Himmel, Hölle – und zurück ins Leben - Jan Ullrich - E-Book

Himmel, Hölle – und zurück ins Leben E-Book

Jan Ullrich

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Beschreibung

Er gilt als einer der größten Sportler, die das Land je gesehen hat. 1997 gewann Jan Ullrich als bislang erster und einziger Deutscher die Tour de France. In den folgenden Jahren entfachte er mit seinen Duellen gegen Lance Armstrong und Marco Pantani eine nie dagewesene Radsport-Euphorie - und ließ Millionen von Menschen vor den Bildschirmen bei jedem Rennen mitfiebern. Doch nach seinem kometenhaften Aufstieg, folgte ein tiefer Fall. Nach Doping-Vorwürfen im Jahr 2006 wurde Ullrich von der Tour der France ausgeschlossen. Er beendete seine Profikarriere und zog sich aus der Öffentlichkeit beinahe vollständig zurück. Die Nachrichten um ihn rissen nicht mehr ab. Alkohol- und Drogenmissbrauch, Unfälle, Depressionen, Entzugskliniken - und schließlich der komplette Absturz auf Mallorca, bevor er sich dann schließlich langsam zurück ins Leben kämpfte. Nun erzählt er erstmals ausführlich von seinem tiefen Fall. Von seiner Kindheit in Rostock, von seinen größten Erfolgen, auf die seine dunkelsten Stunden folgten. Und was er aus all diesen Episoden gelernt hat – und weitergeben möchte. Die Geschichte von Jan Ullrich ist die Geschichte von einem Ausnahmesportler, der alle seine Grenzen überschreiten musste - um endlich seine Mitte und seine Lebensfreude wiederzufinden.

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Seitenzahl: 308

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Buchvorderseite

Titelseite

JANULLRICH

mit Dennis Sand

HIMMEL, HÖLLE – UND ZURÜCK INS LEBEN

Impressum

Wichtiger Hinweis

Die im Buch veröffentlichten Empfehlungen wurden von Verfasser und Verlag sorgfältig erarbeitet und geprüft. Eine Garantie kann dennoch nicht übernommen werden. Ebenso ist die Haftung des Verfassers bzw. des Verlags und seiner Beauftragten für Personen-, Sach- und Vermögensschäden ausgeschlossen.

Auch wenn eine gendergerechte Sprache wünschenswert ist, gibt es aus Sicht des Verlages bisher keine befriedigende, gut lesbare Lösung. Der leichteren Lesbarkeit zuliebe haben wir des Öfteren von der Doppelung männlicher und weiblicher Formen Abstand genommen. Selbstverständlich liegt es uns fern, dadurch einen Teil der Bevölkerung zu diskriminieren.

© 2024 NEXT LEVEL Verlag,NXT LVL GmbH, An der Dornwiese 2, 82166 Gräfelfing www.next-level-verlag.deAlle Rechte vorbehaltenCo-Autor: Dennis SandLektorat: Christiane Geldmacher, BrembergKorrektorat: Christiane OttoSatz: Satzwerk Huber, GermeringUmschlaggestaltung: www.b3k-design.de, Andrea Schneider & diceindustriesCoverfoto: ©Axel GrossISBN Print: 978-3-949458-72-9ISBN E-Book (PDF): 978-3-949458-73-6ISBN E-Book (EPUB, Mobi): 978-3-949458-74-3

Inhalt

Vorwort
I  KAMPFGEIST
Der unsichtbare Sohn
Das einsamste Kind der Welt
Der Traum vom silbernen Diamant
Der erste große Wettkampf und eine neue Freundschaft
Ein Sportverbot und ein verwelkendes Kind
Grenzen, die keine Grenzen sind
Grenzen überwinden in Berlin
II  FAIR PLAY
Prioritäten setzen, Weltmeister werden
Die erste Tour de France und der Tod des Egos
Der große Triumph
Vom Glück verlassen
III  RESILIENZ
Der Wartende
Frustration und Flucht
(K)Ein Leben ohne den Radsport
Die fatale Fahrt
IV  RESPEKT
Ein Absturz im Paradies
Eine Nacht im vielleicht härtesten Knast der Insel
Eine neue, alte Heimat
Warum ich die Wahrheit über mein Doping verschwieg – und wie mich das beinahe umbrachte
Ein Blick zurück, ein Schritt nach vorne
Nachwort
Quellenverzeichnis

