Hilgensee - Renata Petry - E-Book

Hilgensee E-Book

Renata Petry

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Beschreibung

Drei Stiftsfräulein auf Mörderjagd  1904. In Hilgensee, einem Stift für adlige protestantische Damen, geschehen merkwürdige Dinge: ein ungeklärter Todesfall, ein geköpfter Hahn in einem Baum, eine erdrosselte Stiftsdame - welch ein Skandal! Der selbstredend schleunigst vertuscht werden soll. Aber die drei Stiftsfräulein Änne, Alwine und Gertrud (gänzlich unterschiedlich in Temperament und Alter) forschen in alten Chroniken nach und kommen einem unschönen, uralten Ritual auf die Spur. Glücklicherweise lässt sich zur Regeneration immer ein entspannendes Teestündchen oder eine abendliche Sherryrunde einschieben, damit der Belastungen für die zarte Konstitution nicht zu viele werden. Doch schließlich wird es brenzlig für die Detektivinnen.    

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Seitenzahl: 668

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Renata Petry

Hilgensee

Roman

Deutscher Taschenbuch Verlag

Ungekürzte Ausgabe 2010© Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlags zulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.Rechtlicher Hinweis §44 UrhG: Wir behalten uns eine Nutzung der von uns veröffentlichten Werke für Text und Data Mining im Sinne von §44 UrhG ausdrücklich vor.

eBook ISBN 978-3-423-40707-6 (epub)ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-423-21248-9

Ausführliche Informationen über unsere Autoren und Bücher finden Sie auf unserer Website www.dtv.de/​ebooks

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[Informationen zum Buch]

[Informationen zur Autorin]

Als Herma sah, wer in ihr Zimmer kam, wusste sie, dass sie jetzt sterben würde. Es spielte keine Rolle, dass sie längst nicht mehr zwischen Traum und Wirklichkeit unterscheiden konnte, denn bei dem Reiter, der sich ihrem Bett näherte, war das überflüssig. Er gehörte beiden Welten an. Er war der Tod.

Sie hatte ihn auf den ersten Blick erkannt, was kein Wunder war, denn er sah ziemlich genau so aus, wie er auf einer von Alwines Tarot-Karten abgebildet war: ein gelbliches Skelett in schwarzer Ritterrüstung, das einen fahlen Klepper mit glühenden Augen ritt. Die Sense hatte er wie eine Lanze erhoben. Kurz vor ihrem Bett verhielt er das Pferd, klappte das Visier hoch und blickte aus leeren Augenhöhlen auf sie nieder.

»Ich bringe Ihren Tee, Fräulein von Heidblum«, sagte er mit heller Mädchenstimme. »Es ist an der Zeit für Ihren Tee!«

Es ist an der Zeit… an der Zeit… Er hatte recht; es war an der Zeit. An der Zeit für den letzten Schritt. Sie hatte die Schwelle, die Tod und Leben trennte, ohnehin schon so gut wie überquert. Ganz langsam war das gegangen. Anfangs hatte sie es nicht einmal gemerkt. Erst die Stimmen, dann das Boot auf dem See… Nächtliche Zusammenkünfte… Ein Mann und eine Frau… Dunkle Umhänge, undeutliche Gesichter… Und wieder, ganz in ihrer Nähe, die Stimmen…

Die Bilder hatten sie nicht mehr in Ruhe gelassen, sie hatten sich vervielfältigt und waren lebendig geworden, bis sie eines Tages nicht mehr wusste, ob sie wachte oder träumte. Da war sie schon mitten auf der Schwelle gewesen. Und jetzt gab es kein Zurück mehr, dafür war es zu spät.

»Bitte sehr, Ihr Tee«, sagte der Tod. »Gestatten Sie, dass ich Ihnen behilflich bin!«

Er glitt vom Pferd und setzte sich auf die Kante ihres Bettes. Die Sense legte er quer über die Bettdecke. In seiner Knochenhand hielt er eine geblümte Tasse.

»Ihr Tee, Fräulein von Heidblum…«

Als er sie das dritte Mal ansprach, erkannte sie plötzlich zweierlei: Die Stimme des Todes war eine der Stimmen. Und es war zudem die Stimme von –

»Sie?«, fragte Herma ungläubig.

»Ja, ich«, sagte der Tod. »Jetzt können Sie es ja ruhig wissen… Trinken Sie; es wird Ihnen guttun!«

»Und… wer noch?«, fragte Herma.

Der Tod kicherte. »Das verrate ich Ihnen gleich, wenn Sie ausgetrunken haben.«

Gehorsam trank sie. »Jetzt… bitte!«, sagte sie.

»Gleich«, sagte der Tod und kicherte abermals. »Gleich, gleich… Ich verspreche es.«

Er hielt sein Versprechen. Doch als er endlich den Namen in ihr Ohr flüsterte, befand sie sich schon auf der anderen Seite der Schwelle.

1.

Es war Abend geworden, und es regnete immer noch. Die Frau erhob sich von ihrem Platz am Fenster, wo sie den Nachmittag verträumt hatte. Schöne Träume waren es gewesen, Träume, in denen die Heimlichtuerei zu Ende gewesen war. An der Seite des Meisters war sie vor die anderen getreten, stolz erhobenen Hauptes, wie es ihr zukam, und er hatte sie mit feierlicher Stimme als seine Erwählte präsentiert. Die anderen hatten voll Neid und Bewunderung zu ihr aufgeblickt, und sie hatte beides genossen – den Neid noch ein bisschen mehr.

Bald würde es so weit sein. Der Gedanke daran ließ sie zufrieden lächeln; sie wandte sich um, drehte das elektrische Licht an und zog die Vorhänge zu. Ein Blick auf die Uhr auf dem Vertiko zeigte ihr, dass es an der Zeit war, sich für das Abendessen umzukleiden. Prüfend musterte sie ihre Garderobe und entschied sich für ein dunkelblaues Wollkleid. Weil heute Sonntag war, konnte sie gut die neue Garnitur Brüsseler Spitzen dazu tragen; das machte sich hübsch und wirkte nicht übertrieben herausgeputzt. Sie streifte Rock und Bluse ab und wollte gerade das Korsett enger schnüren, als ein unerwartetes Geräusch ihre Bewegungen unterbrach. Das Geräusch kam von draußen, von der Allee her: das unverkennbare Klappern von Pferdehufen und Gerassel von Wagenrädern. Eine Kutsche näherte sich.

Sie lief, wie sie war, in Mieder und Unterrock zum Fenster. Wie hatte sie es nur vergessen können! Seit Tagen hatten sie von nichts anderem gesprochen. Die Neue! Heute Abend sollte die Neue kommen! Wie sie wohl war, ob sie singen konnte oder Klavier spielen oder handarbeiten, darüber hatten die anderen stundenlang spekuliert, während sie selbst nur die eine, bedeutsame Frage interessierte: Wie sah sie aus? Genauer gesagt: War sie hübsch? Und noch genauer: Würde sie ihm gefallen?

Sie hörte, wie die Kutsche unten vor dem Portal hielt, der Schlag wurde geöffnet, eine weibliche Stimme erklang. Sie hielt es nicht mehr aus; ganz sacht schob sie den Vorhang einen Spalt weit auf und spähte hinaus. Der Regen fiel noch dichter als zuvor; die Tropfen rannen in silbrigen Streifen über die Fensterscheiben, und das Pflaster der Auffahrt glänzte im Schein der Laternen vor Nässe. Zwei, nein, drei unförmige Koffer standen nebeneinander zwischen Haus und Kutsche. Der Schlag war noch offen, aber niemand war zu sehen.

Da fiel plötzlich ein breiter Lichtschein in die Dunkelheit – die Eingangstür war geöffnet worden; eines der Mädchen lief hinaus, einen aufgespannten Schirm in den Händen, während der Hausbursche zu den Koffern eilte. Dann, endlich, entstieg eine Gestalt der Kutsche, unverkennbar eine große Gestalt, denn das Mädchen musste den Schirm ordentlich in die Höhe recken, als es die Neuangekommene zum Eingang geleitete. Die Frau am Fenster beugte sich noch etwas weiter vor, doch der Schirm versperrte ihr die Sicht, und alles, was sie erkennen konnte, war ein langer Reisemantel von eher praktischer als kleidsamer Beschaffenheit, der an zwei Damenstiefeln endete, welche zweifellos nicht mehr ganz à la mode waren. Diese Stiefel blieben plötzlich stehen, direkt am Fuß der Treppe, die zum Portal hinaufführte, und das Mädchen mit dem Schirm verhielt gezwungenermaßen ebenfalls den Schritt. Die Frau im Reisemantel wandte sich langsam um, nach allen Seiten, nach links, nach rechts und zurück, geradeso, als wollte sie sich von der regentriefenden Außenwelt höflich verabschieden. Das Hausmädchen trat ungeduldig von einem Fuß auf den anderen, was man ihr bei dem Wetter gewiss nicht verdenken konnte, und offenbar war dies auch der Neuen nicht entgangen, denn sie schickte sich jetzt endlich an, die Stufen emporzusteigen. Das Mädchen folgte mit dem Schirm eine Winzigkeit zu spät, einen Augenblick lang stand die Frau im Reisemantel unverdeckt im Licht des Hauses, und plötzlich, ohne Vorwarnung, blickte sie nach oben.

Die Beobachterin am Fenster zuckte zurück. Wäre sie weniger schnell und weniger geübt im Verbergen gewesen, ihre Blicke hätten sich getroffen. So aber konnte die andere nicht viel gesehen haben außer einem regennassen Fenster und einem Vorhang, der versehentlich nicht ganz geschlossen war. Sie aber hatte genug gesehen. Nein, die dort unten, die sah nicht so aus, als ob sie ihr gefährlich werden könnte, ganz gewiss nicht!

