Hilma af Klint – »Die Menschheit in Erstaunen versetzen« - Julia Voss - E-Book

Hilma af Klint – »Die Menschheit in Erstaunen versetzen« E-Book

Julia Voss

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Beschreibung

Groß, radikal, ihrer Zeit voraus – Hilma af Klint, die Pionierin der abstrakten Malerei  Sie schuf mehr als 1000 Gemälde, Skizzen und Aquarelle und hat die Malerei revolutioniert. Schon vor Kandinsky oder Mondrian malte sie abstrakte Werke, die durch ihre Farben und Formen zutiefst beeindrucken. Und sie war eine Frau von großer Freiheit und Zielstrebigkeit, die sich bewusst den Regeln des männlich dominierten Kunstbetriebs entzog. Sie wusste, dass sie ihrer Zeit voraus war: Mit siebzig Jahren verfügte sie, dass ihre Bilder erst 20 Jahre nach ihrem Tod zu sehen sein sollten. Hilma af Klint war eine schwedische Malerin, deren Neuentdeckung als die kunsthistorische Sensation der vergangenen Jahre gilt. Auf Basis umfangreicher Recherchen erzählt Julia Voss jetzt das ungewöhnliche Leben dieser Ausnahmekünstlerin, zerstört zahlreiche Klischees und Mythen und zeichnet zugleich das Bild einer Epoche, in der die weltpolitischen Umbrüche nicht nur die Malerei revolutionierten.

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Seitenzahl: 733

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Julia Voss

Hilma af Klint – »Die Menschheit in Erstaunen versetzen«

Biographie

FISCHER E-Books

Inhalt

Für alle, die sich dafür eingesetzt haben, Hilma af Klint bekannt zu machen.

Lebensstationen von Hilma af Klint[1]

1862

Geburt am 26. Oktober auf Schloss Karlberg, in Solna bei Stockholm

1879

Teilnahme an ersten spiritistischen Séancen

1880

Besucht vorbereitende Malkurse an der Technischen Hochschule und an der Kunstschule von Kerstin Cardon; die zehnjährige Schwester Hermina stirbt

1882–1887

Studiert an der Königlichen Kunstakademie in Stockholm; besucht weiterhin Séancen von Bertha Valerius und außerdem von Huldine Beamish, der späteren Gründerin des »Edelweissförbundet«

1888

Akademiepreis für das Gemälde »Andromeda«

1888–1908

Bezieht ein Atelier in der Hamngatan 5 und nimmt regelmäßig an Gruppenausstellungen teil; Studienreisen nach Deutschland, Norwegen, Holland und Belgien

1891

Erhält zum ersten Mal selbst Botschaften aus der geistigen Welt

1896

Eintritt in den »Edelweissförbundet«; die spirituelle Gruppe der »Fünf« wird gegründet – zusammen mit Anna Cassel und drei weiteren Freundinnen, die zuvor auch dem »Edelweissförbundet« angehörten; die Sitzungen werden in Protokollen und automatischen Zeichnungen festgehalten

1898

Tod des Vaters

1900/1901

Arbeitet als Zeichnerin am Veterinärmedizinischen Institut in Stockholm, zusammen mit Anna Cassel

1903

Reist mit Anna Cassel nach Italien

1904

Erhält erste Voraussagen über das Ausführen »astraler Gemälde« durch das geistige Wesen Ananda im April; Eintritt in die Theosophische Gesellschaft im Mai

1906

Mit der Serie »Urchaos« beginnt im November die Arbeit am Zyklus »Gemälde für den Tempel«

1907

Die Serien »Eros«, »Die großen Figurengemälde«, »Die Zehn Größten« entstehen; »Die Fünf« lösen sich auf, und die Gruppe der »Dreizehn « bildet sich

1908

Drei weitere Serien entstehen, darunter »Evolution«; im April umfasst die erste Abteilung der »Gemälde für den Tempel« 111 Bilder; die Mutter erblindet, Hilma af Klint gibt ihr Atelier auf; erstes Treffen mit Rudolf Steiner in Stockholm

1910

Eintritt in die »Föreningen Svenska Konstnärinnor« (Vereinigung schwedischer Künstlerinnen), der die Malerin bis 1912 als Schriftführerin vorsteht; die Porträts des Physikers Knut Ångström und des Sprachwissenschaftlers Johan August Lundell entstehen

1912

Wiederaufnahme der Arbeit am Zyklus »Gemälde für den Tempel« mit »Eine weibliche Serie« und »Gruppe VIII/US Serie«

1913

Kauf des Seehauses Furuheim auf Munsö; stellt – zusammen mit Anna Cassel – spirituelle Gemälde beim internationalen Kongress der Theosophen im Juni in Stockholm aus; Beginn der Serie »Baum der Erkenntnis«

1914

Der Erste Weltkrieg bricht aus, und die Serie »Der Schwan« entsteht; Teilnahme an der Baltischen Ausstellung in Malmö

1915

Die Serien »Baum der Erkenntnis« und »Der Schwan« werden beendet; es folgt die Serie »Die Taube«; mit der Serie »Altarbilder« wird der Zyklus »Gemälde für den Tempel« abgeschlossen; er umfasst nun 193 Gemälde

1916

Wassily Kandinsky kommt nach Stockholm und stellt dort aus; die Serie »Parzifal« entsteht

1917

Das Atelierhaus auf Munsö wird eingeweiht; die Serie »Atom« entsteht

1918

Umzug nach Munsö, gemeinsam mit der Mutter und Thomasine Andersson

1919

Die Schrift »Blumen, Moose und Flechten« entsteht

1920

Tod der Mutter; die Serie zu den Weltreligionen entsteht; im Oktober erste Reise nach Dornach; bis 1930 folgen acht weitere Fahrten; Eintritt in die Anthroposophische Gesellschaft

1922

Hilma af Klint malt von nun an fast ausschließlich Aquarelle in der Nass-in-Nass-Technik; bis 1941 entstehen mehr als vierhundert Gemälde auf diese Weise

1924

Schreibt an Rudolf Steiner am 24. April mit der Bitte um Rat, wo ihre Gemälde einen dauerhaften Ort finden könnten; Tod Steiners am 30. März 1925

1926

Umzug nach Uppsala

1927

Reise nach Amsterdam im Herbst; Hilma af Klint schenkt dem Goetheanum in Dornach u.a. die Schrift »Blumen, Moose und Flechten« und die Serie »Baum der Erkenntnis«

1928

Reise nach London im Juli und Ausstellung von Bildern aus dem Zyklus »Gemälde für den Tempel« bei der »World Conference of Spiritual Science« im Friend’s House

1931

Entwirft ein spiralförmiges Tempelgebäude für die Insel Ven und zieht nach Helsingborg in Südschweden

1932

Mit dem Eintrag »+x« verfügt Hilma af Klint, dass ihre Werke erst 20 Jahre nach ihrem Tod gezeigt werden dürfen; die Aquarelle »Blitz über London« und »Kriegsausbruch in Spanien« entstehen

1934

Malt die Gedankenformen von Ananda, Gregor, Georg und Amaliel

1935

Umzug nach Lund

1937

Vortrag bei der Anthroposophischen Gesellschaft in Stockholm; af Klint erläutert die mediumistische Arbeitsweise und verteidigt diese; Anna Cassel stirbt

1938

Zeigt dem Neffen Erik af Klint im Ateliergebäude auf Munsö die »Gemälde für den Tempel«

1939

Der Zweite Weltkrieg beginnt

1940

Thomasine Andersson stirbt

1943

Die Künstlerin Tyra Kleen bietet an, die »Gemälde für den Tempel« in einem Neubau der Sigtuna-Stiftung aufzunehmen; af Klint lehnt ab; ihre geistigen Botschafter nennen sie eine »Mystikerin«

1944

Umzug im August zu Cousine Hedvig af Klint nach Djursholm, einem Vorort von Stockholm; stirbt am 21. Oktober nach einem Unfall

Einleitung

Fünf Dinge, die man über Hilma af Klint wissen sollte

Eine der folgenreichsten Entscheidungen im Leben der schwedischen Künstlerin Hilma af Klint fällt auf einen Tag, dessen genaues Datum wir nicht kennen. Überliefert ist nur der ungefähre Zeitraum, das Geschehen spielt sich in den späten zwanziger Jahren ab. Die Malerin ist fast siebzig Jahre alt, sie trägt dunkle schlichte Kleidung, wie üblich, und verbringt die Sommermonate mal wieder auf Munsö, einer Insel im Mälarsee, wo sich ihr Atelier befindet, neben einem einfachen Ferienhaus, nur wenige Meter vom Wasser entfernt. An diesem Tag lautet die Zusammenfassung der Vorgänge: Hilma af Klint vernichtet frühe Notizbücher und andere Dokumente. Was deren Ablauf anbetrifft, müssen wir uns an Wahrscheinlichkeiten halten. Verbrennt sie die Unterlagen? Oder werden sie zerrissen? Im See versenkt? Ist sie allein, hilft ihr eine Freundin, oder gibt es, im Gegenteil, eine Person, die versucht, sie abzuhalten? Der Zerstörungsprozess kann auf verschiedene Weisen abgelaufen sein. Vielleicht folgt er auf eine plötzliche Entscheidung, eilig, impulsiv, inmitten eines Chaos von aufflatternden Papieren.

