Hildur – Die Spur im Fjord - Satu Rämö - E-Book
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Hildur – Die Spur im Fjord E-Book

Satu Rämö

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Beschreibung

Einst verschwanden ihre Schwestern spurlos. Jetzt leitet Hildur Rúnarsdóttir die Einheit für vermisste Kinder in den Westfjorden, und ihr altes Trauma holt sie wieder ein

Sie surft auf den eisigen Wellen des Atlantiks, umgeben von der rauen Natur Islands, um ihren größten Schmerz zu vergessen. Was wurde aus ihren Schwestern, die seit über zwanzig Jahren vermisst werden? Diese Frage stellt sich Kriminalbeamtin Hildur Rúnarsdóttir jeden Tag, wenn sie als Leiterin der Einheit für vermisste Kinder in den abgelegenen Westfjorden unterwegs ist. Doch als eine Lawine die Gegend erschüttert und darunter ein Mann mit durchtrennter Kehle auftaucht, hat Hildur es schon bald mit einer Serie von grausamen Morden zu tun, die ihr alles abverlangt. Dabei ahnt sie nicht: Auch die Suche nach ihren Schwestern hat gerade erst begonnen …

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Seitenzahl: 432

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Das Buch

In der kleinen Gemeinde Ísafjörður in den entlegenen Westfjorden Islands kennt man sich. Und doch gibt es hier Menschen, die einfach verschwinden. Vor fünfundzwanzig Jahren liefen zwei Mädchen in einen Tunnel, und wurden danach nie wieder gesehen. Der Verlust ihrer beiden Schwestern hat Hildur Rúnarsdóttir seitdem nicht mehr losgelassen. Heutet leitet sie die Abteilung für vermisste Kinder und Jugendliche bei der örtlichen Polizei. Bei Bergungsarbeiten nach einem Lawinenabgang wird ein Toter gefunden, der Hildur bestens bekannt ist. Doch der Mann starb nicht durch die Schneemassen. Jemand hat ihm zuvor die Kehle aufgeschnitten. Es folgen weitere Morde, die eine ähnliche Handschrift tragen. Während Hildur mithilfe ihres neuen Kollegen Jakob nach einer Verbindung zwischen den Opfern sucht, entdeckt sie plötzlich eine Spur, die sie endlich zu ihren Schwestern führen könnte …

Die Autorin

Die Finnin Satu Rämö zog vor zwanzig Jahren für ein Auslandssemester nach Island, um isländische Kultur und Literatur zu studieren. Heute arbeitet sie als Autorin, Bloggerin und Mentorin und lebt mit ihrem isländischen Mann und ihren zwei Kindern in der Kleinstadt Ísafjörður im Nordwesten Islands. Nach zahlreichen erfolgreichen Sachbüchern, in denen sie über ihre Wahlheimat schreibt, gelang ihr mit »Hildur – Die Spur im Fjord« auf Anhieb der Durchbruch als Krimiautorin. Der Auftakt der Reihe um die außergewöhnliche Kommissarin Hildur Rúnarsdóttir begeisterte die Leser*innen in ihrer Heimat und stand wochenlang auf Platz 1 der Bestsellerliste.

SATU RÄMÖ

HILDUR

Die Spur im Fjord

KRIMINALROMAN

Aus dem Finnischen von Gabriele Schrey-Vasara

WILHELMHEYNEVERLAGMÜNCHEN

Die Originalausgabe Hildur erschien erstmals 2022 bei Werner Söderström Ltd (WSOY), Helsinki.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Trotz intensiver Recherche konnte der Verlag nicht alle Rechtegeber ermitteln. Bitte wenden Sie sich gegebenenfalls an den Wilhelm Heyne Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH.

Deutsche Erstausgabe 10/2023

Copyright © 2022 by Satu Rämö

Published in the German language by arrangement

with Bonnier Rights Finland, Helsinki, Finland.

Copyright © 2023 der deutschsprachigen Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Sibylle Klöcker

Covergestaltung: www.buerosued.de

unter Verwendung von © mauritius images (Tabor Chichakly/Alamy/Alamy Stock Photos) und www.buerosued.de

Satz: Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-30631-1V004

www.heyne.de

Mutter mein im Stall, Stall lass die Sorgen all, all; leih ich dir mein Tüchelein, kannst du damit tanzen fein.

ALTESISLÄNDISCHESVOLKSLIED

FRÜHER

Sommer 1550 MOSFELLSHEIÐI

Sleipnir beschleunigte seine Schritte zu schnellem Tölt, sodass seine dicke braune Mähne wild hin und her schaukelte. Dem Pferd tropfte Schaum aus dem Maul, und seine schwarzen Augen glänzten vor Begeisterung über die Geschwindigkeit.

Haraldur, der auf dem Rücken des leichtfüßigen Rosses saß, sog die kühle Luft des Spätsommers durch die Nase ein. Er hielt die Zügel in der rechten Hand. Von seiner Linken führte eine Leine zu den Halftern der beiden Reservepferde. Das um die Taille gebundene Messer schlug im Takt des Tölts gegen seinen rechten Oberschenkel.

Beim Ausatmen stieß Haraldur durch seinen dichten, rotbraunen Bart hindurch ein tiefes, langes Ooo aus. Der Laut sollte das Pferd beruhigen, doch dessen Lust am Laufen wurde nicht einmal durch die Müdigkeit eingeschränkt.

Ein gutes Pferd will das Beste für seinen Reiter. Es will zeigen, was es kann. Haraldur wollte sein bestes Pferd nicht zur Erschöpfung treiben, denn vor ihnen lag noch die lange Hochebene von Mosfellsheiði.

Haraldur war drei Tage lang geritten. Er war mit drei Pferden von seinem Zuhause am Ufer von Fellsströnd am Breiðafjörđur, dem Breiten Fjord, in Westisland gen Süden aufgebrochen. Er war unterwegs, um seinen Freund zu warnen. Ihm war zu Ohren gekommen, dass die Krieger eines verfeindeten Stammes planten, Njáll zu ermorden. Njáll war einer der wohlhabendsten Großbauern Südislands und sehr einflussreich. Geld und Macht lockten Feinde an, die Mittel und Wege finden würden, sich einen Anteil an seinem Besitz zu holen.

Njáll und Haraldur hatten sich schon als kleine Jungen kennengelernt und Freundschaft geschlossen, denn sie waren mütterlicherseits Cousins. Haraldur war sofort aufgebrochen, als er von der Gefahr erfuhr.

Die Abendsonne tauchte die Landschaft in leuchtendes Orange. Der Herbst kündigte sich an. Die Vögel zwitscherten nicht mehr wie in der sommerlichen Brunftzeit, und das grüne Gras der Wiesen färbte sich allmählich hellbraun. Kurz vor Sonnenuntergang und dem Anbruch der Dunkelheit erreichte Haraldur den letzten Rastplatz auf seiner langen Reise, das sæluhús, die Herberge auf der Hochebene Mosfellsheiði.

Er machte vor der niedrigen Torfhütte Halt und stieg ab. Dann gab er seinen Pferden Wasser und führte sie zum Ausruhen auf ein Feld, das von einem Steinwall umgeben war.

Haraldur öffnete die Tür der Herberge und betrat die niedrige Diele, die in schummriges Licht getaucht war. Er wollte sich möglichst bald hinlegen. Am nächsten Morgen würde er in aller Frühe weiterreiten. Njálls Hof am großen, mächtigen Fluss Ölfusá war nur noch eine halbe Tagesreise entfernt.

»Drei Pferde und ein Mann, für eine Nacht. Hier ist hoffentlich Platz?«, brummte Haraldur in seinen Bart und verlagerte das Gewicht von einem Bein aufs andere. Lange rote Haare umrahmten sein Gesicht mit dem kräftigen Kinn.

Auf dem Gang in der Mitte der Torfhütte erschien eine junge Frau in einem schafgrauen Lodenrock, die eine Öllampe in der Hand hielt. Das schwache Licht der Lampe ließ ihre grünen Augen noch intensiver leuchten.

»Da hinten ist der Schlafraum. Bezahlung am Morgen, und keine krummen Sachen«, sagte die Frau und warf mit einer schnellen Bewegung den Kopf zurück.

Una ging auf die dreißig zu und stammte aus dem Süden. Im Winter arbeitete sie als Magd auf einem Bauernhof am nächsten Fjord. Im Sommer kümmerte sie sich um die Gäste der Herberge, die sich auf dem Grund und Boden des Bauern befand. In diesem sæluhús übernachteten alle Reisenden, die zwischen dem Westen und dem Süden des Landes unterwegs waren.

