Hexenliebe - Marita Spang - E-Book
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Marita Spang

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Beschreibung

Deutschland im Hexenwahn und mittendrin eine mutige Heldin - Gesamtausgabe von "Hexenliebe" 1613. Überall in Deutschland lodern die Scheiterhaufen. Der Hexenwahn greift auch auf die Eifelherrschaft Neuerburg über. Die junge Claudia von Leuchtenberg kämpft vergeblich dagegen, dass ihr Oheim als Landesvater die Verfolgungen unterstützt. Hilflos muss sie mit ansehen, wie Unschuldige sterben und sich gewissenlose Richter und Henker schamlos am Gut der Verurteilten bereichern. Erst als Claudias Jugendfreundin Barbara verhaftet und der Hexerei angeklagt wird, ersinnt sie einen waghalsigen Plan, um das System mit seinen eigenen Waffen zu schlagen.

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Seitenzahl: 959

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Marita Spang

Hexenliebe

Roman

Knaur e-books

Über dieses Buch

1613. Überall in Deutschland lodern die Scheiterhaufen. Der Hexenwahn greift auch auf die Eifelherrschaft Neuerburg über. Die junge Claudia von Leuchtenberg kämpft vergeblich dagegen, dass ihr Oheim als Landesvater die Verfolgungen unterstützt. Hilflos muss sie mit ansehen, wie Unschuldige sterben und sich gewissenlose Richter und Henker schamlos am Gut der Verurteilten bereichern.

Erst als Claudias Jugendfreundin Barbara verhaftet wird, ersinnt sie einen waghalsigen Plan, um das System mit seinen eigenen Waffen zu schlagen.

Inhaltsübersicht

MottoStadtansichtDramatis PersonaePrologTeil 1Kapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Teil 2Kapitel 11Kapitel 12Kapitel 13Kapitel 14Kapitel 15Kapitel 16Kapitel 17Kapitel 18Sonntag, 25. November 1612Kapitel 19Teil 3Kapitel 20Kapitel 21Kapitel 22Kapitel 23Kapitel 24Kapitel 25Kapitel 26Kapitel 27Kapitel 28Kapitel 29Teil 4Kapitel 30Kapitel 31Kapitel 32Kapitel 33Kapitel 34EpilogNachbemerkung und DankGlossarVerzeichnis wichtiger QuellenLeseprobe »Die Rose des Herzogs«
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Schlecht also ist die Frau von Natur aus,

da sie schneller am Glauben zweifelt, auch

schneller den Glauben ableugnet. Das ist die

Grundlage für die Hexen.

 

Heinrich Kramer, Malleus Maleficarum (Hexenhammer)

 

 

 

Nachdem ich viel und lange sowohl in der Beichte

als auch außerhalb mit diesen Gefangenen zu tun gehabt

hatte, nachdem ich ihr Wesen von allen Seiten

geprüft hatte, Gott und Menschen zu Hilfe und

Rat gezogen, Indizien und Akten durchforscht, mich,

soweit das ohne Verletzung des Beichtgeheimnisses

möglich, mit den Richtern selbst ausgesprochen,

alles genau durchdacht und die einzelnen Argumente

bei meinen Überlegungen gegeneinander abgewogen

hatte – da konnte ich doch zu keinem anderen

Urteil kommen, als dass man Schuldlose

für schuldig hält.

 

Friedrich von Spee,Cautio Criminalis

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Diese Stadtansicht nach einem Gemälde des Neuerburger Malers Norbert Klinkhammer zeigt die Altstadt von Neuerburg am linken Ufer der Enz um das Jahr 1630. Über dem engen Tal thront ganz oben die Neuerburg. Im darunter liegenden Bereich des unteren Burgfrieds erkennt man die Stadtkirche St. Nikolaus und linker Hand das Lehnshaus, das mit seinem Turm ein Teil der Stadtbefestigung war. Durch den hohen Glockenturm neben der Nikolauskirche gelangte man in die sog. Altstadt am linken Ufer der Enz, wo sich auch der Marktplatz und die Wohnhäuser der reichen Bürger befanden. Die Stadt war damals nicht vom Tal her erreichbar. Reisende konnten nur über die Höhen am rechten Enzufer in die mit einer wehrhaften Mauer umgebene Stadt gelangen. Das rechte Enzufer mit der sog. Neustadt ist im Bild nur angedeutet.

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Dramatis Personae

Historisch belegte Figuren sind mit einem * gekennzeichnet.

Familie der Leuchtenberger

Wilhelm von Leuchtenberg*, regierender Landgraf in der Herrschaft Neuerburg

Erika von Manderscheid-Virneburg*, seine Gemahlin

Elisabeth Maria von Leuchtenberg*, seine Tochter

Claudia von Leuchtenberg, seine Nichte

Elisabeth von Leuchtenberg, Claudias verstorbene Mutter und Schwester von Wilhelm

Henry de Montpellant, Claudias verstorbener Vater

Verwandtschaft aus dem Geschlecht der Grafen von Manderscheid

Adela von Manderscheid-Kail, Nichte der Landgräfin

Amalia von Manderscheid-Kail*, ihre verstorbene Mutter

Dietrich von Manderscheid-Kail*, ihr Vater

Ernst von der Marck*, Elisabeths Verlobter

Philipp von der Marck*, Ernsts Vater

Burgbedienstete und Gesinde

Bernhard Josten, Burgkaplan und Jesuit

Kathrin, Zofe von Adela und später von Claudia

Hilarius, Stallknecht

Marie und Lisbeth, Köchin und Küchenmagd

Gunda, Zofe der Landgräfin Erika

Johann, Leibdiener des Landgrafen

Familie und Haushalt des Amtmanns de la Val

Christoph de la Val*, Amtmann der Herrschaft Neuerburg

Sebastian de la Val, sein Sohn

Michel de la Val, verstorbener Sohn Christoph de la Vals und Sebastians Bruder

Katharina, Magd im Haus der de la Vals

Familie und Haushalt des Bürgermeisters

Heinrich Dietz, Bürgermeister der Stadt Neuerburg und oberster Richter; Zunftmeister der Wollwebergilde

Barbara Dietz, seine verstorbene Frau

Grete, seine verstorbene Schwester

Barbara, seine Tochter

Magdalena Pirken*, ehemalige Amme von Barbara, später Wäscherin und Kräuterfrau

Elsbeth, Gesindemeisterin im Haus Dietz

Hanna, Zofe von Barbara

Wilbert, Knecht

Bürgerinnen und Bürger von Neuerburg

Andreas Mohr, Stadtpfarrer von St. Nikolaus und oberster Geistlicher der Herrschaft

Jakob Mohr, ebenfalls Stadtpfarrer von St. Nikolaus, sein verstorbener Vater

Martha Adams, Wäscherin und Freundin von Magdalena Pirken

Jonas, Marthas Sohn

Caspar Scholer, Zunftmeister der Wollwebergilde, später Bürgermeister und oberster Richter

Paulus Jönen, Zunftmeister der Wollwebergilde und Ratsherr

Johannes Lenzen, ehemaliger Zunftmeister der Wollwebergilde

Liese Lenzen, seine Frau

Zia Schreber, Kräuterfrau

Clara, Wirtstochter »Zum Roten Turm«

Berthe, eine Webermagd

Jörg Armbruster, Soldat der Stadtwache

Hennes Weiler, Hauptmann der Stadtwache

Lehn Lauert, Spinnmagd

Grieth, eine Bettlerin

Wulfram, Bader

Lore, frühere Zofe der Amalia von Manderscheid-Kail

Weitere Personen

Jost Kerpen, Verwalter von Oberweis

Lene, Wirtstochter in Oberweis

Hennes, Schmied in Oberweis

Hilde Wendel, Witwe in Oberweis, beschuldigt ein altes Ehepaar der Zauberei

Sanna und Hans Kleinmülner, von Hilde Wendel beschuldigtes Ehepaar in Oberweis

Dietrich Mey, Amtmann in der Herrschaft Manderscheid-Oberkail

Meister Hans, Henker in der Herrschaft Manderscheid-Oberkail

Georg Derber, Dorfältester in Utscheid

Martin Kehler, Schmied in Utscheid

Nikolaus Hoss, Schöffe am Hochgericht für den Bezirk Waxweiler

Burkhard Krebs, stellvertretender Richter am Hochgericht

Veit Mölich, Schöffe am Hochgericht für den Bezirk Oberweis

Valentin Pflüger,freier Bauer in Utscheid

Nikolaus Pflüger, Vetter von Valentin Pflüger

Baron Johann von Wawern, Junker auf Burg Schönecken

Maximin Pergener*, Hexenkommissar aus Trier

Gottlieb, Henker zu Neuerburg

Georg, ausgeliehener Scharf- und Nachrichter aus Gerolstein

Jakob Longen*,Meier zu Pölich an der Mosel

Matthias Pölich*, sein Sohn

Anna Pölich, seine Tochter

Maria zum Drachen*, reiche Bürgerin aus Trier

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Prolog

Trier, Anno Domini 1589

Anna schlug das Herz bis zum Hals, als die Henkerskarren in Sicht kamen. Ihr schien es wie ein Hohn, dass heute die helle Junisonne vom azurblauen Himmel strahlte, zum ersten Mal seit Wochen in diesem bislang kalten, verregneten Jahr. Anna wartete auf die Hinrichtung ihres Bruders.

Unablässig ließ sie die Perlen des Rosenkranzes durch ihre Finger gleiten, bewegte die Lippen in stummem Gebet. Das Raunen der Menge wurde lauter, als die Prozession sich näherte. Schon waren die Karren, gezogen von je zwei Ochsen, auf die alte Römerbrücke eingeschwenkt. Seit jeher wurden die Delinquenten auf diesem Weg zur Richtstätte geführt.