Der umgekehrte Fall ist jedoch ebenfalls denkbar: Hilma af Klint sitzt an einem Tisch, ruhig, konzentriert, vor sich einen Stapel mit Notizbüchern und Papieren, den sie durchsehen will, um zu entscheiden, wie sie mit den Unterlagen verfahren soll. Diejenigen, die für das Vergessen bestimmt sind, legt sie auf die eine Seite. Auf die andere Seite solche, die sie der Zukunft vermachen möchte. Aufzeichnungen, die ihr unleserlich oder überarbeitungsbedürftig scheinen, werden noch einmal ins Reine übertragen. Mit Tinte schreibt sie Seite für Seite ab, was sie damals, mehr als zwanzig Jahre zuvor, mit Bleistift notierte. Für Schönschrift blieb keine Zeit, zu groß war die Sorge, etwas von dem zu verpassen, was ihr die Stimmen diktierten. Georg, Gregor, Gidro, Esther, Amaliel oder Ananda heißen die unsichtbaren Wesen, die mit ihr sprechen und sie auf Ideen bringen. Sie haben nie damit aufgehört.

Die Überarbeitung der alten Dokumente zieht sich über Wochen, Monate und Jahre. Am Ende schichtet af Klint alle Aufzeichnungen übereinander, von denen sie glaubt, dass sie nicht überdauern sollen. Im Garten macht sie ein Feuer und wirft sie hinein. Die Asche trägt sie zum Wasser, den Mälarsee. Sie läuft die Böschung hinunter, es sind nur wenige Schritte. Dann steigt sie über die Felsen, beugt sich nach vorne und lässt die grauen Flocken ins Weite hinausschwimmen.

Könnte es so gewesen sein? Das letzte Szenario ist jedenfalls das wahrscheinlichste. Alle, die die Künstlerin kannten, beschreiben sie als eine nüchterne Person, zurückhaltend, ausgeglichen und freundlich.[1] Zu Ausbrüchen scheint sie nicht geneigt zu haben. Da sie selbst über die Zerstörung Buch führte, wissen wir, dass diese über Jahre hinweg regelmäßig stattfand. Ihr Anfang mag überraschend gekommen sein, irgendwann jedoch müssen die Dinge einen geordneten Gang genommen haben.[2] Im Zuge der Überarbeitung traf die Künstlerin noch eine weitere Entscheidung: »Alle Arbeiten, die 20 Jahre nach meinem Tod geöffnet werden sollen«, schreibt sie im Jahr 1932, »tragen das obenstehende Zeichen.«[3]+x steht darüber (Tafel 1). Die Zeichenkombination hat die Wirkung eines Katapults, sie schleudert das Werk nach vorne, aus der Vergangenheit in die Zukunft, von der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein in die zweite. Fast alle Notizbücher sind mit +x beschriftet.

Die beiden Zeichen sind aber nicht nur eine Anweisung für die Nachwelt. Sie haben auch den Charakter eines Schutzsymbols, wie eine Art Kainsmal im positiven Sinne. In der Bibel gibt Gott Kain das Zeichen, »dass ihn nicht jeder erschlage, der ihn findet«. Auch die Künstlerin will ihr Werk behüten, vor der Gegenwart und dem Urteil ihrer Zeitgenossen. Sie sollen nicht das letzte Wort haben.

Wer ist diese Frau am Mälarsee, die ihr Werk wie in einer Zeitkapsel in die Zukunft schießt? Die auf kommende Generationen vertraut und damit auf Menschen, die noch nicht geboren sind? Aus heutiger Sicht ist sie eine Sensation. Hilma af Klint ist die bedeutendste Wiederentdeckung in der modernen Kunstgeschichte. Bei ihrem Tod hinterlässt sie mehr als 26000 Seiten Text und 1300 Gemälde. Ihr Erbe ist das Museum ihres Lebens, und der Gang hindurch zeigt wieder und wieder, dass sie mit allen Regeln brach, die man versuchte, ihr aufzubürden, als Kunststudentin an der Akademie von Stockholm, als Frau um die Jahrhundertwende oder als Künstlerin der Moderne. Viele Jahre bevor Maler wie Wassily Kandinsky oder Kasimir Malevich die Abstraktion zu ihrer Erfindung erklärten, begann sie damit, ungegenständlich zu arbeiten, zuerst im kleinen Format, dann in enormer Größe. Als die Künstlerin damit anfing, war sie vierundvierzig Jahre alt, und der Kalender zeigte den November 1906 an.

Die Erinnerung an diese Werke wurde nach ihrem Tod gelöscht und es hat fast ein Jahrhundert gebraucht, sie zurückzubringen. »Die Versuche, die ich unternommen habe«, schreibt Hilma af Klint im selben Jahr, als sie sich auf den neuen Weg begibt, »werden die Menschheit in Erstaunen versetzen«.[4] Warum hat die Wiederentdeckung so lange gedauert? Wie die Malerin es vorausgesehen hat, ist die Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts durch ihre Gemälde kräftig durchgeschüttelt worden. Tiefgreifende Veränderungen gehen häufig mit heftiger Ablehnung einher, und wie zäh der Widerstand auch in ihrem Fall sein sollte, zeichnete sich bereits ab, als ihr Schaffen das erste Mal einer großen Öffentlichkeit vorgestellt wurde: 1986 in Los Angeles, mehr als vierzig Jahre nachdem sie gestorben war. Die Schau im Los Angeles County Museum trug den Titel »The Spiritual in Art: Abstract Painting 1890–1985« und bot einen neuartigen Überblick zur Geschichte der ungegenständlichen Malerei. In Katalog und Ausstellung wurde die Abstraktion zu den vielseitigen spirituellen Bewegungen in Beziehung gesetzt, die sich um die Jahrhundertwende im Westen ausgebreitet hatten. Die Leihgaben kamen aus renommierten Institutionen, Museen in München, Paris, Moskau oder New York hatten ihre Meisterwerke geschickt, darunter Meilensteine der Abstraktion; aus dem Solomon R. Guggenheim Museum zum Beispiel stammte Kandinskys »Bild mit weißem Rand« von 1913. In diesen Kanon schlugen af Klints Gemälde wie Meteoriten ein. Plötzlich hingen ihre riesigen Leinwände Seite an Seite mit denen von Kandinsky, Kupka, Malevich oder Mondrian. Die Werke der bis dahin völlig unbekannten Schwedin schienen aus dem Nichts zu kommen, und das Urteil fiel negativ aus.[5] Der amerikanische Kunstkritiker Hilton Kramer schrieb abschätzig:

Hilma af Klints Gemälde sind im Grunde bunte Diagramme. Ihnen einen Ehrenplatz neben den Werken von Kandinsky, Mondrian, Malevich und Kupka zu geben ist absurd. Af Klint ist einfach keine Künstlerin in dieser Klasse und – darf man es sagen? – würde nie diese inflationäre Aufmerksamkeit erhalten, wenn sie keine Frau gewesen wäre.[6]

Nach Hilton Kramer sollte die Kunstgeschichte bleiben, wie sie war, mit den bekannten Männern an ihrer Spitze. Er war nicht der Einzige, der so dachte. Um Hilma af Klint wurde es wieder still.[7]

Es dauerte weitere drei Jahrzehnte, bis das Moderna Museet in Stockholm den großangelegten Vorstoß unternahm, der Künstlerin doch noch einen Platz im Kanon der ungegenständlichen Malerei zu sichern, als »Pionierin der Abstraktion«. Im Jahr 2013 zeigte die Institution die größte Ausstellung zu ihrem Werk, die es bis dahin gegeben hatte, und schickte die Schau über mehrere Stationen durch Europa, auch nach Berlin, in den Hamburger Bahnhof – Museum für Gegenwart.[8] Wieder stieß Hilma af Klints Malerei auf Widerstand. Wieder gab es Stimmen, die behaupteten, die Werke hätten in der Geschichte der ungegenständlichen Kunst nichts zu suchen. Die Einwände wurden nun vorsichtiger formuliert, leiser und abwägender, aber sie kamen von prominenter Seite. Aus New York, dem Museum of Modern Art, hieß es von der Kuratorin Leah Dickerman:

Hilma af Klint malte in Abgeschiedenheit, sie stellte nicht aus und nahm keinen Anteil an den öffentlichen Diskussionen ihrer Zeit. Ich finde, was sie tat, ist absolut faszinierend, aber ich bin mir nicht einmal sicher, ob sie selbst ihre Gemälde für Kunstwerke hielt.[9]

Es brauchte einen dritten Anlauf, wie im Märchen, um der Geschichte eine neue Wendung zu geben. Als das Solomon R. Guggenheim Museum in New York im Jahr 2018 eine Retrospektive ausrichtete, mit dem Titel »Hilma af Klint. Paintings for the Future«, wurden alle Rekorde gebrochen. Mehr als 600000 Besucher kamen, um die Bilder zu sehen, so viele wie zu keiner anderen Ausstellung seit den Gründungstagen des Museums. Der Katalog stieg zur meistverkauften Publikation des Hauses auf. Die »New York Times« titelte: »Hilma who? No More!«[10] Seit Oktober 2019 zeigt das MoMA eines von af Klints Bildern in der neugehängten Sammlung – eine Leihgabe. Die Außenseiterin der Kunstgeschichte ist zum Star aufgestiegen.