Una betrachtete den gut aussehenden Neuankömmling lange. Viel länger, als es sich im Grunde ziemte, Gäste anzusehen.

»Hast du Hunger? Ich kann nachsehen, was es in der Kochstube gibt«, sagte sie.

Sie teilten sich einen Stockfisch und brachen Stücke von einem aus Seetang gebackenen Brot ab. Haraldur erzählte von den Pferden, die er bei sich hatte, und von seiner Schafwirtschaft am Breiten Fjord, in dem es so viele Inseln gab, dass sie noch niemand hatte zählen können. Una sagte, sie sei geschickt darin, Schafe zu scheren.

Im Allgemeinen ließ Una keine fremden Reisenden in ihr Bett, aber diesmal wollte sie eine Ausnahme machen. Haraldur wirkte anders. Besonders. Er sprach mit ihr wie mit einer Gleichrangigen. Er fragte Una nach ihrer Meinung, hörte ihr zu, ohne sie zu unterbrechen, und erzählte ihr von seinem Alltag.

Beim Aufbruch am nächsten Morgen fragte Haraldur Una, was sie sagen würde, wenn er auf dem Rückweg vorbeikäme und sie mitnähme.

»Wenn du rechtzeitig hier bist, komme ich vielleicht mit«, antwortete Una. Als Haraldur fortgeritten war, flocht sie sich die Haare. Die Sonnenstrahlen des Sommermorgens fielen durch das schmale Fenster und schienen das Zimmer in zwei Teile zu spalten. Una stellte sich in das Sonnenlicht, schloss die Augen und genoss die Wärme auf ihrem Gesicht.

Haraldur erreichte das Ufer des Ölfusá vor den Ganoven. Njáll freute sich über die Ankunft seines Freundes, und sie feierten ihr Wiedersehen bis spät in die Nacht. Bei seinem vertrauenswürdigen Nachbarn heuerte Njáll zwei kräftige Knechte an, die ihn rund um die Uhr schützen sollten. Als Haraldur aufbrach, gab Njáll ihm zum Dank einen kleinen Lederbeutel, der mit Klippen gefüllt war, mit Silber- und Kupfermünzen.

Die Klippen klirrten in Haraldurs Tasche, als er nach zwei Tagen zum sæluhús zurückritt.

Una packte ihre wenigen Sachen, schwang sich auf Haraldurs junge Stute und ritt mit dem gut aussehenden Mann gen Westen, zum Breiten Fjord mit seinen unzähligen Inseln.

Una und Haraldur hätten sich nie begegnen sollen, aber es geschah doch, und sie bekamen ungewöhnlich viele Kinder.

November 1994 ÍSAFJÖRÐUR

Durch das Wohnzimmerfenster sah man, wie der Wind auf dem Hof Schnee hin und her peitschte. Das Schneetreiben wurde stärker.

Lóas Bauch fühlte sich weich und warm an. Wie Seidenpapier, dachte Björk, als sie die schläfrige Katze mit ruhigen Bewegungen streichelte. Die Katze schnurrte leise. Das blinkende Signallicht eines vorbeifahrenden Schneepflugs warf einen orange-gelb leuchtenden Streifen in das Wohnzimmer. Das große Fahrzeug räumte den Schnee von der Straße und häufte ihn auf dem leeren Nachbargrundstück auf. Das Poltern und Knarren war bis ins Haus zu hören. Die Katze wurde wach, spreizte ihre Vorderpfoten auf dem Cordsofa, öffnete die Schlitzaugen einen Spaltbreit und sah ihre junge Pflegerin zufrieden an.

Es ärgerte Björk, dass sie keine eigene Katze haben konnte. Ihre Mutter war allergisch. Auch ein Hund kam nicht infrage. Pferde hatten sie zwar, aber die waren immer draußen und man konnte nicht auf dem Wohnzimmersofa mit ihnen spielen.

Björk hatte sich gefreut, als Jón, ein alter Bekannter ihrer Mutter, sie und ihre Schwester Rósa gebeten hatte, seine Katze zu hüten. Er musste in die Hauptstadt Reykjavík fahren, um sich eine neue Brille zu kaufen, denn in der Region Vestfirðir gab es keinen Augenarzt und nicht einmal ein Brillengeschäft. Die sechsstündige Fahrt in den Süden und zwei Nächte in einem billigen Hotel am Stadtrand von Reykjavík wären für die alte Katze nichts gewesen. Sie fühlte sich in der Tragetasche auf dem Rücksitz nicht wohl, sondern erbrach sich im Auto immer.

Björk und Rósa waren gleich nach der Schule zum Katzenhüten gekommen. Sie hatten Lóa zwei Dorschzungen gegeben und eine Portion Trockenfutter in den Napf gefüllt. Lóa war daran gewöhnt, die Klappe an der Haustür zu benutzen. Sie ging ein und aus, wie es ihr gefiel, und erledigte ihr Geschäft im Freien.

Björk brachte es nicht über sich, die schlummernde Katze zu verlassen. Sie war so weich und warm.

»Wir müssen jetzt wirklich gehen. Der Schulbus fährt gleich ab«, drängte Rósa ihre kleine Schwester.

»Ich kraule Lóa nur noch einen ganz kleinen Moment. Sie mag das so gern, guck nur, wie sie den Kopf auf meinen Schoß legt. Miez, miez.«

Die achtjährige Rósa stand mit ihrem roten My-Little-Pony-Rucksack in der Diele und trat unruhig von einem Bein aufs andere. Der Schulbus in ihr Heimatdorf auf der anderen Seite des Berges würde in fünf Minuten vor dem gelben Schulhaus abfahren und Rósa wusste, dass der Fahrer nicht auf Kinder wartete, die sich verspäteten. Björk war Erstklässlerin und hatte noch kein richtiges Zeitgefühl. Für sie waren fünf Minuten und eine Viertelstunde dasselbe. Rósa ging immerhin schon in die dritte Klasse.

Jón wohnte zum Glück gleich neben der Schule. Ihre Mutter hatte erzählt, dass er noch ein zweites Zuhause hatte, ein altes Sommerhaus weiter draußen auf dem Land. Auch Lóa fühlte sich dort wohler, weil sie ohne Angst vor vorbeifahrenden Autos über die Wiesen laufen konnte.

»Ich geh jedenfalls. Bleib hier, wenn du nicht nach Hause willst«, sagte Rósa und wandte sich zur Haustür. »Mama hat versprochen, heute Lummur zu backen, weißt du noch?«, versuchte sie ihre kleine Schwester mit sich zu locken.

Björk liebte Lummur. Die kleinen, aber herrlich dicken Pfannkuchen, am besten mit Sirup und Rhabarbergelee serviert, waren Björks Lieblingsspeise. Ihre Mutter gab ihnen obendrein die Form von Blumen und Herzen.

Björk stand langsam vom Sofa auf und streichelte die Katze noch einmal.

»Na gut. Ich geh nur noch schnell aufs Klo.«

Wenige Minuten später zog Rósa die Tür des Einfamilienhauses hinter sich zu und vergewisserte sich, dass das Schloss einschnappte, denn sonst hätte ein heftiger Windstoß die Tür aufdrücken und den Schnee ins Haus blasen können.

Die Mädchen sprangen über die Schneewehen, die sich auf dem Hof gebildet hatten. In den letzten zwei Tagen war mindestens ein halber Meter Schnee gefallen. Die beiden bewunderten die Formen der vom Wind gepeitschten Haufen und nahmen sich vor, auf dem Hügel hinter ihrem Elternhaus zu rodeln.

In dem Moment, als sie, die Schuhe voller Schnee, auf die Straße traten, rauschte der weiße Schulbus vorbei. Rósa lief ein Stück hinterher und winkte, aber ohne Erfolg. Der Fahrer hatte sie entweder nicht gesehen oder keine Lust gehabt anzuhalten.

»Aber wir müssen nach Hause. Was machen wir denn jetzt?«, fragte Björk verzagt. »Ich hab Schnee in den Schuhen. Mama sagt, man kriegt Schnupfen, wenn man mit nassen Füßen draußen rumläuft«, jammerte sie. Ihr stiegen Tränen in die Augen.