Vorwort

Es heißt, dass der Mensch seine eigenen Grenzen mindestens einmal überschreiten muss, um zu erkennen, wer er wirklich ist. Grenzen habe ich in meinem Leben einige überschritten. Als Radsportprofi gehörte das gewissermaßen zu meiner Berufsvoraussetzung. Ich habe von klein auf gelernt, dass ich im Sport nur erfolgreich sein kann, wenn ich die Grenzen, die mir gegeben wurden, nicht akzeptiere. Wenn ich über das hinausgehen würde, was mich limitiert. Und mir waren einige Grenzen gesetzt. Ich war ein kleiner, schmächtiger Junge, der in der DDR aufwuchs und nie wirklich einen Vater hatte. Als Kind glaubte ich selbst nicht, dass jemals etwas Außergewöhnliches aus mir werden würde. Und dann entdeckte ich den Sport. Der Sport veränderte alles in meinem Leben. Ich lernte durch ihn, dass es eigentlich keine Grenzen für uns gibt. Dass wir sie alle überwinden können. Wenn wir uns nur hart genug dafür vorbereiten.

Ich hatte immer einen Traum. Ich wollte einmal an der Tour de France teilnehmen, dem größten und wichtigsten Radrennen der Welt. Für einen Sportler aus der DDR eigentlich unmöglich. Am Ende habe ich achtmal teilnehmen dürfen. Fünfmal wurde ich Zweiter. Einmal gewann ich sie sogar – als erster und einziger Deutscher in der Geschichte. Die Tour de France ist nicht einfach nur ein Radrennen. Die Tour de France ist das härteste Radrennen der Welt. Sie ist ein Mythos. Sie ist mit nichts zu vergleichen. In drei Wochen legen die Fahrer rund 4000 Kilometer zurück. Sie überwinden Steigungen bis zu 20 Prozent. Und das kilometerlang. Im Radsport gibt es eine Fähigkeit, die als unentbehrlich gilt: die Fähigkeit, Schmerzen zu ertragen. Wer die Tour de France bestehen will, der muss noch viel größere Schmerzen wegstecken. Schon während der ersten Etappen schreit jede Faser des Körpers nach Erholung. Die Kunst ist es, diesen Schmerz zu ignorieren. Einfach weiterzufahren.

Ich habe mich oft gefragt, warum ausgerechnet dieses Rennen für viele Menschen so eine Faszination ausmacht. Warum auch ich schon in jungen Jahren meine großen Helden am Bildschirm verfolgte und ein Rennen mich mehr fesselte als jeder Krimi.

Ich glaube, dass die Menschen so fasziniert von der Tour de France sind, weil sie für so viel mehr steht als bloß für den Radsport. Seit mehr als 120 Jahren existiert die Tour. Sie hat Kriege, Skandale und Pandemien überdauert. Und sie hat unzählige Geschichten geschrieben. Es gab historische Triumphe und furchtbare Tragödien.

Die Tour de France ist größer als wir alle zusammen, aber zugleich ist sie auch ein Spiegel für jeden einzelnen von uns. Die Tour zeigt, wie der Mensch im Angesicht einer übermenschlichen Herausforderung reagiert. Und die Tour beweist, dass wir Menschen Anstrengungen auf uns nehmen können, die wir selber nicht für möglich gehalten haben. In der Tour ist es wie im Leben. Auch im Leben werden wir vor Herausforderungen gestellt, die für uns oftmals unüberwindbar erscheinen. Und am Ende gelingt es uns doch, sie zu meistern. Oftmals unter Schmerzen und Verlusten. Aber es gelingt.