Der Künstlerin hätte gefallen, dass über ihren Erfolg nicht zuletzt mit den Füßen abgestimmt wurde – den Füßen der Menschen, die sich vor das Guggenheim Museum gestellt haben, Tag für Tag, Woche für Woche, in die lange Schlange, die regelmäßig von der 5th Avenue um den Block herum bis hinunter zur Madison Avenue reichte. Es steht außer Frage, dass Hilma af Klint in den hinteren Reihen der Kunstgeschichte verblieben wäre, wenn die Kuratoren des Guggenheim Museums nicht den Mut gehabt hätten, für das Werk der Künstlerin das gesamte Haus freizuräumen; oder wenn es nicht den unermüdlichen Einsatz der Axel und Margaret Ax:son Johnson Foundation gegeben hätte, die sich seit 2013 für die akademische Aufarbeitung von Hilma af Klints Werk einsetzt und begleitend zu den Ausstellungen viele Tagungen organisiert hat.[11]

Der Durchbruch hätte aber auch nicht ohne das Publikum gelingen können, ohne die Öffentlichkeit, die Besucher, ihre Begeisterung und ihr Staunen. Af Klints ungewöhnliche Bilder sind von ihnen geteilt und verbreitet worden, über unzählige Netzwerke und weit über die Vereinigten Staaten hinaus. Ein Feuerwerk von Fragen hat sich angeschlossen. Was motivierte die Künstlerin? Was wollte sie erreichen? Wer schreibt die Kunstgeschichte? Wer wird ausgeschlossen und weshalb?

Dieses Buch ist der Versuch, Antworten auf diese Fragen zu finden und dabei in einige Winkel der Geschichte Licht zu werfen, die von der Künstlerin selbst systematisch im Dunkeln gelassen wurden. Was sie der Nachwelt vermacht hat, gleicht einem großen Haus mit unzähligen Zimmern, Kammern und Gängen. Einige Räume übergab Hilma af Klint uns hell erleuchtet, bei anderen schaltete sie das Licht aus, manchmal verriegelte sie die Tür und warf den Schlüssel weg. Das früheste Dokument, das sie uns, der Nachwelt, hinterlassen hat, stammt von 1879, da war sie siebzehn Jahre alt. Die letzten Aufzeichnungen sind von 1944, dem Jahr, in dem sie starb, im Alter von fast zweiundachtzig Jahren.

Dass Hilma af Klints malerisches Œuvre fast vollständig überliefert wurde, ist ein Glücksfall und eine absolute Ausnahme in der Kunstgeschichte. Die Spur von Künstlern, die wenig oder keinen Erfolg zu Lebzeiten haben, verliert sich häufig nach ihrem Tod und lässt sich kaum noch rekonstruieren. Gegen dieses Vergessen traf Hilma af Klint früh Maßnahmen. Der Plan allerdings, ihren Zeitgenossen das letzte Wort zu verweigern, wäre nicht aufgegangen, wenn es nicht jemanden gegeben hätte, der ihr dabei half, die Werke in die Zukunft hinüberzuretten, in die Zeit nach ihrem Tod. Zu diesem Komplizen machte die Malerin den Sohn ihres Bruders, Erik af Klint (1901–1981), den sie testamentarisch zum Haupterben erklärte. Ihr Neffe hielt sich an die Anweisungen und lagerte die Bilder und Notizbücher auf dem Dachboden des Wohngebäudes, in dem er in Stockholm lebte. Dort blieben sie für mehr als zwei Jahrzehnte, bis zum Jahr 1966, als die Kisten geöffnet wurden, um die Leinwände aufzurollen und abzufotografieren. Sechs Jahre darauf gründete Erik af Klint die Stiftung Stiftelsen Hilma af Klints Verk, und die Anthroposophische Gesellschaft in Schweden stellte Räumlichkeiten zur Verfügung, in denen der Nachlass aufbewahrt werden konnte. Im Jahr 1979 übernahm Gustaf af Klint, der älteste von Eriks Söhnen, die Leitung als Stiftungsvorsitzender. Johan af Klint, der jüngere Bruder, folgte ihm 2011 nach und sorgte dafür, dass der Nachlass seiner Großtante 2017 in ein professionelles Museumsdepot überführt wurde.[12] Seit diesem Jahr leitet Ulrika af Klint die Stiftung, die Tochter von Gustaf af Klint.

 

Als ich das erste Mal zusammen mit Johan af Klint das Archiv besuchte, erwartete mich dort eine Überraschung. Ich war mit dem Plan angereist, eine Biographie zu schreiben, und hoffte, einige Lücken schließen zu können, die mir in der Literatur aufgefallen waren. Stattdessen stieß ich jedoch auf Dokumente, die zu dem, was ich über die Künstlerin zu wissen glaubte, überhaupt nicht passten. Je mehr ich recherchierte, desto klarer wurde mir, dass sich viele Annahmen in der kunsthistorischen Literatur verselbständigt hatten und einige Behauptungen, die ich für Tatsachen hielt, faktisch nicht stimmten. Mir wurde bewusst, dass auch ich einem Phantombild aufgesessen war, das über Jahrzehnte durch sämtliche Bücher, Texte und Kataloge geistern konnte, ohne hinterfragt zu werden.[13] In vielen Hinsichten musste ich also bei null anfangen. Ich habe daraufhin Schwedisch gelernt und die Arbeit an der Biographie zu meiner Hauptbeschäftigung gemacht.

Die Hilma af Klint, die ich nach und nach im Archiv entdeckte, lag unter zwei Schichten verborgen. Für die erste hatte die Künstlerin selbst gesorgt, als Herausgeberin ihres Archivs und Lektorin ihrer Schriften. Privates ließ sie verschwinden, fast vollständig, vor allem deshalb, weil sie ihr Werk für weitaus wichtiger hielt als ihre Person. Keine Tagebücher, kaum Briefe, nur wenig, womit der Alltag nachvollzogen werden könnte. Die mehr als hundert Notizbücher handeln hauptsächlich von ihren Einsichten in höhere Welten und lassen nur selten Rückschlüsse auf anderes zu, etwa das tägliche Geschehen in Stockholm, auf der Insel Munsö oder den weiteren Orten, an denen die Künstlerin Zeit verbrachte. Sie legte deutlich mehr Wert darauf, den Stimmen und Visionen Raum zu geben, die sie ihr Leben lang begleiteten und die ihr, davon war sie überzeugt, Zugang zu höheren, geistigen Sphären ermöglichten. In ihrem Archiv bietet uns Hilma af Klint daher eine fast unpersönliche Oberfläche.

Bei dem Selbstporträt, das sich auf dem Umschlag dieses Buchs befindet, handelt es sich um eine Ausnahme. Es ist das einzige, das überliefert wurde, und dass es kein Datum trägt, ist bezeichnend.[14] Dem eigenen Aussehen schenkte af Klint wenig Beachtung, es um seiner selbst willen festzuhalten, wäre ihr wie Zeitverschwendung vorgekommen. Das Bild zeigt sie daher nicht in einer Alltagssituation, sondern während einer Séance, in einen Umhang gekleidet vor einem mystisch anmutenden blauen Hintergrund. Vermutlich malte sie das Aquarell, um es einer der Freundinnen zu schenken, die in ihrer Geschichte eine große Rolle spielen und ohne die alles anders gekommen wäre, im Leben und in der Kunst.

Die zweite Schicht bildet eine Mauer von Stereotypen. Hilma af Klint ist nicht die einzige Malerin, die es für unwichtig hielt, über sich selbst zu berichten. Von vielen Künstlerinnen höre ich bis heute, dass es doch um die Kunst gehen soll und nicht um die Person, die das Werk hervorbringt. Diese Bescheidenheit ist sympathisch, aber mit ihr wird eine Chance vertan. Die Leben von Frauen werden so lange nicht erzählt, bis alle glauben, es gebe nichts zu erzählen. Die Person wird daraufhin ebenso unterschätzt wie das Werk, die Kunst wirkt auf einmal wie eine Privatangelegenheit, weil keine Verbindungen überliefert sind, zur Entstehung, zur Geschichte, zu Ereignissen oder anderen Kunstschaffenden und ihren Arbeiten. Ohne diese Informationen, ohne Kontext und Umfeld, schrumpft ein Œuvre, es wird kleiner und kleiner, bis es überschaubar und belanglos wirkt, wie ein Insekt, das in einem Regentropfen eingeschlossen ist. Es sollte zu denken geben, dass die Biographien von Künstlerinnen oft viel schlechter erforscht sind als die ihrer männlichen Kollegen.