Rósa überlegte. Die Schule war geschlossen. Alle anderen Kinder waren nach Hause gegangen oder abgeholt worden. Den Bus hatten sie verpasst. Ihre Mutter fütterte um diese Zeit draußen die Pferde und würde frühestens in einer Stunde wieder im Haus sein. Ihr Vater war auf See. Sein Fischtrawler würde erst am Wochenende in den Hafen zurückkehren.

»Vielleicht können wir hier irgendwen besuchen«, schlug Björk vor.

»Mama ist bestimmt sauer, wenn sie bis hierher fahren und uns abholen muss«, meinte Rósa.

Björk hatte noch einen weiteren Vorschlag.

»Und was, wenn wir einfach zu Fuß gehen?«

Sie wusste, dass es verboten war, zu Fuß nach Hause zu gehen. Im Schneesturm konnte man sich verlaufen, und der tolle neue Tunnel war noch nicht eröffnet. Außerdem durfte man gar nicht zu Fuß durch den Tunnel gehen.

In den letzten Jahren war ein Tunnel durch den Berg zwischen den beiden Dörfern getrieben worden. Er war einige Kilometer lang und würde die Fahrt von einem Dorf ins andere verkürzen und sicherer machen. Bald würde man nicht mehr die steile, kurvenreiche Gebirgsstraße nehmen müssen, die vor allem in der Zeit der Winterstürme gefährlich war.

»Wir dürfen nicht zu Fuß in den Tunnel, und er ist noch gar nicht fertig«, wandte Rósa erschrocken ein.

»Ich hab gehört, wie Mama Papa erzählt hat, dass man jetzt schon durch den Berg kommt. Da ist schon eine Straße. Ganz bestimmt«, sagte Björk mit der Selbstsicherheit einer Sechsjährigen und sah ihre Schwester mit festem Blick an.

»Ja … Wir müssen ja irgendwie nach Hause kommen. Und wenn der Tunnel noch nicht geöffnet ist, fahren da auch noch keine Autos«, überlegte Rósa.

»Aber ich hab im Dunkeln Angst, und im Tunnel ist es richtig dunkel«, fiel Björk ein, die sich nun doch zu fürchten begann.

»Wir gehen ganz leise, hintereinander«, machte Rósa ihr Mut. »Ich halte dich die ganze Zeit an der Hand und lasse dich erst los, wenn wir zu Hause sind. Wir können am Straßenrand entlanggehen. Denk an die Pfannkuchen.«

Björks Widerstand schmolz dahin, und sie fasste nach der Hand ihrer Schwester. Die Mädchen machten sich auf den Weg zum Tunnel.

Als sie auf der asphaltierten Straße zu der Tunnelöffnung in der Bergwand gingen, begann es wieder zu schneien. Es dämmerte bereits. Bald würde es draußen genauso dunkel sein wie im Tunnel.

»Da drinnen schneit es zum Glück nicht. Komm, jetzt gehen wir rein«, sagte Rósa und zog ihre kleine Schwester mit sich.

Rósa und Björk gingen Hand in Hand in den dunklen Tunnel hinein. Der rote Rucksack mit den Ponys darauf war das Letzte, was von den Mädchen zu sehen war. Dann verschwanden sie.

JETZT

1

Oktober 2019 ÍSAFJÖRÐUR

Das Meer stöhnte leise. Die Wellen kamen von weit her, aus Grönland. Ein Sturm in der Grönlandsee machte sich einige Tage später in der Dünung bemerkbar, die an die zerklüftete Küste im nordwestlichen Teil Islands schlug. Das Wasser verwandelte sich in weißen Schaum, wenn es auf das Ufergeröll traf. Es sprühte in die Öffnungen der Höhlen, die vor langer Zeit bei Vulkanausbrüchen entstanden waren.

Jeder Mensch musste von Zeit zu Zeit das Fundament berühren, das sein Leben aufrecht hielt. Für die Kriminalbeamtin Hildur Rúnarsdóttir war dieses Fundament das Surfen. Das Meer war unbeständig, und niemand konnte seine Bewegungen lückenlos vorhersehen. Das Wasser barg immer etwas Dunkles, Kaltes, ein Risiko, das sich nicht kalkulieren ließ und vor dem man sich deswegen in Acht nehmen musste. Das Spiel mit dieser Gefahr faszinierte Hildur, es war ihre Art zu leben.

Hildur wickelte den dicken Zopf, der ihr bis auf den Rücken reichte, zu einem festen Knoten im Nacken, damit die Neoprenkapuze eng anlag.

Sie schätzte die Wassertemperatur auf fünf Grad. Höchstens sechs. Der aus Neopren gefertigte Nassanzug bedeckte den ganzen Körper und war von der dicksten Sorte. Der Stoff der langen Hosenbeine und Ärmel war ein paar Millimeter dünner, denn Arme und Beine brauchten mehr Bewegungsfreiheit. Bei kaltem Wasser verwendete sie für das Surfen vorgesehene Handschuhe und Schuhe.

Der schwarze Anzug saß wie eine zweite Haut. Wenn er locker wäre, würde er zu viel Wasser durchlassen und der Körper würde zu sehr auskühlen. In einem zu engen Anzug wiederum war es schwierig, sich zu bewegen. Auf einem Surfbrett musste man wendig sein.

Durch die zerfledderten Wolken fiel das graue Licht des späten Oktobers. Im Winter gab es im Dorf überhaupt keinen Sonnenschein. Die hohen Berge, die es umgaben, verdeckten die Sonne vom November bis zum Februar. Bald würde das Sonnenlicht verschwinden, um erst im Spätwinter wieder zurückzukehren.

Hildur klemmte sich das grüne Brett unter den Arm und ging ins Wasser. Obwohl ihre Neoprenschuhe harte Gummisohlen hatten, spürte sie die spitzen vulkanischen Steine unter ihren Füßen. Nach einigen vorsichtigen Schritten legte sie sich bäuchlings auf das Brett und paddelte mit den Armen vom Ufer weg aufs offene Meer hinaus. Ihre muskulösen Arme pflügten rhythmisch durch das Wasser, ihr Atem beschleunigte sich.

Auf dem Meer kam man nur so weit, wie der Kopf es zuließ. Heute wollte Hildur möglichst weit hinaus. Die Wellen waren flach, aber lang. Typische Ausläufer eines Grönlandsturms. Gegen die Wellen anzupaddeln, zehrte an den Kräften. Gerade deshalb liebte sie es, im Meer zu paddeln. Indem sie Energie verbrauchte, schuf sie gewissermaßen neue Kraft in ihrem Kopf.

Das Brett glitt voran, und Hildurs Atem ging schwerer. Über ihr flog ein nachtschwarzer Rabe. Sie blickte kurz zu ihm auf. Das Meer rächte sich sofort. Nur ein einziger Atemzug mit erhobenem Gesicht, und schon hatte sie einen Schwall Meerwasser geschluckt und musste heftig husten.

Nachdem Hildur einige hundert Meter gepaddelt war, wendete sie das Brett und wartete auf die nächste Welle, auf der sie reiten wollte. Am Ufer war niemand zu sehen. Unter den rund zweitausend Dorfbewohnern gab es nicht viele Surfer. Heute gehörte das Meer ihr ganz allein.

Eine gute Stunde später ging Hildur mit dem Brett unter dem Arm zur Landspitze Arnarnes, wo sie ihren großen Geländewagen geparkt hatte. Das Surfen hatte ihr wieder einmal geholfen, vom Alltag abzuschalten. Am Vormittag hatte sie eine starke Beklemmung gefühlt. Sie war nicht mehr so quälend gewesen wie direkt nach dem Aufwachen, aber sie spürte, dass sie bald schlechte Nachrichten bekommen würde.

Hildur leitete bei der Nationalen Polizei Islands die Abteilung für vermisste Kinder in schwach besiedelten Gebieten und war Kriminalbeamtin im Polizeibezirk Ísafjörður. Die einzige Kriminalbeamtin im Gebiet der Westfjorde.

Als sie ihren Geländewagen erreichte, hörte sie ihr Handy klingeln. Sie zog die hautengen Surfhandschuhe aus, öffnete die Wagentür und griff nach dem blinkenden Telefon auf dem Vordersitz.

»Hildur«, meldete sie sich außer Atem. Sie wischte sich das Meerwasser von der Stirn und nahm die dicke Neoprenhaube ab.

Die Anruferin war Hildurs Chefin Elísabet Baldursdóttir, genannt Beta. Beta hatte einen dringenden Auftrag. Für Hildur kam der Anruf nicht überraschend.