Und wo waren jetzt bloß die Brüsseler Spitzen?

***

Das Dankgebet war gesprochen. Die Priorin tupfte sich mit der Serviette noch einmal die Lippen ab und erhob sich. Trotz ihrer Bemühungen war ein kleiner Klecks Speichel in ihrem Mundwinkel hängen geblieben, und da blieb er auch, als sie ihre Ansprache begann.

»Liebe Konventualinnen!« Ihr Blick schweifte über die penibel gescheitelten Häupter und blieb schließlich an einem etwas aufgelöst wirkenden Chignon hängen.

»Liebes Fräulein von Schalck! Im Namen unserer kleinen Gemeinschaft heiße ich Sie hiermit herzlich willkommen. Mit Ihrem Einzug schließt sich in unserem Kreis wieder die schmerzliche Lücke, die das Hinscheiden unserer lieben Herma hinterlassen hat…«

Sie machte eine kleine Pause, als wollte sie den Zuhörerinnen Gelegenheit geben, die durch die Erwähnung der teuren Verstorbenen aufgewühlten Gefühle wieder in den Griff zu bekommen, und Änne von Schalck fühlte sich prompt noch ein wenig unbehaglicher.

»Ja, unsere liebe Herma…« Die Priorin führte ein zierliches Tüchlein an ihre nicht sonderlich feuchten Augen und fuhr dann, um einiges energischer, fort: »Nun, der Herr wird sich ihrer Seele annehmen, ganz so, wie es geschrieben steht: Du leitest mich nach Deinem Rat und nimmst mich endlich mit Ehren an, und wir wollen uns jetzt freuen, dass wir wieder dreizehn Häupter zählen, gerade so wie unser lieber Herr Jesus mit seinen Jüngern, welche uns als leuchtende Vorbilder auf dem Pfad der christlichen Lebensführung vorauswandeln! Frömmigkeit, Gottvertrauen und Nächstenliebe, das sind die drei Säulen, auf denen das Dach dieses Hauses ruht, und die Sockel dieser Säulen heißen Gebet, Andacht und gute Werke. Mag auch die Zeit des Eingewöhnens, liebes Fräulein von Schalck, einige kleine Unsicherheiten mit sich bringen – dagegen haben wir drei probate Mittel, die noch nie versagt haben: nämlich drei Bücher, die ich Ihnen hiermit wärmstens anempfehle!«

Sie räusperte sich bedeutungsvoll, woraufhin eine etwas mokant wirkende Blondine, die Änne direkt gegenübersaß, beredt die Augen verdrehte. Offenbar waren ihr die drei probaten Mittel bestens bekannt.

»Unsere drei hervorragenden Bücher«, fuhr die Priorin fort, »sind allem voran natürlich die Heilige Schrift, nach der deutschen Übersetzung Doktor Martin Luthers. Als Zweites dann«, hier wurde ihre Stimme hörbar kühler, »als Zweites haben wir das berühmte Werk ›Vom Göttlichen Erwachen‹ der Hl. Richeldis, die bekanntermaßen zu Klosterzeiten an dieser Stätte gewirkt hat und daher unsere geschätzte Hauspatronin ist – wobei ihr der Herr sicher vergeben wird, dass sie katholisch war… Und schließlich wäre, zwar unscheinbar, doch unentbehrlich, die Hausregel von Hilgensee zu nennen, in der alle Fährnisse unseres täglichen Lebens mit großer Weisheit und Voraussicht traktiert sind.«

Der Speichelfleck im Mundwinkel der Priorin blühte plötzlich auf wie wilder Holunder im Mai, und Änne begriff, dass bei den drei wunderbaren Büchern die Regel des Stiftes ganz zweifellos an erster Stelle stand.

»Diese drei Bücher werden Sie in Ihren Räumen vorfinden, denn so ist es bestimmt im dritten Abschnitt der Regel, aber Ihr Herz wird es sein, welches bestimmt, dass Sie die genannten Schriften stets in Reichweite haben und recht tüchtig davon Gebrauch machen!« Die Priorin schaute Änne eindringlich an, bis diese mit eifrigem Nicken kundtat, dass sie die drei Wundermittel kaum je aus der Hand legen würde.

»So weit, so gut«, fuhr die Priorin fort. »Und jetzt wollen wir es so halten wie immer bei diesem Anlass, dass sich nämlich jede von uns kurz vorstellt – wobei der erste Abschnitt der Regel vorgibt, dass die neue Konventualin hierbei den Anfang macht. Sie haben also das Wort, Fräulein von Schalck!«

Das kam so unerwartet, dass Änne in ihrer Verblüffung erst einmal ganz still dasaß. Nach einigen Sekunden erbarmte sich die Priorin und sagte mit nachsichtigem Lächeln: »Wir erwarten gewiss keine Rede von Ihnen, meine Liebe! Nur ein paar Worte, zum Beispiel, was Sie dazu bewogen haben mag, Aufnahme in unserem Stift zu suchen – ja, das hören wir immer gern! Und vielleicht noch etwas zu Ihrer werten Familie, in aller Kürze, versteht sich… Ach, am besten fangen Sie einfach mit Ihrem Namen an – das hat sich stets bewährt!«

Änne, die zu allem Überfluss auch noch spürte, wie sie unter den neugierigen Blicken der Damen errötete, gab sich einen Ruck. Sie hatte in ihrem Leben schließlich schon so manches mit Anstand hinter sich gebracht, und gemessen daran war dies hier eine Kleinigkeit – auch wenn es sie ein wenig genierte, zu so vielen fremden Menschen auf einmal zu sprechen, und dann noch, quel malheur, über sich selbst.

»Mein Name ist Annette von Schalck«, begann sie zögernd und so leise, dass die Damen am entgegengesetzten Ende des langen Tisches sich weit vorbeugten, damit ihnen nichts entging. »In meiner Familie werde ich Änne genannt, und ich habe mich so an diesen Rufnamen gewöhnt, dass es mich freuen würde, wenn auch Sie ihn gebrauchen würden.« Mit einem vorsichtigen Blick Richtung Priorin setzte sie hinzu: »Falls das den… den Gepflogenheiten des Hauses entspricht.«

Die Priorin und einige der offensichtlich tonangebenden Damen nickten würdevoll. Die erste Hürde war genommen; mit der zweiten würde es sich indes etwas schwieriger gestalten.

»Was mich bewogen hat, in das Stift Hilgensee einzutreten…« Was sollte sie jetzt bloß sagen? Sollte sie von dem kleinen Ring sprechen, den sie nicht mehr am Finger trug, sondern in ihrer schmalen Schmuckschatulle aufbewahrte, ganz zuunterst? Oder etwa von dem Brief, auf den sie so sehnsüchtig gewartet hatte und der nie gekommen war? Von den nächtlichen Tränen, den ausgeträumten Träumen, den gestorbenen Hoffnungen? Aber dies waren keine Dinge, die man aussprach; selbst sie zu denken gehörte sich im Grunde nicht, und so setzte sie sich noch etwas gerader auf und sagte mit einer Stimme, die nur ein winziges bisschen zitterte: »Ich habe mich für ein Leben in diesem Stift entschieden, weil ich mich nach innerer Ruhe und Frieden sehne, und weil ich glaube, dass man das nur dann finden kann, wenn man sich von flüchtigen weltlichen Belangen freimacht und stattdessen den Dingen zuwendet, die immer und ewig Bestand haben.«

Sie fand selbst, dass ihr diese Antwort gar nicht schlecht gelungen war, und wagte es daraufhin, das erste Mal bewusst in die Runde zu schauen. Zwölf fremde Gesichter waren ihr zugewandt, zwölf Augenpaare, manche abschätzend, manche neugierig, manche freundlich, manche kühl – und eines unverkennbar mitleidig. Es gehörte zu einer alten Dame, und Änne meinte zu hören, wie sie murmelte »Armes Kindchen!«, doch da sie ein gutes Stück entfernt auf der anderen Seite des Tisches saß, konnte das auch Einbildung gewesen sein. Im Übrigen wirkten die Damen aber durchaus so, als habe sie mit ihrer Antwort genau den richtigen Ton getroffen, und sie wollte sich gerade ein kleines erleichtertes Aufatmen gönnen, als sie bemerkte, dass es noch eine Ausnahme von der allgemeinen Billigung gab, und die saß ihr direkt gegenüber.

Es war die mokante Blondine, und dieses Mal wirkte sie aus unerfindlichen Gründen ausgesprochen amüsiert. Am liebsten hätte Änne ihre lange Nase (ein unwillkommenes Erbstück von der von Riedingschen Seite) gerümpft, aber da diese Geste mit Sicherheit in der Hausregel des Stiftes nicht vorgesehen war, krauste sie nur missbilligend die Stirn – was die Amüsiertheit auf der anderen Seite des Tisches noch zu steigern schien. Verstimmt wandte sie den Blick ab. Die erwartungsvollen Mienen rundum verrieten ihr, dass es höchste Zeit war, mit dem letzten und interessantesten Teil der Vorstellung zu beginnen.

»Was meine Familie betrifft, so möchte ich bei meinen lieben Eltern anfangen, Ferdinand und Bertha von Schalck, geborene von Rieding…«

Die Mehrzahl der Damen nickte wissend, und Änne konnte hören, wie eine von ihnen, eine resolut wirkende Grauhaarige, ihrer Nachbarin zuflüsterte: »Deren Mutter war wiederum eine Comtesse de Clarigny– Sie wissen schon, eine dieser bonapartistischen Familien, die sich nicht mit Louis Philippe arrangieren wollten, sondern lieber ins Ausland gingen… Sie soll übrigens schon in jungen Jahren eine Liaison mit dem Fürsten Weißenburg gehabt haben – wie diese Französinnen eben sind… Meine Mutter war nämlich befreundet mit einer Hofdame der Fürstin Weißenburg, und jene hat oft genug…«

Die Priorin räusperte sich hörbar, das Getuschel verstummte, und niemand am Tisch erfuhr noch, was die Fürstin Weißenburg oft genug getan hatte.