Das Ungleichgewicht in dieser Frage hat dazu geführt, dass die Werke von Männern im Universum der Kunstgeschichte die großen Planeten geblieben sind. Künstlerinnen scheinen dazu verdammt, wie Trabanten um sie zu kreisen, mal näher, mal weiter entfernt, aber auf festgelegten Bahnen und ohne je selbst ins Zentrum gelangen zu können. In dieser Logik wurde auch Hilma af Klints Arbeit herabgestuft. Ihre frühe abstrakte Malerei ist häufig wie ein Glückstreffer behandelt worden, ein Sechser im Lotto, zufällig und ungeplant. Im Gegensatz dazu gelten die Gemälde der männlichen Zeitgenossen als das Ergebnis von Leistung und Intellekt, ihre Malerei wird als durch und durch absichtsvoll beschrieben und der Erfolg als verdient gewürdigt. Ohne sich auch nur die Mühe zu machen, mehr herauszufinden, wurde af Klint zur »crazy woman« erklärt. Es war der bequemste Weg, sie loszuwerden, wie die Künstlerin Rebecca H. Quaytman geschrieben hat. Von Quaytman stammt auch die treffende Beobachtung, dass die Werke lange Zeit als »wertlos« betrachtet wurden, im buchstäblichen Sinne, da sie nicht auf dem Kunstmarkt gehandelt werden.[15]

Während meiner Recherchen zu Hilma af Klint haben sich viele der Urteile, die in der Vergangenheit gefällt worden sind, als haltlos herausgestellt. Die Mauer, die sich vor die Künstlerin und ihr Werk geschoben hatte, erwies sich als brüchig und dünn, als viel Pappe mit Putz darauf, wie eine Rigipswand. Einige falsche Annahmen sind so häufig wiederholt worden, dass es mir wichtig scheint, die gängigsten Vorurteile und Irrtümer von Anfang an aus dem Weg zu räumen. Vorweg werden daher die fünf wichtigsten Dinge benannt, die man über das Leben und Werk der Malerin wissen sollte:

1. Hilma af Klint stellte ihre abstrakten Bilder aus.

Zu den hartnäckigsten Mythen, die sich um das Werk ranken, gehört die Geschichte von den »geheimen Bildern«, zusammen mit der Vorstellung, die Künstlerin habe zu Lebzeiten nicht ausgestellt. Der Ursprung dieser Legende geht auf eine Veröffentlichung aus dem Jahr 1988 zurück, die den Titel »Hilma af Klints heimliche Bilder« trägt.[16] Der Autor, Åke Fant, war ein schwedischer Anthroposoph und Kunsthistoriker, und wir verdanken seinen Forschungen unendlich viel, was unser Wissen über Leben und Werk der Malerin angeht. In diesem wesentlichen Punkt irrte Fant jedoch. Af Klint hielt ihre Gemälde nicht geheim, auch wenn diese Behauptung bisher von fast allen Publikationen weitergetragen wurde. Von Beginn an war sie überzeugt, dass es sich bei den Werken, die sie von 1906 an schuf, um die besten Bilder handelte, die sie je gemalt hatte. Die längste Zeit ihres Lebens versuchte sie daher, Möglichkeiten zu finden, die Gemälde öffentlich zu zeigen. Die erste Gelegenheit bot sich bereits 1913 im Rahmen einer Gruppenausstellung, die in Stockholm veranstaltet wurde und deren Ausrichter eine der spirituellen Gesellschaften war, in denen die Künstlerin im Laufe ihres Lebens Mitglied wurde.[17] Im Jahr 1928 gelang es ihr schließlich, nach vielen Versuchen, eine eigene Ausstellung zu organisieren, die sie in London zeigte. Die ablehnenden Reaktionen führten dazu, dass sie eine neue Strategie entwickelte. Wie einleitend bereits geschildert, entschied sie, dass ihr Werk erst zwanzig Jahre nach ihrem Tod gezeigt werden solle, und führte dafür die Formel +x (Tafel 1) ein. Die Stockholmer und Londoner Ausstellungen, ihre Vorgeschichte und Folgen werden in diesem Buch zum ersten Mal geschildert.[18]

2. Hilma af Klint reiste.

In der Literatur ist Hilma af Klint fast durchgängig als eine Künstlerin beschrieben worden, die aus Schweden kaum hinauskam und sich wenig für die Geschichte ihrer Profession zu interessieren schien.[19] Thema waren bisher nur die Reisen, die sie im Alter von fast sechzig Jahren ins schweizerische Dornach führten, in das von Rudolf Steiner gegründete Goetheanum, das Zentrum der Anthroposophie. Das Bild könnte nicht unvollständiger sein. Von der Fahrt nach London war bereits die Rede. Norwegen, Deutschland, Holland und Belgien besuchte sie außerdem. Eine weitere Reise führte sie darüber hinaus bis nach Italien, zu den Werken der Renaissance, eine Erfahrung, die ihre Kunst nachhaltig prägte. Wer ihre Gemälde verstehen will, muss sie daher auf diesen Reisen begleiten, in Museen und Kirchen. Auch das geschieht im vorliegenden Buch zum ersten Mal.

3. Hilma af Klint entwickelte eine eigenständige spirituelle Lehre.

Es gibt eine Anekdote, die wieder und wieder zu Hilma af Klint erzählt worden ist und in deren Zentrum der bereits genannte Steiner steht, der Gründer der Anthroposophie. Der Geschichte zufolge soll Steiner 1908 das Atelier der Künstlerin in Stockholm besucht haben. Darum hatte Hilma af Klint ihn gebeten, so weit stimmt die Erzählung. Angeblich soll sie von Steiner daraufhin scharf kritisiert worden sein und die Voraussage erhalten haben, dass ihre Werke erst in fünfzig Jahren verstanden werden würden. Für beides, die Kritik vor Ort und die Prophezeiung, gibt es keine Anhaltspunkte in ihren Notizbüchern aus diesen Jahren.

Wie das Zusammentreffen anders verlaufen sein könnte, wird auf den kommenden Seiten noch Thema sein. Wichtig scheint mir, bereits einleitend darauf hinzuweisen, dass Hilma af Klint auf keine der Lehren, für die sie sich interessierte, reduziert werden kann. Sie bezog sich früh auf Lehren der Rosenkreuzer, war von 1904 an Mitglied der Theosophischen Gesellschaft in Schweden und trat später den Anthroposophen bei. Vor allem aber schuf sie einen eigenen spirituellen Kosmos, den sie ein Leben lang erweiterte.[20] Auf die großen Fragen des Lebens gibt Hilma af Klint überraschende Antworten, mit Bildern und Texten. Ihre eigene Sicht der Dinge soll hier im Zentrum stehen.

4. Hilma af Klint hatte eine ungewöhnlich breite naturwissenschaftliche Bildung.

Zum ersten Mal werden in diesem Buch auch die naturwissenschaftlichen Zeichnungen behandelt, die sich im Archiv des Veterinärmedizinischen Museums im schwedischen Skara befinden und die aus der Zeit der Jahrhundertwende stammen. Hilma af Klint war als Zeichnerin angestellt worden, um ein Handbuch zur Pferdechirurgie zu illustrieren. Das naturwissenschaftliche Interesse durchzieht ihre Gemälde, und sie benennt Serien nach den großen wissenschaftlichen Revolutionen ihrer Zeit, von »Die Evolution« aus dem Jahr 1908 bis zu »Atom« von 1917. Die Künstlerin sah keinen Widerspruch darin, sich beidem gleichermaßen zu widmen, der Naturwissenschaft und der spirituellen Welt. Einseitigkeit lag ihr nicht, und ihre ganzheitliche Weltsicht soll daher hier beschrieben werden.

5. Hilma af Klint plante die Revolution der Gesellschaft durch die Kunst.

Eine ihrer besten Ideen konnte die Malerin nicht verwirklichen. Ihr Plan sah vor, dass wir ihre Bilder in einem mehrstöckigen Gebäude sehen würden, das spiralförmig durchlaufen wird, von Kreis zu Kreis, höher und höher, bis in die Spitze hinein, wo sich ein Observatorium befinden sollte. Ihre Skizzen für das Projekt nannte sie »Entwurf für einen Tempel«. Der Bau, so lautete der Wunsch der Künstlerin, sollte zum Ursprung und Kraftzentrum einer neuen Bewegung werden.

Als im Herbst 2018 die bereits genannte Ausstellung zu Hilma af Klint im Guggenheim Museum eröffnete, in dem berühmten Gebäude von Frank Lloyd Wright, war man diesem Vorhaben so nahe gekommen wie noch nie. Die Künstlerin hatte sich eine spiralförmige Architektur gewünscht. Nun wurde ihr Werk in einer gezeigt.

Trotzdem scheint es mir wichtig, darauf hinzuweisen, dass af Klint ein Abschied von der Kunstwelt vorschwebte, wie wir sie kennen. Sie hatte Größeres vor, als sich einen Platz in der Geschichte der Malerei zu sichern. Ihre Werke, daran glaubte sie fest, sollten uns dabei helfen, alles, was die Welt unnötig klein macht, hinter uns zu lassen. Eingefahrene Denkmuster und starre Ordnungssysteme gehörten für sie ebenso dazu wie die Kategorien von Geschlecht und Klasse, Materialismus und Kapitalismus, die Vorstellung von einem Morgen- und Abendland und die Trennung von Kunst und Leben. Ihre Gedanken dazu sind ein fortlaufendes Thema in diesem Buch.

 

Halt. An dieser Stelle würde Hilma af Klint widersprechen. Aus ihrer Sicht wäre bereits jetzt zu viel über sie geschrieben worden, über sie als Individuum. Doch sie war nicht alleine, darauf würde sie bestehen. Es gab zwei große Lieben in ihrem Leben, die Künstlerin Anna Cassel und die Krankenschwester Thomasine Andersson. Ohne diese Frauen wäre die Geschichte, die hier erzählt werden soll, nicht denkbar. Ohne Liebe, davon war die Künstlerin überzeugt, war Erkenntnis nicht zu haben. Um zur Weisheit zu gelangen, schrieb sie im Dezember 1919, »müssen zwei Individuen den Weg dorthin zusammen gehen, denn der Pfad macht es unmöglich für einen Einzelnen weiter fortzuschreiten.«[21]

Sie war sich sicher, dass wir diese Zeilen eines Tages lesen würden.

Prolog

Rückkehr nach Uppsala

Die alte Dampflok, die sich den Weg von Stockholm nach Uppsala bahnt, zischend und rauchend, zählt zu den letzten ihrer Art. Fast überall sind die Bahnstrecken elektrifiziert worden, Oberleitungen laufen parallel zu den Gleisen. Das Reisen ist damit angenehmer geworden, leiser und weniger schmutzig. Technische Neuerungen breiten sich in ganz Schweden aus, wie im Zeitraffer; das Land ist in wenigen Jahrzehnten zu einer Industrienation aufgestiegen. Im Fall der modernen Eisenbahnlinien müssen aber noch einige Jahre vergehen, bis sie auch Uppsala erreichen, die alte Universitätsstadt nördlich von Stockholm.