»Ich komme. Bin schon unterwegs. Ich ziehe mich nur schnell zu Hause um.«

Die meisten Menschen waren zu guten Vorahnungen imstande. Das kam Hildur seltsam vor. Sie empfand es als gut, wenn sie nicht auf ein kommendes Ereignis zu warten brauchte. Dann passierten die Dinge einfach und der Alltag ging weiter. Sobald Hildur Erwartung spürte, stand etwas Schlimmes und Unangenehmes bevor.

Warten war nicht immer unangenehm gewesen. Als Kind hatte Hildur auf schöne Dinge gewartet. Sie hatte sich auf Weihnachten gefreut, auf die Geburtstage von Schulfreundinnen, auf lange Ausritte am Wochenende und auf den ersten Schnee im Spätherbst. Als dann alles anders wurde, war es mit den positiven Erwartungen vorbei gewesen.

Hildur legte ein dickes Handtuch auf den Fahrersitz und nahm hinterm Steuer Platz. Sie ließ den Motor an und raste mit quietschenden Reifen ins Zentrum des Dorfes Ísafjörður, wo sich ihre Wohnung und ihr Arbeitsplatz befanden.

2

Der karierte Bezug des Sessels fühlte sich unter den Fingern des Jungen rau an. Im Wohnzimmer lag ein schmutziger hellbrauner Kunststoffteppichboden. Wenn die Sohlen seiner Vans-Sneakers ihn berührten, war ein ekelhaftes Knirschen zu hören.

Pétur zog die schwarze Wollmütze tiefer in die Stirn und versuchte sich zu entspannen, indem er den Blick auf das schwarze, quadratische IKEA-Regal an der gegenüberliegenden Wand heftete. In dem Regal herrschte das reine Chaos: Ein Durcheinander von Küchenkrepprollen, Werbeprospekten und leeren Pizzaschachteln. Daneben Kühe aus Porzellan und der Roman Salka Valka von Halldór Laxness. Über allem eine klebrige Schicht von altem Schmutz und Staub.

Pétur hatte Hunger. In den letzten zwei Tagen hatte er außer einem Erdbeerjoghurt, den er unterwegs an einer Tankstelle geklaut hatte, nichts gegessen. Trotzdem konnte er jetzt kaum an Essen denken. Dazu war er zu nervös.

Zum Glück hatte der junge Vertretungsarzt ihn am Straßenrand aufgelesen und bis nach Ísafjörður mitgenommen. Ein Pole, der erst seit Kurzem in Island lebte und die Sprache nicht beherrschte. Aber das hatte Pétur nicht gestört. Er konnte gut Englisch. In der Schule hatte er es nicht gelernt, er hatte die Schule ja nicht mal abgeschlossen, doch YouTube und Chatforen im Internet hatten ihm ausreichende Sprachkenntnisse verschafft. Das Gespräch mit dem polnischen Arzt war ihm leichtgefallen. Er hatte Glück gehabt, bei einem Ausländer mitfahren zu können. Die Isländer hatten an jedem verdammten Fjord Cousins und Onkel. Deshalb war es immer riskant zu trampen.

Pétur rutschte im Sessel hin und her und warf einen verstohlenen Blick auf den Esstisch in der Mitte des Wohnzimmers. Am Tisch füllte Jón, der ein rotes, über dem Bauch zu enges Flanellhemd trug, Marihuana in den Kopf einer Wasserpfeife. Er hatte eine am Rand gesprungene Lesebrille aufgesetzt und musterte das Ergebnis seiner Arbeit. Die Falten auf seiner narbigen Stirn wurden noch tiefer, als er den Blick auf den Pfeifenkopf richtete.

»Ich hab schon eine ganze Weile gewartet. Du hast ja ziemlich lang gebraucht, um herzukommen. Wieso hat das so lange gedauert?«, fragte er und befestigte den Kopf am Rauchrohr. »Ich bin enttäuscht von dir«, fuhr er fort und stellte die Wasserpfeife samt Feuerzeug auf dem niedrigen Wohnzimmertisch vor Pétur ab. »Aber keine Sorge, mein Junge. Du bist ein guter Kerl. Uns fällt bestimmt etwas ein, was auch meine Laune verbessert, stimmt’s?«

Jón setzte sich wieder auf seinen Stuhl, lehnte sich zurück und legte die Hände in den Nacken. Er starrte den Teenager im Sessel an und schien die Situation zu genießen. Sein stechender Blick brachte den Jungen schließlich doch zum Reden.

»Na ja. Es war verdammt schwierig, aus dem Wohnheim rauszukommen. Die Betreuer sind echt ausgefuchst.«

»Aber zum Glück sind wir noch ausgefuchster, oder?«, feixte Jón und deutete mit einem Nicken auf die Bong. Pétur griff sofort danach.

Er nahm die Pfeife routiniert auf den Schoß und machte einen tiefen Zug. Im Zimmer hörte man nur das leise Blubbern der Bong und Jóns beschleunigte Atemzüge. Endlich, dachte Pétur. Seine Lunge füllte sich mit Rauch, und sein Körper kam zur Ruhe. Das Jucken an den Armen ließ nach.

»Saug nur ordentlich an der Pfeife, in aller Ruhe, mein Junge. Davon wird man so richtig schön locker. Stimmt’s?«

Jón starrte auf den Teenager an der Wasserpfeife und begann betont langsam seinen Gürtel aufzuschnallen.

3

Hildur hielt vor der Polizeistation im Dorf und trommelte auf das Lenkrad ihres Dienstwagens. Durch das Fenster des Škoda Octavia hatte man Ausblick auf den Parkplatz der Grillstube. Hildur beobachtete einen Mann mit zurückgegelten Haaren und einem dünnen Jackett, der gerade in seinen äußerst teuer aussehenden Range Rover stieg. Hildur wusste das Baujahr nicht genau zu bestimmen, schätzte aber, dass man für den Preis des Wagens hier im Dorf zwei kleine Reihenhäuser hätte kaufen können und danach noch genug Geld für ein paar Auslandsreisen übrig gehabt hätte. Dann verschmolz das schwarze Fahrzeug allmählich mit der grauen Landschaft, der Mann am Steuer wurde zu einem undeutlichen Fleck und verschwand schließlich ganz aus dem Blickfeld.

Hildur schaltete die Scheibenwischer ein. Sie glitten träge über die Windschutzscheibe. Jetzt kam der Regen also. Der kräftige Südwind, den die Wettervorhersage angekündigt hatte, brachte fast immer Regen, folglich würden die klaren Frosttage noch eine Weile auf sich warten lassen. In diesem Winkel der Erde war der Herbst lang und dunkel.

Hildur stellte das Radio an und wartete weiter auf ihre Chefin. Elísabet war die erste Vorgesetzte, die Hildur wirklich mochte. Beta war vor einigen Jahren von Reykjavík nach Ísafjörður gezogen. Ihr Mann Óliver, der als Programmierer arbeitete, stammte von hier, vom Ufer des Fjords. Nach der Geburt ihrer Zwillinge hatte die Familie davon geträumt, in eine ruhige Landgemeinde zu ziehen, und als die Stelle des Polizeichefs frei wurde, hatte Beta sich beworben und die Stelle bekommen. Óliver arbeitete im Homeoffice für eine Firma in Reykjavík, und die Kinder gingen in die Kita im Dorf.

Beta war zwar karriereorientiert, stand aber trotzdem mit beiden Füßen fest auf dem Boden. Keine unnötigen Dramen, keine zu engen Beziehungen zu den örtlichen Entscheidungsträgern. Hildur wusste, dass Beta nicht einmal zu den wöchentlichen Versammlungen der Freimaurer ging. Das wäre andererseits auch gar nicht möglich gewesen, denn als Mitglieder waren nur Männer zugelassen. Als Beta ihre Stelle antrat, hatte sie allen klargemacht, dass sie die Polizeichefin des kleinen Polizeibezirks sein wollte und kein Interesse daran hatte, eine führende Stellung in der Polizeiorganisation der Hauptstadt anzustreben. Sie war nach Ísafjörður gekommen, um näher an den Menschen zu sein und praktische Polizeiarbeit zu leisten, wenn auch als Vorgesetzte.

Hildur dagegen hatte diesen Ort nicht gewählt, sondern der Ort hatte sie gewählt. Sie war in dieser entlegenen Gegend geboren.