»Die Ehe meiner Eltern war mit fünf Kindern gesegnet«, fuhr Änne fort, die Bemerkung über ihre geliebte Großmama Heloise in die hinterste Ecke ihres Kopfes verbannend. »Mein Bruder Kurt ist der Älteste, verehelicht mit Henriette von Korff…«

»Die Korffs zu Bodau?« Diesmal war es die Priorin selbst, die fragte, vermutlich, um weiterem Geflüster vorzubeugen, und als Änne nickte, funkelte der kleine Speichelfleck im priorischen Mundwinkel voller Sympathie.

»Eine hochanständige Familie, alles brave Lutheraner, rechte Stützen der Gesellschaft«, verkündete die Priorin wie von der Kanzel herab. »Ich hatte einmal das Vergnügen, vor langen Jahren, versteht sich, einen von Korff… aber das gehört nicht hierher… Ihr lieber Bruder soll der glückliche Vater dreier wohlgeratener Söhne sein, ist es nicht so?«

Bevor Änne sich zu der Wohlgeratenheit ihrer Neffen äußern konnte, fragte jemand vom anderen Tischende her: »Ist Konrad inzwischen eigentlich auch vergeben?«

Auf diese unerhörte Frage herrschte einen Augenblick lang Stille. Dann erklangen mehrere Stimmen gleichzeitig:

»Aber Leonie!«

»Wie indiskret!«

»Also wirklich, Fräulein von Güstrup – was soll unsere neue Schwester nur von uns denken?« Das war die tadelnde Stimme der Priorin, und die vorwitzige Fragerin, ein hübsches rotblondes Fräulein, errötete pflichtschuldig.

»Ich dachte nur…«

Die Priorin und einige der Damen (ziemlich dieselben, die Änne bereits als tonangebend eingestuft hatte) schüttelten unwillig die Häupter, während ausgerechnet die mokante Blondine von gegenüber die Situation entschärfte, indem sie freundlich bemerkte: »Ich habe den Eindruck, dass Fräulein von Schalck ohnehin gerade von ihrem Bruder Konrad sprechen wollte – nicht wahr, meine Liebe?«

Änne, die immer noch ganz sprachlos war, hatte zwar im Sinn gehabt, als Nächstes von Karl, ihrem zweitältesten Bruder, zu berichten, aber ein scharfer Blick der wasserblauen Augen von jenseits des Tisches lenkte ihre Gedanken in eine andere Richtung.

»Ja, in der Tat«, begann sie, noch etwas verwirrt. »Karl, nein, ich meine natürlich Konrad, mein jüngster Bruder – also, Konrad, wie ich eben sagte, der jüngste von uns, hat die Offizierslaufbahn eingeschlagen, und zwar in der Marine seiner Kaiserlichen Majestät. Neuerdings… nun ja, neuerdings ist er verlobt…«

»Ach…« Das war das rothaarige Fräulein.

Schnell schaltete sich die Priorin abermals ein: »Dürfen wir den Namen der Beneidenswerten erfahren?«

»Thea Bartels.«

»Eine der von Bartels aus Eschebrunn?«

»Nein, eine Bartels aus Bremen.«

»Aus Bremen? Besteht da eine Verwandtschaft mit denen aus Eschebrunn?«

»Ich glaube kaum, Frau Priorin, zumal es sich bei jener Bremer Familie um schlichte ›Bartels‹ und keine ›von Bartels‹ handelt…«

Die Damen am Tisch rissen die Augen auf, und Änne stellte fest, dass sie fast so schockiert wirkten wie im letzten Frühling ihre Geschwister samt Ehegesponsen: der gute Kurt, seine gottesfürchtige Henriette, Karl und Emmy, Adele und Wilhelm – und zweifelsohne auch sie selbst, als Konrad sie über seine Heiratspläne in Kenntnis gesetzt hatte.

Zum Glück befand die Priorin, dass dies ein Thema war, welches sich insbesondere für die Ohren der jüngeren Damen nicht sonderlich eignete, und kam daher geschwind auf Schicklicheres zu sprechen. »Wenn ich mich recht entsinne, liebes Fräulein von Schalck, dann haben Sie noch zwei weitere Geschwister, und über die gibt es sicherlich nur Gutes zu berichten, nicht wahr?«

Änne dachte immer noch an Konrads zutiefst enttäuschtes Gesicht, als auch sie, seine Lieblingsschwester, ihm nicht zur Seite gestanden hatte. Sie beeilte sich zu sagen: »Gewiss doch… Da wäre noch mein Bruder Karl, verehelicht mit Emmy von Koschinsky, und meine Schwester Adele, die einen Baron Puttfuhs geheiratet hat…«

Diese Nachrichten lösten wahre Begeisterung aus. Etliche der Damen hatten gesellschaftlichen Umgang mit den Koschinskys gepflegt, andere mit der Familie Puttfuhs, und darüber hinaus war die elegante Adele den meisten zumindest aus den Gesellschaftskolumnen der Zeitungen ein Begriff.

»Emmy ist ja das einzige Kind der Koschinskys…«

»Ein riesiger Besitz – wohnen sie nicht auf Gut Doberitz?«

»Ja, und sie sollen in den höchsten Kreisen verkehren – den allerhöchsten, will ich damit sagen!«

Änne lehnte sich einfach zurück und hörte zu. Da die Stiftsdamen offenbar genauso viel über ihre Angehörigen wussten wie sie selbst, erübrigte sich wohl jedes weitere Wort.

»Ich habe Adele von Puttfuhs einmal auf einer Wohltätigkeitsveranstaltung persönlich kennengelernt – eine ausgesprochen schöne und elegante Erscheinung!«

»Sie sind gewiss wesentlich älter als Ihre Frau Schwester?« Eine dunkelhaarige Dame beugte sich vor und musterte Änne eingehend durch ihr Lorgnon.

»Oh… ja«, sagte Änne etwas matt, »das bin ich in der Tat – gut und gern anderthalb Jahre…«

Auf diese Offenbarung hin herrschte erst einmal Schweigen. Dann klatschte die Priorin in die Hände und sagte im Ton einer erfahrenen Pensionsleiterin, die ihre Zöglinge zur Ordnung ruft: »Sie haben nun Ihren Beitrag geleistet zum gegenseitigen Kennenlernen, liebes Fräulein von Schalck, und wir danken Ihnen sehr für Ihre freundlichen und… äh… aufrichtigen Worte! Wie heißt es doch so treffend in der Heiligen Schrift: Lieblich und schön sein ist nichts; ein Weib, das den Herrn fürchtet, soll man loben – und das scheint mir der treffende Satz, um Ihre Vorstellung abzuschließen…«

Änne fühlte sich nicht gerade getröstet durch den treffenden Satz. Contenance, dachte sie bei sich, zu einem der Grundprinzipien ihrer Erziehung Zuflucht nehmend, Haltung bewahren und sich bloß nichts anmerken lassen – und siehe da, sie brachte tatsächlich ein höfliches kleines Lächeln zustande, welches die Priorin wohlwollend zur Kenntnis nahm, bevor sie sich den anderen zuwandte.

»Wir wollen nun mit dem zweiten Teil unserer kleinen Präsentation fortfahren«, sagte sie salbungsvoll, »Fräulein von Schalck brennt sicher schon darauf, zu erfahren, wer ihre neuen Schwestern sind! Dabei wollen wir uns allerdings auf eine knappe Vorstellung beschränken, meine Damen – der Rest mag dann in all den freundschaftlichen Gesprächen erfolgen, zu denen Sie fortan ja reichlich Gelegenheit haben… Liebes Fräulein von Schalck, ich will mit meiner Wenigkeit gleich den Anfang machen – ich bin Helene von Lindeck, seit neun Jahren die Priorin dieses Stiftes.« Sie machte eine bedeutsame kleine Pause und fuhr dann fort: »Und dies ist meine geschätzte Vertreterin – ein höchst verantwortungsvolles Amt, für welches unsere Hausregel den Titel ›Vikarin‹ vorsieht. Bitte sehr, meine Liebe!«

Zu Ännes Verwunderung erhob sich daraufhin ausgerechnet jene Person, der sie selbst nie und nimmer ein »höchst verantwortungsvolles Amt« anvertraut hätte, nämlich die mokante Blondine von gegenüber. Sie stellte sich als Alwine von Hohenhagen vor, und ihre Augen funkelten auch jetzt wieder so spöttisch, dass Änne sich vornahm, in Zukunft den größtmöglichen Bogen um sie zu machen.

Ihr folgte eine Cornelie von Dechow, und die Dritte war die hübsche Rotblonde, die nach Konrad gefragt hatte. Sie stellte sich als Leonie von Güstrup vor und fügte keck hinzu, dass sie mit der Anrede »Leo« durchaus einverstanden sei; eine Äußerung, welche die Lindecksche Stirn aussehen ließ wie einen frisch gepflügten Acker im März.

Trotz der guten Vorsätze der Priorin zog sich die Vorstellung der Damen in die Länge, und Änne merkte, dass sie schläfrig wurde. Die Namen rauschten nur so an ihr vorbei, und sie hegte ernste Zweifel, ob sie sich morgen noch an einen einzigen würde erinnern können.

Doch schließlich war es überstanden, das Nachtgebet wurde gesprochen und zum Schluss die fünfte Strophe eines bekannten Abendliedes gesungen:

Gott, lass uns dein Heil schauen,

Auf nichts Vergänglichs trauen,

Nicht Eitelkeit uns freun!

Lass uns einfältig werden

Und vor dir hier auf Erden

Wie Kinder fromm und fröhlich sein!

