war sie denn?«

»Die erste Hure!«, erklärte Yvonne. »Sie hat sogar Adam verführt.« Die Frau lachte laut, und Ross Fandon wurde es plötzlich ganz anders. Zum ersten Mal bereute er sein Kommen. So eine Person wie diese Yvonne hatte er noch nicht erlebt. Und was sie da von dieser Lilith erzählt hatte. Erschreckend. Aber das waren Legenden, Sagen …

»Wir sind da!«

Ross wunderte sich. Er hatte überhaupt nicht bemerkt, dass der Lift gefahren war.

Yvonne stand an der Tür. Sie streckte den Arm aus und drehte ein wenig die Hand. Dann öffnete sie.

»Du kannst gehen«, sagte sie.

Eine zweite Stimme antwortete: »Willkommen im Liebeskeller, Fremder …«

Hatte Ross Fandon bisher noch an eine Lüge oder einen Trick geglaubt, wurde er durch die zweite Stimme eines Besseren belehrt. Und wo zwei Frauen waren, da gab es bestimmt auch eine dritte.

Keine Lüge, kein Bluff, und der Kunde bekam allmählich einen trockenen Hals. Drei Frauen und er. Klar, er hatte es so gewollt, doch vielleicht hatte er sich zu viel zugemutet. Er kam sich bereits vor wie eine Fliege im Spinnennetz.

Er wusste Yvonne hinter sich, denn ihr warmer Atem strich über seinen Hals. Und ein Schauder rann über seinen Rücken.

»Willst du nicht gehen? Oder gefällt dir unser Liebeskeller nicht, mein Freund?«

»Schon … aber ich weiß nicht, ob das das Richtige für mich ist.«

»Für einen Mann wie dich ist es das Richtige«, erklärte Yvonne mit flüsternder Stimme. »Ganz bestimmt sogar. Du wirst den Himmel auf Erden erleben. Dafür sorgt Lilith.«

»Was hat sie damit zu tun?«

»Sie ist allgegenwärtig. Ihr Geist beflügelt und beseelt uns. Wusstest du das nicht?«

»Mag schon sein.«

»Will er nicht kommen?«

Ross Fandon hörte die Stimme und krauste die Stirn. Es war wieder eine andere. Nun hatte er den Beweis bekommen, dass ihn in dem Liebeskeller drei Frauen erwarteten. Er spürte die Hand auf dem Rücken. Yvonne hatte die Finger ausgebreitet. Sie drückte Ross sachte, aber zielstrebig nach vorn. Fandon blieb nichts anderes übrig, als sich in Bewegung zu setzen.

Vorsichtig verließ er den Fahrstuhl. Das Zittern in den Knien hatte er noch immer nicht überwunden. Es kam ihm vor, als würde er den Boden überhaupt nicht berühren, sondern über ihm schweben. Dafür sorgten die Teppiche, die auch diesen Kellerboden zu einer weichen Wiese machten.

Je tiefer er hineinging, um so mehr veränderte sich die Umgebung. Er hatte das Gefühl, als würde er mit jedem Schritt etwas Neues hervorlocken, und so war es auch.

Geheimnisvolle Lichter glühten auf, sodass der gesamte Keller in Lichtinseln getaucht war, aber gleichzeitig noch genügend Schatten blieb. Dunkle Ecken, in denen man etwas verbergen konnte.

Fandon hatte seine erste Aufregung überwunden. Eine menschliche, für ihn gesunde Neugier schaffte sich freie Bahn, und so betrat er dieses Paradies, das ihm einen erotischen Himmel eröffnen sollte.

Er suchte die beiden anderen Frauen.

Bisher hatte er nur ihre Stimmen vernommen. Sie selbst hielten sich dort auf, wo auch die Schatten lauerten. Erst als der Besucher tiefer in den Liebeskeller hineingegangen war, lösten sich die beiden von ihren Positionen.

Eine Frau mit pechschwarzen Haaren trat von der linken Seite auf ihn zu. Im Gegensatz zu Yvonne trug sie die Frisur kurz geschnitten, zu vergleichen mit einem Pagenkopf. Das hellere Gesicht darunter wirkte wie das einer Puppe, wobei die dunklen Augen besonders auffielen.

»Ich bin Tamara«, sagte das Wesen und reichte dem Besucher die Hand, die dieser zögernd nahm.

Fandons Blicke glitten über die Gestalt. Sie war schlank, und im Gegensatz zu Yvonne trug sie Kleidung, die Ross an die Mädchen aus dem Londoner Westend erinnerte.

Eine glänzende knallrote Boxerhose mit einem hochangesetzten Beinausschnitt. Das Boxershirt war weiß, unter den Armen weit ausgeschnitten. Bei Profilsicht waren die Ansätze der Brüste zu sehen.

Auch diese Frau strahlte einen Sex aus, der den Mann antörnte. Sie lächelte ihn an. Vielleicht waren ihre Lippen ein wenig zu breit und zu rot, denn sie kamen Ross vor wie eine offene Wunde. »Ich begrüße dich in unserem Haus, mein Lieber. Mach es dir gemütlich, dann werden wir dir all das geben, nach dem du und nach dem wir verlangen.«

Ross nickte nur. Sprechen konnte er nicht. Willig ließ er sich zu einem Diwan führen, der mit rotem Stoff bedeckt war und in den er tief einsank.

Er hatte nicht darauf geachtet, dass Tamara zu ihm gekommen war. Die nächsten Sekunden erlebte er wie im Traum.

Das Mädchen zog ihm den Mantel aus, dann die Jacke und nahm ihm auch die Krawatte ab.

»So geht es dir besser«, sagte sie.

»Ja, natürlich …«

Tamara legte einen Finger auf die Lippen und wandte den Kopf nach rechts, wo sich eine Gestalt aus der Dunkelheit löste.

Es war die dritte Frau.

Mit beiden Händen trug sie ein Tablett. Ihr Lächeln war lockend wie das einer Sirene aus der griechischen Mythologie.

Ross Fandon starrte sie an. Die dritte gefiel ihm am besten. Der Vergleich mit einem Engel kam ihm in den Sinn. Vielleicht war es das aschblonde Haar, das um ihren Kopf eine gewaltige Mähne bildete, die bei jedem Schritt wippte. Ihr Gesicht war nicht so weich wie die Züge der beiden anderen Frauen, aber Ross fuhr auf diese Frau ab.