Es ist Mai 1930. In der Dampfeisenbahn sitzen Hilma af Klint und ihre Lebensgefährtin Thomasine Andersson. Die Frauen kennen sich seit fast zwanzig Jahren, seit Andersson, die Krankenschwester ist, bei der Behandlung und Pflege von af Klints Mutter geholfen hat. Aus der Bekanntschaft wurde eine Freundschaft, aus der Freundschaft eine Liebe und aus der Liebe eine Wohngemeinschaft. Irgendwann sind beide unzertrennlich. Sie leben, arbeiten und reisen zusammen. Andersson, die fehlerfrei Deutsch spricht und schreibt, hat Texte von af Klint übersetzt, ihre Handschrift ist unverkennbar, regelmäßig und schnörkellos, wie gedruckt.

Für ihre Reise in die Schweiz, von der sie nun zurückkehren, hatten die Freundinnen die günstigsten Fahrkarten gekauft, wie immer. Das Geld ist knapp. Hohe Ansprüche, was Komfort anbetrifft, haben jedoch beide nicht, und die Bescheidenheit in diesen Fragen hat sie unabhängig gemacht, es liegt eine große Freiheit darin. Es ist nicht das erste Mal, dass sie in die Schweiz gefahren sind, aber dies war ihre letzte Reise dorthin.

Der Frühling, der den Süden bereits in ein sattes helles Grün getaucht hat, ist nun, mit einigen Wochen Verspätung, auch im Norden eingetroffen, noch spärlich und zaghaft. In der Schweiz haben längst die Glyzinien geblüht, während der Zugfahrt wurden dann die Blumen und Blätter weniger, von Station zu Station, bis zur Ankunft am Bahnhof von Uppsala.

Das Zickzack der vielen Zugverbindungen hat Hilma af Klint mit Punkten und Strichen in ihre Notizbücher gezeichnet. Die Rückreise hat im schweizerischen Dornach begonnen, dann ging es weiter über Basel, quer durch Deutschland, bis nach Berlin, Rostock, Stralsund und schließlich Sassnitz, wo die Fähre nach Schweden übersetzt. Zu den neuesten Umstellungen gehören die deutschen Fahrpläne mit einer 24-Stunden-Zählung. Vorher haben Unterstreichungen dafür gesorgt, dass Reisende wussten, ob ihr Zug um sieben Uhr abends oder morgens fuhr. Nun heißt der Abend »neunzehn Uhr« und der Morgen »sieben Uhr«. Das alte System scheint Hilma af Klint einfacher. Sie malt sich für das neue ein Uhrenziffernblatt auf und trägt beide Zeiten ein: »3/15, 4/16, 5/17« etc.[22]

Informationen, die sie für ihre Fahrten braucht, kritzelt sie stets an die Ränder ihrer Notizbücher. So bleibt Platz für die Dinge, die ihr wichtiger scheinen. Skizzen in Museen. Skizzen von Abbildungen in Magazinen oder Büchern. Kleine Porträts von Mitreisenden. Lektüreempfehlungen. Adressen. Gedanken. Vokabeln. Unterwegs und auf Reisen zu sein kennt sie aus Kindertagen, es ist eine Familientradition. Die Männer der af Klints sind seit Generationen Marineoffiziere, und einige von ihnen haben die Welt umsegelt.

Diese letzte Zugreise ist zu mehr als nur einer Fahrt zurück in die Heimat geworden, sie markiert einen neuen Lebensabschnitt und ist Ende und Aufbruch zugleich. Hilma af Klint und Thomasine Andersson haben, nach vielen Gesprächen, zwei Entscheidungen getroffen. Sie wollen Uppsala, wo sie fünf Jahre lang gewohnt haben, verlassen und nach Südschweden ziehen.[23] Sie sehnen sich nach der Küste, dem Meer, nach einem milderen Klima, der Nähe zum Kontinent und zu Kopenhagen. Außerdem wollen sie nie wieder die beschwerliche Reise antreten, die sie in den vergangenen Jahren so häufig in die Schweiz geführt hat, immer an denselben Ort, nach Dornach, wo das Goetheanum steht, das von Rudolf Steiner gegründete Zentrum der Anthroposophie. Die Aufenthalte dort haben sich zu einer immer größeren Enttäuschung ausgewachsen, von Jahr zu Jahr. Die anfängliche Vorfreude ist einer Anspannung gewichen, dann kamen Nervosität und Ratlosigkeit, schließlich Wut. Gegen eine Wand sind sie gerannt, das sehen sie jetzt deutlich. Die Künstlerin ist siebenundsechzig Jahre alt, Thomasine Andersson ist acht Jahre jünger. Es gibt keinen Spielraum für falsche Illusionen.

Af Klint spürt eine Unruhe, die ihr vertraut ist, seit dem Jahr 1906, als sie anfing, Bilder zu malen, die nichts mehr mit dem zu tun hatten, was ihr an der Akademie beigebracht worden war, und die seitdem nicht aufgehört haben unvergleichlich zu sein, obwohl mehr als zwei Jahrzehnte vergangen sind. Wenn die Malerin zurückdenkt, staunt sie über die Kraft, die früher alles möglich zu machen schien. Von den Schmerzen in den Händen hatte sie noch keine Vorstellung, inzwischen hält sie das Rheuma an manchen Tagen davon ab, einen Pinsel auch nur in die Hand zu nehmen, besonders bei Kälte, während der Wintermonate.

Damals aber, als sie noch in Stockholm lebte, konnte sie nicht aufhören zu malen. Eimerweise musste die Farbe herangeschleppt werden, in das Atelier mit den großen Fenstern im obersten Stock. Das Gebäude, in dem sie arbeitete, lag in der Innenstadt, mit Blick auf den Kungsträdgården, einen öffentlichen Park. Manchmal hörte sie die Musik, die aus Blanchs Café kam, dem Künstlerlokal, das sich zwei Etagen tiefer befand, im Erdgeschoss. Unter ihren Füßen feierten dann die Gäste, es wurde gesungen, getanzt, getrunken und gegessen, während ihr die Leinwände über den Kopf wuchsen. Ihre Bilder wurden immer größer, manche maßen mehr als drei Meter, es sind die Dimensionen von Scheunentoren (Tafel 2).

Die Farbe klatschte auf die Leinwände, die Spritzer kann man immer noch sehen, wenn man nah an die Gemälde herantritt. Jeder Tag wurde zum Experiment. Mal legte sie die Bilder auf den Boden und lief beim Arbeiten auf ihnen herum, um sich dann später über die Abdrücke zu ärgern, die ihre Schuhe hinterließen.[24] Mal lehnte sie die Werke an die Wand, dann regnete die Farbe den Pinsel hinunter und trocknete sofort fest. Sie verbrauchte Unmengen davon, Orange, Blau, Rosa und Lila, später Rot, Schwarz und Weiß.

Ohne die Hilfe ihrer Freundinnen hätte sie den Wettlauf gegen die Zeit nicht gewinnen können. Die Bilder stellten sich schneller in ihrem Kopf ein, als sie malen konnte, eines nach dem anderen, Formen, Flächen, Zeichen und Symbole. Nicht eine Sekunde dachte sie daran, die neuen Gemälde in einen der dicken, verzierten Rahmen zu stecken, die an der Akademie üblich waren, um den Eindruck vorzutäuschen, man würde durch ein Fenster blicken, auf eine Landschaft, auf Personen oder irgendein anderes Stück dessen, was gemeinhin als Realität galt. Illusionen hervorzurufen interessierte sie nicht. Im Gegenteil. Nichts von dem, was sie mit ihren Pinseln erschuf, gehörte zur Wirklichkeit, wie man sie kannte. Sie hatte die Gabe erhalten, die Dinge so zu sehen, wie sie nicht waren, sondern sein könnten. Ihre Werke handelten nicht von Gegenständen oder Grenzen, auf ihnen zeigte sich das Leben selbst, unverstellt, in seiner Beweglichkeit und Schönheit, schwirrend, surrend und kreisend. Am Ende wurden es 193 Bilder, gemalt in neun Jahren, von 1906 bis 1915, mit einer vierjährigen Pause dazwischen. Alle zusammen nannte sie »Gemälde für den Tempel«.