Vorweg marschierten die Stadtsoldaten in ihren rotgelben Uniformen, mit Schwertern, Dolchen und Hellebarden bis an die Zähne bewaffnet. Ihr Kommandant ritt auf einem imposanten Rappen voran. Immer wieder mussten die Soldaten die Menge mit den Schäften der Hellebarden zurücktreiben. Vor den Karren schritten würdevoll die Abordnungen der Kleriker. Jeder Orden war vertreten. Anna erkannte den schwarz-weißen Habit der Dominikaner, die schwarzen Gewänder der Jesuiten, die groben braunen Kutten der Franziskaner.

Hinter den Geistlichen gingen, in prächtige Brokatgewänder gekleidet, die weltlichen Kirchenmänner, Dechanten, Pröpste und Chorherren, von denen Trier schier überquoll. Unter ihnen erkannte Anna den Weihbischof Peter Binsfeld, den erbittertsten Gegner der Unholde im Land. Sie alle durften heute nicht fehlen, wo doch einer aus ihrer Mitte als überführter Zauberer seiner gerechten Strafe zugeführt wurde.

Verzweifelt versuchte Anna, einen Blick auf die Insassen der Karren zu werfen. Wo war Matthias? Zwei Jesuiten saßen jeweils mit auf den vorbeiziehenden Wagen, um den Verurteilten Trost auf ihrem letzten Weg zu spenden.

Die Menge, die sich rings um Anna herum die Köpfe verdrehte, war dichter als bei den Bränden zuvor. Schließlich kam es nicht alle Tage vor, dass ein geweihter Priester als Hexenmeister verbrannt wurde. Und wer hätte gedacht, dass sogar ein Scholaster aus dem ehrwürdigen Stift St. Paulin dem Laster der Zauberei anheimfallen würde?

Freilich, der Apfel fiel in diesem Falle nicht weit vom Stamm. Hatte man im letzten Jahr nicht schon den Vater des Delinquenten als Unhold verbrannt, den reichen Meier Jakob Longen zu Pölich? Und hatte sein Sohn Matthias nicht versucht, ihn auf der Flucht zu verstecken? Mitten in der Paulinuskirche hatte man den Verdächtigen gefasst. Der Weihbischof selbst musste den heiligen Ort danach neu einsegnen. Und nun war auch der Sohn überführt.

Mit klammen Fingern und enger Kehle hörte Anna das Getratsche der Menge. Wieder griff sie an die Haube, unter der sie ihr kurz geschorenes Haar verbarg. Sie lag dicht an ihrem Kopf an. Der grobe Wollstoff des Mieders, das sie aus der Kammer einer Klostermagd entwendet hatte, scheuerte auf der Haut. Wie lange würde ihre Flucht unentdeckt bleiben?

Endlich rollte der erste Karren von der Brücke herunter und schwenkte auf den schmalen Uferweg ein, der zur Richtstätte führte. Rücksichtslos drängte sich Anna an einer protestierenden Frau vorbei, der Kleidung nach die ehrbare Gattin eines Handwerkers. Schließlich stand sie ganz vorne am Wegrand.

Drei formlose Gestalten lagen mehr, als dass sie saßen, zwischen den schwarz gewandeten Jesuiten, die Anna wie Krähen anmuteten, Totenvögel. Es waren Frauen, soweit sich dies trotz der geschorenen Köpfe, an denen vereinzelt noch ein paar schmutzige Strähnen klebten, erkennen ließ. Sie waren in sackartige leinene Büßergewänder gekleidet. Stumpf und leblos starrten sie vor sich hin. Eine Fliege setzte sich einer der Unseligen unter das Auge. Die Hand, mit der sie das lästige Insekt verscheuchte, war nur noch ein blutiger Klumpen.

Rund um Anna erschauerten die Leute in wohligem Entsetzen. »Was hat wohl den Teufel an denen zur Unzucht gereizt?«, flüsterte eine Magd in einem von Erde befleckten Rock der Handwerkergattin zu. »Dummes Ding, dem Teufel geht es doch nur um die Seele«, zischte die zurück. »Oh nein«, widersprach die Magd, sichtlich beleidigt, »gestern erst haben sie die Maria zum Drachen eingezogen. Die ist nicht nur reich, sondern auch sehr schön, wie man sagt.«

Anna verstand die Antwort der Handwerkerfrau nicht mehr. Tränen schossen ihr in die Augen. Also hatte Matthias recht behalten, und man hatte nun auch ihre Patin verhaftet, wie er es vorhergesagt hatte. Jetzt war sie selbst in höchster Gefahr.

Aber sie rührte sich nicht vom Fleck. Matthias hatte sie angefleht, das Kloster und Trier sofort zu verlassen. Mit seinem goldenen Kreuz, dem Geschenk des Vaters zur Priesterweihe, bestach er den Gefängniswärter. Gleich am ersten Tag nach seiner Verhaftung hatte er auf diese Weise den Brief aus dem Kerker geschmuggelt, wohl wissend, dass er später weder Mittel noch Kraft dafür haben würde.

»Dich werde ich nicht als Komplizin benennen, auch wenn sie mich noch so sehr quälen«, hatte er geschrieben. »Aber Maria kann ich nicht schützen. Sie ist schon zu oft als Hexe besagt und beschuldigt worden, und ihr Reichtum stellt für alle eine zu große Verlockung dar. Fliehe, noch heute, wenn du irgendwie kannst.«

Fast zwei Wochen war es nun her, dass sie diesen Kassiber erhalten hatte. Eine arglose Laienschwester hatte ihr den Brief überbracht und bei einem Gang auf den Markt in die Hand gedrückt. Sie hielt ihn wohl für einen Liebesbrief. Schließlich empfingen ihre Mitschwestern im Noviziat – fast alles adlige Fräulein, die nicht freiwillig ins Kloster gegangen waren – solche Schreiben.

Aber Anna hatte sich nicht zur Flucht entschließen können. Das Kloster stellte nun ihre einzige Heimat dar. Und ihre Patin Maria zum Drachen hatte einst viel Geld bezahlt, damit man sie als Tochter eines angesehenen, aber bürgerlichen Mannes dort aufnahm.

Doch schließlich hatten die Ereignisse sie eingeholt. Gestern Morgen war sie zur Priorin bestellt worden, die ihr mit finsterer Miene eröffnete, dass ihr Bruder Matthias am nächsten Tag als überführter Teufelsdiener verbrannt werden würde. Und dass ihr Kloster, die ehrwürdige Benediktinerinnenabtei St. Irminen, schon mehrmals von überführten Unholdinnen als Versammlungsort für den Hexensabbat benannt worden war. Im Konventsaal und im Hof unter der Linde sollten sich die schändlichen Orgien abgespielt haben.

Das gab den Ausschlag. Im Kloster war sie nicht länger sicher. Eine einzige Besagung würde ausreichen, um sie als Tochter und Schwester zweier verurteilter Hexenmeister dem Hochgericht zu übergeben, und sei es nur, um das Kloster von jedem Verdacht zu reinigen.

Trotz ihrer Unschlüssigkeit hatte sie sich seit Tagen auf die Flucht vorbereitet. So war es ihr ein Leichtes gewesen, das Klostergelände unbemerkt zu verlassen. Aber ohne Abschied von Matthias wollte sie nicht gehen.

Der zweite Karren rumpelte heran. Da war er, zusammengekrümmt hockte er neben einem Jesuiten. Wie schon die Frauen zuvor war auch er geschoren und bis aufs Skelett abgemagert, was das grobe Hemd nicht verhüllen konnte. Doch anders als bei seinen Leidensgenossinnen waren seine Sinne noch nicht stumpf. Seine Augen glitten unablässig über die Menge am Weg.

Und dann trafen sich ihre Blicke. Verzweiflung und Freude mischten sich in seinen Augen. Er versuchte, die Arme zu heben, aber sie gehorchten ihm nicht. Wahrscheinlich waren sie ihm durch das Aufziehen an den hinter dem Rücken zusammengebundenen Händen mit schweren Gewichten an den Füßen aus den Schultergelenken gerissen worden, so dass ihm jede Bewegung furchtbare Schmerzen bereitete. Deshalb gab er Anna nun mit Blicken zu verstehen, was er von ihr wollte. Immer wieder, zweimal, dreimal, drehte er den Kopf unter schrecklichen Mühen, schaute zur Straße am anderen Ufer der Mosel und dann wieder zu ihr. Fliehen sollte sie, fliehen, so rasch als möglich. Anna verstand ihn auch ohne Worte.

Ein Schlag auf den Kopf beendete Matthias’ Bemühen. Der Pater schlug ihm den Stiel des Weihwasserwedels hart gegen die Stirn. Dadurch brach eine bereits verkrustete Wunde an der Augenbraue wieder auf, Blut strömte, mit Wasser vermischt, über sein Gesicht.

Die Menge ringsum schrie auf. »Er versucht noch auf dem Weg zum Richtplatz zu zaubern«, empörten sich die Menschen. Jedermann bekreuzigte sich hastig und machte die Schutzzeichen gegen den bösen Blick.

Da waren die Karren auch schon vorbei. Trotz der letzten Warnung ihres Bruders ließ Anna sich von der Menge mitreißen, die nun zu den Scheiterhaufen strömte. Auf flachen Holzstößen aus mit Teer vermischtem Reisig waren drei offene Strohhütten jeweils rings um einen Pfahl herum errichtet worden.

Dort wartete schon der Scharfrichter, unkenntlich unter seiner blutroten Haube. Seine Knechte rissen die Aufschreienden grob von den Karren. Ein Richter in schwarzer Schaube verlas die Urgicht, die unter der Folter erpressten Geständnisse.

Was bekam die schaudernde Menge da nicht alles zu hören! Das also waren die Hexen, die die Fröste im Mai gesandt hatten, um auch dieses Jahr die Weinernte zu verderben. Die die Raupenplage in die Obstgärten geschickt und das junge Korn auf dem Halm durch Hagel geknickt hatten. Unschuldige Kindlein waren getötet worden, um Hexensalbe zu bereiten. Und Unzucht mit dem Teufel hatten sie getrieben. Wie auch mit dem Priester. Der hatte sogar zwei Buhlinnen gehabt.