Sie trug Schmuck. Es waren Goldreifen, die ihre Handgelenke umspannten und auch den schmalen Hals. Als Kleidung hatte sie ein durchsichtiges Nichts aus hellblauem Tüll gewählt. Durch den Stoff erkannte der Mann im Gegenlicht einen Körper, der ihn schwach werden ließ.

Vor ihm blieb dieses Wesen stehen. »Ich bin Rachel!«, vernahm er die geflüsterten Worte, während die Frau sich vorbeugte und Ross ihr makelloses Dekollete bewunderte. Seine Augen saugten sich daran fest, und er musste sich beherrschen. Zum Glück nicht sehr lange.

Auf dem Tablett stand ein Glas. Es schimmerte rot, als wäre es mit Blut gefüllt, doch es war nur die Färbung des Glases, der Inhalt perlte, wie es eben nur bester Champagner tat.

»Du sollst auf uns trinken«, sagte Rachel, während sie Ross das Glas reichte. »Es ist der Begrüßungsdrink. Jeder Kunde bekommt ihn.«

»Danke.« Ross nahm das Glas und konnte nicht vermeiden, dass seine Hände weiterhin zitterten. Er hatte Mühe, das Glas zu halten. Blamieren wollte er sich nicht. Deshalb führte er es rasch an die Lippen und schlürfte den köstlich kühlen Champagner.

Perlend rann er in seine Kehle. Mit einem zweiten Schluck leerte Ross das Glas, bevor er es wieder auf das Tablett stellte. »Köstlich«, stöhnte er, wobei er sich zufrieden zurücksinken ließ und zuschaute, wie die drei Frauen, die sich ausschließlich um ihn kümmern wollten, Aufstellung nahmen.

Neben, hinter und vor ihm hatten sie ihre Plätze gefunden. Ross kannte das. Er war schon in zahlreichen Clubs und Bordellen gewesen, und eigentlich hätte er jetzt einige seiner flotten Sprüche loswerden müssen, aber sie kamen ihm nicht über die Lippen. Nicht in dieser anomalen Atmosphäre. Die drei Frauen kamen ihm vor, als wären sie Wesen von einem anderen Stern. Um sich davon zu überzeugen, dass dies nicht so war, streckte er einen Arm aus und fuhr über Yvonnes Schenkel. Er spürte die weiche Haut, erlebte eine aufregende Form und lachte beruhigt auf.

Yvonne saß neben ihm. Sie beugte sich zur Seite und begann mit ihren langen Fingern sein Hemd aufzuknöpfen.

Den Kommentar dazu gab Tamara. Sie stand vor ihm, breitbeinig und obszön wirkend. Ross sah die schmalen, langen Beine und auch die hohen Einschnitte der Boxerhose.

Er brauchte nur zuzugreifen, aber er traute sich nicht, zudem lenkten ihn die tastenden Hände der schönen Yvonne ab.

»Wir werden gemeinsam ein Bad nehmen«, erklärte Tamara. »Es ist wie ein Ritual, das Bad der Reinigung, das Bad der Überraschungen. Lilith hat es so gewollt.«

Ross Fandon schüttelte den Kopf. »Was ihr immer mit dieser Lilith habt! Hat sie euch was zu sagen?«

»Lilith ist unsere Königin«, antwortete Rachel, die hinter ihm stand. »Sie ist die höchste …«

»Hure, wie?«, vollendete Fandon und begann heiser zu lachen. »Ja, sie ist eine Hure, sie … ahhh …« Das letzte Wort endete in einem Schrei, denn die Fingernägel, die in das Fleisch seines Nackens drückten, waren spitz wie kleine Messer.

»Du solltest Lilith nicht beleidigen«, sagte Rachel leise, aber sehr bestimmt.

»Das mögen wir nämlich nicht«, fuhr Tamara fort.

»Wer es trotzdem macht, muss die Folgen tragen«, erklärte ihm Yvonne und lächelte ihn dabei an.

Ross kam es vor, als hätte sie eine Morddrohung ausgesprochen. So kalt klang ihre Stimme. Ebenso würde sie lächeln, wenn er starb. Der Typ Frau war sie. Wäre Fandon oben gewesen, hätte er wahrscheinlich Reißaus genommen, doch in diesem Keller hielt er sich zurück. Hier kam er sich eingeschlossen vor. Es gab zwar den Weg zum Aufzug, aber drei gegen einen, das war ein wenig viel, auch wenn sie Frauen waren.

»Okay, okay, ich entschuldige mich«, sagte er. »Ich wollte nichts über eure Lilith verbreiten. Ich kenne sie ja nicht. Außerdem ist es mir egal, wisst ihr.«

»Natürlich.« Tamara gab die Antwort, und Yvonne zog ihn hoch.

»Wohin denn jetzt?«, fragte Ross.

»Ins Bad.«

»Und dann?«

»Wirst du weitersehen.«

Wohl war ihm nicht, doch Yvonne wusste, wie man Bedenken ausräumte. Sie presste sich eng an ihn, er spürte ihre Formen und Kurven und konnte seine Hände dorthin wandern lassen, wo es ihm gerade einfiel. Yvonne lachte dabei, sie ließ es sich gefallen, während sie Stöhnlaute ausstieß oder unter seinen forschenden, tastenden Fingern zusammenzuckte, mal den Kopf zurückwarf und ihm dabei die Haare ins Gesicht schleuderte, was ihn noch wilder machte.

Die beiden blieben stehen. Dem Mann war in diesen Momenten alles egal. Er hatte Yvonnes langes Kleid längst geöffnet, spürte in seinen Lenden den ungeheuren Druck und wurde plötzlich hart aus seinen Träumen gerissen, als die Frau ihn zurückstieß. Ross Fandon geriet ein wenig aus der Fassung. Er kam sich vor wie ein kleines Kind, dem man das liebste Spielzeug weggenommen hatte. »Was … was ist denn los, zum Henker?«

»Zuerst das Bad, mein Lieber.«

Er schüttelte den Kopf. »Verdammt, glaubst du, dass ich schmutzig bin? Dass ihr euch etwas holt?«

»Nein, Ross, das Bad hat einen anderen Grund!«

»Und welchen?«

»Einen rituellen.«

Fandons Augen verengten sich, als er die nächste Frage stellte. »Gehört ihr zu einer Sekte?« Er streckte den rechten Arm aus, was wie eine Anklage wirkte.