Auch jetzt fühlt Hilma af Klint wieder eine Art Glühen, eine Aufregung, die sich nicht nur aus der Erinnerung speist, aus den Gedanken an ihre Malerei von früher. Etwas Neues beginnt, es ist wie eine elektrische Spannung, die man spürt, ohne sie sehen zu können. Äußerlich ist alles beim Alten geblieben, nichts hat sich verändert, und das Bahnhofsgebäude von Uppsala sieht aus wie immer. Zusammen mit Thomasine Andersson trägt sie die Koffer nach Hause. Es ist ein kurzer Weg. Richtung Fluss, über die Brücke, vorbei am Dom mit seinen großen Türmen, die wie angespitzte Bleistifte in den Himmel aufragen, dann abbiegen in die Skolgatan 17, zu dem zweistöckigen Haus. Die Wohnung ist einfach, aber schön gelegen. Von hier aus lässt sich alles zu Fuß erreichen. Die Innenstadt, die Universität und der alte botanische Garten, der berühmt ist, weil Carl von Linné dort lehrte und forschte.[25]

In den Koffern der beiden Frauen befinden sich dunkelblau eingeschlagene Bildbände, es sind zehn an der Zahl. Auf ihren Seiten kleben Abbildungen von den »Gemälden für den Tempel«.[26] Jedes Werk wird einmal als Fotografie gezeigt, in Schwarzweiß, und einmal, in demselben verkleinerten Format, als Aquarell und in Farbe (Tafel 3, 4 und 5). Die Bücher sind ein Museum im Koffer, das Lebenswerk en miniature, das viel mit den Frauen gereist ist, um die Gemälde außerhalb von Schweden vorstellen zu können. Für den Transport sind die Leinwände selbst viel zu groß, die Bände dagegen haben ein handliches Querformat. Trotzdem schienen sie deutlich leichter, als af Klint und Andersson mit ihnen zum ersten Mal in die entgegengesetzte Richtung gefahren waren, von Schweden in die Schweiz, zehn Jahre zuvor. Als sie das Koffermuseum damals nach Dornach brachten, war die Neugierde kaum auszuhalten gewesen. Welche Reaktionen würde es geben, auf die Bilder, die man nun allen vorführen konnte, in den blauen Bänden, dessen Seiten die schönsten Ausstellungssäle sind?

In das Goetheanum auf dem kleinen Berg von Dornach, nur zehn Kilometer südlich von Basel, hatten af Klint und Andersson die größten Hoffnungen gesetzt. Von 1920 an mieteten sie Jahr für Jahr ein günstiges Zimmer vor Ort, zuerst in Arlesheim, dann direkt in Dornach. Sie lernten noch das erste Goetheanum kennen, den verspielten Bau mit seinen beiden Kuppeln, der aus Holz errichtet worden war und in der Silvesternacht zum 1. Januar 1923 vollständig niederbrannte (Fig. 1). Sie sahen, wie der Nachfolgebau fertiggestellt wurde, der dieses Mal aus Beton bestand, eine Architektur von fast furchteinflößender Massivität. Während ihrer Aufenthalte pilgerten die Frauen täglich hoch auf den Hügel, vorbei an den vielen kleineren Häusern, die nach und nach um das Goetheanum herum gebaut wurden. Sie liefen am Heizhaus vorbei, das wie eine hochschießende Flamme aussieht, oder am Glashaus mit seinen Holzschindeln, die wie Rinde die Außenwände bedecken. Je näher sie dem Haupthaus kamen, desto seltener wurden reckteckige Fenster oder Fassadenschnitte. Wer von Steiners Kolonie noch nie gehört hatte, konnte die Siedlung für eine optische Täuschung halten, mit ihrem unverwechselbaren Stil aus runden und mehreckigen Formen. Hätte Jonathan Swift noch gelebt, der englische Schriftsteller, hätte er seine berühmteste Romanfigur vielleicht nach Dornach geschickt und das Abenteuer »Gulliver in Oktagonien« genannt.

Fig. 1:

Postkarte vom Goetheanum in Dornach, ca. 1919, Stiftelsen Hilma af Klints Verk

In der Gemeinde, die am Goetheanum lebte und arbeitete, wären viele damit einverstanden gewesen, für den Einfall eines Schriftstellers gehalten zu werden. Nur war Steiner (1861–1925), der die Siedlung 1913 gegründet hatte, noch viel mehr als das. Studierter Mathematiker, Herausgeber von Goethes Naturwissenschaftlichen Schriften, Vortragsredner, Autor, Stückeschreiber, Bildhauer, Künstler, Architekt, Esoteriker und Erfinder der Anthroposophie, einer Weltanschauungslehre oder Religion, je nachdem, was man davon hielt. Steiner, der 1861 in Kraljevec geboren wurde, einer Ortschaft, die damals zum ungarischen Teil der k.u.k. Monarchie gehörte und heute zu Kroatien, trug stets einen schwarzen Anzug mit einem weißen Hemd darunter. Sein Aufzug ließ ihn wie einen Priester aussehen, mit dunklen Haaren und stechenden großen Augen.

Steiners Glaube daran, dass eine andere Welt ebenso möglich sei wie eine bessere Gesellschaft, haben weder Hilma af Klint noch Thomasine Andersson aufgegeben, auch wenn sie dem Goetheanum jetzt den Rücken kehren. An der Utopie halten sie fest. Außerdem teilen sie weiterhin Steiners Ansicht, dass Erleuchtung keine exklusive Erfahrung sein müsse, die nur wenigen Auserwählten zuteilwerde, sondern dass sie für jeden zugänglich sei. »Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?« heißt eine von Steiners bekanntesten Veröffentlichungen, die möglichst vielen dabei helfen soll, den Materialismus hinter sich zu lassen, um zur nächsten geistigen Ebene vorzudringen.[27] Das Goetheanum verstand der Gründer nicht als einen weltfremden Rückzugsort, und es ging nie darum, sich abzusondern oder zu verkapseln. Die Gesellschaft sollte auf ein neues Fundament gestellt werden, in allen Bereichen, von der Politik über die Schule und Bildung bis hin zur Landwirtschaft. Ohne diese Bodenhaftung, davon war Steiner überzeugt, würde die geistige Wende nicht erfolgen. Die Herausforderung bestand darin, beides miteinander zu verbinden, den Alltag und die höheren Welten. In Dornach konnte man eben noch in andere Sphären aufsteigen und danach die Straßenbahn nehmen, um in weniger als einer halben Stunde in die nahe gelegene Stadt zu fahren, nach Basel.

Die schweizerischen Behörden hatten die Kolonie erst misstrauisch beäugt, nachdem Steiner das Grundstück von einem wohlhabenden Zahnarzt geschenkt worden war, der selbst ein Landhaus vor Ort besaß. Es gab Anschuldigungen, die Anthroposophen wären eine gefährliche Sekte und Steiner, ihr Anführer, würde »Vampirismus« praktizieren, was auch immer man sich darunter vorstellen sollte. Dann waren aber viele Touristen aus aller Welt angereist, um Zeit in Dornach zu verbringen, einige Tage, Wochen oder Monate. Sie belebten das Geschäft in den umliegenden Gemeinden. Zimmer wurden vermietet. Gasthäuser füllten sich. Das Baugewerbe erhielt Aufträge. Die Umsätze stiegen, und die Vorbehalte wurden kleiner.

Über die Reisen nach Dornach hat Hilma af Klint Buch geführt.[28] Neunmal ist sie mit Thomasine Andersson dort gewesen. Zum ersten Mal 1920, das letzte Mal 1930. Die Vorträge, die im Goetheanum gehalten wurden, schrieben beide mit, in Dutzenden Notizbüchern. Auf einer dieser Seiten sind die Reisedaten aufgeführt. Der längste Aufenthalt fiel ins Jahr 1924, fast sechs Monate waren sie geblieben, bis in den September hinein. Der letzte Aufenthalt war dagegen sehr kurz. Die Freundinnen reisten Mitte April an, Anfang Mai packten sie schon wieder ihre Koffer. Danach kehren sie nicht mehr zurück, und Hilma af Klint wird Ende des Jahres 1930 zornig über die Verhältnisse auf dem Hügel notieren: »Damit ist das Schicksal der Anthroposophischen Gesellschaft besiegelt.«[29]

Wie konnte es dazu kommen? Ausgerechnet die Bewegung, von der Hilma af Klint immer geglaubt hat, sie würde sich an die Spitze setzen und die Gesellschaft verändern, fiel hinter ihre Erwartungen zurück. Die Enttäuschung ist umso größer, als es Umbruchzeiten sind, vielleicht sogar Aufbruchszeiten, in denen sich die Dinge zum Guten zu wenden scheinen. Frauen zum Beispiel dürfen inzwischen wählen, in fast allen Ländern, die von der Künstlerin und ihrer Freundin so häufig auf den Fahrten Richtung Alpen durchquert worden sind. In Dänemark besteht das Frauenwahlrecht seit 1915, in Deutschland seit 1918, in den Niederlanden seit 1919, in Schweden seit 1921.

In jedem Land haben die Frauenbewegungen einen etwas anderen Verlauf genommen, wie Wasserströme, die sich nach einem langen Regen durch die Erde wühlen. In Deutschland hat es einen Weltkrieg gebraucht, den Sturz der Monarchie, den Matrosenaufstand und die Novemberrevolution. Am Ende riefen die Sozialdemokraten die Republik aus und mit ihr das Frauenwahlrecht. In Dänemark, das während des Ersten Weltkriegs neutral geblieben war, reichten Wahlen, um die Kräfteverhältnisse zu verschieben. Die Konservativen hatten das Frauenwahlrecht zuerst verhindert, zwei Jahre später verloren sie so viele Stimmen, dass sie nicht mehr in der Regierung waren und die Reformer sich durchsetzen konnten. Auch Holland hatte an den Kämpfen des Ersten Weltkriegs nicht teilgenommen und führte das passive Frauenwahlrecht schon ein, als sich die Nachbarländer noch Schlachten lieferten. »Passiv« hieß, dass Frauen als Volksvertreterinnen gewählt werden konnten, allerdings nur von Männern. 1919 folgte das aktive Wahlrecht: Frauen konnten nun auch Frauen wählen.

Hilma af Klint und Thomasine Andersson sind seit 1921 wahlberechtigt. Die ältere Schwester der Künstlerin hat selbst für das Wahlrecht gekämpft, sie heißt Ida und war Mitglied im Fredrika-Bremer-Verband, einer politischen Frauenorganisation, die nach ihrer Gründerin benannt wurde, einer Schriftstellerin.[30] Wie Ida glaubt auch Hilma af Klint, dass sich Frauen für ihre Rechte engagieren müssen. Ihre Mittel sind allerdings die der Kunst.