Die Damen verließen den Raum paarweise oder in kleinen Grüppchen, um ihre Zimmer aufzusuchen, und zu ihrem stillen Entsetzen fand Änne sich sofort als Mittelpunkt einer derartigen Gruppe wieder, die nichts Besseres im Sinn hatte, als die Tischgespräche fortzusetzen.

»Stellen Sie sich vor, ich bin gut bekannt mit der jüngeren Schwester von Emmy von Koschinskys Mutter…«

»Ist Ihre Frau Mutter eigentlich jene Bertha von Rieding, welche in Wien…«

»Ich habe neulich gehört, dass Ihre Schwester Adele…«

Eine freundliche Stiftsdame rettete sie: »Wie wäre es denn morgen mit einem gemeinsamen Spaziergang unten am See? Etwas frische Luft wird Ihnen nach der langen Reise bestimmt guttun!« Das war Cornelie von Dechow, wie Änne sich wundersamerweise erinnerte, und sie sagte dankbar: »Ach ja, das wäre nett…«

Fräulein von Dechow klatschte erfreut in die Hände. »Fein! Wollen wir sagen, gegen drei Uhr nachmittags?«

Änne wollte gerade zustimmen, als sich unvermutet die Vikarin einschaltete. »Ich weiß nicht, ob sich das einrichten lassen wird«, sagte sie kühl. Dann bemerkte sie Ännes empörten Blick und fuhr eine Spur freundlicher fort: »Sehen Sie, Fräulein von Schalck, es ist nämlich so – und Sie, Cornelie, müssten das eigentlich wissen–, unsere Hausregel sieht vor, dass jede neue Konventualin in der ersten Zeit von einer Mentorin begleitet und in ihr neues Leben eingeführt wird. Diese ehrenvolle Aufgabe obliegt der Vikarin…«

Oh Gott, dachte Änne, so etwas musste ja kommen!

»Wie ich sagte – nur in der ersten Zeit.« Die Stimme der Vikarin klang wieder ausgesprochen winterlich, da Ännes Gesicht ihre mangelnde Begeisterung offenbar nur zu deutlich kundtat. »Da ich Sie keineswegs über Gebühr beanspruchen will, werden wir uns auf das Notwendigste beschränken… Dazu gehört allerdings, dass wir morgen auf jeden Fall einen Rundgang durch das Stift und über das Gelände machen; danach überlasse ich Sie gern Fräulein von Dechow. Als Erstes werde ich Sie aber morgen früh zur Morgenandacht abholen. Schlafen Sie wohl, Fräulein von Schalck! Gute Nacht, Cornelie.« Sie ließ die beiden stehen und verschwand hinter einer Zimmertür.

Cornelie von Dechow schnitt eine kleine Grimasse hinter der Vikarin her, war aber zu wohlerzogen, um deren rüde Einmischung näher zu kommentieren. Stattdessen sagte sie gelassen: »Nun, ich hoffe jedenfalls, dass wir morgen die Gelegenheit zu einer erholsamen kleinen Promenade am Seeufer haben werden. Schlafen Sie wohl, liebes Fräulein von Schalck!«

Erleichtert, dass der gefürchtete erste Abend überstanden war, schloss Änne die Tür hinter sich, durchquerte den Raum und tat das, was sie jetzt auch zu Hause getan hätte: Sie öffnete beide Fenster weit, und das Gleiche machte sie auch nebenan, in ihrem künftigen Schlaf- und Ankleidezimmer. Dann blieb sie einfach stehen, am offenen Fenster, und schaute in die Nacht hinaus, und zum ersten Mal an diesem Tag entdeckte sie etwas, das sie erfreute: Der Blick war wunderschön. Der Regen hatte aufgehört, und ein blasser Mond beschien eine Parkanlage, die sich vom Haus bis zu dem See hinunter erstreckte, dem das Stift seinen Namen zu verdanken hatte. Ein feiner Nebelschleier hing über der weiten Wasserfläche, und der Nachtwind trug aus den Uferwäldern den Geruch von nasser Erde und Herbstlaub in das dunkle Zimmer. Alles war still, alles war friedlich. Umso unerklärlicher war daher das Unbehagen, das sie plötzlich befiel, so dass sie sich erschauernd abwandte. Sie schloss die Fenster, zog die Vorhänge vor und betätigte den Schalter für das elektrische Licht, welcher mehr als alles andere belegte, dass die Priorin des Adeligen Damenstiftes zu Hilgensee eine fortschrittlichere Frau war, als man auf den ersten Blick vermutet hätte.

Bald darauf lag sie im Bett, doch kaum hatte sie die Augen geschlossen, als sich die Ereignisse des Tages in ihrem Kopf zu drehen begannen wie ein Karussell.

Der kalte dunkle Morgen… der tränenlose Abschied von Kurt und Henriette… das stundenlange Rumpeln der Kutsche… Regen, der über die beschlagenen Scheiben rann… die trübe Landschaft draußen… dann das große Gebäude mit den vielen Fenstern, und die Tür, die sich öffnete… Licht… Wärme… fremde Stimmen… Wortfetzen… und dann… Konrad… Er saß im Salon, die Beine übereinandergeschlagen… und, merkwürdig, da waren auch Mama und Papa… Aber ihre Gesichter waren so fahl… Thea Bartels und ich, sagte Konrad, auch du bist gegen uns, Änne? Schade, Änne, schade… Aber… aber… das war ja gar nicht Konrad, das war… das war… Robert! Ich muss jetzt nach Griechenland, sagte er, den staubigen Hut in der Hand, so will es das Orakel. Die Kutsche wartet schon. Schlafen Sie wohl! Da merkte Änne, dass sie gar nicht mehr im Salon war, sondern oben in ihrem eigenen Zimmer. Die Vorhänge waren vorgezogen, und sie öffnete sie einen Spalt und spähte vorsichtig hinaus. Robert war fort. Tief unter ihr rollte eine Kutsche unaufhaltsam davon. Sie spürte etwas Feuchtes auf dem Gesicht und erkannte, es waren ihre eigenen Tränen.

2.

Was geblieben war von dem unsinnigen Traum der Nacht, war der Kummer. Das war Änne nicht neu; immer war er wieder zurückgekehrt, und es sah nicht danach aus, dass er sie jemals ganz verlassen würde. Mit einem Seufzer erhob sie sich und machte sich rasch fertig. Sie wählte ein dunkelgraues Wollkleid, das in nahezu perfekter Weise ihrer Stimmung entsprach und darüber hinaus zweifellos die einer Konventualin angemessene Bekleidung war. Wie gut, dass ich einen ganzen Schrank voll solch freudloser Gewänder habe, dachte sie, es ist fast, als hätte ich immer schon geahnt, wo ich einmal enden werde…

Dann ging sie zum Fenster und blickte in den kühlen Herbstmorgen hinaus, der sich in demselben düsteren Grau zeigte wie ihr Kleid. Wie viele solcher Morgen lagen wohl noch vor ihr? Dreißig Jahre würde sie bestimmt noch leben; die Schalcks waren ein gesunder Schlag und neigten weder zu Schwindsucht noch zu Herzzuständen oder Schlagfluss, ganz zu schweigen von all den modernen Leiden, die neuerdings die halbe Welt dahinzuraffen schienen. Nein, mindestens dreißig Jahre noch, das war gewiss nicht zu hoch gegriffen, und multipliziert mit dreihundertfünfundsechzig ergab das… auf jeden Fall mehr als zehntausend trostlose Morgen, gefolgt von nicht minder trostlosen Tagen und Nächten…

Als sie gerade so weit gekommen war, klopfte es an der Tür, und ihre Mentorin trat ein, adrett in Preußischblau gekleidet. Die scharfen Augen huschten durch den Raum, zweifellos auch die kleinste Kleinigkeit registrierend, und blieben schließlich an Änne hängen.

Anstelle einer schicklichen Begrüßung sagte sie: »Ja, das ist wirklich eine hübsche Aussicht, die Sie da haben! Herma wusste das auch sehr zu schätzen…«

Änne, die es gar nicht mochte, wenn man sich nicht an die Regeln des guten Tons hielt, die das menschliche Miteinander doch so erleichterten, entbot ihrer Besucherin einen kühlen Morgengruß und bedeutete, dass man unverzüglich gehen könne. Alwine von Hohenhagen, die Arme über dem ansehnlichen Busen verschränkt, traf hierzu jedoch nicht die geringsten Anstalten, sondern musterte ihre Novizin mit demselben sezierenden Interesse, das zuvor den Räumlichkeiten gegolten hatte. Dann sagte sie: »Bevor wir gehen, sollten Sie auf jeden Fall das Fenster schließen – es könnte sonst hineinregnen.«

Änne schlug das Fenster so heftig zu, dass es knallte.

Ihre Mentorin bedachte sie mit einem Blick, von dem sie fast auf der Stelle eine Migräne bekommen hätte. »Na, dann wollen wir mal«, sagte sie, »auf zur Morgenandacht!«

Während Änne der tragenden Stimme Helene von Lindecks lauschte, die einen jeden Morgen mit dem Morgen der Schöpfung verglich und ihre Schützlinge ermahnte, niemals aufzuhören, für Gottes schöne Welt dankbar zu sein, wurde sie nach und nach ruhiger, und der Albtraum der Nacht verlor ebenso an Bedeutung wie die unausstehliche Alwine. Ihr Blick wanderte durch die Stiftskapelle, blieb hier und dort an den alten Kalkmalereien hängen, streifte die drei hohen Fenster im Halbrund des Chores, die schlichte Kreuzigungsgruppe auf dem Altar, den schweren bronzenen Leuchter, der in der Mitte des Raumes an einer langen Kette von der Decke hing, bis ihr auffiel, dass die Proportionen der Kapelle ziemlich ungewöhnlich waren. Gemessen an ihrer Breite und dem hohen Spitzbogengewölbe schien die kleine Kirche irgendwie zu kurz geraten, was ihr andererseits aber eine fast anheimelnde Atmosphäre verlieh.