Auch mein Leben war voller düsterer Etappen, die mir kaum überwindbar erschienen. 2006 brach für mich eine Welt zusammen. Ein Dopingskandal holte mich ein und ich wurde von meinem Team suspendiert. Ein Jahr später beendete ich meine Radsportkarriere. Ich fiel in ein sehr tiefes Loch. Ich hatte mein ganzes Leben dem Radsport geopfert. Und jetzt brach er weg. Ich versuchte ein neues Kapitel aufzuschlagen, aber die Vergangenheit ließ mich einfach nicht los. Ich brauchte beinahe 15 Jahre, um mit ihr ins Reine zu kommen. Diese Jahre waren begleitet von schweren Krisen. Von Alkohol- und Drogenabstürzen, von der Trennung von meiner Frau und gesundheitlichen Problemen. Ich habe mich erst wieder gefangen, als ich lernte, meine eigene Geschichte zu akzeptieren. Und mir meine Fehler einzugestehen. Besonders die Sache mit dem Doping. Ja, ich habe gedopt. Diese Wahrheit auszusprechen, fiel mir aus so vielen unterschiedlichen Gründen so ungeheuerlich schwer. Ich habe nie darüber gesprochen, weil ich dachte, dass es wahnsinnig kompliziert wäre, all die Dinge zu erklären, die ich erklären müsste. Dass ich in ein Radsportsystem gekommen war, in dem ich keine Chance gehabt hätte, wenn ich nicht auch gedopt gewesen wäre. Dass ich mit jeder Aussage, die ich machte, automatisch meine Radsportkollegen belastet hätte, die für mich meine Familie waren. Aber die Wahrheit ist: Es wäre ganz einfach gewesen. Ich hatte einen schweren Fehler gemacht. Und ich war lange nicht bereit, diesen auszusprechen. Ich habe ihn mit mir herumgetragen, wie ein unbehandeltes Geschwür, das immer größer und größer wurde und drohte, mich irgendwann umzubringen. Bis ich endlich erkannte, dass ich etwas ändern musste, sollte ich noch viele dunkle Jahre durchleben.

In all diesen Krisensituationen habe ich etwas mitgenommen. In all diesen Situationen habe ich etwas gelernt. Vieles leider nicht immer sofort. Vieles verstehe ich erst heute, im Rückblick. Aber so ist es ja oft im Leben. Wie hat der dänische Philosoph Sören Kierkegaard einmal geschrieben? Das Leben lässt sich nur rückwärts verstehen, muss aber vorwärts gelebt werden.

Dieses Buch ist keine klassische Biografie. In diesem Buch möchte ich verschiedene Etappen meines Lebens noch einmal Revue passieren lassen. Ich habe auf all diesen Etappen etwas gelernt. Über mich. Aber auch über das Leben. Und vielleicht kann ich einen kleinen Teil von dem, was ich in all dieser Zeit begriffen habe, mit diesem Buch weitergeben. Dazu habe ich einige meiner Erkenntnisse zu Learnings verdichtet, die hoffentlich auch anderen Menschen weiterhelfen und Mut machen können.

Ich war ganz weit oben. Ich war aber auch ganz tief unten. Ich habe das Leben in seinen Extremen kennengelernt. Und ich habe es überlebt. Wenn ich das kann, dann können andere das auch.

Vielleicht gibt es nicht die eine Strategie dafür. Aber ich glaube, dass es wichtig ist, dass wir einen Wertekompass haben, an dem wir uns festhalten können. Einen Kompass, der uns auch in der tiefsten Dunkelheit eine Richtung zeigt. Vielleicht finden wir nicht immer den richtigen Weg. Das müssen wir auch gar nicht. Denn auch ein falscher Weg führt uns an einen Ort, an dem wir etwas über uns lernen können. Und von diesem Ort können wir dann einen neuen Weg einschlagen, der uns dann vielleicht zu unserem ursprünglichen Ziel führt. Wenn wir ankommen, dann haben wir vielleicht einen Umweg gemacht. Aber wir haben jede Menge neue Erfahrungen gesammelt.