Wie gelähmt vor Entsetzen und Schmerz hörte Anna, welche Scheußlichkeiten ihr Bruder begangen haben sollte. Als Pfeifer habe er zum Hexentanz aufgespielt, drei Kindlein im Namen des Teufels getauft, hernach gesotten und verspeist.

Nun rissen die Henkersknechte die zusammengesunkenen Verurteilten erneut in die Höhe. Die Urteile wurden gesprochen, dann der Stab über jedem Delinquenten gebrochen.

Unter dem Johlen und Schreien der Menge zerrten die Henkersknechte diese in die Strohhütten und banden sie paarweise Rücken an Rücken an die Pfähle. Atemlos verfolgte die Menge, wie der Scharfrichter jeden Haufen bestieg, in der Hand die Eisenschlinge. Da alle Verurteilten geständig waren, sollte ihnen das Verbrennen bei lebendigem Leibe erspart bleiben. Sie wurden zuvor erdrosselt.

Matthias war in der Strohhütte, die der Henker als Letztes betrat. Anna konnte ihn nicht sehen. Er stand mit dem Rücken zu ihr. So sah sie wie betäubt ins Gesicht seiner Leidensgenossin. Es war eine Frau von ungefähr dreißig Jahren, die einmal schön gewesen sein musste.

Plötzlich begegnete der Blick der Frau dem ihren. Anna hielt ihn fest. Spontan begann sie, das Vaterunser zu sagen. Die gefesselte Frau erkannte das Gebet, und ihre verkrusteten Lippen begannen, sich im gleichen Rhythmus mit denen Annas zu bewegen.

Sie waren beim Ave-Maria, als der Scharfrichter zu ihr trat. »Jetzt und in der Stunde unseres Todes«, betete Anna. Die Augen der Frau wurden glasig, ihr Körper erschlaffte.

Als der Scharfrichter die Fackel an das trockene Reisig hielt, drehte Anna sich um und verschwand in der Menge.

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Teil 1

Dunkle Wolken

Kapitel 1

Pfingstfreitag, 8. Juni 1612

Claudia von Leuchtenberg trat so würdevoll, wie es ihr mit ihren neunzehn Jahren möglich war, aus dem Kirchenportal von St. Nikolaus. Huldvoll nickte sie den Bürgern und Burgbediensteten zu, die mit ihr die Frühmesse besucht hatten. Dann sah sie sich verstohlen um.

Sobald sie sich unbeobachtet fühlte, huschte sie rasch um die Ecke der Kirche. Dort, auf dem hinteren Friedhof, verbarg sie in einem Gebüsch einen Umhang und die Stiefel, die sie sich heimlich vom Sattelmacher der Burg hatte anfertigen lassen.

Wenig später hätte kaum jemand in der Dienstmagd, die mit ihrem Henkelkorb eifrig dem Markt zueilte, das Edelfräulein von Leuchtenberg erkannt. Ihre dunkelbraunen Locken hatte sie unter einer einfachen Leinenhaube verborgen. Allenfalls hätte man sie an ihrer hochgewachsenen, schlanken Gestalt erkennen können.

Als sie in die Hohlgasse einbog, die hinab zum Markt führte, raffte sie unter dem groben bodenlangen Umhang ihren Rock aus feinem Tuch, damit er nicht allzu sehr mit dem zähen Straßenschmutz in Berührung kam. Dank ihrer Stiefel rutschte sie trotz des schlüpfrigen Untergrunds nicht aus. Schließlich war sie am Ende der Gasse angelangt und hatte freien Blick auf den Markt.

Obwohl es noch früh am Morgen war, wimmelte es dort schon von Menschen. Heute war Tuchmarkt, und die Buden der Stoffhändler hatten die Stände der Bauern an die Seiten des Platzes gedrängt. Tuchmarkt war nur zweimal im Jahr und zog Krämer, Gaukler und Käufer aus der ganzen Umgegend von Neuerburg an. Besonders der Pfingstmarkt war weit über die Grenzen der Gemarkung hinaus bekannt.

Achtlos drängte sich Claudia an den Ständen mit Eiern, Gemüse und Käse vorbei und strebte den inneren Marktgassen zu, wo Kostbares und Fremdländisches feilgeboten wurde. Sie blieb vor der Bude eines Gewürzhändlers stehen und betrachtete die bunte Auslage. Es roch betörend nach Orient und fernen Gestaden.

»Was sind dies für seltsame Sterne?« Claudia deutete auf ein Körbchen mit schwarzbraunen holzigen Früchten. Sie suchte noch ein Geschenk für Barbara, die sie später besuchen wollte.

Der Händler musterte sie geringschätzig. »Sternanis ist das, Jungfer. Er kommt aus China und wird über die Seidenstraße gebracht. Ein Gewürz für die Tafel von Edelleuten. Viel zu teuer für deinen Beutel.«

Claudia vergaß, dass der Händler sie in ihrem fleckigen Umhang für eine Dienstmagd halten musste. Hochfahrend fuhr sie ihn an: »Hüte deine Zunge, Unverschämter.«

Der Krämer zuckte zusammen. Nach einem scharfen Blick in ihr Gesicht verbeugte er sich tief. Nicht zum ersten Mal kam eine Dame verkleidet auf den Markt. Er hätte aufmerksamer sein sollen und verfluchte sein Ungeschick. »Verzeiht, wenn ich Euch beleidigt habe, Herrin. Darf ich Euch ein Beutelchen abpacken? Zu einem besonders günstigen Preis natürlich.«

Jetzt war es an Claudia, sich innerlich eine Närrin zu schelten. Was sollte der Aufzug, um unerkannt zu bleiben, wenn sie ihre Zunge nicht im Zaum halten konnte! Schon bemerkte sie aus den Augenwinkeln, dass einige Neugierige aufmerksam geworden waren. Sie nickte dem Händler zu. Den exorbitant hohen Preis, den sie ohne Feilschen entrichtete, empfand sie als gerechte Strafe für ihre Torheit.

Nachdem sie das Beutelchen in ihrem Korb verstaut hatte, gewann ihre gute Laune wieder die Oberhand. Am Stand eines Bäckers erwarb sie einen von Honig triefenden Krapfen und verzehrte ihn auf den Stufen des Marktbrunnens. Dann schlenderte sie weiter.

An den Ständen mit venezianischen Trinkgläsern und zierlich gearbeiteten Lederwaren bedauerte sie kurz, in der Verkleidung einer Dienstmagd nichts kaufen zu können. Dies waren auch die Buden, zu denen Tante Erika ihre lästige Kusine Adela führen würde, natürlich erst am späteren Morgen und in vollem Staat. Zweifellos würde Adela ein kostspieliges Geschenk erhalten. Claudia fühlte den vertrauten Klumpen im Magen.

Aber sei es, wie es wolle. Selbst wenn sie sich brav dem Tross der Landgräfin angeschlossen hätte, wäre sie wohl leer ausgegangen. Wie immer, wenn es um die Gunst ihrer Tante ging. Da war es allemal besser, allein den Markt zu besuchen und zumindest dorthin gehen zu können, wo sie hinwollte.

Gerade machte sie sich auf den Weg zu den Gauklern, die mit Bällen und Feuerringen in einer Ecke des Marktes jonglierten. Da ertönte in ihrem Rücken wütendes Geschrei.

 

»Diesmal kann ich es Euch nicht durchgehen lassen, so leid es mir tut, Meister Lenzen. Ich muss die ganze Ware beschlagnahmen. Ihr wart oft genug gewarnt.«

Trotz seiner strengen Worte wirkte Heinrich Dietz bekümmert. Als Brudermeister, wie man den Vorsteher der Wollweber- und Tuchhändlerzunft auch nannte, war er dazu verpflichtet, alle Stoffe zu prüfen, die auf dem Tuchmarkt feilgeboten wurden. Allen voran die der eigenen Zunftmitglieder. Schließlich war Neuerburg weithin berühmt für die Qualität seiner feinen Wollstoffe und hatte nicht nur dort, sondern auch in Vianden und Echternach das Vorrecht, die eigenen Tuche wohlfeiler anbieten zu dürfen als die auswärtige Konkurrenz. Da durfte man allein schon zum Wohle der Zunft Betrüger in den eigenen Reihen nicht dulden.

Aber so leicht gab sich Johannes Lenzen, ein vierschrötiger Mann mit aufgedunsenem Gesicht, nicht geschlagen. »Die Ware ist einwandfrei, Meister Dietz. Hergestellt nach allen Regeln der Wollweberkunst. Ihr habt kein Recht, sie zu nehmen.«

Seufzend wandte sich Dietz an seinen Begleiter, einen noch jungen Mann, der wie er selbst trotz der Hitze des Tages nach der spanischen Mode gekleidet war. Über den schwarzen Seidenstrümpfen trugen sie samtene Pluderhosen und Wämser, die, in der Taille gegürtet, bis über die Hüften reichten. Dietz fühlte, wie ihm der Schweiß unter der engen Halskrause aus blütenweißem Leinen ausbrach. Unwillkürlich griff er nach der goldenen Kette des Bürgermeisters, die ihm schwer auf die Brust hing.

»Paulus, gebt Ihr Euer Urteil ab«, forderte er den Jüngeren auf. Die Zunft der Wollweber und Tuchhändler war die mächtigste in Neuerburg. Jedes Jahr wählte man daher zwei Brudermeister, die die Interessen der zahlreichen Mitglieder zu wahren hatten.

Mit strenger Miene trat Paulus Jönen vor. Er war zum ersten Mal Brudermeister, und die Duldsamkeit des älteren Heinrich Dietz war ihm noch fremd.

»Das Tuch ist ohne Zweifel gestreckt. Seht selbst den Vergleich zu einwandfreier Ware. Ihr erlaubt?« Er wandte sich dem Händler der Nachbarbude zu, der zustimmend nickte. Gemeinsam wuchteten sie einen Ballen Wollstoff auf die Auslage des Beschuldigten.

Jede Hausfrau konnte erkennen, dass das Tuch des Johannes Lenzen dünner und faseriger war als das des Zunftbruders. Befühlte man beide Stoffe, so war das gute Wolltuch von unvergleichlicher Zartheit. Lenzens Stoff dagegen brettig und hart.