Als die Andacht zu Ende war, begab man sich in den Speisesaal, um das Frühstück einzunehmen. Die Damen waren weniger redselig als am Vorabend; hauptsächlich wurden die Vorhaben des Tages besprochen, und man ging alsbald wieder auseinander – was zu Ännes stillem Kummer bedeutete, dass nunmehr Alwine das Kommando übernahm.

»Was halten Sie davon, wenn ich Sie als Erstes mit unserem Stiftsgebäude vertraut mache«, sagte die Vikarin in einem Ton, der deutlich erkennen ließ, dass dies nicht wirklich als Frage gemeint war. Änne bemühte sich daher gar nicht erst um eine Antwort, sondern trottete schweigend hinter ihr her. Ihre Mentorin schritt so energisch den Gang entlang, dass sie sich Mühe geben musste, ihr zu folgen.

»Ich hoffe, mein Schritt ist Ihnen nicht zu schnell«, sagte Alwine kurz darauf, während sie Änne einige Stufen hinunterführte, die vor einer bogenförmigen Tür endeten. »Ich dachte, es sei durchaus in Ihrem Sinn, wenn wir unseren Rundgang so zügig wie möglich absolvieren.« Änne errötete unter dem wissenden Blick.

»Ganz nach Ihrem Belieben, Fräulein von Hohenhagen«, brachte sie mit einiger Mühe hervor. »Ich bin Ihnen ja äußerst dankbar, dass Sie mir Ihre kostbare Zeit opfern…«

Alwine, die Hand auf der altertümlichen Türklinke, murmelte etwas, das verdächtig wie »Humbug« klang, und stieß die Tür auf. »Der Kreuzgang«, sagte sie knapp, und Änne entfuhr ein Ausruf des Erstaunens.

»Schön, nicht?« Ihre Führerin klang etwas versöhnlicher, und Änne nickte andächtig.

Es war in der Tat ein Kreuzgang, auf den jedes Kloster stolz gewesen wäre; vollständig erhalten umgab er das Rechteck eines begrünten Innenhofes. Nur die (dankenswerterweise weiß übertünchte) Stromleitung, die sich schnurgerade von Wandleuchter zu Wandleuchter zog, zeigte, dass die fortschrittsüchtige Priorin auch vor diesem Kleinod mittelalterlicher Baukunst nicht haltgemacht hatte. Ännes Entzücken tat dies jedoch keinen Abbruch. Im Geiste sah sie, wie in den Klosterzeiten die Nonnen hier auf und ab gewandelt waren, die Lippen im stummen Gebet bewegend, während die Perlen der Rosenkränze durch die weißen Finger glitten…

»Man meint fast, noch die Schritte unserer Vorgängerinnen zu vernehmen«, sagte sie mit unwillkürlich gesenkter Stimme, woraufhin ihre Mentorin ihr einen amüsierten Blick zuwarf. »Sie sind ja eine Romantikerin, Fräulein von Schalck – das hätte ich von Ihnen gar nicht gedacht! Aber es ist in der Tat so, unser alter Kreuzgang hat eine ganz eigene Ausstrahlung.«

»Die ich übrigens auch in der Stiftskapelle meine wahrgenommen zu haben«, erwiderte Änne eifrig. »So ein friederfüllter, lichter Raum – ich habe mich dem Himmel geradezu ein Stückchen näher gefühlt!«

Alwine sah sie nachdenklich an. »So ist es anderen vor Ihnen auch ergangen – allerdings, mit Verlaub, nur den empfindsameren Seelen… Mir selbst erscheint es übrigens durchaus überzeugend, dass die Hl. Richeldis gerade dort, in der Kapelle, ihre größten Verzückungen erlebte, obwohl ihr diese Gnade ja später auch andernorts widerfuhr…«

»Was bitte erlebte die Heilige?«

»Verzückungen, meine Liebe – aber ich vergaß, Sie können beim besten Willen noch nicht die Zeit gefunden haben, einen Blick in das Brevier ›Vom Göttlichen Erwachen‹ zu werfen, was ich Ihnen wirklich sehr empfehle. Dort finden Sie auch jene ekstatischen Zustände näher beschrieben. Übrigens hat unsere Hauspatronin ihre… ihre Anwandlungen meist dort bekommen, wo heutzutage Ihre Zimmer liegen! Eigentlich ist es kein Wunder, dass Herma da–« Sie brach ab, seufzte und schwieg.

Änne war sich nicht sicher, was sie von diesen Eröffnungen halten sollte. Unter einer Verzückung konnte sie sich nichts Rechtes vorstellen, und von in Verzückung geratenen Nonnen hatte sie überhaupt noch nie gehört. Da Hilgensee zweifelsohne ein gut lutherisches Stift war, konnte sie sich kaum denken, dass es ein Vorzug war, Räume zu bewohnen, in denen irgendeine Nonne rätselhafte Anwandlungen gehabt hatte – auch wenn die Betreffende eine Heilige gewesen war. Und erst recht wünschte sie keinen Besuch von irgendwelchen Stiftgespenstern, ganz gleich, ob die nun verzückt waren oder nicht. Sie beschloss, der Sache unverzüglich auf den Grund zu gehen, zumal diese sogenannte Einführung ja wohl den Sinn hatte, ihr solches und Ähnliches zu erläutern.

»Gehe ich richtig in der Annahme, dass die Hl. Richardis–«

»Richeldis, meine Liebe, Richeldis.«

»Verzeihen Sie – also, dass die Hl. Richeldis in ebenden Räumen gewohnt hat, die ich jetzt innehabe?«

»Nein, in der Annahme gehen Sie nicht richtig.«

»Ja, aber – warum hat sie sich dann ausgerechnet dort so gern verzückt? Sagten Sie nicht gerade, sie hätte eine Vorliebe für die Stiftskapelle gehabt?«

»Nicht für die Stiftskapelle«, entgegnete Alwine im geduldigen Tonfall einer Mutter, welche versucht, ihrem begriffsstutzigen Kind eine Selbstverständlichkeit klarzumachen. »Wie sollte sie auch? Damals gab es niemanden, der auch nur geträumt hätte von einem Stift! Die Vorliebe der Hl. Richeldis galt natürlich der Klosterkirche. Kommen Sie, Fräulein von Schalck, ich will es Ihnen erklären – da das ja ohnehin meine Aufgabe ist.« Sie steuerte das Geviert des Innenhofs an; einen hübschen, von schmalen Kieswegen durchzogenen Rasenplatz mit einer knorrigen Rotbuche in der Mitte, in deren vom Herbstwind gelichtetem Laubwerk unzählige Sperlinge tschilpten.

Sie ließen sich nebeneinander auf einer Bank nieder, und Alwine begann: »Schauen Sie – hier gegenüber von uns, das ist der Nordflügel. In seinem rechten Teil, wo das Dach halbrund wird, liegt unsere Stiftskapelle, während sich im linken Teil diverse andere Räumlichkeiten befinden – unter anderem auch die Ihren, ganz links im oberen Stockwerk. Diese Aufteilung hat es jedoch nicht immer gegeben; früher, in der Klosterzeit, war nämlich der ganze Nordflügel eine Kirche!«

»Ach«, sagte Änne.

»Sie müssen bedenken, dass Hilgensee seinerzeit ein bedeutendes Kloster gewesen ist, das seine Kirchentore an den Feiertagen auch für die Bevölkerung und für die vielen Pilger öffnete«, fuhr Alwine fort. »Die ehemalige Klosterkirche, welche mehr als doppelt so groß war wie unsere heutige Kapelle, war an diesen Tagen mit Sicherheit bis zum letzten Platz gefüllt, und das selbstverständlich ganz besonders in der Zeit, in der die später heiliggesprochene Richeldis hier wirkte! Natürlich pflegten die Nonnen den Gottesdiensten getrennt von den Laien beizuwohnen. Ihre Plätze befanden sich auf einer großen Empore im westlichen Ende der damaligen Kirche, von wo aus ihre Gesänge dann auf die Gläubigen niederschwebten, als wären dort droben die himmlischen Heerscharen versammelt. Auf jener Empore geschah es auch, und zwar zum ersten Mal an einem Pfingstsonntag im Jahre des Herrn 1282 und danach immer häufiger, dass Richeldis… nun, dass sie eben in Verzückung geriet.«

Wieder machte Alwine eine kleine Pause, aber als Änne nichts sagte, sondern sie nur mit einer gewissen Bestürzung anstarrte, fuhr sie fort: »Später, also in den Zeiten nach der Reformation, übernahm der Adel das ehemalige Nonnenkloster zur Unterbringung seiner unverheirateten Töchter. Man teilte die östliche Hälfte der Kirche als Stiftskapelle ab, zog in der westlichen Hälfte in Höhe der Empore eine solide Eichendecke in das vormalige Kirchenschiff ein und ging daran, hier wie im übrigen Klostergebäude Unterkünfte zu schaffen, welche dem Stand der neuen Bewohnerinnen angemessener waren als die Schlafsäle und Zellen der Nonnen. Und so kommt es, dass Ihre Zimmer dort liegen…«

»…wo früher die Nonnen ihre himmlischen Gesänge anstimmten«, ergänzte Änne.

»Und wo unsere Hauspatronin hin und wieder derart heftig in religiöse Ekstase geriet, dass sie einen Meter über dem Boden schwebte«, setzte Alwine, ungerührt von Ännes betroffener Miene, hinzu. »Wie gesagt, Sie können das ja gelegentlich selbst nachlesen. Und nun wollen wir unseren Rundgang fortsetzen!«

Sie erhob sich, und Änne folgte brav.