Die gebirgigen Westfjorde lagen im Nordwesten Islands, weit weg von Städten, Ampeln und internationalen Flughäfen. Einer alten Volkssage zufolge hatten einstmals zwei Riesentrolle erbittert versucht, die Westfjorde von der Insel Island abzureißen. Kurz bevor sie es geschafft hatten, war jedoch die Sonne aufgegangen. Da Trolle keine Sonnenstrahlen vertragen, waren sie zu Bergen erstarrt und die Westfjorde blieben durch eine sieben Kilometer breite Landbrücke mit der Hauptinsel verbunden.

Zwei kurvenreiche Gebirgsstraßen verbanden die Westfjorde mit dem Rest Islands, doch auf ihnen herrschte wenig Verkehr. Die Westfjorde bildeten ein Fünftel der Gesamtfläche Islands, aber nur zwei Prozent der Bevölkerung lebten hier. Rund siebentausend Kinder und Erwachsene. Fischer, Lehrer, Fernfahrer, Beschäftigte der Tourismusbranche und einige Polizistinnen und Polizisten.

Hildur sah sich um und seufzte. Der Regen prasselte immer heftiger auf die Scheibe. Wenn es hier regnete, dann regnete es richtig. Wenn es windig war, blies der Wind erbarmungslos über die Ebenen und heulte in den Fjorden. Island war weit weg vom Rest der Welt. Mehrere tausend Kilometer von Europa und den USA entfernt. Eine einsame, kleine, von Lavagestein und Gletschern bedeckte Insel mitten im kalten Meer. Und im entlegensten Teil dieser Insel hatte jemand eine Siedlung gegründet. Wie hatte irgendwer auf die Idee kommen können, hierherzuziehen, so weit weg von allem? Hildur trommelte auf das Lenkrad und grub in ihrem Gedächtnis.

Der erste Bewohner hatte wohl Helgi geheißen und norwegische Wurzeln gehabt. Vor ungefähr tausend Jahren hatte er in dieser Gegend einen leeren Fjord gesucht, an dem er sich mit seiner Familie niederlassen konnte. Helgi war an diesen Fjord gekommen, hatte festgestellt, dass er taugte, und im Uferwasser eine Harpune gefunden, die bei der Robbenjagd verwendet wurde. Er hatte dem Ort den Namen Skutulsfjörður, »Harpunenfjord«, gegeben und sich dort angesiedelt. Später wurde am Ufer noch eine Kirche gebaut und ein Handelsplatz gegründet, der Ísafjörður genannt wurde.

Helgi war Hildur von einem Kurs über die Geschichte der Besiedlung Islands in Erinnerung geblieben. Alte Sagen und die Vergangenheit der Menschen hatten sie immer fasziniert. Das erste dickere Buch, das sie selbst gelesen hatte, erzählte von dem Geächteten Fjalla-Eyvindur, der im 18. Jahrhundert in der Einöde Islands gelebt hatte. Sie hatte es im Grundschulalter im Bücherregal ihrer Eltern entdeckt und geradezu verschlungen. Auch heute noch las sie manchmal stundenlang Biografien oder alte Zeitungsartikel über bekannte Personen. Wenn sie im Sommer durch Island reiste, hielt sie bei jedem Heimatmuseum, das sie unterwegs entdeckte, und plagte das Personal mit Fragen. Die Vergangenheit war für sie wie eine stabile Wand, an die man sich lehnen konnte.

Hildur hatte an der Universität Geschichte studiert. Sie war im Gebiet der Westfjorde geboren und hatte als Kind mit ihren Schwestern und ihren Eltern dort gewohnt. Nach der Familientragödie war sie bei ihrer Tante untergekommen, die in derselben Gegend lebte. Sobald sie ihr Abitur in der Tasche hatte, war sie allein in die Hauptstadt Reykjavík gezogen, wo sie in einer kleinen Einzimmerwohnung im westlichen Teil der Innenstadt gewohnt hatte. Inzwischen zählte das Viertel zu den teuersten Wohngebieten der Stadt. In der Innenstadt von Reykjavík waren die Wohnungspreise derart angestiegen, dass sie sich mit ihrem Gehalt als Polizistin die ehemalige Studentenbude nicht mehr hätte leisten können.

Das Geschichtsstudium an der Universität hatte Spaß gemacht. Nach dem Examen hatte sie jedoch festgestellt, dass sie es zwar liebte, große gesellschaftliche Veränderungen und die Auswirkungen vergangener Ereignisse auf die Gegenwart zu analysieren, aber nicht das geringste Interesse an einer akademischen Laufbahn verspürte. Hildur hatte begonnen, sich nach praktischen Tätigkeiten zu sehnen. Verschwitzte Fitnesszentren und das Surfen auf den kalten Wellen des Meeres zogen sie stärker an als Hörsäle und die Aussicht auf eine Forscherkarriere.

Zum Surfen hatte Hildur durch ihren damaligen Freund gefunden. Die Wellen hatten sie buchstäblich mitgerissen. Der Gedanke, das Meer zu zähmen, fesselte sie. Sie war berauscht von der Vorstellung, für einen kurzen Augenblick ein Stück des Meeres zu beherrschen. Von nun an war sie gleich nach den Vorlesungen, an den Wochenenden und an allen Urlaubstagen zum Surfen gegangen.

Allmählich hatte der Rausch des physischen Trainings den Sieg über das Universitätsstudium davongetragen. Als Hildur begonnen hatte, Vorlesungen zu schwänzen, um zum Training zu gehen, war ihr klar geworden, dass sie auf den falschen Beruf zusteuerte.

In jenem Sommer hatte Hildur beschlossen, sich bei der Polizeischule zu bewerben. Schon am ersten Tag der Ausbildung hatte sie gewusst, dass sie die richtige Wahl getroffen hatte. Sie liebte das starke Gemeinschaftsgefühl und das harte physische Training.

Nach ihrem Abschluss war Hildur einige Jahre bei der Polizei im Hauptstadtgebiet tätig gewesen und hatte häufig mit dem Jugendschutz zusammengearbeitet. Wenn bei Straftaten Kinder oder in Schwierigkeiten geratene Jugendliche involviert waren, hatte sie als Kontaktperson der Polizei Verbindung zum Jugendschutz und zu Kinderpsychologen aufgenommen. Kindern zu helfen hatte ihr das Gefühl gegeben, etwas wirklich Sinnvolles zu tun. Vielleicht versuchte sie, wiedergutzumachen, was vor langer Zeit geschehen war. Sie hatte wohl gedacht, wenn sie es nicht einmal versuchen würde, wäre alles noch viel schwieriger.

Die Abteilung für vermisste Kinder, die in der Hauptstadt gegründet worden war, erhielt zusätzliche finanzielle Mittel, und man beschloss, das Modell auch in die isländischen Provinzen zu exportieren. Als im Polizeibezirk Ísafjörður eine Polizeikraft gesucht wurde, die einen Teil ihrer Arbeitszeit den Aufgaben der Abteilung für vermisste Kinder widmen sollte, wusste Hildur, dass ihre Chance gekommen war. Sie bewarb sich, bekam die Stelle und kehrte mit dem Surfbrett auf dem Autodach in ihre alte Heimat zurück. Das war nun bald zehn Jahre her. Der entspannte Alltag in der Landgemeinde gefiel ihr, und ganz besonders freute sie sich über die hervorragenden Surfbedingungen.

Hildur schreckte aus ihren Gedanken auf, als die Beifahrertür aufgerissen wurde. Die kleine, flinke Beta schlüpfte in den Wagen, schlug die Tür zu und seufzte tief. Der Regen hatte ihre Locken geplättet, aber an so etwas störte sie sich nicht.

»Na, was gibt’s Neues?«, fragte Hildur.

»Wir fahren zur Fjallavegur. Beide Streifenwagen sind im Einsatz, fast eine Stunde von hier. Also erledigen wir die Sache selbst.«

Hildur nickte und wartete auf weitere Informationen.

»Ich habe einen Anruf vom Jugendheim im Süden bekommen. Ein fünfzehnjähriger Junge namens Pétur, der dort auf Drogenentzug war, ist heute Nacht ausgerissen. Sie haben den Verdacht, dass er nach Ísafjörður wollte, um an Stoff zu kommen.«

»Warum denn ausgerechnet hierher?«, wunderte sich Hildur und ließ den Motor an.

Das Dorf lag weit abseits, hier landete man nicht aus Zufall. Die Fahrt aus dem Hauptstadtgebiet dauerte Stunden.