»Und nun die Wiegeprobe«, forderte Paulus Jönen. Widerwillig schnitt Lenzen eine Elle seines Stoffs ab. Jönen winkte einem Knecht zu, der eine Waage mit sich führte. Er legte das Gewicht, welches einer Elle des Neuerburger Tuchs entsprach, in die eine Schale. Dann warf er nacheinander das Tuch des Beschuldigten und das seines Standnachbarn in die andere Schale. Jedermann konnte sehen, dass sich die Waagschalen nur beim zweiten Mal ohne zusätzliche Gewichte ins Gleichgewicht senkten. Lenzens Tuch war offensichtlich viel zu leicht.

»Fast drei Unzen«, stellte Jönen nüchtern fest und schüttelte die kleinen Gewichtssteine in seiner Hand. »Ihr müsst Euer Tuch bis zum Zerreißen gespannt haben.«

Das Spannen des fertig gewebten Wolltuchs, um seine Länge zu strecken, war streng verboten. Da die Preise für Neuerburger Tuch festgelegt waren, kam der Verkauf gestreckter Ware zum gleichen Preis einem Betrug gleich. Entsprechend hart war die Strafe: Die minderwertige Ware wurde beschlagnahmt und zu je einem Drittel an die Herrschaft, die Zunft und die Armen verteilt. Hinzu kam eine saftige Geldstrafe, die an die Zunft zu entrichten war. Im Wiederholungsfall drohte der Ausschluss.

Nun verlegte sich Lenzen aufs Jammern. »Meister Dietz«, wandte er sich wieder an den Bürgermeister. »So habt noch einmal Erbarmen mit mir. Ihr wisst, dass die Schulden mich fast erdrücken. Lasst mir das Tuch, ich verkaufe es zu billigem Preis in der nächsten Woche in Trier.«

Dietz schüttelte den Kopf. »Der Suff ist es, der Euch in die Schulden treibt, Meister Lenzen. Mäßigt Euren Weingenuss, zeigt Reue und verhaltet Euch gottesfürchtig. Dann will ich bei der Zunftversammlung erwirken, dass zumindest die Geldstrafe niedrig ausfällt.« Er gab den Knechten einen Wink, die die Wollballen auf einen Handwagen zu laden begannen.

Doch Lenzen erhob ein wütendes Geschrei und fiel einem der Knechte in den Arm. »Lumpen, Betrüger, Saukerle. Selber verkaufen wollt ihr mein gutes Tuch.«

Die Menschen ringsum wurden aufmerksam. Eine neugierige Menge versammelte sich um die Auslage des Händlers. Auch Claudia mischte sich unter sie.

Eine verhärmte Frau mit einem blau geschlagenen Auge trat nun aus einer Ecke des Standes ins Freie. Zaghaft berührte sie ihren Mann am Arm. »So lass es doch um Christi willen gut sein, Johannes«, bat sie. Empört sah Claudia, wie ihr Gatte sie brutal von sich stieß, so dass sie hart gegen den Stand prallte.

Nun wurde es auch Dietz zu bunt. Er winkte den Wachsoldaten, der ihn begleitete, heran. »Nehmt ihn mit und sperrt ihn einen Tag in den Turm. Da mag er darüber nachdenken, welches Verhalten einem ehrbaren Zunftmeister frommt.«

Er hatte den Satz kaum beendet, als Claudia in der Sonne etwas aufblitzen sah. »Obacht, Meister Dietz«, schrie sie. Der wich erschrocken unwillkürlich einen Schritt zurück. Der Dolch des Händlers verfehlte ihn nur um Haaresbreite.

 

»Was werdet Ihr nun mit ihm tun?« Bekümmert saß Claudia vor einem Becher Apfelmost in der guten Stube des Bürgermeisters. Dietz seufzte vernehmlich und kratzte sich den gepflegten, von grauen Fäden durchzogenen Bart. Seine Tochter Barbara betrachtete beide mit großen, erschrockenen Augen.

»Ich weiß es noch nicht, mein Fräulein«, wandte Dietz sich schließlich Claudia zu. »Aus der Zunft werden wir ihn ausschließen müssen, da führt kein Weg mehr daran vorbei. Aber vielleicht kann ich Paulus Jönen davon überzeugen, dass wir ihn wenigstens nicht vor das Hochgericht bringen. Wenn das geschieht, baumelt er nächste Woche am Strang.«

Barbara zog erschrocken den Atem ein. »Aber Vater, was wird dann aus der Liese und den vier unmündigen Kindern? Sie würden verhungern.«

Liebevoll sah Dietz seine Tochter an. Mit ihren langen, seidigen blonden Haaren und den veilchenblauen Augen war sie das Abbild seiner geliebten Frau, die bei der Geburt im Kindbett verstorben war.

»Barbara, ich werde tun, was ich kann.« Taktvoll verschwieg er den beiden jungen Frauen, dass das Schicksal der Familie Lenzen auch ohne den Henkerstod des Vaters ungewiss war. Aus der Zunft ausgeschlossen zu werden bedeutete zumeist bittere Armut und Not.

»Und Ihr«, wandte er sich an Claudia. »Euch verdanke ich, dass ich nicht schwer verwundet oder gar tot bin. Was sagt Ihr zu der Sache?«

»Wenn Ihr es wünscht, werde ich schweigen. Die Frau hat es schon schwer genug mit dem prügelnden Säufer. Der Amtmann muss von mir nichts erfahren.«

»Gut, so sei es denn«, seufzte Dietz noch einmal. Schwerfällig erhob er sich vom Tisch und zog sein Wams über den massigen Bauch. »Dann werde ich jetzt auf den Markt zurückkehren und weiterhin meine Pflicht tun. Vielleicht hat Paulus Jönen ja ein Einsehen.«

Er hatte die schwere Eichentür kaum hinter sich geschlossen, da konnte Barbara ihre Neugier nicht länger bezähmen. »Nun sag schon, Claudia, wie kommst du in diesem Aufzug auf den Markt?«

Claudia zog eine Grimasse. Mit einer schwungvollen Bewegung riss sie sich die kratzende Haube vom Kopf und schüttelte ihre langen schwarzbraunen Locken. »Nun, ich wollte meiner grässlichen Kusine Adela entkommen. Sie ist gestern zu Besuch auf der Neuerburg eingetroffen. Ich kannte sie zuvor nur vom Hörensagen und habe sie auf Anhieb verabscheut. Sie ist falsch und berechnend. So beschloss ich, heute allein über den Tuchmarkt zu schlendern. Ohne das Genörgel der unausstehlichen Tante und dieser intriganten Adela. Claudia, halte dich aufrecht. Claudia, eine Dame starrt die Leute nicht an«, äffte sie den Ton ihrer Tante täuschend echt nach. Ihre dunklen mandelförmigen Augen blitzten. Barbara musste trotz des zuvor erlittenen Schreckens lachen.

»Du änderst dich wohl nie«, sagte sie halb liebe-, halb vorwurfsvoll.

»Vor allem lerne ich nichts dazu.« Claudia sah zerknirscht auf die Tischplatte. »Nun weiß alle Welt, dass ich mit Umhang und Haube einer Dienstmagd heimlich die Burg verlassen habe. Was wird Adela jetzt über mich lachen.«

Barbaras mitfühlender Blick tat ihr gut. Grimmig fuhr sie fort: »Es ist nur eine Frage von Stunden, bis es die Tante erfährt. Und um mir erneut eine Strafpredigt anzuhören, fehlt mir die Langmut.«

Bekümmert blickte sie an sich hinab. »Das Kleid habe ich auch verdorben. Der ganze untere Rand ist voll Straßendreck.«

Barbara bückte sich und nahm den Saum des hellbraunen Gewandes aus feinstem flandrischem Tuch in die Hände. »Dem kann man leicht abhelfen«, sagte sie dann. »Binde den Überrock ab, ich werde Elsbeth bitten, ihn vor deiner Heimkehr zu säubern. Aber die Strafpredigt wirst du erdulden müssen.«

 

Claudia sah ihrer Freundin nach, als sie mit dem Rock in der Hand die Stube verließ. Die tüchtige Barbara, immer das Herz auf dem rechten Fleck.

Zwei unterschiedlichere Freundinnen als uns wird man kaum finden, dachte Claudia und ließ die Gedanken zur gemeinsamen Zeit in der Klosterschule von St. Thomas in Kyllburg zurückschweifen. Schon der Standesunterschied zwischen ihnen wäre normalerweise unüberwindbar gewesen. Aber auch im Charakter waren sich die jungen Frauen so unähnlich, wie sie es nur sein konnten. Doch genau das war der Ursprung ihrer Freundschaft.

Claudia konnte sich noch gut des Morgens entsinnen, an dem sie Barbara weinend im Klostergarten gefunden hatte. Wieder einmal hatte sie ihre Lateinlektion nicht verstanden und war hart von der Lehrschwester gescholten worden. »Wozu nutzt mir denn dieser blöde Gallische Krieg«, klagte sie schluchzend der mitfühlenden Claudia, »wenn ich später meinem Gemahl ein gemütliches Heim bieten möchte?«

Anfangs hatte Claudia ihr Mitleid dazu veranlasst, dem bürgerlichen Dummchen bei den nächsten Lektionen zu helfen. Doch schon bald hatte sie erkannt, dass Barbara mehr konnte als weinen und wehklagen.

Sie waren schnell quitt miteinander geworden, als sich Barbara der knotigen Stickereien annahm, die Claudia immer wieder auftrennen musste. Darin war Barbara eine wahre Meisterin, und so hatten sie sich rasch arrangiert.