Die Ausnahme von der Regel ist die Schweiz, das Land, das Hilma af Klint in ihrem Leben am häufigsten bereist hat. Dort laufen die Uhren rückwärts. Ein Volksentscheid nach dem anderen hat es abgelehnt, der weiblichen Bevölkerung das Stimmrecht zu geben, und einigen scheint auch das nicht zu reichen. Nach dem Ersten Weltkrieg haben ausgerechnet Frauen eine Vereinigung gegründet, die sich zum Ziel gesetzt hat, das Frauenwahlrecht zu verhindern. Mit Erfolg, für viele weitere Jahrzehnte.[31]

Hilma af Klint hat nie einer politischen Vereinigung angehört, auch wenn ihre Sympathien dem linken Parteienspektrum gelten, wie sich immer wieder in ihren Notizbüchern zeigt. Die spirituellen Gesellschaften, in denen sie im Laufe ihres Lebens Mitglied geworden ist, setzen sich alle für Gleichberechtigung ein, wenigstens auf dem Papier. »Herkunft, Glaube, Geschlecht und Hautfarbe« sollen keinen Unterschied machen, heißt es etwa in der Satzung der Theosophischen Gesellschaft, die 1875 in New York gegründet wurde und bald darauf auch in Europa Fuß fasste. Den Theosophen trat af Klint 1904 bei, die Schriften der Gründerin, Helena P. Blavatsky, standen bereits zuvor in ihrem Bücherregal.[32] Aus der Theosophie ging schließlich die Anthroposophie hervor, als Rudolf Steiner mit der Bewegung von Blavatsky, deren deutsche Sektion er leitete, brach und eine eigene Gesellschaft ins Leben rief. Hilma af Klint unterschrieb ihre Mitgliedsurkunde bei den Anthroposophen 1920 in Dornach.[33]

Auch Steiner hat die Emanzipationsbewegung unterstützt. »Was die Frau ihrer Natur nach wollen kann, das überlasse man der Frau zu beurteilen«, schrieb er bereits vor der Jahrhundertwende, als solche Sätze noch eine absolute Seltenheit waren.[34] Als Leiter der Anthroposophischen Gesellschaft setzte er seine Überzeugungen auch in die Tat um und vergab Führungspositionen an Frauen, zum Beispiel an Elisabeth Vreede, die Vorsitzende der mathematisch-astronomischen Sektion des Goetheanums. Steiner glaubte nicht, dass Erleuchtung eine Frage des Geschlechts wäre. Das Christentum und die anderen großen Religionsgemeinschaften sehen das anders. Aus ihrer Sicht ist es ausgeschlossen, höhere Ämter nicht mit Männern zu besetzen. Auch die protestantische Staatskirche in Schweden hält an der Tradition fest, bis in die fünfziger Jahre hinein.

Trotzdem, obwohl es in der Anthroposophischen Gesellschaft mehr Freiheiten für Frauen gegeben hat als an den meisten anderen Orten, ist es für Hilma af Klint nicht einfach gewesen dort zu sein. Über die Jahre hat sie viele Bekanntschaften geknüpft, ihre Adressbücher sind voll mit Namen und Anschriften. Sie versprach zu schreiben, nach Deutschland, Holland, England oder in die Vereinigten Staaten, und hat es doch nur selten getan.[35] Ins Gespräch ist man in Dornach immer schnell gekommen, schließlich drehte sich alles um die Kunst. Um Theater, Tanz, Bildhauerei und Malerei, jedes Jahr haben im Goetheanum Ausstellungen stattgefunden. Die Künstlerin besuchte viele davon, notierte sich die Namen, was sie sah und ob es ihr gefiel. »Schön«, steht da als Kommentar zu einer Landschaft im Notizbuch, »nicht schön« zu einem Porträt.[36] Das Problem war jedoch, dass sie nichts davon beeindruckte. Im Grunde kann sie sich nicht einmal für die Kunstwerke begeistern, die von Steiner geschaffen worden sind oder auf seine Entwürfe zurückgehen. Als Denker schätzt af Klint ihn über alles, sie hat fast sämtliche Schriften und Bücher von ihm gelesen, manche mehrmals. Aber als Bildhauer? Maler? In ihren Notizen nennt sie ihn »Dr. Steiner«, durchgehend, fast ohne Ausnahme, es klingt nach einem Gelehrten, aber nicht nach einem Künstler. Skizzen hat sie nur von den Glasfenstern angefertigt, den ersten, die sich noch im alten Goetheanum befanden, jenem Kuppelbau aus Holz, der beim Brand zerstört wurde.[37] Von keinem anderen Werk gibt es in ihrem Archiv Zeichnungen, weder von Skulpturen noch von Gemälden, obwohl diese in Dornach allgegenwärtig sind. Es ist eine auffällige Leerstelle.

Allerdings, das ist der Widerspruch, hätte af Klint gerne gewusst, was Steiner von ihrer Kunst hielt. Wer, wenn nicht Steiner, sollte ihre Malerei und wohin sie führt verstehen? Vielleicht würde er sogar erkennen – so hoffte sie, als er noch lebte –, dass ihre Bilder über das hinausgehen könnten, was er selbst mit seinen Werken erreichte. Dornach schien ihr lange der beste Ort für ihre Kunst, warum wollte Steiner das nicht einsehen?

Der Austausch mit Steiner, den sie so sehr herbeisehnte, kam jedoch nie wirklich zustande. Schon 1908, als er sie in ihrem Atelier besuchte, gab es dafür zu wenig Zeit. Steiner war viel beschäftigt, sein Ruf eilte ihm voraus, er war immer auf dem Weg zum nächsten Vortrag, auf der Durchreise, bei der Arbeit an einer weiteren Publikation. Dass ihm auch am Goetheanum die Muße fehlte, sich ihre Vorschläge in Ruhe anzuhören, war enttäuschend. Die wenigen Bemerkungen, zu denen er sich hinreißen ließ, zuerst in Stockholm, dann in Dornach, hat sie festgehalten. Af Klint nimmt sich vor, die Anmerkungen zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal durchzugehen, nach dem Umzug nach Helsingborg.[38]

Fest steht, dass die Stimmung am Goetheanum nach Steiners Tod schnell kippte und ein Streit ausbrach, vor dem Hilma af Klint und Thomasine Andersson schließlich die Flucht ergriffen haben. Steiner starb am 30. März 1925. Noch im Auto, in dem seine engsten Vertrauten von der Beerdigung zurückfuhren, vom Basler Krematorium aus, soll ein Streit um die Urne ausgebrochen sein und darum, wer über sie bestimmen durfte. Die unwürdige Auseinandersetzung war, wie sich herausstellte, nur ein Auftakt, und es folgten immer weitere.[39]

Af Klint und Andersson trafen 1925 zu spät in Dornach ein, um Steiner noch einmal zu sehen, sie kamen erst Anfang April. Die nicht enden wollenden Richtungskämpfe im Goetheanum machten es ihnen schließlich leicht, die Fahrt von 1930 zu ihrer letzten zu erklären. An af Klints Kunst hatte niemand, der zur neuen Leitung im Goetheanum gehörte, Interesse gezeigt.

Die Entscheidung, all dem ein Ende zu setzen, macht den Kopf wieder frei. Kein Warten mehr, kein Abgewiesenwerden, keine weiteren Reisen nach Dornach. Schluss mit den Versuchen, die Anthroposophische Gesellschaft von ihrer Kunst zu überzeugen. Weg aus Uppsala, in den milderen Süden von Schweden, näher zum Kontinent. Was sich noch auf der Zugreise schwer anfühlte, wird mit einem Schlag leicht.

Als ob sie genau darauf gewartet hätten, melden sich nun wieder die vertrauten Stimmen, die Hilma af Klint in der Vergangenheit so häufig zu Meisterwerken angespornt haben. Vor fast einem Vierteljahrhundert wiesen sie der Malerin in Stockholm den Weg zu den großformatigen abstrakten Gemälden. Jetzt sprechen sie erneut in einer wichtigen Angelegenheit vor. Der Ton ist der gleiche geblieben, freundlich und respektvoll, es gibt keine Anweisungen oder Befehle. Stattdessen machen sie ihr ein Angebot. »Willst Du einen Auftrag annehmen von Deinen Freunden und Führern, die unsichtbar gegenwärtig sind?«, fragen sie, und Hilma af Klint schreibt es im Dezember 1930 auf. Sie muss überlegen. Würden ihre Kräfte reichen? Wäre der Auftrag mit Steiners Lehren vereinbar? Dann willigt sie ein, und schon bald erscheinen die ersten Skizzen zu einem spiralförmigen Tempel auf den Seiten ihres Notizbuchs.[40]

Im Herbst 1931 packen Hilma af Klint und Thomasine Andersson in Uppsala die Koffer. Sie verlassen die Wohnung, schließen die Tür ab und kehren nicht wieder zurück. Das wenige, das sie besitzen, haben sie nach Helsingborg vorausgeschickt. Ihr Zug legt mehr als sechshundert Kilometer zurück, er fährt quer durch Schweden, von Osten nach Westen und immer weiter nach Süden, bis er in Helsingborg eintrifft. Die Stadt riecht nach Meer, und man hört die Rufe der Möwen. Von ihrem neuen hellen Wohnhaus aus können die Freundinnen über das Wasser schauen, den Öresund, bis hinüber nach Dänemark.[41] Von hier aus ist es nicht weit zur Insel Ven, die in der Meerenge liegt. Dort soll der Tempel für Hilma af Klints Gemälde errichtet werden. Auch das hält sie in ihrem Notizbuch fest.