Alwine zeigte ihr die gut bestückte Bibliothek, das Bureau der Priorin, den ehemaligen Kapitelsaal des Klosters, in welchem man zu Feiern und offiziellen Anlässen zusammenkam, einen Unterrichtsraum für Zöglinge des Stiftes, Musik- und Handarbeitszimmer, diverse kleinere Salons und dann, in einem Anbau gelegen, die unzähligen Wirtschaftsräume, bis Änne der Kopf noch mehr schwirrte als nach der gestrigen Vorstellung.

»Im oberen Stockwerk befinden sich ausschließlich unsere privaten Räume«, sagte Alwine schließlich, »und da der Name einer jeden Bewohnerin auf der betreffenden Tür vermerkt ist, werden Sie sich zweifelsohne mit Leichtigkeit zurechtfinden, so dass es mir nicht erforderlich scheint, noch das obere Stockwerk zu begehen. Es dürfte ohnehin bald an der Zeit sein, unser Mittagsmahl einzunehmen. Was halten Sie also davon, wenn wir jetzt die Rollen tauschen, und Sie führen diesmal mich – und zwar zurück zu unserem Speisesaal?«

»Ich will bloß hoffen, dass mir dies gelingt, bevor das Essen kalt wird«, sagte Änne und warf einen beunruhigten Blick den Gang hinunter, der sich in ihren Augen durch nichts von all den anderen Gängen unterschied, die sie an diesem Vormittag entlanggewandert waren. Aber dort hinten – war da nicht eine bogenförmige Tür wie jene, durch die sie in den Kreuzgang gekommen waren? Und wenn sie erst im Kreuzgang waren, dann konnte nicht mehr allzu viel schiefgehen!

Entschlossen steuerte sie auf die Tür zu, ihre sich offenbar prächtig amüsierende Mentorin im Schlepptau, und öffnete sie. Sie hätte es wissen müssen – denn, wie Konrad einmal nicht ganz zu Unrecht bemerkt hatte, ihr Orientierungssinn entsprach ungefähr dem eines Maulwurfs, der sich unversehens dem hellen Tageslicht ausgesetzt sieht. Die Tür führte natürlich nicht in den Kreuzgang, sondern in einen Raum, den sie bisher überhaupt noch nicht zu Gesicht bekommen hatte, und zwar in die Mangel- und Bügelstube. Zwei Mädchen gingen dort emsig schwatzend ihrer Tätigkeit nach und ließen überrascht die Bügeleisen sinken, als sie der beiden Besucherinnen ansichtig wurden.

»Nein, nein, schon gut – Sie sollen nichts für uns bügeln, Käthe«, sagte Alwine auf die fragenden Blicke. »Wir befinden uns nur gerade auf einer Art tour de ville, Fräulein von Schalck und ich, und dazu gehören selbstverständlich auch die Wirtschaftsräume. Schaffen Sie nur munter weiter, Sie beide – wir gehen jetzt zum Speisesaal zurück!«

Wenn wir das doch nur täten, dachte Änne, die eigenwilligen Einfälle ihrer Mentorin verwünschend, als diese ihr draußen im Gang erneut den Vortritt ließ. Sie öffnete wahllos eine Tür auf der gegenüberliegenden Seite des Ganges, hinter der sich eine Art Putzkammer verbarg. Wenn das so weitergeht, sind wir morgen Mittag noch nicht da, dachte sie entmutigt, als ihr unerwartet Hilfe zuteil wurde. Flinke Schritte erklangen, und dann stand die rotwangige Käthe aus der Bügelstube hinter ihnen.

»Verzeihung, Fräulein von Hohenhagen…«, sagte sie, den Blick verlegen auf die blanken Schuhspitzen gerichtet.

»Sprechen Sie nur, Kind«, Alwine klang so milde, dass Änne sie überrascht ansah.

»Sie wissen schon, um was es sich handelt…« Käthe errötete über und über.

»Ach du lieber Himmel – ist es etwa der Ritter der Münzen?«

Das Mädchen nickte; Alwine überlegte kurz und sagte: »Gegen fünf Uhr hätte ich heute etwas Zeit.«

»Oh, ich danke Ihnen! Ich werde pünktlich zur Stelle sein«, erwiderte Käthe eifrig. »Lisbeth wird für mich einspringen bei der Essensvorbereitung, sie schuldet mir noch was wegen der Kirmes neulich–« Sie biss sich auf die Lippen und warf einen scheuen Blick auf Änne. Dann knickste sie tief, lief ein Stück den Gang voraus, öffnete mit einem gefälligen »Bitte sehr, die Damen!« eine völlig unscheinbare Tür, und nach ein paar ausgetretenen Treppenstufen standen sie auf höchst rätselhafte Weise nur wenige Schritte vor der großen Flügeltür zum Speisesaal.

Während des Mittagessens lauschte Änne nur mit halbem Ohr dem Tischgespräch, welches sich hauptsächlich mit der Frage befasste, ob man zu den zum Dessert gereichten Armen Rittern besser Rotwein- oder Weißweinsauce serviere. Ihre Gedanken beschäftigten sich mit zwei Rätseln, von denen ein jedes unlösbar schien: Wie konnte es angehen, dass sie so schnell zurück zum Speisesaal gelangt waren, und wer, um alles in der Welt, war der Ritter der Münzen? Oder hatte Alwine gesagt »von Münzen«? Aber von einer Familie namens von Münzen hatte sie auch noch nie gehört… Eins stand für Änne jedenfalls felsenfest: Die einzige Person, welche beides mühelos hätte erklären können, würde sie mit Sicherheit nicht fragen – sie hatte keine Lust auf noch mehr spöttische Blicke von gegenüber!

»Ich ziehe es eigentlich vor, wenn die noch warmen Armen Ritter mit einem leichten Fruchtgelee serviert werden«, tat die Priorin in der strittigen Frage ihre Auffassung kund und wandte sich dann liebenswürdig an Änne, um die auffallend schweigsame Novizin in das allgemeine Gespräch mit einzubeziehen. »Wie haben Sie es denn auf Schalcksfeld gehalten, meine Liebe?«

»Arme Ritter mit Münzen«, sagte Änne geistesabwesend, woraufhin die Diskussion am Tisch verstummte und Alwine überrascht die wasserblauen Augen aufriss.

»Minze-Sauce pflegt man bei uns nach englischer Art ausschließlich zum Lamm zu reichen«, sagte eine ältere Stiftsdame so nachdrücklich, als lege sie gerade ihr Glaubensbekenntnis ab, und fixierte Änne dabei durch ihr Lorgnon. »Und was die Armen Ritter angeht, so habe ich diese Nachspeise einmal in einer ganz vorzüglichen Variante bei meiner lieben Freundin Cäcilie von Puttfuhs – einer angeheirateten Cousine Ihres Herrn Schwagers – in deren Haus genossen. Ihre Köchin hatte die Armen Ritter vor dem Ausbacken mit einer Creme von geriebenen Mandeln, Eiern, saurer Sahne und Zucker bestrichen – superb, meine Liebe, das dürfen Sie mir glauben! Minze-Sauce wurde allerdings nicht dazu gereicht.«

»Nun, manchmal wird mit lieben alten Traditionen gebrochen, wenn man auf die Vorlieben eines Ehemannes Rücksicht zu nehmen hat«, versuchte Helene von Lindeck zu vermitteln, und Cornelie meinte: »Ich könnte mir vorstellen, dass Minze-Sauce den gebackenen Weißbrotscheiben in der Tat eine erfrischende Note verleiht – besonders an heißen Sommertagen…«

»Warum sollten wir das nicht einmal ausprobieren?«, rief Leonie von Güstrup munter. »Was halten Sie davon, Frau Priorin?«

Trotz aller Fortschrittlichkeit, was die Elektrifizierung alter Gemäuer anging, war Helene von Lindeck auf kulinarischem Sektor nicht unbedingt für Neuerungen zu haben, aber da nicht wenige der Stiftsdamen sich für das Experiment aufgeschlossen zeigten, gab sie nach einer lebhaften Diskussion schließlich bekannt: »Wie mir scheint, ist die Mehrzahl von uns der Auffassung, dass wir dieses, äh… interessante Rezept ruhig einmal ausprobieren sollten. Dann werde ich der Köchin also ausrichten, dass wir die Armen Ritter beim nächsten Mal mit Minze-Sauce zu speisen wünschen. Was gibt es denn daran so Erheiterndes, Fräulein von Hohenhagen?«

»Arme Ritter mit Minze-Sauce«, sagte Alwine draußen zu Änne, »ich muss schon sagen, da haben Sie uns ja was Schönes eingebrockt! Was mag bloß in Ihrem Kopf herumgespukt sein? Allerdings – wenn ich es recht bedenke, dann glaube ich fast, dass ich eine Ahnung habe…« Sie lachte leise. »Wissen Sie was – ich finde, wir haben uns jetzt beide ein Ruhestündchen verdient, und dann wollen wir unseren Rundgang abschließen mit der Besichtigung des Wirtschaftshofes und der anderen Nebengebäude, und ich verspreche Ihnen, es bleibt Ihnen noch genügend Zeit für die Promenade mit Fräulein von Dechow! Wie Sie wissen, habe ich ja ohnehin noch eine andere Verabredung heute Nachmittag – gewissermaßen mit Minze-Sauce…«

Und damit ließ sie Änne stehen. Diese stieg hinter den anderen her die Treppe empor ins Obergeschoss und studierte dann an jeder Tür das zierliche Namensschild, bis sie schließlich zu sich selbst gefunden hatte.

***

Am frühen Nachmittag machten sich die beiden Damen auf den Weg, um, wie die Vikarin es ausdrückte, die Latifundien in Augenschein zu nehmen. Als sich nach einer guten Stunde noch kein Ende des Rundgangs abzeichnete, war Änne heilfroh, dass sie ihre festen Stiefeletten angezogen hatte, obwohl diese noch reichlich klamm von den Strapazen des gestrigen Tages waren.