»Péturs Handy war wegen irgendeines kleinen Vergehens für ein paar Tage beschlagnahmt worden, und in dieser Zeit hat ein alter Mann aus Ísafjörður mehrmals versucht, den Jungen über den Festnetzanschluss des Jugendheims zu erreichen. Die Betreuer haben sofort erraten, wer dieser Mann sein könnte.«

»Verflixt noch mal, ist er zu dem alten Wichser gegangen?« Hildur fuhr vom Parkplatz des Polizeigebäudes auf die Hauptstraße, die um das Dorf herumführte. Der Regen war stärker geworden, und Hildur schaltete die Scheibenwischer schneller, um freie Sicht zu haben.

Alle, die schon länger im Dorf wohnten, wussten von dem zwielichtigen Kerl, der am Ende der Fjallavegur wohnte. Der alleinstehende Jón Jónsson, der auf die siebzig zuging, war in den letzten zwanzig Jahren viele Male wegen Drogenbesitz und unsittlichem Verhalten verurteilt worden, hatte aber nur gut ein Jahr im Gefängnis gesessen. Zu dieser Strafe war er Anfang des 21. Jahrhunderts verurteilt worden. Damals hatte man ein halbes Kilo Haschisch in seinem Besitz gefunden. Danach war Jón nur noch mit Geldbußen belegt worden, obwohl er offensichtlich Problemjugendliche missbrauchte. Er versprach ihnen Drogen dafür, dass sie ihm beim Onanieren zusahen. Hildur hatte kein Verständnis für diese milden Urteile: Warum wurde man für Wirtschaftsverbrechen zu mehrjähriger Haft und Schadensersatz verurteilt, während man bei Verbrechen, die sich gegen einen anderen Menschen richteten, mit irgendeiner gemeinnützigen Arbeit davonkam?

»Wir waren doch im Sommer aus demselben Grund bei ihm. Kann man gegen den Mistkerl wirklich nichts ausrichten?«, schnaubte Hildur und umklammerte das Lenkrad fester, um die Wut zu zügeln, die in ihr loderte.

»Praktisch nicht. Die Jugendlichen gehen freiwillig zu ihm, weil er ihnen Stoff gibt. Sie bestreiten, dass er zudringlich wird, und es lässt sich auch nicht nachweisen. Also können wir Jón allenfalls wegen Besitz von Marihuana anklagen«, antwortete Beta, obwohl ihr bekannt war, dass Hildur über all das im Grunde gut Bescheid wusste.

Der Škoda passierte den Kreisverkehr und bog auf die Straße ab, die am Krankenhaus und der Bibliothek vorbei zu der Eigenheim- und Reihenhaussiedlung am Berg führte. Die Fjallavegur war die längste Straße in dem ruhigen Wohngebiet. Die langen weißen Reihenhäuser stammten aus den 1960ern. Die ältesten Holzhäuser waren schon vor dem Zweiten Weltkrieg und der Unabhängigkeit Islands gebaut worden.

Hildur fuhr Tempo dreißig und behielt die Umgebung im Auge. Die Dorfbewohner schätzten ihre Privatsphäre; an allen Fenstern zur Straßenseite waren die Vorhänge zugezogen. An einigen Fenstern waren Tafeln angebracht, die es im Supermarkt des Dorfes zu kaufen gab und auf denen peinliche Banalitäten standen. Hier wohnt das Glück. Das Zuhause ist da, wo die Liebsten sind. Glück ist ein wundervolles Zuhause. In fast jedem Garten stand ein großer Gasgrill, auf dem diejenigen, die den Nachbarn ihr Durchschnittsglück verkünden wollten, an den Wochenenden Lammfilets brieten. Die Besserverdiener hatten auch eigene Whirlpools für ihre Gärten gekauft.

Die Straße der Glücklichen setzte sich noch ein paar Kilometer fort. Nach den Eigenheimen und Reihenhäusern begann ein spärlicher bebautes Ferienhausgebiet. Im Lauf der Jahrzehnte war am Berghang eine Reihe von Sommerhäusern entstanden. Teils waren es einfache kleine Hütten, einige hatten aber auch große Gärten und überdachte Terrassen. In diesen Gebäuden durfte man nur von Anfang Mai bis Anfang November wohnen, denn wegen der nahen Berge und der schneereichen Winter gehörte das Gebiet zur Lawinengefahrzone. Selbst eine kleine Lawine konnte ein Haus leicht zerstören, weshalb es riskant war, sich im Winter dort aufzuhalten.

Hildur und Beta waren schon viele Male bei Jón gewesen. Jóns Taktik war immer dieselbe: Er freundete sich im Internet mit Problemjugendlichen an, versprach ihnen kostenlose Drogen und quartierte sie bei sich ein. Im Gegenzug entblößte er sich vor ihnen, wichste vor ihren Augen und fasste sie an. Viele Jugendliche, die mit Drogenproblemen kämpften, suchten bei Jón nicht nur Rauschgift, sondern auch Geborgenheit, denn sie hatten sonst niemanden.

Hildur hielt am Rand der Fjallavegur bei einem kleinen grünen Sommerhaus, an dem die Farbe abblätterte. Aus den schräg hängenden Regenrinnen lief das Wasser an der Wand entlang. Die Regenrinnen sahen aus, als wären sie seit einer Ewigkeit nicht mehr gesäubert worden.

Hildur öffnete das rostige Gartentor und ging mit Beta zur Vortreppe. Dort übernahm Beta die Führung. Sie klopfte mit der rechten Hand an die Tür. Niemand öffnete. Sie klopfte noch einmal, diesmal lauter. Keine Reaktion.

»In der Küche brennt Licht, und Jóns alter Suzuki steht auf dem Hof. Zu Fuß geht er nirgendwo hin. Er ist garantiert zu Hause«, sagte Hildur.

Sie sah, dass ein Fenster im Erdgeschoss offen stand, und steckte den Kopf hindurch.

»Aufmachen! Hier ist die Polizei. Wir wissen, dass du da bist und dass jemand bei dir ist. Du machst jetzt sofort die Tür auf oder wir nehmen deinen Suzuki mit aufs Revier. Du hast ihn ja nicht zur Inspektion gebracht«, brüllte Hildur und schlug mit der flachen Hand gegen die Fensterscheibe.

Hildur benahm sich manchmal wie ein Schafzüchter, der seine Tiere aus den Bergen nach unten trieb, indem er wild mit den Armen fuchtelte und aus vollem Hals brüllte. Eine effektive Methode, wenn es darum ging, eine Schafherde in die gewünschte Richtung zu steuern, aber im Umgang mit Menschen hätte man vielleicht taktvoller sein können. Hildur hatte sich auf kriminalpolizeiliche Aufgaben spezialisiert, weil ihr die ständige Begegnung mit Menschen unangenehm war. Die obligatorischen Schichten bei der Schutzpolizei in den ersten Jahren ihrer Laufbahn hatte sie nur mit Mühe hinter sich gebracht. Es war nervenaufreibend gewesen, jeden Tag Menschen ins Röhrchen pusten zu lassen, zur Rede zu stellen oder sogar festzunehmen.

Bald rasselte es an der Tür und sie öffnete sich knarrend. Der Mann im Türspalt trug zerlumpte Klamotten, hatte eine Halbglatze und wirkte erschrocken. An der Stirn hatte er eine auffällig große Narbe. Man erzählte sich, dass Jón sie sich als Kind zugezogen hatte, als er gegen das Schaufenster der Bäckerei gelaufen war. Sein rotes Flanellhemd sah aus, als wäre es seit einem halben Jahr nicht mehr gewaschen worden. Die Jeans war nicht zugeknöpft. Ein miefiger Geruch drang aus der Wohnung.

»Jæjja Jón«, begann Hildur. Jæjja war ein ortsüblicher Ausdruck, dessen Bedeutung von der Situation abhing. Jetzt bedeutete er: kein Gequassel, kommen wir zur Sache. »Wir haben Grund zu der Annahme, dass der in Reykjavík ausgerissene Pétur sich hier aufhält«, fuhr Hildur fort und versuchte, über Jóns Schulter hinweg einen Blick in die halbdunkle Wohnung zu werfen. »Wir müssen wohl den Abschleppwagen bestellen«, erklärte sie mit einer Kopfbewegung zu dem Suzuki auf dem Hof. Dann sah sie Jón grimmig in die Augen.

Der alte Mann rieb sich die schweißbedeckte Glatze und blickte sich ratlos um. Über die Narbe an seiner Stirn lief ein Schweißtropfen. Er blickte an den Polizistinnen vorbei auf den Hof, wie um sich zu vergewissern, dass sein Auto noch dort stand. Dann kapitulierte er ächzend.