»Lilith will es so!«

Der Arm kippte wieder nach unten. Ross hatte eine scharfe Erwiderung auf der Zunge, schluckte sie aber in letzter Sekunde herunter. Er wollte keinen weiteren Streit provozieren, denn er wusste jetzt, wie empfindlich die drei Frauen darauf reagierten. Was er hier erlebte, war ihm noch nie passiert. Schließlich war er es, der zahlte. Sein Geld nahmen sie, und dafür konnte er verlangen, was er wollte. Er traute sich nicht, es Yvonne ins Gesicht zu sagen, stattdessen holte er tief Luft und nickte. »Dann tu deiner Lilith den Gefallen.«

Yvonne lachte leise. »Du wirst sehen, wie herrlich so etwas ist. Fantastisch. Wir haben besondere Anregungsmittel. Wunderbare Duftstoffe, Salben und Pasten. Sollte es je einen Himmel gegeben haben, so wird er sich dir öffnen. Wir gestatten dir einen Besuch in das Paradies der Liebe. Nicht jedem Mann wird diese Ehre zuteil.«

»Dafür kostet das Paradies auch einiges«, erwiderte Fandon.

»Ja, manchmal sogar das Leben.«

Ross reagierte nicht darauf. Er wollte es auch nicht. Zudem erregte ihn der Anblick der Frau aufs Neue. Ihr Gewand klaffte weit auseinander, nichts blieb Ross verborgen.

»Es ist nicht weit«, erklärte Yvonne. »Wir wollen die anderen beiden nicht zu lange warten lassen.«

Fandon hatte nicht bemerkt, dass Tamara und Rachel verschwunden waren. Er drehte sich jetzt um. »Wo stecken sie denn?«

»Im Bad.« Nach dieser Antwort schob sich Yvonne an ihm vorbei. Die rothaarige Frau ging nur wenige Schritte, tauchte kurz in den Lichtkreis einer roten Lampe ein und zog einen Vorhang ruckartig zur Seite. »Hier ist es.«

Fandons Blick wurde starr. Yvonne hatte nicht gelogen. Hinter dem Vorhang lag tatsächlich ein Bad, und diesmal wurde der Besucher wieder überrascht.

Er hatte schon zahlreiche Bäder gesehen, aber keines davon besaß ein so ausgefallenes Interieur. Schwarze Kacheln an den Wänden und auf dem Boden. Statt einer Wanne gab es einen kleinen Pool, der in den Boden eingelassen war. Die Wände des Pools waren hellrot, sodass das in ihm dampfende Wasser wie dünnes Blut aussah. Rötlich schimmernde Schwaden zogen träge durch den großen Raum, und Ross hörte die Aufforderung der rothaarigen Yvonne, als sie sagte: »Willst du nicht eintreten?«

»Es muss ja wohl sein.«

»Sicher.«

Er ging an ihr vorbei. Abermals zitterten seine Knie. Im Magen spürte er einen leichten Druck, der immer dann auftrat, wenn er etwas völlig Neuem begegnete, wie das hier der Fall war.

Ein seltsamer Duft lag in der Luft. Fandon kannte ihn nicht, er hatte ihn noch nie wahrgenommen und fragte sich, welche Essenzen wohl verwendet wurden.

Es roch schwer und süßlich, nicht unangenehm, aber auch nicht zu anregend. Und noch eine Komponente glaubte er wahrzunehmen.

Ein wenig faul riechend, nach verwelkten Blumen, alter Erde, verwesendem Fleisch.

Ja, das konnte es sein. Und er fand auch den Begriff für diesen Duftstoff.

Moder …

Ross Fandon schluckte. Das Wort Moder erinnerte ihn an den Tod, an die Vergänglichkeit, an den Friedhof, an Grab und Särge. Vor sich selbst schüttelte er den Kopf und schalt sich einen Narren. Es war Unsinn, so zu denken. Was sollten die drei Frauen mit Moder und Friedhof zu tun haben? Nichts, gar nichts.

»Willst du nicht endlich kommen?«, fragte Yvonne lockend.

»Entschuldigung, aber ich war einfach überwältigt. So etwas habe ich noch nie gesehen.«

Das Mädchen lachte girrend. »Ja, mein Lieber, wir sind wirklich einmalig.«

»Das habe ich schon längst bemerkt.« Mit diesen Worten auf den Lippen betrat er das große Bad. Er wunderte sich über die vielen Spiegel, deren Flächen eine gewisse Mattheit zeigten, die auf den Mann ebenfalls unnatürlich wirkte, und auch die kreisförmig angelegte Wand überraschte ihn. Ihm fiel Salvador Dali ein, der in seinem Haus ebenfalls derartige Wände bevorzugte.

Waschbecken gab es nicht. Dafür Kisten oder Truhen, die mit roten Tüchern bedeckt waren.

Er wunderte sich, gab aber keinen Kommentar ab, sondern schaute zu den beiden Frauen hin, die sich am Kopf- und Fußteil der ovalen Wanne aufgebaut hatten.

Tamara und Rachel hatten sich ihrer Kleidung entledigt. Völlig bloß standen sie da, lächelten ihn an, lockten und hatten Haltungen eingenommen, die alles versprachen.

Die roten Dampfschwaden, die von der Oberfläche des heißen Wassers aufstiegen, verschonten auch ihre Körper nicht. Sie glitten über sie hinweg, berührten sie und gaben ihnen manchmal das Aussehen von Elfenwesen.

Es war eine unwirkliche Welt, die Ross Fandon betreten hatte und an die er sich erst noch gewöhnen musste. So etwas träumte man normalerweise nur, und für Ross Fandon war ein solcher Traum Realität geworden.

Tamara und Rachel lächelten innerlich, aber ihre Gesichter blieben seltsam verzerrt, als hätten sich Masken über die normalen Gesichtszüge geschoben.

Plötzlich war Yvonne wieder bei ihm. Sie zog ihn aus. So geschickt und so schnell, dass es Ross überhaupt nicht einfiel, sich zu wehren oder sie an ihrem Tun zu hindern. Seine Kleidung fiel, und er spürte nicht einmal Scham, als er sich den Blicken der drei Frauen präsentierte.

Er war keine schöne Erscheinung, erst recht nicht vom Körperbau her, aber das brauchte die Mädchen nicht zu kümmern.

Sie wurden ja für den Job bezahlt.

Yvonne fasste ihn unter. Sacht drückte sie ihn nach vorn, und so blieb ihm nichts anderes übrig, als sich dem ovalen Pool zuzuwenden.