I.Familiengeschichte, Kindheit und Jugend in Stockholm

Mary Wollstonecraft besucht Schweden und ärgert sich

Als die Engländerin Mary Wollstonecraft Ende des 18. Jahrhunderts Schweden zum ersten und letzten Mal bereist, ist sie entsetzt. Wollstonecraft ist Schriftstellerin und Philosophin, und zu ihren Hauptanliegen gehören Fragen der Gerechtigkeit, insbesondere die der Gleichberechtigung von Frauen. Ihr Buch mit dem Titel »Die Verteidigung der Frauenrechte« hat in ganz Europa hohe Wellen geschlagen. Sie fordert darin, Mädchen und Jungen gleichermaßen zu unterrichten, und verlangt ein Recht auf Bildung für beide Geschlechter. »Lehrt sie zu denken!«, lautet ihre Maxime, die sie an diejenigen richtet, die für die Erziehung der Töchter verantwortlich sind und damit für die nächste Frauengeneration.

Schon was England und Frankreich Frauen und Mädchen zumuten, empfindet sie als nicht hinnehmbar. Schweden aber schlägt dem Fass den Boden aus. Das nordische Land scheint ihr besonders rückständig, und in ihren Reisebeschreibungen schildert sie, teils verblüfft, teils verärgert, »wie weit die Schweden noch von dem richtigen Begriff einer vernünftigen Gleichheit entfernt sind«.[42] Große Standesunterschiede, so Wollstonecraft, würden die Gesellschaft prägen. Jeder träte nach unten, so gut es ginge, um die Demütigungen, die am eigenen Leib erfahren werden, weiterzugeben. »Besonders«, schreibt sie, »behauptet das männliche Geschlecht fast immer die Würde des seinigen durch die Unterdrückung des weiblichen.«[43] Im Verlauf ihrer Reise besucht sie die Städte der Westküste, Helsingborg, Falkenberg, Göteborg und Trollhättan. Dänemark und Norwegen bereist sie auch, Letzteres erscheint ihr im Vergleich am fortschrittlichsten. Auf dem Kontinent sind die Verhältnisse mit der Französischen Revolution in Bewegung geraten, in Schweden aber scheint die Zeit einfach stillzustehen.

Als Mary Wollstonecraft ihren Reisebericht verfasst, ist sie siebenunddreißig Jahre alt und befindet sich selbst in einer schwierigen Lage. Der Vater ihrer Tochter weigert sich, sie zu heiraten. Dass diese Entscheidung endgültig ist, erfährt sie nach der Rückkehr aus Skandinavien. Die Schriftstellerin ist damit alleinerziehende Mutter und erlebt tagtäglich den Ehrverlust, der aus gesellschaftlicher Sicht mit ihrer Situation einhergeht. Die Geringschätzung von Frauen, die sie in Schweden beobachtet hat, kann sie nicht anders als persönlich nehmen – die eigenen Erfahrungen färben ihre Aufzeichnungen eine weitere Nuance dunkler.

Mary Wollstonecraft stirbt bald darauf, im Jahr 1797, bei der Geburt ihrer zweiten Tochter. Das Kind stammt aus der Ehe mit einem Schriftsteller und Sozialphilosophen, den Wollstonecraft heiratete, als sie bereits schwanger war. Die Tochter der beiden wird die umfassende Erziehung durchlaufen, die von der Mutter für Mädchen gefordert worden war. Als junge Frau schreibt sie einen der bedeutendsten Romane des 19. Jahrhunderts. Mary Wollstonecraft Shelley ist erst einundzwanzig Jahre alt, als sie das Buch »Frankenstein oder der moderne Prometheus« veröffentlicht.

Spielen das 18. Jahrhundert und das Schweden, das Wollstonecraft so fassungslos macht, eine Rolle für Hilma af Klint? Für ihren eigenen Weg und das, was sie Jahrzehnte später erleben wird? Es ist das Verdienst einer amerikanischen Kunsthistorikerin, die fast zweihundert Jahre nach Wollstonecraft geboren wurde, den Nachweis dafür erbracht zu haben, dass die Weichen für Künstlerkarrieren bis ins 20. Jahrhundert hinein früh gestellt wurden, weit vor der Geburt. Für die längste Zeit der Kunstgeschichte bildeten Herkunft und Umwelt den Strom, der die Biographien wie Treibholz mit sich riss, ohne dass die Personen selbst Richtung und Schnelligkeit hätten bestimmen können. Diese Einsicht formulierte 1971 Linda Nochlin in ihrem berühmt gewordenen Aufsatz mit dem Titel »Why Have There Been No Great Women Artists?«.

Nochlin, die als Professorin am Vassar College im Bundesstaat New York lehrte, benötigte nur wenige Seiten, um mit einer jahrhundertealten Vorstellung aufzuräumen und ihr Fach auf neue Füße zu stellen. Bis zu ihrer Veröffentlichung galt es als ausgemacht, dass Talent oder Begabung die wichtigsten Voraussetzungen dafür seien, um große Werke zu schaffen. Nochlin aber stieß sich an einem Widerspruch. Warum nämlich gab es dann, wendete sie ein, so wenige herausragende Frauen in der Geschichte der Kunst? Auf ihre Frage fand sie selbst die Antwort: Weil Künstlerinnen bis weit ins 20. Jahrhundert hinein nicht gefördert wurden, keine Ausbildung erhielten, nicht an den Akademien studieren durften und damit auch nie in die Verlegenheit kamen, den Auftrag zu erhalten, die Sixtinische Kapelle in Rom auszumalen. Den Frauen, so Nochlin, wurde pauschal die Eignung abgesprochen, und damit sie den Gegenbeweis nicht antreten konnten, wurden ihnen alle erdenklichen Steine in den Weg gelegt. Ein weibliches Genie habe, heißt es an einer Stelle ihres Aufsatzes polemisch, so schlechte Startbedingungen wie ein Tennisspieler, der am Nordpol zur Welt kommt.[44] Nicht Originalität oder gar Widerständigkeit waren demnach die Schlüssel zu großer Kunst. Wer etwas werden wollte, musste, so Nochlin, zuerst einmal weiß, männlich und bürgerlich sein. Erst danach ging es um Begabung.

Neben der Frage des Geschlechts behandelt Nochlin in ihrem Aufsatz noch mit einiger Ausführlichkeit die des Standes. Auch für Vertreter des höheren Adels nämlich, so die Begründung, war es lange Zeit nicht möglich, eine Künstlerkarriere anzutreten. Zum Ausschluss führte – wie bei den Frauen – nicht der Mangel an Talent, sondern die Erziehung. Für Aristokraten galt es als unschicklich, eine handwerkliche Ausbildung zu durchlaufen und Kunstwerke zum Broterwerb zu erschaffen. Folglich brachte auch der Adel lange Zeit keine großen Künstler hervor.

In welche Vorstellungswelt wird Hilma af Klint also 1862 hineingeboren? Welche Weichen wurden bereits gestellt, welche Türen sind offen, welche geschlossen? Für diese Fragen ist Mary Wollstonecrafts Reisebericht eine erste aufschlussreiche Quelle. Ihre Schilderungen führen uns durch ein völlig anderes Schweden, als wir es heute kennen.[45] Das Land, das die Engländerin besucht, ist noch nicht die Heimat von Pippi Langstrumpf, Ronja Räubertochter oder Nils Holgersson. Niemand hat von Bullerbü gehört oder träumt davon, die Ferien in der Natur zu verbringen, in einem kleinen rot gestrichenen Holzhaus. Astrid Lindgren oder Selma Lagerlöf sind so unbekannt wie Alfred Nobel, der Erfinder des Dynamits und Stifter der nach ihm benannten Preise. Noch ist die Bevölkerung arm, und eine autoritäre Staatskirche wacht über ihren Glauben. Erst 1914 endet die letzte große Auswanderungswelle, in deren Verlauf mehr als eine Million Schweden das Land verlassen haben. Die Errungenschaften des modernen Wohlfahrtsstaats liegen noch in weiter Ferne. Schweden gilt weder als freigeistig noch als eine Nation von Erfindern und kreativen Unternehmern. Die Volvo Car Company muss noch gegründet werden, ebenso wie die Popgruppe ABBA oder der Musikstreamingdienst Spotify.

Als Wollstonecraft Schweden bereist, verfügt Uppsala zwar bereits über eine traditionsreiche Universität mit gutem Ruf. Gelehrte von dort bewundert man auch im Ausland, wie etwa den Botaniker Carl von Linné oder den Astronomen und Physiker Anders Celsius. Beide werden jedoch nicht für die Regel gehalten. Die Zeiten, in denen das Land auch berühmte weibliche Persönlichkeiten hervorbrachte, scheinen ganz vergangen zu sein. Christina von Schweden, die als »Semiramis des Nordens« verehrt wurde, regierte als Königin bis 1654, dann dankte sie ab, verließ ihr Geburtsland, trat zum Katholizismus über und starb in Rom. Dort war fast dreihundert Jahre zuvor auch Birgitta von Schweden begraben worden, die Mystikerin und Gründerin des Erlöserordens, die mit sechsundvierzig Jahren ausgewandert war, den Papst beraten hatte und heilig gesprochen wurde.