Claudia glänzte in Latein und Mathematik, die auf dieser Schule für höhere Töchter zum Pflichtprogramm gehörten. Die Zisterzienserinnen, die das Kloster unterhielten, legten mehr Wert auf die geistige Bildung ihrer meist adligen Zöglinge als sonstige Mädchenschulen. Aber auch die hausfraulichen Tugenden wurden nicht vernachlässigt. Schließlich besuchte so manche Schülerin die Lehrstatt, um ihrem zukünftigen Ehemann später mit Geschick und Umsicht Haus und Hof zu führen. Auch Barbara sollte sich in St. Thomas auf ihre Ehe mit Sebastian de la Val, dem Sohn des gräflichen Amtmanns, vorbereiten.

Während Claudia also erklärte und übersetzte, säumte Barbara mit flinken Fingern feine Leinenhemden oder stickte an Claudias Altartuch. So klug das Edelfräulein auch mit den Wissenschaften umzugehen wusste, so wenig Geschick bewies sie in allen Handarbeiten.

Zwar argwöhnten die Lehrschwestern bald, dass es bei den Fortschritten der Freundinnen nicht mit rechten Dingen zuging. Doch beweisen konnten sie ihnen nichts. Die Mädchen hielten zusammen wie Pech und Schwefel.

 

Barbara kam im Schlepptau mit Elsbeth zurück, der Gesindemeisterin. Sie hielt eine Schale mit feinem Gebäck in den Händen und sank vor Claudia in einen tiefen Knicks. »Wenn Ihr mir die Ehre erweisen würdet.« Ihre Stimme klang unterwürfig. »Ich habe die Plätzchen selbst gebacken.«

Claudia griff mit gemischten Gefühlen zu. Das Gebäck war köstlich, das wusste sie schon von früheren Besuchen. Aber sie mochte die Gesindemeisterin nicht. Sie gehörte zu den Menschen, die nach oben buckelten und nach unten traten, wie Barbara es einmal ausgedrückt hatte. Die Freundin erriet ihre Gedanken.

»Es geht einigermaßen«, beantwortete sie die unausgesprochene Frage, nachdem sich Elsbeth zurückgezogen hatte. »Nach dem Tod der Muhme kommt der Haushalt nicht ohne sie aus. Und zumindest tut sie so, als ob jetzt ich die Herrin des Hauses wäre.«

»Wenigstens bist du wieder in Neuerburg«, tröstete sie Claudia. Barbara hatte das Kloster nach dem Tod der verwitweten Schwester ihres Vaters vor einigen Tagen verlassen, um ihm den Haushalt zu führen. »Ich habe dich schrecklich vermisst.«

Barbara dankte ihr mit einem warmen Lächeln. »Auch mir ist ohne dich die Zeit lang geworden. Und Schwester Richardis plagte sich mehr denn je mit meinem Latein.«

Eine Weile hingen beide ihren Gedanken nach. Dann fragte Barbara zaghaft: »Wurdest du schlimm bestraft auf der Burg?«

Claudia zuckte die Achseln. »Es war auszuhalten. Vier Wochen Kammerarrest, bei gutem Essen und Büchern. Das war es allemal wert.«

Unwillkürlich musste Barbara lächeln. Trotz ihrer Warnungen hatte sich Claudia nicht davon abbringen lassen, das Kloster durch eine Seitenpforte bei Nacht und Nebel zu verlassen, um auf den Hüttensonntag zu gehen. Ein Fest der Eifeler Jugend am Sonntag nach Aschermittwoch, ein Brauch mit heidnischen Wurzeln, bei dem man ausgelassen um Strohfeuer herumtanzte und ungeheure Mengen Schmalzgebackenes vertilgte.

Zwar hatte die pflichtgetreue Barbara um keinen Preis mitkommen wollen, aber an der Klosterpforte gewartet, um Claudia später wieder einzulassen. So waren sie beide weit nach Mitternacht der Äbtissin persönlich in die Arme gelaufen, die auf dem Weg zur Matutin, dem Nachtgebet, war.

Zur Rede gestellt, hatte Claudia kein Hehl aus ihrem nächtlichen Ausflug gemacht. Schließlich hatte sie nach ihrem Ermessen nichts Unrechtes getan, Fastenzeit, Ausgangsverbot und heidnisches Brauchtum hin oder her.

Die Geduld der Klosterfrauen war jedoch nach mehreren ähnlichen Vorfällen erschöpft gewesen. Während Barbara drei Tage bei Wasser und Brot in einer ungeheizten Zelle büßen musste, hatte man Claudia ohne weitere Umstände nach Hause geschickt. Allerdings nicht, ohne ausdrücklich klarzustellen, dass man keinen Pfennig des Geldes zurückerstatten würde, welches Claudias Tante ohne deren Wissen bereits für ihre Profess entrichtet hatte.

»Wenn ich daran denke, dass sie mich zeit meines Lebens ins Kloster sperren wollte, schaudert es mich noch immer. Der Heilige Geist persönlich muss mir eingegeben haben, zum Hüttensonntag zu gehen«, hatte Claudia der verstörten Barbara zum Abschied gesagt. Bis heute hatte sie ihrer Tante nicht verziehen. Ihr vormals schon unterkühltes Verhältnis war eisig geworden.

Ehe der Trübsinn sie erneut heimsuchen konnte, fiel Claudia der Sternanis ein. Sie fischte ihn aus dem Henkelkorb. »Hier, ich habe dir etwas mitgebracht.« Strahlend hielt sie der Freundin das Beutelchen hin. Barbara schnupperte verzückt daran. »So etwas Köstliches habe ich kaum jemals gerochen«, schwärmte sie. »Ich werde Elsbeth fragen, welche Gerichte man damit würzt. Du kannst sie dann auf dem Festmahl zu Ehren Sebastians Heimkehr kosten. Du bist natürlich geladen.«

Claudia seufzte innerlich. Nichts wollte sie weniger als ein weiteres Essen, das mit Barbaras unentwegter Schwärmerei für ihren Verlobten verging. Wie konnte man nur so in einen Mann vernarrt sein!

Barbara merkte wie üblich nichts von ihrer Verstimmung. Um ihr die Freude nicht zu verderben, fragte Claudia: »Wann kommt er denn zurück?«

»Oh, schon heute oder spätestens morgen. Ich kann es kaum mehr erwarten.«

»Und wann ist das Fest?«, lenkte Claudia ab.

»Schon am nächsten Donnerstagabend. Vater wird unsere Verlobung endlich öffentlich bekanntgeben. Eigentlich ist es noch zu früh, da Tante Grete erst zwei Wochen tot ist. Aber Vater meint, er wolle den adligen Amtmann nicht länger warten lassen. Und außerdem«, ihre blauen Augen funkelten spitzbübisch, »würde Tante Grete sich ärgern. Und das geschieht ihr ganz recht.«

Claudia sah sie überrascht an. Was war nur in die kreuzbrave Barbara gefahren?

»Schließlich«, fuhr ihre Freundin fort, »war sie auch eine schreckliche Tante.«

Kapitel 2

Pfingstfreitag, 8. Juni 1612

Die Nachmittagssonne stand hoch am Himmel, als Sebastian de la Val endlich in Neuerburg ankam. Über den steilen Abstieg von der Kreuzkapelle her erreichte er das südliche Stadttor. Die Wachen in ihren grün-roten Uniformen erkannten den Sohn des Amtmanns und grüßten ihn respektvoll, als er auf seinem ermatteten Schimmel unter dem mächtigen Fallgatter hindurch in den inneren Stadtbezirk ritt.

Hinter dem Tor stieg er ab und nahm sein Pferd am Zügel. In den engen Gassen, die zur Burg und zum Haus seines Vaters führten, ritt es sich ohnehin schlecht, zumal mit einem müden Tier. Mit einem tiefen Atemzug nahm er das Panorama in sich auf.

Mächtig und imposant erhob sich die Neuerburg hoch über der Altstadt. Wie ein gewaltiger Adlerhorst wirkte sie mit ihren Mauern und zinnenbewehrten Türmen. An ihrem Fuße, aber noch im unteren Burgbereich, strahlte die weißgetünchte Pfarrkirche St. Nikolaus hell in der Sonne. Auch sie thronte stolz über der Stadt. Linker Hand, zwischen Kirche und Burg, sah Sebastian den Wachturm, der zu seinem Vaterhaus gehörte. Das Gebäude wurde seit jeher dem amtierenden Neuerburger Amtmann als Lehen überlassen. Der Turm bildete einen Teil der unteren Burgmauer. Wie oft hatte er als Junge dort oben gestanden und kleine Steine ins steile Tal hinabgeworfen. Überrascht spürte Sebastian, dass er Neuerburg mehr vermisst hatte, als ihm bewusst gewesen war.

Vom Rathaus schlug die Uhr die vierte Stunde. Das Glöckchen der Eligius-Kapelle bimmelte. Sebastians Schimmel witterte das Wasser des nahen Brunnens und zerrte am Zügel. Er führte das Pferd durch eine der schmalen ungepflasterten Gassen die wenigen Schritte bis zum Marktplatz. Während sein Pferd trank, beobachtete er das bunte Gewimmel des Tuchmarkts.

Mehr als die Gaukler und Krämer zogen ihn die Stände der Marktfrauen an, die die ersten Früchte des Sommers feilboten. Zarte Rüben und frühe Kohlsorten waren zu kleinen Bergen geschichtet, daneben lagen Mangold, Spinat und der unvergleichliche Neuerburger Salat. Kräuter aller Art erfüllten die Luft mit aromatischen Düften. Sebastian lief das Wasser im Munde zusammen.

An einem Stand mit den ersten Kirschen konnte er nicht widerstehen und bezahlte zwei Pfennige für eine Tüte der saftigen roten Früchte. Wahrlich ein stolzer Preis, aber nach dem langen Winter mit all dem zähen Gersten- und Erbsenbrei waren sie die Summe wert. Darüber hinaus bedachte ihn die halbwüchsige Tochter der dicken Bäuerin mit einem strahlenden Lächeln. Sebastian zwinkerte ihr amüsiert zu. Er wusste um seine Wirkung auf Frauen. Kaum eine widerstand seinen schwarzen Locken und den dunkelblauen Augen.