»Das Wasser ist angenehm warm«, versprach Yvonne. »Du kannst hineinsteigen, ohne die Zehenprobe durchführen zu müssen.« Sie fügte ihren Worten ein leises Lachen hinzu.

Am Rand blieb Ross stehen. Er blickte auf das Wasser und merkte, wie sein Körper von den Dunstschwaden berührt wurde. »Kommt ihr denn auch mit?«, fragte er.

»Später vielleicht.«

»Warum nicht gleich?«

»Keine Fragen bitte. Überlass alles andere uns.«

Ross hob die Schultern. Vielleicht war es wirklich besser, wenn er nichts sagte. Die Mädchen schienen sich auszukennen, sie waren Profis. Und nichts anderes hatte er gewollt.

Die riesige Wanne besaß an der Seite zwei Stufen, die er hinuntersteigen musste. Er tat es vorsichtig und spürte die Wärme des Wassers an seinen Füßen. Yvonne hatte nicht gelogen. Die Temperatur empfand er tatsächlich als angenehm. Beim nächsten Schritt hatte er den tiefsten Punkt erreicht. Das Wasser reichte ihm bis zur Hüfte. An den ungewöhnlichen Duft hatte er sich gewöhnt, der passte einfach dazu, und er störte ihn auch nicht beim Atmen.

Nur etwas war seltsam. Obwohl er alles in der Realität erlebte, kam es ihm vor wie ein Traum. Die Zeit schien nicht mehr normal zu laufen. Irgendwie war sie anders gepolt, lief langsamer ab, und auch seine eigenen Bewegungen kamen ihm nicht mehr so forsch vor wie sonst.

Irgendetwas schien da nicht zu stimmen. Es war müßig für ihn, sich darüber Gedanken zu machen. Es zählte allein der Augenblick und die folgende Zeit, in der sich die drei Frauen um ihn kümmern würden.

Ohne die Aufforderung erhalten zu haben, setzte er sich hin und lehnte sich zurück.

Entspannung war das, was er gewollt hatte.

Ross blickte auf.

Zwei Mädchen sah er. Tamara hatte sich rechts von ihm aufgebaut. Ihr nackter Körper zeigte eine gewisse Naturbräune. Auch schien sie Bodybuilding oder Gymnastik zu treiben, denn sie wirkte durchtrainiert.

Links stand der »Engel« Rachel!

Ein Weib wie eine Sünde. Vielleicht für Schlankheitsfanatiker ein wenig zu üppig, aber für ihn gerade richtig. Seine Blicke konnten sich nicht von ihrem Körper lösen.

Dennoch wurde er abgelenkt, als die hinter ihm stehende Yvonne mit der Massage begann. Sie hatte sich auf den Rand neben der Wanne gekniet und knetete Fandons Hals.

Ihre Hände waren wunderbar. So zart und weich auf der einen Seite, dann wieder fest zupackend, wenn sie verkrampfte Muskelpartien lösen wollte.

Ein wunderbares Gefühl, und alle Skepsis entschwand bei Ross Fandon. Er hatte es richtig gemacht. Diese drei konnten ihm schon das Paradies eröffnen.

Er schloss die Augen und gab sich völlig den massierenden Händen hin und dem Gefühl, geborgen zu sein. Seine Bedenken verschwanden, er schaute in die Dämpfe, blickte sogar hindurch, konnte die Spiegelflächen sehen und den matten Glanz, der auf ihnen lag. Vielleicht sorgte der Dampf dafür, dass sie so wirkten. Eine andere Erklärung hatte er nicht.

Es war wunderbar …

Yvonne sagte etwas. Er zuckte zusammen, als ihre Lippen sein rechtes Ohr berührten und er Worte vernahm, die ihn in Erregung versetzten. Obszöne Sätze, Dinge, die passten und die er hören wollte. Sie versprach ihm vieles, und ihr flüsternder Monolog endete mit einer Frage. »Möchtest du das alles erleben, mein Lieber?«

»Ja …«

»Du wirst es, und du wirst noch mehr geboten bekommen, das kann ich dir versprechen.«

Er lachte leise, sah wieder in die Schwaden und stellte fest, dass die anderen beiden Frauen ihre Plätze verlassen hatten.

»Wo sind Tamara und Rachel?«

»Sie holen etwas.«

»Wie …«

»Da sind sie doch!«

Ross Fandon guckte nach vorn. In der Tat erschienen die beiden Frauen innerhalb der wallenden Schwaden. Sie waren neben einer Truhe stehen geblieben, bückten sich und zogen das Tuch weg. Es flatterte zur Seite wie eine dünne Fahne, bevor es neben dem Beckenrand liegen blieb.

Tamara hob den Deckel an.

Rachel griff in die Öffnung.

»Schließe die Augen und genieße!«, vernahm Ross den geflüsterten Befehl der rothaarigen Yvonne. »Genieße die Entspannung, die Ruhe, bereite dich auf das Paradies vor, das Lilith für dich schafft. Es ist ein besonderes Paradies, in das du einkehren wirst wie ein durstiger Wanderer in eine Gaststätte.«

Es waren beruhigende Worte. Selbst der Name Lilith erschreckte den Mann nicht mehr.

Er schloss die Augen und spürte die Wärme des Wassers auf seinem Körper, wurde von außen und innen erhitzt, dennoch schwitzte er nicht, sondern erlebte ein Gefühl der Befreiung.

Der Duft nebelte ihn ein, die Schwaden umtanzten ihn, und er spürte nach wie vor Yvonnes Finger am Nacken und auf den Schultern. Das Mädchen arbeitete geschickt, die Fingerkuppen waren weich, gleichzeitig fest und fordernd. Der Kreislauf des Kunden geriet allmählich auf Touren. Das Blut schien schneller durch die Adern zu strömen und verursachte ein fernes Rauschen.

Ross Fandon war in einer Welt gefangen, die von den drei Frauen als Paradies bezeichnet worden war. Er erlebte es am eigenen Körper und glaubte zu schweben.

Dass Yvonne ihren Platz verließ, nahm er nicht wahr. Auch nicht, wie sie lautlos in die den kleinen Pool umgebenden Schwaden eintauchte und sich den beiden anderen zuwandte, die den Deckel der Truhe hatten hochkant offen stehen lassen.