Es ist völlig okay, seinen Pfad auch einmal zu verlieren. Solange wir an unserem Wertekompass festhalten, finden wir immer wieder einen Weg zurück. Ich habe für mich vier Werte definiert, die mich durch die besten und die schlimmsten Jahre meines Lebens begleitet haben. Die mir geholfen haben zurückzufinden. Zurück ins Leben. Zurück zu mir selbst. Diese Werte sind Kampfgeist, Fair Play, Respekt und Resilienz also Widerstandsfähigkeit. Das sind die vier Werte, die mich mein Leben lang begleitet haben. Und denen ich vieles zu verdanken habe. Am Ende wohl auch mein Leben. Die Geschichten, die ich in diesem Buch erzähle, haben alle etwas mit einem dieser Werte zu tun. Entsprechend sind die Kapitel hier angeordnet. Dieses Buch ist eine wilde Tour über 20 Etappen meines Lebens. Es waren einige gute und einige schlechte dabei. Missen möchte ich keine einzige. Denn sie alle brachten mich an den Ort, an dem ich heute stehe. Und sie machten mich zu dem Mann, der ich heute bin. Ein Mann, der endlich sein Glück im Leben gefunden hat. Ein Mann, der über alle seine Grenzen gegangen ist, um zu erkennen, wie schön es auch einfach mal in der Mitte sein kann. Es war ein verdammt langer und anstrengender Weg. Aber er hat sich gelohnt.

IKAMPFGEIST

Der unsichtbare Sohn

Noch ein tiefer Atemzug. Dann hielt ich die Luft an und tauchte unter. Mein Körper fühlte sich leicht an, komplett umhüllt von dem warmen Salzwasser der Ostsee. Alles um mich herum wurde ganz still. Das Geschrei der Kinder, das Lachen der Erwachsenen, das Kreischen der Möwen. Von allem blieb nur noch ein dumpfer Bass. Das Meer verschluckte die Welt um mich herum. Ich schloss die Augen und versuchte, mich zu konzentrieren. Hielt die Luft weiter an. Versuchte, im Kopf die Sekunden mitzuzählen. Einundzwanzig, zweiundzwanzig, dreiundzwanzig … Es wurde immer schwieriger. Aber ich wollte nicht aufgeben. Ich wollte unbedingt durchhalten. Ich zwang mich, weiter unter Wasser zu bleiben. Nur ein kleines bisschen noch. Mir wurde schummrig. Ich öffnete die Augen und sah, wie alles vor mir verschwamm. Komm schon, Jan, sprach ich mir selber zu, nur noch ein kleines bisschen. Ich konnte mich mittlerweile schon nicht mehr darauf konzentrieren, die Sekunden im Kopf weiterzuzählen. Mein Körper gehorchte mir nicht mehr richtig. Wurde unruhig. Meine Beine fingen an zu strampeln. Alles in mir drängte wieder an die Wasseroberfläche. Aber ich wollte weiter durchhalten. Ein kleines Stück. Noch weiter an meine Grenze gehen und … ich tauchte auf. Ich konnte nicht mehr. Ich nahm einen tiefen Atemzug und inhalierte gierig den frischen Sauerstoff.

Mein großer Bruder nickte mir anerkennend zu. »Das war ziemlich gut«, sagte Stefan und zeigte mir meine Zeit auf der Stoppuhr. »Ich glaube, so lange hast du es noch nie geschafft.«

Ich nahm noch zwei hektische Atemzüge. Erst langsam kam ich wieder in der Realität an. Die Welt hatte mich wieder.

»Alles klar, Jani?«, fragte er.

Ich nickte. Dann drückte er mir die Stoppuhr in die Hand.