Alwine hatte ihr als Erstes den jenseits des Nordflügels liegenden Wirtschaftshof gezeigt. Vieh wurde hauptsächlich für den eigenen Bedarf gehalten, und vor allem das Geflügel war zahlreich vertreten: Gänse, Puten, Enten, Kapaune, Hühner und fette Tauben führten ein schnatterndes, gackerndes, gurrendes Dasein auf dem weiten Hofplatz, welches sogar das muntere Geplauder im Stiftsspeisesaal in den Schatten stellte. Für Aufruhr sorgte ein großer Hahn mit schwarz glänzendem Gefieder und blutrotem Kamm, indem er seine Huld nicht nur unter der Hühnerschar zu verteilen suchte, sondern auch einigen hübschen Entlein nachstellte, deren Enteriche dem scharfschnabeligen Konkurrenten in keiner Weise gewachsen waren, so dass das ganze Entenvolk schließlich empört quakend auf dem Hofteich Zuflucht suchte. Eine Magd, die gerade am Hühnerfüttern war, vertrieb den Schwarz-Roten mit lautem Händeklatschen vom Rand des Teiches, wo er mit schiefgelegtem Kopf sinnierend zu den Enten hinübergeblickt hatte. Ob ihrem Eingreifen dauerhafter Erfolg beschieden war, schien überaus fraglich.

Das Mädchen trat zu ihnen. »Guten Tag, Fräulein von Hohenhagen, guten Tag, die Dame! Kann ich etwas für Sie tun?«, fragte sie mit einem neugierigen Seitenblick zu Änne hinüber.

»Nein danke, Rosa; Fräulein von Schalck und ich befinden uns lediglich auf einem kleinen Rundgang durch Hilgensee.«

»Oh – gnädiges Fräulein, dann sind Sie gewiss die Dame, die gestern Abend eintreffen sollte«, offenbarte Rosa unbekümmert ihr Wissen über die Vorgänge im Haupthaus. »Dann also herzlich willkommen! Fräulein von Hohenhagen wird sich sicher gut um Sie kümmern«, fügte sie treuherzig hinzu und knickste tief, wobei ihr eine gehörige Portion Hühnerfutter aus der Schale fiel, was zur Folge hatte, dass die drei im Nu von gackerndem Federvieh umringt waren – allen voran der Schwarz-Rote, dessen gebogener Schnabel Ännes Stiefeletten gefährlich nahe kam.

Während Änne, die sich nichts so sehr wünschte, als wieder im stillen und geflügelfreien Kreuzgang zu sein, einige hastige Schritte rückwärts tat, öffnete sich die Tür des Wirtschaftsgebäudes und Helene von Lindeck trat heraus, einen jüngeren Mann an ihrer Seite, welchen Rosa und ihresgleichen zweifelsohne als »schneidiges Mannsbild« bezeichnet hätten. Er trug Reithosen, hohe Stiefel, eine Jacke aus dunklem Tuch und einen ebensolchen Hut, und Änne schätzte ihn im Alter irgendwo zwischen ihren Geschwistern Adele und Konrad ein, auch wenn er wesentlich gesetzter und reifer wirkte als diese beiden. Sobald die Priorin der zwei Damen ansichtig wurde, kam sie gemeinsam mit ihrem Begleiter auf sie zu, woraufhin Rosa noch mehr Hühnerfutter verschüttete und mit einer Gesichtsfarbe, die ihrem Namen alle Ehre machte, knicksend das Weite suchte. Alwine sah ihr kopfschüttelnd nach; zu ihren Füßen pickten die Hühner wie verrückt, und Änne wich abermals ängstlich dem Hahnenschnabel aus. Letzteres entging dem Mann nicht; mit einem elegant angedeuteten Fußtritt scheuchte er den Schwarz-Roten davon, um sich alsbald tief über Ännes etwas zittrige Rechte zu beugen, während Helene von Lindeck ihn als »unseren tüchtigen Verwalter, Herrn Winther« vorstellte.

Auch er hieß sie herzlich willkommen und bemerkte zu allem Überfluss mit einer artigen Verbeugung in Alwines Richtung, dass die Frau Vikarin ihr das Einleben bestimmt sehr erleichtern werde. Änne verbarg ihre Zweifel an Alwines Qualitäten, so gut sie es vermochte, und gab ein halbwegs unbefangenes »Danke – ja – gewiss!« von sich, während sich die Priorin freundlich nach ihren nächsten Zielen erkundigte.

»Die Gärten«, gab Alwine bereitwillig Auskunft. »Und von dort wollte ich mit Fräulein von Schalck noch zur Propstei hinüber und zum Pastorenhaus; den Park überlasse ich dann Fräulein von Dechow und den anderen Damen.«

Hieran fand die Priorin nichts auszusetzen, und während sie mit Herrn Winther in einem der Nebengebäude verschwand, führte Alwine Änne in die entgegengesetzte Richtung, zu den weitläufigen Obst- und Gemüsegärten. Am Rande der Gärten befanden sich zwei lange Gewächshäuser, vor denen sich eine gefleckte Katze putzte, die sogleich verschwand, als sie näher kamen.

»Nanu, das sah ja eben aus wie Mimi«, sagte Alwine überrascht. »Und dabei dachte ich schon–«

»Wer ist denn Mimi?«, fragte Änne neugierig.

»Ach, nicht weiter wichtig, Herma hatte eine Katze, die dieser hier ähnelte… Hier sind also die Treibhäuser, Fräulein von Schalck. Falls Sie selbst eine Pflanzenfreundin sind, sollten Sie unbedingt Fräulein von Rothenborn darauf ansprechen – es gibt in ganz Hilgensee niemanden, der sich besser als sie auf alles versteht, was grünt und blüht. Oh, da fällt mir ein, wir müssen auf jeden Fall noch über Ihre eigenen Vorlieben und Talente sprechen, damit wir auch für Sie etwas Passendes finden, dem Sie Ihre Zeit widmen können – aber ich denke, das hat Zeit bis morgen oder übermorgen. Warum schauen Sie mich denn so betroffen an?«

»Ehrlich gesagt…« Änne war es bei den Worten »Vorlieben und Talente« richtiggehend mulmig geworden, aber sie beschloss, gleich mit der Wahrheit herauszurücken, bevor man sie irgendeiner Gruppe von singenden oder häkelnden Damen zuweisen würde. »Also, ehrlich gesagt, ich gehöre leider zu den bedauernswerten Menschen, denen die Musen keine besondere Begabung in die Wiege gelegt haben – ich bin weder musikalisch noch künstlerisch noch sonst wie veranlagt, und über meine Handarbeiten wollen wir lieber schweigen…«

»Da sind Sie nicht die Einzige«, sagte Alwine ungerührt. »Eine besondere Begabung tut ja auch gar nicht not. Ich bin mir sicher, dass es irgendetwas auf dieser Welt gibt, dem auch Ihr Interesse gilt, etwas, mit dem Sie sich gern beschäftigen – denken Sie einmal darüber nach, und dann sehen wir, was wir daraus machen können!«

Hierüber brauchte Änne überhaupt nicht nachzudenken, denn es gab in der Tat etwas, mit dem sie sich überaus gern beschäftigte, lieber als mit allem anderen, und das seit dreiundzwanzig Jahren – genauer gesagt, seit sie gelernt hatte, die ersten Worte zu buchstabieren. »Bücher«, sagte sie spontan und nicht ahnend, welche weitreichenden Folgen diese Äußerung nach sich ziehen sollte, »ich lese gern, und ich liebe Bücher!«

Und nun sieh zu, was du daraus machst, setzte sie in Gedanken hinzu, auf jeden Fall werde ich damit vor Singspielen, Scharaden und Stickrahmen sicher sein…

Zu ihrer nicht geringen Überraschung zeigte ihre Mentorin sich hocherfreut. »Bücher – aber wie wunderbar, Fräulein von Schalck! Dann wird unsere schöne alte Bibliothek ein herrliches Betätigungsfeld für Sie abgeben – zumal Fräulein von Hasleben, unsere derzeitige Bibliothekarin, dringend Unterstützung gebrauchen kann.«

Fräulein von Hasleben, wer war das noch gleich? In Gedanken ging Änne die Gesichter am Esstisch durch, um dem Namen das passende zuzuordnen. Sie brauchte nicht lange in ihrer Erinnerung zu kramen – da war schon das Gesicht, ihrem eigenen Platz schräg gegenüber; ein Gesicht mit einem Lorgnon vor den Augen, einer angeheirateten Puttfuhs-Cousine als Freundin und einer wahrhaft übertriebenen Abneigung gegen Arme Ritter mit Minze-Sauce… Fast hätte sie laut aufgestöhnt. Wie konnte es nur angehen, dass ein einziger Mensch im Leben so viel Pech hatte? Erst diese, gelinde gesagt, gewöhnungsbedürftige Mentorin und dann von allen Damen des Stiftes ausgerechnet jene Schreckschraube, mit der sie nicht nur ihre Zeit, sondern auch noch die geliebten Bücher teilen sollte. Ach, hätte sie bloß den Mund gehalten! Selbst Gemüse mit Fräulein von Rothenborn war verlockender als Bücher mit Fräulein von Hasleben! Was hatte sie sich nur wieder eingebrockt! Zu allem Überfluss bedachte ihre gewöhnungsbedürftige Mentorin sie nun auch noch mit einem sehr forschenden Blick, den Änne – da sie in ihr die Urheberin ihres Elends sah – grollend zurückgab. Fräulein von Hohenhagen schien darauf etwas sagen zu wollen, besann sich dann aber anders und meinte nur: »Lassen Sie uns jetzt diesen Weg hier nehmen, damit Sie die restlichen Gebäude kennen lernen, die noch zum Stift gehören.«

Sie schlug einen breiten, von Rhododendren gesäumten Weg ein, der zu einer kleinen Häusergruppe führte. »Das große zweistöckige Haus, das ist die Propstei; Herrn Propst von Bellmann und seiner werten Gattin sollten Sie gelegentlich einen Besuch abstatten; auf so etwas legt sie nämlich Wert, die gute Frau Paula…«

Änne betrachtete die stuckverzierte Fassade der herrschaftlich wirkenden Villa, die zierlichen, an den Spitzen vergoldeten Gitterstäbe des Zaunes, die kugelförmig zurechtgestutzten Büsche, die pompöse Laube in Form einer chinesischen Pagode und die fast lebensgroßen Gipsstatuen der Göttinnen Flora und Fauna, die den Hauseingang flankierten und zwei schmiedeeiserne Lampen in den fülligen nackten Armen hielten. Falls dieses Arrangement das Machwerk der »guten Frau Paula« war, würde sie ihren Antrittsbesuch lieber noch ein wenig aufschieben.