Die drei Frauen tauschten einen Blick des Einverständnisses. Der Ausdruck ihrer Augen war identisch. Er zeigte ein kaltes Lächeln und dabei ein Wissen, das auf gewisse Art und Weise als verschwörerisch anzusehen war.

»Hol es dir, Yvonne«, hauchte Rachel und deutete auf die Truhe.

Yvonne nickte, streifte mit einer Bewegung der Schultern ihr Gewand ab und griff in die Truhe.

Sie nahm ihren Gegenstand hervor.

Die beiden anderen hatten ihn schon. Doch sie hielten die Hände auf dem Rücken versteckt. Noch war es nicht so weit, aber das schaurige Ritual war nicht mehr aufzuhalten.

Des Mannes waren sie sich sicher. Mit lautlosen, zielstrebigen Schritten verließen sie den Dunstkreis des rötlich schimmernden Nebels, gingen ein Stück gemeinsam, um sich danach zu trennen.

Jede von ihnen lief auf einen Spiegel zu.

Etwa eine Fußlänge davor blieben sie stehen. Sie schauten auf die Flächen, aber sie sahen nicht ihre Gesichter, sondern eine andere Fratze. Ein Gesicht, das von einer ebenmäßigen Schönheit war und dennoch den Ausdruck eines unsagbar Bösen in sich barg.

»Wir holen dich, Lilith!«, flüsterten die drei Frauen im Chor. »Wir werden ihm den Hexenkuss geben, um dich zu befreien. Noch einer muss sterben. Wir haben ihn bereits …«

Das waren die Worte, das war ihr Versprechen. Gemeinsam drehten sie sich wieder um.

Ross Fandon genoss derweil sein Bad. Die Arme hatte er ausgebreitet. Sie lagen auf dem Wannenrand, den Kopf hatte er zurückgelehnt, den Mund halb geöffnet, der Atem ging flach, aber gleichmäßig.

Manchmal lief ein Schauer über seine Haut. Da spürte er ein wundervolles Prickeln, das sein Blut in Wallung brachte.

Bis es vorbei war.

Es ging so schnell, dass er eine Weile brauchte, um sich daran zu gewöhnen. Hatte er vorhin die Wärme genossen, so stieß ihn die Kälte des Wassers nun ab.

Es wurde widerlich kalt, und Ross Fandon erwachte wie aus einem tiefen Traum.

Er setzte sich höher hin, öffnete die Augen und stellte fest, dass die Dampfschwaden verschwunden waren.

Die Sicht war frei.

Frei auf die drei Frauen!

Was er sah, ließ ihn vor Grauen erstarren!

Sie standen noch immer am Rand. Diesmal so, dass er sie alle drei ins Blickfeld bekam.

Yvonne und Tamara auf der rechten Seite, links – den beiden gegenüber – hielt sich Rachel auf.

Waren es noch Rachel, Yvonne und Tamara? Nein, er hatte andere Frauen kennen gelernt, nicht diese Geschöpfe, die ihn da anstarrten, obwohl sie noch immer dieselben Körper besaßen.

Aber die Gesichter!

Aus ihnen sprach das Grauen!

Alte, hässliche Fratzen. Widerlich anzuschauen, angsteinflößend, verzerrt, furchtbar. Es waren die Visagen greiser Vetteln oder alter Hexen. Ja, Hexen!

Da war Rachel. Grau die Haut, faltig, aufgerissen. Zäher Schleim drang daraus hervor, verteilte sich auf dem Gesicht, bevor er nach unten rann. Er besaß einen gelblichen Schimmer, lief über lappige Lippen, fand seine Bahn am Hals entlang und rann über den modellartigen nackten Körper nach unten. Die Augen waren von innen aus den Höhlen gedrückt worden, sie standen vor und erinnerten ihn an die Glotzaugen dicker Fische.

Ross sagte nichts, er drehte den Kopf und bekam Tamara in sein Blickfeld.

Blut, alles voller Blut. Ihr Gesicht war entstellt, die Haut geplatzt, und aus zahlreichen Löchern rann der rote Lebenssaft. Das ehemals so puppenhafte Gesicht hatte sich in eine Maske des Schreckens verwandelt.

Ein furchtbarer Anblick, denn auch die Haare waren verschmiert, da aus winzigen Wunden auf dem Kopf das Blut quoll.

Yvonne hatte ihn empfangen. Nichts war von ihrer Schönheit zurückgeblieben. Ihr Gesicht war nur noch ein widerliches, ekelerregendes Zerrbild. Irgendeine Kraft hatte sie zu mehreren fingerdicken Strähnen zusammengeknüpft, die auf einmal lebten, denn sie waren zu sich ringelnden Schlangen geworden. Ein wenig medusenhaft wirkte diese Person, denn ihr Gesicht war nicht zerstört. Dennoch hatte es einen anderen Ausdruck bekommen. Es war seltsam blass und bleich geworden, mit einer dünnen, fast durchsichtigen Haut versehen, und wenn Ross genauer hinsah, konnte er hinter der Haut das Gerüst der Knochen erkennen, aus denen sich das Gesicht zusammensetzte.

Fandon erlebte den puren Horror, und er besaß nicht einmal die Kraft, zu reagieren.

Er hockte im allmählich kälter werdenden Wasser der Wanne, starrte die drei Wesen an und wollte nicht glauben, dass es einmal die Mädchen gewesen waren, für die er so geschwärmt hatte.

Nein, das hier waren Furien!

Und sie hatten sich bewaffnet.

Tamara trug eine lange Zange. Auch Würgezange genannt. Man hatte sie im Mittelalter verwendet und damit die angeblichen Hexen bis zum Tod gequält. Tamara hielt die beiden ehernen Halbkreise der Zange offen, und sie zeigten genau in seine Richtung.

Auch Rachel besaß eine Waffe. Eine Kette, deren Glieder spitze, leicht gekrümmte Haken aufwiesen. Auch dieses Instrument hatten die Hexenjäger in zurückliegenden Zeiten benutzt und die Frauen damit auf grausame Art und Weise gefoltert.

Fast normal war die Waffe von Rachel. Ein Messer. Sehr lang die Klinge. Beidseitig geschliffen und auch spitz.

Die Furien standen da und starrten ihn an.

Aus Augen, die nur noch Ableger einer höllischen Magie waren.

Ross Fandon rührte sich nicht. Er zitterte nicht einmal. Ihn hielt der Schock, der blanke Wahnsinn umkrallt. Er war gekommen, um »Liebe« zu kaufen.