»Jetzt ich.«

Ich sah, wie Stefan untertauchte und unter die Wasseroberfläche glitt. Ich spürte die Wärme der Sonne auf meinem Gesicht. Das Salz kribbelte auf meiner Haut. Ich schaute auf die Stoppuhr. Vierzig, einundvierzig, zweiundvierzig … Stefan blieb unter Wasser. Er schien ganz ruhig zu sein. Nicht so nervös wie ich. Zweiundfünfzig, dreiundfünfzig …, dann tauchte er wieder auf. Ich schaute auf die Uhr. Er hatte es geschafft, mich um zwei Sekunden zu schlagen. Aber immerhin. So knapp war ich noch nie an ihm dran gewesen. Stefan war zwei Jahre älter als ich und er hatte in jedem Spiel, das wir spielten, die Nase immer ein kleines Stück weiter vorne. Immer sprang er ein paar Zentimeter mehr, lief ein paar Sekunden schneller oder hielt einfach etwas länger durch als ich. Aber jetzt war ich ganz nah dran, ihn auch einmal zu schlagen. Zwei Sekunden. Das war eine Ansage.

»Bald hast du mich«, sagte Stefan und schlug mir lächelnd auf die Schulter. »Aber das wird noch ein bisschen dauern«, grinste er.

Dann schwammen wir zurück an den Strand und ließen uns dort erschöpft auf unser Handtuch fallen.

»Na, Jungs, habt ihr euch ausgetobt?«, fragte Mama, zog ihren Korb heran und gab uns ein paar Snacks, die sie vorbereitet hatte. Ich biss in ein Apfelstück und schloss für einen kurzen Moment die Augen. Das war ein Samstag, ganz nach meinem Geschmack. Eigentlich ein ganz typischer Samstag. Meine Mutter hatte in der Woche ziemlich viel um die Ohren. Sie musste sich nicht nur um uns Kinder kümmern, sie hatte auch eine anstrengende Arbeit, die sie ziemlich beanspruchte. Weil sie so wenig zu Hause war, versuchte sie, die Wochenenden für meinen großen Bruder und mich umso schöner zu gestalten. Das gelang ihr. So wie heute. Ein Ausflug an die Ostsee war für mich immer ein Höhepunkt. Ich liebte es, hier zu sein. Die salzige Luft. Der grobe Sand unter meinen nackten Füßen. Und der Ausbruch aus unserem Alltag. Das hier, das war für mich das Paradies. Ich war fünf Jahre alt und mein Leben schien in diesem Moment wirklich perfekt zu sein. Ich war umgeben von den Menschen, die ich liebte. Und hatte alles, was ich brauchte. Na ja, fast alles. Wenn ich mich an meine Kindheit erinnere, dann sind es beinahe nur schöne Erinnerungen. Erinnerungen an Menschen, die ich sehr liebe, und Erinnerungen an Momente, die mich erfüllten. Aber auf all diesen Erinnerungen liegt auch ein Schatten. Er ist nicht groß. Er überlagert die schönen Momente nicht. Aber er ist immer irgendwie da. Und meistens nahm ich ihn immer dann besonders intensiv wahr, wenn ich ihn eigentlich schon vergessen hatte.

»Jungs«, sagte meine Mutter und schaute auf die Uhr. »Macht euch so langsam fertig. Wir müssen wieder nach Hause.« Ich nahm das letzte Apfelstück aus der Brotbox, vergrub meine Füße im warmen Sand und klammerte mich noch ein paar Sekunden an diesen perfekten Augenblick. Nach Hause. Ich spürte, wie sich ganz langsam bereits der Schatten auf den Tag legte.

Wir packten unsere Sachen und fuhren in Mamas Trabbi wieder nach Hause. Nach Papendorf. Papendorf ist eine kleine Gemeinde in der Nähe von Rostock. Knapp 2000 Einwohner. Idyllisch gelegen. In Papendorf gab es viel Natur und nur wenig Stadt. Wir waren erst vor kurzem hier hergezogen, weil Mama eine Betriebswohnung gestellt bekommen hatte. Die Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft, für die sie arbeitete, hatte in der Dorfstraße einen großen Wohnblock für ihre Mitarbeiter hochgezogen. Das war typisch für die DDR. Die Wohnung war klein. Wir wohnten direkt unter dem Dach. Drei-Zimmer, Küche, Bad. Keine 60 Quadratmeter. Ich teilte mir mit Stefan ein Zimmer. Die Wohnung war beengend. Darum verbrachten wir so viel Zeit wie möglich draußen. Direkt vor unserem Haus war eine große Wiese. Es gab dort eine alte Schaukel, sie war so etwas wie unser Treffpunkt. Unser liebster Aufenthaltsort. Von der Schaukel aus schmiedeten Stefan und ich Pläne, was wir als Nächstes anstellen würden.