Rechts neben dem Rathaus stand das prächtigste Wohnhaus von Neuerburg. Dreistöckig erhob es sich stolz auf steinernen geschmückten Säulen, die die untere offene Halle umrahmten. Zwischen den Balken des Fachwerks war es bunt bemalt mit dem Bildnis der heiligen Katharina von Alexandria, die über Spinnrad und Webstuhl wachte, dem Zunftzeichen der Wollweber und Tuchhändler. Hier wohnte seine Verlobte Barbara Dietz, Tochter des einflussreichsten Zunftmeisters, der in diesem Jahr zudem das Amt des Bürgermeisters bekleidete. Kurz überlegte Sebastian, ob er im Hause vorsprechen sollte, schlug aber dann den Weg zur steilen Kirchgasse ein. Er würde Barbara noch früh genug begegnen.

In der schmalen Gasse verebbte der Lärm des Markttreibens rasch zu einem Raunen und Summen. Kirschkerne ausspuckend, suchte sich Sebastian vorsichtig einen Weg durch den glitschigen Unrat aus Küchenabfällen und Mist. Die Ausdünstungen der menschlichen und tierischen Bewohner der Gasse raubten ihm fast den Atem. Mehrfach rutschten sein Pferd und er während des steilen Anstiegs zur Pfarrkirche hinauf aus. Die überkragenden Stockwerke der dicht beieinanderstehenden Häuser ließen den blauen Sommerhimmel nur noch erahnen.

Wie so oft in dieser Gasse befiel Sebastian ein Gefühl der Beklemmung. Doch das Enztal war bei Neuerburg so schmal, dass mit Ausnahme des Marktplatzes und Burgbereichs kaum Raum für eine großzügige Bebauung blieb. Jeder Quadratmeter der Altstadt wurde genutzt, und selbst in der Kirchgasse, dem Wohnort ehrbarer Handwerker und Stadtbediensteter, war es so düster und dumpfig wie in den Armenvierteln der Neustadt jenseits der Enz.

Als Sebastian endlich den Torturm erreichte, der in den inneren Burgbereich führte, war er in Schweiß gebadet. Zum Glück erkannten ihn die Wächter auch dort und ließen ihn anstandslos passieren. Auf dem Platz vor der Kirche blieb er stehen und genoss mit geschlossenen Augen die warme Sonne. Eine leichte Brise säuselte in den Blättern der alten Kastanien und erfrischte sein erhitztes Gesicht. Dann sah er zurück auf die Stadt.

Neuerburg – nirgendwo sonst lagen Weite und Enge, Frische und Muff so dicht beieinander wie in diesem Eifelstädtchen. Und doch – dachte er an Trier zurück, die Stadt, in der er seine Studienjahre verbracht hatte, so hätte er seinen Geburtsort nicht dagegen tauschen wollen. All die prächtigen Straßen und schmucken Gebäude, die prunkvollen Kirchen und Klöster bedeuteten ihm nichts gegen die Stätte seiner Kindheit. Hier hatte er als Knabe die Wälder und Hügel durchstreift, die Bäche und Flüsschen durchwatet. Hier kannte er immer noch jede Weggabelung und jeden Stein.

Schließlich wandte er sich nach links und zog das widerstrebende Pferd mit sich, das gerade begonnen hatte, an ein paar Grasbüscheln des Friedhofs zu zupfen. Es waren nur noch ein paar Schritte bis zum steinernen Eingangsportal des Lehnshauses mit der Statue der Gottesmutter in einer Nische des Torbogens.

Ein letztes Mal ließ Sebastian seinen Blick über die Stadt schweifen und ignorierte das leichte Unbehagen, das er in seiner Magengrube spürte. Was auch immer ihn hier erwarten mochte – es tat gut, wieder zu Hause zu sein.

 

Eine Stunde später hatte Sebastian sein Pferd versorgt, ein Bad genommen und frische Kleider angezogen. Alles war noch am selben Platz wie immer gewesen, als er sein Vaterhaus betrat. Seit dem vorletzten Weihnachtsfest war er nicht mehr heimgekommen.

Die alte Magd Katharina war vor Freude über das Wiedersehen schier außer sich. Kaum konnte sich Sebastian all der Speisen erwehren, die sie ihm aufdrängte. Kuchen, kalter Braten und Ziegenkäse. Doch er lehnte dankend ab, denn es war nicht mehr lang bis zum Nachtmahl, das er mit seinem Vater einnehmen wollte. Beim Essen stritt es sich schlechter, und er hoffte, auf diese Weise den ersten Abend mit ihm in Frieden verbringen zu können. Im Moment befand sich Christoph de la Val noch in Geschäften auf der Burg.

Mit einem Becher Wein saß Sebastian nun am blank gescheuerten Küchentisch und lauschte mit halbem Ohr dem unaufhörlichen Geplapper der alten Frau. Die Küche war seit jeher sein Lieblingsplatz gewesen, und das nicht nur wegen der Leckereien, die Katharina ihm und dem Bruder zugesteckt hatte. Hier blitzte alles vor Sauberkeit, und herrliche Düfte nach Vanille und Zimt, Thymian und Koriander, Petersilie und Sellerie durchzogen den Raum, je nachdem, woran die Magd werkte. Eine bessere Köchin als sie ließ sich schwerlich finden.

Dennoch zog es ihn bald wieder ins Freie hinaus. Der Abend war mild nach den Unwettern, von denen die Gegend in diesem Frühsommer immer wieder heimgesucht wurde. So entschloss sich Sebastian zu einem Spaziergang zur Burg, um seinem Vater entgegenzugehen.

 

Müßig bestieg Sebastian die trutzige Mauer, auf der ein überdachter Wehrgang rund um die Burg herum verlief, und ließ seinen Blick durch die Schießscharten über das weite Land schweifen, das sich nur von der Höhe der Burg aus erkunden ließ. Gleich nach seiner Ankunft hatte er vom Hauptmann der Wache erfahren, dass sein Vater zum Festmahl geladen war, das man heute Abend zu Ehren des Edelfräuleins Adela von Manderscheid-Kail gab. Nun bedauerte er von Herzen, die Köstlichkeiten Katharinas abgelehnt zu haben.

Dennoch verspürte er keine Lust, ins einsame Lehnshaus zurückzukehren. Die untergehende Sonne tauchte die Burg in ein goldenes Licht und zeichnete alle Konturen weich. Ein seltsames Gefühl von Sehnsucht, gepaart mit dem Verlangen, nach den Schrecken in Trier endlich zur Ruhe zu kommen, breitete sich in seinem Inneren aus.

Plötzlich flog eine Tür auf, und eine junge Frau stürmte auf den Burghof. Obwohl Sebastian sie noch nie gesehen hatte, erkannte er sie sofort. Dies musste Claudia von Leuchtenberg sein, die Nichte des Landgrafen Wilhelm. Nahezu endlos hatte ihm seine Verlobte Barbara in ihren monatlichen Briefen über sie geschrieben.

Augenscheinlich war Claudia sehr wütend. Verblüfft hörte Sebastian sie französische Flüche murmeln. Mit hastigen Schritten durchquerte sie den Burghof. Trotz ihrer Wut wirkten ihre Bewegungen anmutig. Sie erinnerten ihn an ein fliehendes Reh, das er unlängst beobachtet hatte.

Claudia war groß für eine Frau, wohl an die fünfeinhalb Fuß, schätzte er. Obwohl selbst hochgewachsen, würde er sie wohl gerade um eine halbe Haupteslänge überragen. Die meisten Männer waren kleiner als sie. Jetzt war sie am Ende des Burghofs angekommen, drehte um und kam genau auf ihn zu, ohne nach oben zu blicken und ihn zu bemerken.

Dennoch zog sich Sebastian vorsichtig ein Stück hinter die hölzerne Brüstung zurück, die den Wehrgang zum Hof hin in halber Mannshöhe begrenzte, und verbarg sich im Schatten eines Wachturms. Von dort aus beobachtete er sie weiter.

Die Sonne fiel auf ihr fein geschnittenes Gesicht mit den charakteristischen Zügen der Leuchtenberger. Er erkannte die leicht gebogene Nase und die vollen Lippen. Sie waren kirschrot und bildeten einen reizvollen Kontrast zu ihrer milchweißen Haut.

Allerdings war der Einfluss ihres südländischen Vaters nicht zu übersehen. Dichte schwarzbraune Locken hatten sich aus der verrutschten Spitzenhaube herausgestohlen und fielen über die volle Brust, die sich unter dem eng anliegenden Mieder heftig hob und senkte. Auch die kräftigen Augenbrauen hatte ihr dieser vererbt. Sie wölbten sich in einem perfekt geschwungenen Bogen über den Augen, die die Farbe von Ebenholz hatten.

Claudia von Leuchtenberg stammte aus einer morganatischen Ehe. Sebastian erinnerte sich wieder an das Geschwätz Katharinas. Die älteste Schwester des Landgrafen war gegen den Willen des Vaters bei Nacht und Nebel mit einem verarmten französischen Ritter durchgebrannt. Beide Eltern waren einige Jahre nach der Geburt ihrer Tochter an der Pest gestorben. Gerüchteweise betrachtete Claudias Großvater dies heute noch als gerechte Strafe für den Ungehorsam ihrer Mutter.

Dabei könnte sich das verweichlichte blasse Geschlecht über das frische Blut glücklich schätzen, dachte Sebastian. Claudia sprühte geradezu vor Leben und Energie. Einige Schweißtropfen glitzerten wie winzige Perlen auf der hohen Stirn, ihre Augen funkelten.

So stellte er sich die römische Göttin Diana vor. Er wäre deshalb nicht verwundert gewesen, wenn Claudia in diesem Moment einen Pfeil aus dem Köcher gezogen und ihre Widersacher mit einem gezielten Schuss zur Strecke gebracht hätte.

Schon wandte sie ihm wieder den schmalen Rücken zu und strebte mit kraftvollen Schritten der anderen Seite des Hofes zu. Ihre langen Haare flatterten wie Seidenstränge im leichten Sommerwind. Worüber war sie nur so erbost?