Mit dem Tod würde er bezahlen!

Ross Fandon wunderte sich über sich selbst, wie klar und nüchtern er trotz seiner ausweglosen Lage noch denken konnte. Er fragte sich sogar, wie sie ihn umbringen würden. Sie besaßen mindestens drei Möglichkeiten.

Nur über den Grund wusste er nichts. Sie konnten kein Motiv haben, es war unmöglich, er hatte ihnen nichts getan, schließlich arbeiteten sie als Huren, es war ihr Job, Kunden zu empfangen und deren Wünsche zu erfüllen.

Weshalb dann diese Verkleidung? All right, er gab gern zu, dass es Typen gab, die auf so etwas abfuhren, er gehörte nicht dazu und kam allmählich, nachdem der erste Schock abgeklungen war, zu der Überzeugung, dass es sich hier um einen makabren Scherz handelte. Es gab außergewöhnliche Masken, meist zu bestellen durch den Versandhandel, und solche Masken hatten sich die drei aufgesetzt, um ihn zu erschrecken.

Diese Folgerung brachte ihm ein wenig Erleichterung.

Ross Fandon beschloss, überhaupt nicht auf ihre Verkleidung einzugehen. Er wollte sie übersehen, nickte und sagte: »Lasst mich raus, bitte! Ihr habt euren Spaß gehabt. Ich will nicht mehr. Zudem wird das Wasser kalt.«

Niemand antwortete. Die drei Gestalten kümmerten sich überhaupt nicht um seine Worte. Ihr Schweigen fasste Ross Fandon als Einverständnis auf. Er winkelte die Arme an, um sich in die Höhe zu stemmen.

Rachel bewegte die Kette. Die einzelnen Glieder klirrten aneinander. Sie klingelten eine warnende Melodie, die der Mann in dem kleinen Pool auch verstand, denn er blieb sitzen. Und er sah zu, wie sich Rachel mit gleitenden Schritten in Bewegung setzte, um einen Teil des Beckens herumschritt, hinter ihm stehen blieb und so reagierte, wie er eigentlich erwartet hatte.

Als er das erneute Klingeln der Glieder hörte, war es zu spät. Etwas huschte vor seinem Gesicht entlang, und einen Augenblick später spürte er das Metall auf der Haut an seinem Hals.

Die kleinen, spitzen, gekrümmten Dornen lagen dort wie festgewachsen. Sie berührten ihn sacht, aber sie stachen nicht tiefer. Sie blieben liegen, ohne Wunden zu hinterlassen.

Die deutlich gesprochene Warnung verstand der Mann sehr genau. »Wenn du dich rührst, zerfetze ich dir die Kehle!«

Und so blieb er sitzen. Steif, ein Zittern mit aller Gewalt unterdrückend und darauf wartend, dass etwas geschah.

Er irrte sich nicht.

Als Nächste bewegte sich Tamara. Nachdem sie einen Schritt vorgegangen war und in seine Nähe gelangte, bückte sie sich und packte mit dem langen Würgeeisen blitzschnell zu.

Dicht unter der Schulter umklammerte es den rechten Arm des Mannes. Es schmerzte nicht, nur ein sanfter Druck wurde ausgeübt, doch der reichte aus.

Ross Fandon hütete sich, auch nur falsch mit den Augenwimpern zu zucken. Stattdessen schielte er dorthin, wo Yvonne stand. Als sie sich bewegte, begannen die Schlangen auf ihrem Kopf zu tanzen. Sie beugten sich nach vorn, stellten sich wieder hoch und drückten sich zurück, dabei blieben sie stets im Rhythmus der Schritte. In ihrem bleichen Gesicht mit der dünnen Haut rührte sich kein Muskel. Sie kam nahe an ihn heran, kniete sich hin, streckte den rechten Arm aus, sodass die Spitze der Klinge in Herzhöhe gegen die Brust des angststarren Mannes drückte.

Sekunden vergingen.

Ross Fandon kam sich vor wie in einer anderen Welt. Er saß da, dachte nicht mehr, schaute nur noch und spürte im Kopf eine nie gekannte Leere.

Die Falle war zugeschnappt, und er konnte sich als das Opfer bezeichnen.

Niemand sprach.

Es war die Stille, die ihn verrückt machte, und seltsamerweise trug die Kälte des Wassers dazu bei.

Unnormal, dass es innerhalb kurzer Zeit so schnell abkühlte. Schon längst fror er und hatte auf dem ganzen Körper eine Gänsehaut, die einfach nicht weichen wollte. Er starrte mit leerem Blick über die ruhige Wasserfläche, die einen seltsamen Schimmer bekommen hatte.

Hellgrau und an einigen Stellen silbrig schimmernd. So sah Wasser aus, wenn es zu Eis wurde.

Deshalb diese Kälte, und er wusste plötzlich, was ihm bevorstand. Nicht durch die Waffen sollte er getötet werden, sondern durch das Wasser. Es würde frieren, gleichzeitig Druck bekommen, der ihm schließlich den Atem raubte, bevor der Sensenmann mit seinen Knochenklauen zugriff und ihn in ein Reich holte, aus dem es kein Zurück mehr gab.

Als ihm das klar geworden war, riss bei Ross Fandon der Schock. Er fand seine Sprache wieder. Dass ihn die gefährlichen Waffen bedrohten, war ihm egal. Seine Angst, seine Wut und auch die Hilflosigkeit entluden sich in einem gellenden Schrei.

Markerschütternd hallte er durch das schwarz gekachelte Bad, brach sich mehrmals an den Wänden und splittete in mehrere Echos auf, die sich überlagerten.

Die drei Frauen rührten sich nicht. Sie blieben kalt wie das Eis auf dem Wasser, das allmählich dicker wurde und sich auch immer mehr ausbreitete. Es wanderte dem Kopf des Mannes entgegen. Der Schrei brach ab. Für einen Moment wurde es ruhig, bis Ross Fandon mit einem schlürfenden Atemzug die Luft einsaugte und anschließend Worte stammelte, die aus seiner heißen Angst geboren wurden.

»Ich … ich habe euch nichts getan, verdammt. Was macht ihr mit mir? Was habt ihr mit mir vor, ihr verfluchten Weiber! Was habe ich euch getan? Los, sagt es!« Seine Stimme kippte über, ein Hustenanfall schüttelte ihn durch. Er bewegte dabei die Füße, drückte sie nach oben und hörte das Brechen der dünnen Eisschicht auf der Wasserfläche.