»Der Junge ist im Wohnzimmer. Aber ich halte ihn nicht gefangen. Er ist von ganz allein hergekommen und wollte nicht mehr weg.«

»Wie hätte es anders sein sollen«, erwiderte Hildur kühl und bat Jón, ihr Platz zu machen. »Sind noch andere da drinnen?«

»Nein, nein. Ihr nehmt mir doch das Auto nicht weg?«

Beta blieb mit Jón an der Haustür, während Hildur die dreckige Wohnung betrat. Am Ende des Flurs befand sich links ein kleines Schlafzimmer, rechts das Wohnzimmer. Hildur spähte durch den schmalen Türspalt hinein. In einem alten Sessel schnarchte ein Teenager, dessen Äußeres sich mit der Beschreibung des Fünfzehnjährigen deckte, die der Jugendschutz geschickt hatte: schlank, schwarze Haare, schwarze Kleidung, Nasenpiercing und Brille. Hildur ging zum Sessel und fasste den Jungen vorsichtig an der Schulter.

»He, kannst du aufstehen?« Sie versuchte den Jungen zu wecken. Er murmelte etwas Unverständliches, schien sich im Halbschlaf zu befinden.

»Du musst jetzt aufwachen«, sagte Hildur ein wenig lauter und gab ihm einen leichten Klaps auf die Wange.

Der Junge schrak hoch und schlug die Augen auf.

»Was zum Teufel!«, rief er erschrocken.

»Nein, ich bin nicht der Teufel. Ich bin Hildur Rúnarsdóttir von der Polizei Ísafjörður. Ich bin mit einer Kollegin hier, um dich zu holen, weil wir einen Anruf vom Jugendschutz bekommen haben. Ist alles in Ordnung? Hat Jón dir etwas angetan?«

Der trübe Blick des Jungen und der süßliche Geruch verrieten, dass Pétur high war. Die Wasserpfeife auf dem Tisch und deren leerer Kopf bestätigten den Eindruck.

»Ich hab mich nur kurz ausgeruht«, murmelte der Junge.

»Hat man dir Gewalt angetan?«, fragte Hildur.

»Nein, hat man nicht. Wie gesagt, ich hab mich hier nur kurz ausgeruht.«

Hildur musterte Pétur, der auf den ersten Blick in Ordnung zu sein schien. Es waren keine Anzeichen für Gewalt zu sehen und er war vollständig bekleidet. Sie führte Pétur nach draußen zu ihrem Wagen. Beta, die einen kleinen Beutel mit dunkelgrünen Haschischbrocken vom Wohnzimmertisch aufgesammelt hatte, folgte ihnen.

»Nehmt mir das Auto nicht weg«, rief Jón ihnen von der Tür aus nach.

»Diesmal nicht. Aber bring es schleunigst zur Inspektion«, entgegnete Hildur, konnte sich jedoch eine weitere Bemerkung nicht verkneifen. »Wenn du noch einmal Jugendliche herlockst, zerlege ich deinen Suzuki eigenhändig in seine Einzelteile und verteile die im ganzen Fjord«, drohte sie und bugsierte Pétur auf den Rücksitz des Polizeifahrzeugs.

Sie setzte sich ans Steuer. Jón murmelte noch etwas, was sie nicht mehr hörte.

»Weißt du was, Beta? Manchmal bin ich mir nicht sicher, ob wir bei der Müllabfuhr oder bei der Polizei arbeiten«, sagte sie und schnallte sich an. »Wir recyceln immer wieder dieselbe Scheiße. Du glaubst, du hättest irgendeine Sache erledigt, aber bei der nächsten Schicht landet sie wieder vor deinen Füßen.«

Beta nickte zustimmend.

»Das war bestimmt nicht der letzte Einsatz an dieser Adresse. Was glaubst du, wohin er im November zieht, wenn die Siedlung für den Winter geschlossen wird?«

»Es gibt kaum etwas, das mich weniger interessieren würde«, sagte Hildur und lenkte den Wagen in Richtung Dorfzentrum.

Jón würde später wegen Drogenbesitz zur Vernehmung vorgeladen werden, aber höchstens eine Geldstrafe bekommen.

»Du könntest Jón zusammen mit dem Finnen vernehmen. Er kommt morgen Nachmittag an«, sagte Beta.

»Okay. Wie heißt er noch gleich?«

»Jakob. Scheint ganz kompetent zu sein. Obwohl ich zugeben muss, dass ich nicht verstehe, wieso jemand im Austausch in unseren kleinen Ort will, wenn er genauso gut in Oslo oder Kopenhagen Erfahrungen sammeln könnte«, antwortete Beta und warf einen Blick auf die Rückbank. »Und du, junger Mann, wirst jetzt zum Drogentest gebracht und anschließend zurück in den Entzug. Der Jugendschutz organisiert deine Fahrt in den Süden, wenn wir fertig sind«, erklärte sie lächelnd.

Pétur erwiderte ihren Blick mit gleichgültiger Miene und zeigte Beta den Mittelfinger. Den Statistiken zufolge war der Drogenmissbrauch unter isländischen Jugendlichen in den letzten zwanzig Jahren zurückgegangen. Aber die Problemfälle waren ein Kapitel für sich. Sie konsumierten mehrere Substanzen gleichzeitig und bestellten wahllos im Internet, was gerade angeboten wurde. Gleichzeitig war die Zahl der Betreuungsplätze für Jugendliche radikal verringert worden. Angeblich musste gespart werden, weil das Geld nicht reichte. Es gab nicht genug Plätze für alle, die eine Entziehungskur gebraucht hätten. Einige derjenigen, die in Behandlung kamen, hielten nicht durch. Und in den Heimen gab es nicht genug Personal, um jeden Einzelnen rund um die Uhr zu überwachen.

»Es wäre toll, wenn du versuchen würdest, den Entzug durchzuziehen. So kann dein Leben wieder in Ordnung kommen. Sonst erwartet dich nämlich keine rosige Zukunft«, meinte Beta.

»Mir doch egal«, kam es vom Rücksitz.

Beta seufzte und trommelte mit den Fingern gegen die Fensterscheibe.

Draußen regnete es immer noch.

4

Nach Feierabend holte Hildur ihr Fahrrad aus dem Keller und setzte den Helm auf. Die Räder wurden nicht etwa im Fahrradkeller aufbewahrt, weil man Angst gehabt hätte, dass sie auf der Straße gestohlen würden. In einem so kleinen Dorf hätte ohnehin niemand gewagt, ein Rad zu stehlen, denn der Dieb wäre spätestens am nächsten Morgen überführt worden. In den Autos ließ man die Schlüssel stecken, und auch die Haustüren wurden nicht abgeschlossen. Die Dorfbewohner schienen zu glauben, dass in dieser Hinsicht nichts Überraschendes passieren konnte, weil jeder jeden kannte. Nein, die Fahrräder wurden vielmehr wegen des Wetters in den Keller gebracht. Im Spätherbst regnete und stürmte es viel. Der Nordwind vom Atlantik riss selbst ein solides Mountainbike auf die Straße, und dabei konnte mehr zerbrechen als nur die Vorderlampe. Je näher der Sommer rückte, desto seltener wurden die Stürme. Mitte Mai waren Schnee und Eis meist geschmolzen und der Wind hatte sich gelegt. Dann holte man Räder und Roller aus dem Keller und wagte es, sie über Nacht im Garten stehen zu lassen.

Hildur hatte eine geräumige Dreizimmerwohnung mit Balkon in einem großen Holzhaus direkt im alten Dorfzentrum, in der Nähe der Polizeistation. In der Wohnung am anderen Ende des Hauses wohnte Freysi Gunnarsson.

Freysi war ein Single Mitte dreißig. Er arbeitete als Sportlehrer an der örtlichen Schule, lief den Marathon in deutlich weniger als vier Stunden, rauchte allerdings wie ein Schlot. Freysi war vor zwei Jahren in die Nachbarwohnung gezogen, und im Lauf der Zeit waren Hildur und er sich nahegekommen. Zuerst joggten sie ab und zu gemeinsam. Später folgten Dehnübungen in seinem oder ihrem Wohnzimmer, und vom Wohnzimmer war es nicht weit bis ins Schlafzimmer. Sie trafen sich regelmäßig, doch als Paar konnte man sie nicht bezeichnen.