»Jaja, das ist unsere Frau Pröpstin, wie sie leibt und lebt«, sagte Alwine, als habe sie Ännes Gedanken gelesen. »Am liebsten würde sie den ganzen Park auf diese Weise verschönern, wenn nicht Fräulein von Lindeck ein Machtwort gesprochen hätte. Die beiden Damen sind sich nicht sonderlich grün, das nur am Rande – dabei kennen sie sich schon aus Pensionatszeiten. Kommen Sie, wir wollen weiter!«

Schräg gegenüber der pröpstlichen Villa befand sich das Pastorenhaus, ein altes Fachwerkhaus mit spitzen Giebeln und einer Unmenge kleiner Fenster, das wie ein behäbiger Dampfer in einem Meer von Herbstblumen schwamm.

»Unser Pastor ist Herr Engelke«, berichtete Alwine. Welch ein passender Name für einen Pastor, dachte Änne bei sich. »Er ist natürlich nicht nur für das Stift zuständig, sondern gleichzeitig der Pfarrer der Gemeinde Hilgensee, aber nach alter Tradition wohnt er mit seiner Familie im Pastorenhaus auf dem Stiftsgelände. Seine Familie besteht jetzt allerdings nur noch aus seiner Ehefrau; die Kinder sind alle schon erwachsen und längst aus dem Haus. Nette Leute, die Engelkes.«

Damit führte ihre Mentorin sie zu dem dritten, deutlich bescheideneren Haus. Es lag neben dem Pastorenhaus, bewahrte zu diesem aber einen respektvollen Abstand.

»Hier haben Küster und Kantor ihre Wohnungen«, erläuterte Alwine. »Unser Kantor ist ein noch recht junger Mann, Theodor Meyse mit Namen. Er ist sehr tüchtig, ein richtiger Musikus, und ich möchte fast vermuten, dass er nach Höherem strebt als der Kantorstelle in einem unbedeutenden Damenstift. Sie werden ihn, ebenso wie Propst von Bellmann und Pastor Engelke, spätestens am Mittwoch bei unserer Abendandacht kennen lernen. Was unseren Küster betrifft, so ist das ein gewisser Sievers, ein alter Haudegen, der ein Bein im letzten Franzosenkrieg verloren hat und hier nun gewissermaßen das Gnadenbrot genießt. Ich fürchte allerdings, sein Hauptinteresse gilt seiner Branntweinflasche. Aber schließlich hat jeder Mensch seinen Dämon, ist es nicht so? Wir wollen also nicht wie der Pharisäer den Zöllner verachten…«

Sie schlug den Weg zurück zum Haupthaus ein, während Änne darüber nachsann, was wohl der Dämon ihrer Mentorin sein mochte.

»Schauen Sie mal, wer uns dort entgegenkommt«, sagte Alwine nach einer Weile und wies Richtung Haus. »Wenn das nicht Fräulein von Dechow und Fräulein von Güstrup sind, die Sie den Klauen Ihrer garstigen Mentorin entreißen wollen!« Sie sprach so laut, dass die Herannahenden es hören mussten. Doch schienen diese auf die Unartigkeit der Vikarin nicht viel zu geben; Leonie lachte unbekümmert wie über einen guten Witz, und Cornelie sagte milde: »Immer zu Scherzen aufgelegt, unser Fräulein von Hohenhagen – aber wenn es Ihnen recht ist, werte Frau Mentorin, dann würden wir Ihren Schützling jetzt wirklich gern zu einem Spaziergang entführen!«

»Aber bitte, nur keine Umstände«, sagte die werte Frau Mentorin in frostigem Ton. »Ich wünsche den Damen noch eine angenehme Promenade!« Und damit drehte sie sich auf dem Absatz herum und ging stracks ins Haus zurück.

»Es hätte nicht viel gefehlt, und sie hätte vor Ärger Funken gesprüht«, sagte Leonie vergnügt. »Gute alte Schlawine, warum ist sie aber auch immer so ungenießbar wie ein Gallapfel!«

»Ich weiß nicht, ob du ihr da nicht Unrecht tust, Leo«, sagte Cornelie nachdenklich. »Zugegeben, sie hat mitunter eine etwas schroffe Art, aber sie meint es bestimmt nicht böse. – Kommen Sie, Fräulein von Schalck, wir wollen Ihnen einen ganz bezaubernden Weg durch die Parkanlagen zum See hinunter zeigen.«

Und so wandelten die drei in schöner Eintracht auf den kiesbestreuten Wegen zwischen den von niedrigem Buchsbaum gesäumten Rabatten dahin, wo neben den farbenprächtigen Blumen des Herbstes die letzten Rosen ihren Duft verströmten.

»Die Rosen sind der ganze Stolz von Marenke, unserem Gärtner«, bemerkte Cornelie, Ännes Blick folgend. »Ich nehme allerdings an, dass Marie – also Fräulein von Rothenborn – ihm ein paar gute Ratschläge gegeben hat, denn unter ihren Händen gedeiht auch das bescheidenste Pflänzchen. In der Orangerie hat sie wahre Wunder vollbracht – sind Sie eigentlich schon dort gewesen?«

»Nein«, sage Änne. »Wir waren nur noch bei der Propstei und auf dem Wirtschaftshof. Fräulein von Lindeck war auch gerade da, zusammen mit dem Verwalter…«

»Was Sie nicht sagen!«, entfuhr es Leonie. »Sie haben bereits Herrn Winther kennen gelernt? Und wie ist Ihr Eindruck?«

Änne dachte an den Reitstiefel, der sie so ritterlich vor dem schrecklichen Hahn beschützt hatte, an die tiefe Verbeugung, die freundlichen Worte. »Er scheint ein Mann zu sein, der weiß, was sich gehört«, sagte sie zurückhaltend und spürte dann voller Unbehagen, dass sie bei diesen harmlosen Worten aus irgendeinem Grund errötete.

»Das ist wohl das Mindeste, was man von ihm sagen kann«, entgegnete Leonie. »Ich finde, er ist très charmant und gut aussehend noch dazu! Weit und breit das einzige Mannsbild, bei dem einem das Herz etwas schneller schlägt, nicht wahr, Fräulein von Schalck?«

Änne brachte vor Schreck keinen Ton heraus, wurde zu allem Überfluss aber noch ein bisschen röter. Zum Glück kam ihr jedoch Cornelie zu Hilfe: »Vermutlich ist es nur dein eigenes Herz, das schneller schlägt, Leonie! Ich wüsste von uns Damen nämlich kein anderes…«

»Du hast gut reden«, sagte Leonie giftig, »dir liegt ja schließlich Meyse zu Füßen – auch wenn Luise noch so süß trällert…«

Änne, die nichts so sehr hasste wie das, was man als »Sich-Daneben-Benehmen« bezeichnete, trat unruhig von einem Fuß auf den anderen und versuchte dem Gespräch eine unverfänglichere Wendung zu geben. »Ähm, Luise – das ist Fräulein von Bargen, nicht? – ist wohl recht musikalisch?«

Ihre beiden Begleiterinnen unterbrachen ihr Geplänkel und starrten sie verblüfft an. Dann brachen sie in schallendes Gelächter aus.

»Verzeihen Sie, Fräulein von Schalck«, sagte Cornelie schließlich, »wir betragen uns wirklich ganz ungehörig! Aber ich versichere Ihnen, dass Ihre Frage nicht einer gewissen Komik entbehrt. Die außerordentliche Musikalität unseres Nesthäkchens ergab sich nämlich etwas überraschend…«

»Sozusagen von einem Tag auf den anderen«, ergänzte Leonie, immer noch kichernd, »und zwar ziemlich genau, seitdem unser Kantor Theodor Meyse heißt. Er aber macht sich nicht das Geringste aus ihr; er schmachtet stattdessen nach Cornelie!«

»Leonie!«, rief Fräulein von Dechow. »Nun ist es aber genug! Jeder hier weiß, dass ich schreibe, und kein Mensch würde annehmen, dass ich dem Kantor Avancen mache, nur weil ich ihm hin und wieder einen kleinen Text für seine Kompositionen liefere!«

»Habe ich das richtig verstanden – Sie schreiben?«, fragte Änne in dem tapferen Bestreben, endlich eine Konversation in Gang zu bringen, wie sie sich gehörte.

»Jawohl, ich schreibe«, antwortete Cornelie hoheitsvoll. »Und nicht nur das – ich dichte auch. Man nennt mich bisweilen die Sappho von Hilgensee, wenn ich dies in aller Bescheidenheit sagen darf…«

Änne war beeindruckt. »Wäre es vermessen, wenn ich Sie bitten würde, eines Ihrer Werke für mich zu deklamieren?«

»Aber nein, das wäre es ganz und gar nicht«, antwortete die Poetin. »Es wäre mir sogar eine große Freude, Ihnen eines meiner