Dort, wo ihn die Spitze des Messers berührte, zeichnete sich ein roter Punkt auf der Brust ab. Durch seine heftigen Hustenbewegungen hatte Ross dies provoziert, und der Tropfen lief allmählich über die Haut nach unten. Dabei erinnerte er an eine Perle, die an einem dünnen Faden hing.

Yvonne stand Ross am nächsten. Sie sprach er auch an, wobei er die Augen verdrehte. »Bitte!«, flüsterte er. »Bitte, sag du wenigstens etwas. Ich … ich … kann es nicht begreifen. Was habe ich euch denn getan?« Er flehte sie nicht nur mit Worten an, auch mit Blicken, und er wartete auf die Antwort.

Yvonne sah zu den anderen. Sie musste sich erst das Einverständnis ihrer »Schwestern« holen. Erst nachdem die genickt hatten, bekam Ross Fandon seine Antwort.

Dabei beugte sich Yvonne noch weiter vor. Sie näherte ihr bleiches Gesicht dem seinen. »Du bist der Letzte in der Reihe, der uns noch gefehlt hat. Wir brauchen dich für sie!«

»Mich?«

»Ja, dich …«

»Aber für was braucht ihr mich? Für was? Ich kann euch nicht helfen, wirklich nicht.«

Yvonne nickte. »Doch, du kannst. Schon immer hat sie Männer gemocht. Seit alters her …«

»Sie?« Ross dehnte das Wort. Gleichzeitig hatte er begriffen, und er sprach es auch aus. »Sprichst du wieder von Lilith?«

»Ja, sie ist gemeint.«

Obwohl ihm nicht danach war, musste er doch laut lachen. »Lilith!«, schrie er. »Immer wieder Lilith. Es gibt sie nicht. Es kann sie überhaupt nicht geben. Sie ist eine Einbildung, eine Fiktion. Nein, kommt mir nicht mit diesen Sachen …«

»Du wirst für Lilith dein Leben lassen!«, erklärte Yvonne mit einer Stimme, die keinen Widerspruch duldete. »So wie die beiden anderen es vor dir auch getan haben.«

»Lilith!«, wisperte der Mann. »Ich höre immer nur Lilith. Sie ist ein Phantom, eine Gestalt …«

»Sind wir auch Phantome?«

Ross Fandon zuckte zusammen und blickte schräg in die Höhe. Er schaute genau in das Gesicht der Frau und bemerkte hinter der bleichen Haut das Filigran der Knochen.

Auf dem Kopf bewegten sich die Haare wie rotbraune Schlangen, und sie neigten sich auch zu ihm herunter, wobei sie ihn aus stecknadelkopfgroßen Augen böse anstarrten.

Yvonne und die beiden anderen waren kein Bluff. Das Böse lebte, es steckte in ihnen, und wahrscheinlich musste er auch Lilith akzeptieren. Für einen Moment schloss er die Augen, wollte sich bewegen und stellte fest, dass es nicht mehr ging.

Das Eis hatte ihn erreicht!

Erst jetzt kam ihm zu Bewusstsein, wie stark unterkühlt sein Körper inzwischen war. Und als er an seiner Brust vorbei nach unten blickte, sah er den Blutstropfen, der nicht mehr im Wasser verrann, sondern sich auf der dünnen Eisdecke allmählich ausbreitete und dort wie ein Klecks roter Tinte wirkte.

»Du hast keine Chance mehr«, erklärte ihm Yvonne, »überhaupt keine. Wie die beiden anderen. Ich werde es sein, die dich opfert. Lilith braucht dich. Sie braucht einen Teil von dir. Das Wichtigste an deinem Leben. Dein Herz!«

»Neiiinnnn …!«

Der Schrei des Mannes endete in einem Röcheln. Und Yvonne stieß zu!

Über dem Atlantik hatte der Wind aufgebrist. Er zauberte kurze Wellenberge auf die lange Dünung und fuhr gegen die hohen Kreidefelsen, die das Gelände hinter der Küste abschirmten.

Er zerwühlte die Haare der hutlosen Männer und wehte ihnen den Geruch von kaltem Rauch, verbranntem Benzin, stinkendem Öl und geschmolzenem Lack entgegen.

Auch ich nahm den Geruch wahr. Ich hatte mich ein wenig abseits gestellt und schaute den Experten von Scotland Yard zu, die das Autowrack untersuchten.

Zudem befanden sich noch die Vertreter der örtlichen Mordkommission am Tatort. Ihr Leiter, ein Mann namens Charles Bingham, hatte mich angerufen.

Der Anblick des Meers interessierte mich nicht. Ich blickte zur linken Seite hoch, wo die Felsen weißgrau schimmerten und an einer schroffen, oftmals vorspringenden Kante endeten. Hoch über ihnen, wo dicke Wolken das blanke Himmelsblau verdeckten, segelten Möwen im Aufwind. Manchmal drangen schrille Schreie aus ihren Kehlen, als wollten sie sich darüber beschweren, dass wir ihre Ruhe störten.

Ich drehte mich ein wenig, weil ich den Geruch nicht mehr vertragen konnte. Den Mantelkragen hatte ich hochgestellt. Der Wind fuhr jetzt gegen meinen Rücken, während die Experten das Wrack vermaßen.

Es war ein Jaguar, der über die Klippen gestürzt war. Die Marke konnte man allerdings erst bei genauerem Hinsehen erkennen. Verbogenes Blech, verschmorte Leitungen, ein rußgeschwärzter Motor und Glassplitter, die bis in die schäumende Brandung geflogen waren, als der Wagen zwischen den Klippen zerschellte.

Der Fahrer war tot, aber so weit aus dem Wagen herausgeschleudert worden, dass ihn die Flammen nicht mehr erfasst hatten.

Er war von Fischern gefunden worden, die von See her das Feuer bemerkt hatten.

Der Fall wurde von Scotland Yard bearbeitet, dem »Verein«, dem ich als Oberinspektor angehörte. Ich ging zwar offiziell einem normalen Job nach, doch die an mich herangetragenen Fälle waren nie normal. Sehr oft ging es um Übersinnliches, aber auch um konkrete Dinge, zu denen ich die Existenz von Werwölfen, Vampiren und Dämonen zählte. Ich wusste, dass es sie gab, ich hatte oft genug gegen sie gekämpft, und ich wusste auch, dass eine Hölle existierte.