Etwas flog durch die Luft. Abrupt blieb sie stehen. »Kannst du nicht aufpassen? Was tust du hier? Stellst du mir wieder nach?« Sebastian konnte nicht sehen, mit wem sie sprach. Ihre Stimme war klangvoll und tief und verriet ihre oberpfälzische Herkunft.

Mit einer grazilen Bewegung bückte sie sich und hob einen kleinen bunten Ball auf. Schwungvoll warf sie ihn in die Richtung des Störenfrieds. Er hörte einen gedämpften Aufschrei.

Zu seinem Erstaunen trat nun sein eigener Vater ins Blickfeld. Christoph de la Val, würdiger Amtmann der Herrschaft Neuerburg. Er rieb sich die offensichtlich schmerzende Nase. An der Hand führte er den ältesten Sohn des Grafen.

Einen Augenblick starrte Claudia ihn erschrocken an. Dann glättete sich ihre Stirn wie von Zauberhand. Sie begann zu lachen. Es war ein herzliches Lachen, ungekünstelt und ansteckend. Es brachte warmen Glanz in ihre Augen und trieb ihr eine leichte Röte auf die zarten Wangen.

Sebastians Vater näherte sich dem Edelfräulein. Claudia hob den Stoff ihres leichten blauen Sommergewandes und deutete einen eleganten Knicks an. »Oh, entschuldigt mein Ungestüm, Herr Amtmann. Ich bitte viele tausend Mal um Vergebung.« Noch immer vibrierte ihre Stimme vor unterdrücktem Lachen. »Aber er ist mir andauernd auf den Fersen.« Mit einer schwungvollen Geste wies sie auf den ungefähr zehnjährigen Jungen. Christoph de la Val verbeugte sich leicht. Sebastian konnte seine Antwort nicht verstehen.

Claudia legte ihre Hand auf seinen Arm. Die Gruppe entfernte sich in Richtung der Stallungen. Fasziniert sah Sebastian Claudia nach. Ihre schlanke Gestalt bewegte sich geschmeidig, ihr Schritt hatte die Leichtigkeit einer Tänzerin. Ihr Groll schien verschwunden.

Sebastian trat aus dem Schatten des Wachturms, um einen letzten Blick auf sie zu erhaschen. Barbara hatte nicht übertrieben. Claudia von Leuchtenberg war eine ungewöhnliche Frau.

Sogar in ihrem Zorn war sie Sebastian wunderschön erschienen. Außerdem hatte er eine Frau aus adligem Hause noch niemals fluchen gehört. Und dann, so rasch, wie sich ein Sommergewitter verzieht, war ihre Wut verraucht. Ihr Lachen klang ihm immer noch in den Ohren.

Unwillkürlich schloss er die Augen. Eine verlockende Szene stieg in ihm auf. Wie würde es sein, diese warme, vibrierende Stimme in einer lauen Sommernacht zu hören, dunkel und samtig? Die schmalen und doch kräftigen Hände auf seinem Gesicht zu spüren, die vollen Lippen weich auf den seinen …

Er spürte sein Herz klopfen. Sein Mund wurde trocken.

Mit einem Ruck riss er sich aus seinen Träumereien. Was focht ihn nur an! Claudia von Leuchtenberg war ein Mitglied des Hochadels, mochte sie auch noch so sprühen vor Leben und alle Sitten ihres Standes missachten.

Für ihn, den Sohn des Amtmanns und Verlobten der Kaufmannstochter Barbara, war sie unerreichbar.

 

Die Dämmerung war schon hereingebrochen, als Sebastian, noch immer träumend, mit einem Becher Wein im hinteren Garten des Lehnshauses saß. Plötzlich klopfte es an der Haustür. Wenig später trat Andreas Mohr, der Stadtpfarrer von Neuerburg und somit Hüter der Kirche St. Nikolaus, in den Garten hinaus. Strahlend schüttelte er Sebastian die Hand.

»Wie schön, dass du endlich zurück bist. Wir haben dich schon gestern erwartet.«

Sebastians halbherzige Erklärung wegen der spät gewordenen Abschiedsfeier mit Kommilitonen in Bitburg unterbrach er mit einer ungeduldigen Handbewegung. »Nun lass es schon gut sein, ich war auch einmal jung.«

Sebastian spürte ein warmes Gefühl in sich aufsteigen. Liebevoll betrachtete er den fülligen Mann mit dem grauen Haarkranz und den wachen hellblauen Augen. Angesichts der schlichten Soutane und der niemals ganz reinen Fingernägel hätte man nicht vermutet, den höchsten Geistlichen der Herrschaft vor sich zu haben. Aber Andreas Mohr liebte nicht nur seinen Garten und seine Berufung, er liebte auch die Menschen. Wie oft hatte der Pfarrer Michel und ihn getröstet, wenn der Vater sie wieder einmal wegen ein paar läppischer Bubenstreiche verdroschen hatte. Da das Pfarrhaus gleich gegenüber der Kirche lag, waren sie fast Nachbarn.

»Was hast du aus der Fremde zu erzählen?«, fragte Mohr nun mit sichtlicher Neugier. »Wie steht es in Trier, ehrwürdiger Herr Doktor beider Rechte?« Er machte eine halb spöttische, halb ernst gemeinte Verbeugung. Schließlich konnte sich keineswegs jeder junge Mann mit nur dreiundzwanzig Lenzen dieser Titel rühmen.

Einen Moment war Sebastian versucht, dem Pfarrer von seinen schlimmen Erlebnissen in Trier zu berichten. Doch der Abend hatte zu schön begonnen, um in den Untiefen menschlicher Grausamkeit zu enden.

So berichtete er stattdessen über gelernte Lektionen, gelehrte Dispute und die üblichen Studentenstreiche. »Und wie geht es hier in Neuerburg?«, wechselte er schließlich das Thema. »Ich war kurz auf der Burg und habe das Edelfräulein Claudia von Leuchtenberg gesehen. Wie macht sich ihr Oheim als Regent der Herrschaft?«

»Oh, es geht besser als gedacht mit dem hochwohlgeborenen Windbeutel«, erklärte der Pfarrer respektlos. »Obwohl ihn sein Vater, der alte Landgraf, für verrückt erklären ließ, nachdem er sich mit Gewalt einen Teil seines Erbes in Pfreimd geholt hat. Er will ihn entmündigen lassen und den Herzog von Bayern zu seinem Nachfolger machen.«

Das war Sebastian neu, und der Pfarrer ließ sich nicht lange bitten. Staunend erfuhr er, dass Wilhelm, der Kronprinz der Grafschaft Leuchtenberg, vor sechs Monaten in einer Nacht-und-Nebel-Aktion das Schloss seines Vaters in der Oberpfalz gestürmt, dort Wertsachen und Pferde geraubt und mit zurück nach Neuerburg genommen hatte.

»Aber hier gibt er sich ganz als guter Landesherr. Und wüsste man nicht um diese Tollheiten, man würde sich wünschen, dass der Streit um das Erbe der Manderscheider noch recht lange währt. Auch dein Vater kommt gut mit Landgraf Wilhelm aus.«

»Und wie geht es der Landgräfin?« Sebastian grinste.

Auch Mohr konnte ein süffisantes Lächeln nicht unterdrücken. Erika von Manderscheid-Virneburg, die Gemahlin Wilhelms, galt als ebenso bedauernswert wie lächerlich. Dabei verdankte Wilhelm nur ihr allein seine jetzige Stellung.

Nach einem heftigen Streit mit seinem tyrannischen Vater hatte der Landgraf mit seiner ganzen Familie Pfreimd vor zwei Jahren verlassen und war in die Eifel gekommen. Dort weckte die Neuerburg nach dem Tod des letzten männlichen Mitglieds aus dem Geschlecht derer von Manderscheid-Schleiden im Jahr 1593 so manche Begehrlichkeit. Wechselnde Bewohner aus dem Kreis der zahlreichen Erbanwärter erhoben ihren Anspruch auf sie und waren von den übrigen Erben wieder gezwungen worden, die Burg zu räumen. Vor Wilhelms Ankunft war sie schon einige Jahre verwaist und nur vom Amtmann de la Val und der Besatzung verwaltet worden. Vielleicht hatte Erika deshalb bei ihrer zerstrittenen Verwandtschaft erreicht, dass sie dort Wohnung nehmen und Wilhelm regieren durfte.

Allein, er dankte es ihr schlecht. Nach schwierigen Schwangerschaften war seine um zehn Jahre ältere Frau von der Wassersucht aufgeschwollen und immer öfter unpässlich. Was Wilhelm nicht weiter bekümmerte. Er hielt sich schadlos an Mägden und Mädchen aus dem Ort, die er sogar auf der Burg einquartierte. Dass er seine Gemahlin dadurch zum Gespött der Neuerburger machte, scherte ihn kaum.

»Aber an seiner Regierung ist nichts auszusetzen. Er schindet die Leute nicht und achtet die Rechte der Stadt. Er verlangt an Steuern und Frondiensten nur, was ihm zusteht. Und er prasst und säuft auch nicht, wie es sein alter Herr dem Kaiser so gerne weismachen würde«, schloss der Pfarrer seinen Bericht. »Sonntags erscheint er pünktlich zur Messe in St. Nikolaus, an seinem Arm die betrogene Gattin. Ganz so, wie es sich für einen gottesfürchtigen Landesvater gehört.«

»Dann seid Ihr wohl froh, dass Ihr ihm die Beichte nicht abnehmen müsst«, bemerkte Sebastian. »Im Wissen, dass er die nächsten Sünden begeht, sobald er die Kirche verlässt.«

Der Pfarrer sah ihn halb belustigt, halb missbilligend an. »Über die Beichte spottet man nicht, mein Sohn.« Seine Stimme klang ungewohnt würdevoll. Dann brach sich der Schalk in ihm erneut Bahn. »In der Tat musste ich eine Zeitlang dem ganzen Haushalt der Burg die Beichte abnehmen und habe mir über die Buße für den Grafen so manchen Abend den Kopf zerbrochen«, erklärte er. »Der alte Burgkaplan ist im Frühjahr an einem schlimmen Brustkatarrh verstorben. Aber seit gestern bin ich diese Last wieder los.«

»Und wodurch?« Sebastian beugte sich gespannt vor. Der Pfarrer genoss sichtbar die Neugier des jungen Mannes. Genüsslich nahm er einen Schluck Wein und wischte sich den Mund am Ärmel seiner Soutane. Die Lachfältchen rund um seine Augen vertieften sich.