Nach der ersten gemeinsamen Nacht war Hildur erleichtert gewesen, als Freysi erklärt hatte, Zweierbeziehungen würden ihn nicht interessieren. Genau das hatte auch sie erhofft. Gelegentliches Beisammensein ohne Vereinbarungen, gemeinsames Konto und Rechenschaftspflicht. Praktischerweise wohnte Freysi im selben Haus, sodass der Weg von Tür zu Tür kurz war. Obwohl sie sich nur in ihren Wohnungen trafen, vermuteten beide, dass im Dorf alle von der unverbindlichen Beziehung zwischen der Polizistin und dem Sportlehrer wussten. Lass sie tuscheln, dachte Hildur und drehte ihr Rad in Fahrtrichtung.

Sie sah, dass Freysi zum Rauchen auf den Hof gekommen war, und winkte ihm zu.

»Hallo. Wie geht’s dir heute?«, fragte Freysi, drückte seine Zigarette aus und brachte die Kippe in die Gemeinschaftsmülltonne auf dem Hof.

»Ich versuche den harten Arbeitstag zu vergessen und fahre zum Essen zu meiner Tante.«

»Eigentlich wollte ich dich fragen, ob du mit mir joggst, aber stimmt, heute ist ja Montag«, sagte Freysi und sah sie jungenhaft lächelnd an. Das Lächeln zauberte tiefe Grübchen auf seine Wangen.

»Ja, montags rufen mich die Würstchen meiner Tante. Aber wir können ja in den nächsten Tagen was unternehmen«, schlug Hildur vor, während sie sich auf den Sattel schwang.

Freysi pfiff hinter ihr her. Hildur warf einen Blick über die Schulter, lächelte und trat in die Pedale.

Sie nahm den Radweg, der sich am Rand des Fjords entlangschlängelte. An der innersten Bucht, rund zwei Kilometer vom Zentrum, lag das Neubaugebiet von Ísafjörður, wo Hildurs Tante sich ein großes Haus mit prächtigem Garten hatte bauen lassen.

Die funkelnagelneue Siedlung sprach Hildur nicht an, sie zog es vor, näher an ihrem Arbeitsplatz zu wohnen. Im alten Zentrum des Dorfs waren die Häuser und Gärten kleiner als am Dorfrand, aber die alten Holzhäuser schufen eine angenehm gemütliche Stimmung und alle Geschäfte und öffentlichen Dienstleistungen lagen nahe beieinander.

Hildur gab ein Handzeichen nach rechts und bog vom Radweg in die Wohnsiedlung ab. Die seit einigen Jahren pensionierte Gesangslehrerin Tinna Atladóttir verbrachte den größten Teil ihrer Zeit zu Hause mit Handarbeiten und Hörbüchern. Hildur wusste, dass ihre Tante sich hier, außerhalb des Zentrums und mitten im Grünen, restlos wohlfühlte.

Hildur klingelte nicht und klopfte auch nicht an, sondern ging aus alter Gewohnheit direkt ins Haus. Tinna hatte ihre Ankunft bereits mitbekommen und erwartete sie in der Diele. Sie nahm Hildur sofort in die Arme.

»Schön, dich zu sehen. Tut mir leid, dass ich mich ein bisschen verspätet habe. Ich musste länger arbeiten«, entschuldigte Hildur sich.

»Auf die Minute kommt es nicht an«, erwiderte Tinna und küsste Hildur zweimal auf die rechte Wange.

In Island war es üblich, Menschen, die einem nahestanden, mit einem leichten Wangenkuss zu begrüßen. Tinna gab jedoch statt einem Kuss immer zwei. Und sie begnügte sich nicht mit einer flüchtigen Berührung, sondern drückte ihrem Gegenüber ordentliche Schmatzer auf.

Hildur folgte Tinna in die große helle Küche und setzte sich an die Kochinsel. Tinna rührte die Soße um, die auf dem Herd blubberte.

Ein köstlicher Duft zog durch die Küche. Hildur schloss die Augen und entspannte sich. Einen Moment lang fühlte sie sich glücklich. Sie genoss die wöchentlichen Treffen mit ihrer Tante. Beim Tod ihrer Eltern war Hildur noch minderjährig gewesen und zu Tinna, der Schwester ihrer Mutter, gezogen. Sie hatte noch eine zweite Tante gehabt, die jedoch auf den Färöer-Inseln wohnte und zu der sie kein enges Verhältnis gehabt hatte. Tinna stand ihr dagegen sehr nah. Auch als Hildur in Reykjavík studierte, waren sie in Verbindung geblieben und hatten jeden Tag mindestens einmal miteinander telefoniert. Als Hildur vor zehn Jahren aus der Hauptstadt an ihren heimatlichen Fjord zurückgekehrt war, wurde das Band zwischen ihnen noch stärker. Tinna war Hildurs einzige lebende Verwandte. Sie waren die letzten ihrer Familie.

Tinna hatte Hildurs Lieblingsgericht zubereitet: in Butter gebratene, fettige Wurst aus Innereien namens Slátur, dazu helle Soße und Salzkartoffeln. Nun stellte sie die Töpfe auf den Tisch und überließ es Hildur, auf beide Teller ein großes Stück Wurst und viele Kartoffeln zu legen und das Ganze mit der herrlich dicken hellen Soße zu krönen.

Hildur biss in die graubraune Wurst und genoss den salzigen Geschmack. Fett tropfte ihr auf die Lippen. Sie wischte sich die Mundwinkel mit Küchenkrepp ab.

»Das ist so verdammt lecker«, sagte sie mit halb vollem Mund.

Die kross gebratene Wurst schmeckte nach Kindheit. Damals war Slátur die häufigste Alltagskost gewesen. Zu Hause hatten sie immer um sieben Uhr zu Abend gegessen. Wenn die Abendnachrichten im Radio anfingen, waren Hildur und ihre Schwestern mit roten Wangen und windzerzausten Haaren ins Haus gekommen und hatten sich auf die Holzbänke am Küchentisch gesetzt. Ihre Mutter hatte den Topf auf den Tisch gestellt, wo schon das Roggenbrot bereit lag, und sich neben Vater an die andere Tischseite gesetzt. Das Beste war die Wurst, die der Vater nach der Schafschlachtung im Herbst selbst aus den Innereien zubereitete. Heutzutage machte kaum noch jemand die Wurst selbst. Man kaufte sie vakuumverpackt im Laden.

»Mein liebes Kind, du klingst ziemlich erschöpft. Mal ehrlich, wie fühlst du dich?«, fragte Tinna.

»Ganz normal. Ein anstrengender Arbeitstag.«

»Ja. Aber sonst? Ich weiß, dass diese Jahreszeit schwer für dich ist. Das war sie schon immer.« Tinna machte eine kurze Pause, bevor sie fortfuhr: »Es ist ja bald fünfundzwanzig Jahre her, seit die Mädchen verschwunden sind.«

Hildur zuckte zusammen. Ihre Tante hatte recht. Der Spätherbst war eine schwierige Zeit für sie. Sie erinnerte sich an das Verschwinden ihrer kleinen Schwestern, mochte aber nicht darüber reden. Sie erinnerte sich an die besorgten Anrufe bei den Nachbarn, an die kalt gewordenen Lummur-Pfannkuchen in der braunen Auflaufform und an die Polizisten, die irgendwann gekommen waren, aber nichts gesagt hatten.

»Tinna, ich schaffe es jetzt nicht, darüber zu reden«, sagte sie mit flehendem Unterton.

Reden half nicht, das wusste Hildur aus Erfahrung. Gerade im Spätherbst gingen ihr die damaligen Ereignisse besonders intensiv durch den Kopf. Darüber zu sprechen, verschärfte einen Teil der Erinnerungen und machte sie noch schmerzhafter. Andererseits hatten die Gespräche ihr keine Klarheit gebracht und ihr nicht geholfen, sich lückenlos an alles zu erinnern, was in jenem Herbst passiert war. Daher waren sie nutzlos. Sie führten nur dazu, dass die Beklemmung, die sie von Zeit zu Zeit empfand, noch schlimmer wurde.

Diese Beklemmung hatte Hildur schon als Kind verspürt. Sie erinnerte sich nicht mehr, wie es war, ohne sie zu leben. Hildur hatte zu oft das Gefühl, zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein. Allzu oft wusste sie zu viel, aber dennoch nicht genug. Sie war oft überall zugleich, aber immer nur zu einem kleinen Teil. In ihr steckte irgendetwas, das die falsche Größe hatte und sie aus dem Gleichgewicht brachte.