Was ich in diesem Fall zu tun haben sollte, war mir noch nicht ganz klar, zudem wollte ich die Ermittlungen der Spezialisten nicht stören und wartete ab, bis Inspektor Bingham auf mich zutrat. Er sprang dabei von Steinplatte zu Steinplatte, bis er dicht vor mir stehen blieb und dabei nickte, als hätte er von mir schon eine Antwort auf den Fall bekommen.

»Es ist tatsächlich so, wie ich angenommen habe«, sagte er. »Kein Irrtum möglich.«

Bingham machte einen ruhigen, ausgeglichenen Eindruck. In seiner Tweed-Kleidung hätte er gut und gern als Romanfigur von Dorothy Sayers durchgehen können, sogar die Pfeife fehlte bei ihm nicht. Sein dunkelbraunes Haar war gescheitelt, wobei ich mich wunderte, dass es selbst der Wind nicht zerzauste. Wahrscheinlich benutzte er eine besonders gute, wenn auch geruchlose Pomade. Der Anzug zeigte eine grüngraue Farbe, das Hemd und die Krawatte waren ebenfalls grün. Nur um einen Ton dunkler.

Er war schätzungsweise in meinem Alter. Die Lippen erinnerten mich an zwei schmale Messerrücken, während die Nase leicht gekrümmt aus dem Gesicht hervorsprang.

Wieder nickte er auf seine unnachahmliche Art, drückte mit dem Daumen Tabak in den Pfeifenkopf und zündete die Pfeife mit einem Sturmfeuerzeug an. »Ja, ich habe mich nicht getäuscht«, wiederholte er sich. »Es ist wie bei den anderen beiden Männern.«

»Wie was, Kollege?«, erkundigte ich mich und setzte eine etwas bissige Bemerkung hinterher. »Bisher weiß ich überhaupt nicht, wo und wie der Hase läuft.«

»Das werden Sie gleich anders sehen.«

»Da bin ich gespannt.«

»Glaube ich Ihnen, Mr Sinclair.«

»Inspektor, Sie können sich die Leiche jetzt genau ansehen.«

Der Doc hatte gerufen.

»Wollen wir?«, fragte Bingham.

»Wüsste nicht, was ich dagegen haben sollte.«

Bingham hielt mich noch zurück. »Aber machen Sie sich auf etwas gefasst. Es ist kein schöner Anblick.«

»Ich werde ihn überleben.«

»Das hoffe ich für die Aufklärung des Falles, denn ich möchte ihn gern abgeben.«

Der Tote war mit einer Plane zugedeckt worden. Damit sie nicht wegflog, hatte man sie an drei Seiten mit Steinen beschwert. Der Kopf des Toten lag in meiner Blickrichtung. Der Arzt, er trug über seinem Kittel einen Mantel, hatte sich bereits gebückt und die Plane an einem Ende gefasst. Er schaute zu uns hoch, sah unser Nicken und klappte die Plane zurück.

Darunter lag ein Mann. Der Kopf war an der rechten Seite beim Aufprall an einem harten Gegenstand zerschmettert worden, auch die Arme hatten etwas abbekommen, das alles interessierte mich nicht. Wichtig war die Brust des Toten. Jetzt wurde der Fall interessant für mich.

Die Wunde.

Groß und tief und genau dort sitzend, wo sich das Herz bei einem Menschen befindet.

Der Tote hatte keines mehr.

»Es ist ihm genommen worden«, flüsterte Bingham neben mir.

Er rauchte hastiger, und der scharf riechende Tabak wehte um meine Nase.

Ich schwieg. Bingham hatte recht gehabt. Der Anblick war nichts für schwache Nerven, ich blickte auch nicht länger hin, wandte mich ab und zündete mir eine Zigarette an, was trotz des steifen Windes schon beim ersten Versuch gelang.

»Soll ich ihn wieder zudecken?«, fragte der Arzt.

»Meinetwegen.« Inspektor Charles Bingham hatte die Antwort gegeben. Auch ich hatte nichts dagegen.

Bingham schien ein guter Psychologe zu sein, denn er ließ mich zunächst in Ruhe. Nach einigen Minuten fragte er, ob wir miteinander reden könnten.

Ich trat die Kippe aus. »Natürlich.«

»Sollen wir hier oder …«

»Haben Sie einen anderen Vorschlag?«

»Ich könnte einen Whisky gebrauchen. Als Medizin gewissermaßen, Im Wagen habe ich immer eine kleine Flasche.«

»Wenn Sie mir so kommen, sage ich nicht nein.«

Wir brauchten nicht die Felsen hochzuklettern, denn man hatte einen Kran aufgestellt. Er würde uns in die Höhe bringen.

Wir stellten uns auf die kleine Plattform, die ein Schutzgitter besaß. Durch einen elektrisch ausgelösten Signalton bekam der Kranführer Bescheid. Wir hoben ruckartig ab und mussten uns am Handlauf des Gitters festhalten, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Vor uns schien die Kreidewand in die Höhe zu steigen.

Der Wind wurde stärker, mein Mantelstoff knatterte. Inspektor Bingham hielt den Pfeifenkopf in der hohlen Rechten, als hätte er Angst davor, die Glut vom Wind ausgeblasen zu bekommen. Wir sprachen auf der Reise nach oben nicht miteinander.

Ich schaute in die Tiefe. Die Menschen wurden kleiner, und das Autowrack war nur mehr ein zwischen den Felsen kaum zu erkennender Klumpen.

Über die Kante holte uns der Kran hinweg. Er stand auf einem Spezialtransporter. Wir wurden gedreht und konnten neben dem hohen Führerhaus die Plattform verlassen.

Der Kranführer grinste uns an.

Bingham hob die Hand zum Gruß, ich grinste zurück und stiefelte neben dem Inspektor her zu seinem auf einer Wiese abgestellten Wagen. Er stand im schrägen Winkel zu den anderen Fahrzeugen der Mordkommission.

Als ich auf dem Beifahrersitz meinen Platz gefunden hatte, holte der Inspektor eine Taschenflasche aus dem Handschuhfach, schraubte sie auf und goss in die Verschlusskappe, die er als Becher zweckentfremdete, einen Schluck ein.

Ich trank auf sein Wohl, er anschließend auf das meine. Danach schraubte er die Flasche wieder zu. »Mehr als einen dürfen wir uns nicht leisten.«

Der Ansicht war ich auch.