»Gestern ist der neue Burgkaplan eingetroffen. Das Edelfräulein von Manderscheid-Kail hat ihn mitgebracht. Er wechselt aus den Diensten des Kailer Grafen nun auf die Neuerburg.«

Die Linie von Manderscheid-Kail war die kleinste der Familien, die um das Erbe des reichsten Zweigs ihres Geschlechts, derer von Manderscheid-Schleiden, seit nunmehr zwanzig Jahren stritten. Die kleinste, aber auch die ehrgeizigste Linie. Vor Jahren war Sebastian dem Grafen von Kail einmal begegnet und hatte ihn als hartherzigen, machtgierigen Mann in Erinnerung.

Der Pfarrer schien seine Gedanken zu lesen. Seine fröhliche Miene verdüsterte sich. »Ja, gebe Gott, dass nicht die Kailer die Herrschaft Neuerburg bei der Erbteilung erhalten«, seufzte er. »Dann brächen harte Zeiten für das Städtchen an.« Er stockte.

Sebastian sah ihn aufmerksam an. »Was trübt Eure Laune so plötzlich?«, fragte er schließlich, als der Pfarrer weiter dumpf vor sich hin brütete.

Mohr hob seinen Blick. »Man brennt in der Grafschaft von Manderscheid-Kail. Mindestens zwanzig Weiber sind schon als Hexen gerichtet worden.«

Sebastian fuhr der Schrecken in alle Glieder.

»Glaubt Ihr, dass der Funke auf die Herrschaft Neuerburg überspringen wird?« Er versuchte, sich sein Entsetzen nicht anmerken zu lassen. Doch die Frage berührte ihn unmittelbar. Denn sein Vater hatte ihm das Amt eines Schöffen am Neuerburger Hochgericht verschafft. Und wie schon bei seiner Verlobung mit der Kaufmannstochter Barbara hatte er es nicht vonnöten befunden, ihn zuvor um sein Einverständnis zu fragen.

»Ich hoffe nicht«, antwortete Mohr. »Doch es schwirren immer mehr böse Gerüchte durch die Herrschaft, und die beständigen Unwetter verschlimmern die Lage von Tag zu Tag. Selbst meine eigenen Geistlichen schüren das Feuer, anstatt es zu löschen.«

»Was meint Ihr damit?«

Mohr seufzte wieder. »Erst heute sandte der Pfarrer von Oberweis einen Boten zu mir. Er will, dass ich deinen Vater auffordere, eine amtliche Untersuchung einzuleiten, ob Unholde in diesem Flecken am Werk sind.«

»Und was werdet Ihr tun?« Sebastian kannte die Haltung seines Vaters zum Sonderverbrechen der Zauberei.

Der Pfarrer zuckte die Achseln. Plötzlich ging ein Leuchten über sein Gesicht.

»Ich habe eine Idee, Sebastian. Du bist doch schon zum Schöffen am Hochgericht bestallt, ich habe deine Ernennungsurkunde selbst bezeugt. Was hältst du davon, morgen den Ort aufzusuchen und dir ein Bild von der Lage zu machen?«

Sebastian sah den Älteren zweifelnd an. »Ohne offiziellen Auftrag kann ich dort nichts bewirken. Und mein Vater wird schnell davon erfahren«, wandte er ein.

Mohr klopfte ihm auf die Schulter. »Nicht von mir, wenn sich der Verdacht nicht erhärtet. Reite ins Dorf und berichte mir, was du erfahren hast. Danach sehen wir weiter.«

Kapitel 3

Pfingstsamstag, 9. Juni 1612

Der Donner knallte wie ein Kanonenschlag über dem Hohlweg. Fluchend riss Sebastian sein scheuendes Pferd zurück.

Seitdem er am Morgen von Neuerburg aufgebrochen war, machte die drückende Schwüle ihm zu schaffen. Schon in der Nacht waren neue Unwetter aufgezogen. Myriaden von Stechmücken hatten ihn und seinen Hengst geplagt, als er sich auf der uralten Römerstraße mühsam seinen Weg durch Schlaglöcher und Pfützen gesucht hatte.

Prüfend hob er den Blick zum Himmel. Die Wolken hatten sich drohend zu anthrazitgrauen Gebirgen aufgetürmt. Da fielen auch schon die ersten Tropfen, groß wie Silbermünzen. Wieder scheute sein Pferd, als der Himmel seine Schleusen öffnete und sich wie ein Sturzbach über Mensch und Tier ergoss. Binnen Sekunden war Sebastian bis auf die Haut durchnässt. Ein heftiger Wind kam auf und zerrte an seinem leichten Umhang und der Mähne des Schimmels.

Er fluchte erneut und trieb das Pferd mit Gerte und Sporen an. Es konnte jetzt nicht mehr weit sein. Plötzlich machte die Straße einen Knick und führte abwärts ins Tal. Hier ging es hinunter nach Oberweis am Ufer der Prüm.

Der heftige Regen ließ ihn blinzeln, nur schemenhaft nahm er die ersten Holzhütten des Weilers wahr. Sie duckten sich ins enge Tal, rund um den Dorfplatz mit der mächtigen, jahrhundertealten Linde. Auf dem Hügel dahinter ragte der Turm der einfachen Holzkirche in den düsteren Himmel. Von Regen- und Nebelschwaden fast verhüllt, erkannte Sebastian über dem Tal die Burg, Wohnstatt und Residenz von Jost Kerpen. Er war Verwalter in diesem Teil der Herrschaft und damit ein Gefolgsmann seines Vaters, des Amtmanns von Neuerburg.

Dort hinauf würde er es mit dem verängstigten Tier allerdings nicht mehr schaffen. Nahezu ununterbrochen überzogen Blitze den pechschwarzen Himmel mit gleißendem Licht, dröhnte der Donner wie die Pauken des Jüngsten Gerichts. Nun mischte sich auch noch Hagel unter den Regen und prasselte schmerzhaft auf Kopf und Rücken.

Sebastian fluchte ein drittes Mal. Es würde ihm nichts anderes übrigbleiben, als zunächst in der verkommenen Schenke des Dorfes abzusteigen. Trotzdem seufzte er erleichtert auf, als er im Dunst das verrostete Wirtshausschild ausmachte.

 

Die einfache Holztür quietschte durchdringend, als Sebastian, nur mit Hemd und Hose bekleidet, die verräucherte Gaststube betrat. Zuerst hatte er sein erschöpftes Pferd versorgt, es abgesattelt und trockengerieben, danach Umhang und Wams ausgezogen. Nirgendwo fand er einen halbwegs reinlichen Ort zum Trocknen der Kleider und stopfte sie schließlich tropfnass in die Satteltaschen. Zumindest der Schimmel störte sich nicht an dem allgegenwärtigen Schmutz. Zufrieden malmte er in seinem umgebundenen Hafersack, während der Regen auf das Stalldach trommelte.

Die Gaststube war niedrig, die Decke völlig vom Ruß geschwärzt. Vorsichtig ließ sich Sebastian an einem der schmierigen Tische nieder. Eilfertig näherte sich der Wirt, ein untersetzter Mann in einem speckigen Kittel. »Was für eine Ehre in meinem bescheidenen Haus!« Er verneigte sich tief. »Was darf ich dem jungen Herrn Amtmann bringen?«

Sebastian winkte ungeduldig ab. »Mein Vater ist der Amtmann, nicht ich.« Er merkte auf einmal, dass ihn der anstrengende Ritt hungrig gemacht hatte. »Was gibt es zum Essen? Ich würde gern einen Blick in die Töpfe werfen.«

Diensteifrig führte ihn der Wirt zur Rückseite des Raumes, wo über einer offenen Feuerstelle zwei gusseiserne Töpfe an Haken hingen. Der eine enthielt einen wässrigen Gerstenbrei, der andere einen Eintopf von nicht zu bestimmender Farbe, der durchdringend roch. Sebastian unterdrückte ein Schaudern.

»Nur Brot und Käse«, beschied er dem enttäuschten Wirt. »Hast du reines Wasser?«

»Frisch aus unserem Dorfbrunnen«, beteuerte der und wies auf einen Eimer, in dem bereits einige tote Fliegen schwammen. Sebastian seufzte. Wein war in dieser erbärmlichen Schenke wohl nicht zu bekommen. »Dann bring mir Bier.« Er hoffte, dass das Brauwasser nicht aus der Kloake stammte, in die sich der Bach auf seinem Weg durch den Ort hinter dem Wirtshaus verwandelt hatte.

In düsterer Stimmung kehrte er an den Tisch zurück. Schon nach wenigen Minuten erschien die Tochter des Wirts mit seiner Mahlzeit und einem irdenen Krug. Vorsichtig nahm Sebastian einen Schluck. Kein Vergleich mit dem köstlichen Bitburger Gebräu, das er vor zwei Tagen so reichlich genossen hatte. Aber auch nicht so schlecht, wie er befürchtet hatte. Das Brot war recht frisch, der Käse würzig. Langsam besserte sich seine Laune.

Die Wirtstochter war in der Nähe des Tisches stehen geblieben und sah ihn unverwandt an. Sie war ein mageres Mädchen von ungefähr sechzehn Jahren, mit blonden, fettigen Zöpfen und Kuhaugen. Ihr Hemd aus grobem Leinen ließ den Ansatz der Brust erkennen. Sie rieb ihre Hände nervös an der schmuddeligen Schürze.

Sebastian seufzte innerlich. Meistens genoss er seine Anziehungskraft auf weibliche Wesen jeden Alters. Heute war ihm allerdings nicht nach einem Techtelmechtel zumute, und sei es auch noch so harmlos.