»Das war gut heute«, sagte er. »Du hast mich beim Tauchen fast gehabt.«

»Zwei Sekunden«, sagte ich und spürte, wie mich der Ehrgeiz packte. Irgendwann müsste ich ihn doch schlagen können. Gelegenheiten gab es genug. Stefan und ich hatten beide einen riesigen Energie-Überschuss. Und um den loszuwerden, dachte er sich immer wieder neue Wettkämpfe aus. Es waren die unmöglichsten Sachen, aber wir mussten uns ständig miteinander messen. Das war unser Ding. Und mein großer Bruder war unglaublich kreativ, wenn es darum ging, sich neue Spiele auszudenken.

»Wir müssten mal einen richtig großen Lauf machen«, überlegte er, während er auf der Wiese lag und die Arme hinter seinem Kopf verschränkte. Es war mittlerweile schon früher Abend. Die Sonne ging langsam unter, aber es war noch immer warm. Viele Nachbarn waren noch unterwegs. Sie gingen spazieren. Irgendwo in der Nähe wurde gegrillt. Der Geruch von gebratenem Fleisch lag in der Luft.

»Vielleicht sogar bis zu Oma und Opa«, überlegte er. Unsere Großeltern wohnten einige Kilometer von uns entfernt. Ein ganz schönes Stück. »Das wäre machbar …«, murmelte er vor sich hin, als plötzlich ein Motor aufheulte.

Wir schreckten auf und drehten uns um. Das war unser Vater. Er fuhr mit seinem Motorrad direkt auf der Wiese vor und schaute zu uns herunter.

Er sagte kein Wort. Nickte nur. Ich legte meinen Kopf in den Nacken und sah diese große, übermächtige Gestalt. Mein Vater war in meinen Augen der coolste Mensch der Welt. Besonders dann, wenn er auf seinem Motorrad saß. Was für eine Maschine. Ich hätte alles gegeben, sie auch nur einmal anfassen zu dürfen.

»Hallo, Papa«, begrüßte ich ihn. Aber er reagierte gar nicht darauf.

»Steig auf«, rief er zu meinem Bruder. »Wir machen noch einen Ausflug, mein Sohn.« Stefan strahlte. Er raffte sich von der Wiese auf und kletterte auf Papas Motorrad.

»Halt dich gut fest«, sagte mein Vater. Mich beachtete er dabei gar nicht.

Stefan drehte sich noch einmal zu mir um. »Bis später, Jani«, sagte er noch, dann fuhren die beiden weg.

Ich winkte ihnen hinterher, aber das bekamen sie gar nicht mehr mit. Sie drehten sich nicht einmal mehr um. Ich setzte mich auf die Schaukel und schaute ihnen noch eine gefühlte Ewigkeit hinterher. Auch, als sie schon längst weg waren. Ich spürte, wie langsam eine ganz tiefe Traurigkeit in mir aufzog. Sie breitete sich wie ein Schatten aus, der sich über meine Seele legte. Es war merkwürdig. Eben war noch alles gut gewesen. Eben mit Mama und Stefan am Strand war ich noch das glücklichste Kind der Welt gewesen. Wir hatten einen tollen Tag gehabt. Warum war jetzt alles so anders?

Solche Situationen wie eben erlebte ich ja nicht zum ersten Mal. Es war nicht so, dass ich ein schlechtes Verhältnis zu meinem Vater hatte. Ich hatte überhaupt kein Verhältnis zu ihm. Er beachtete mich einfach nicht. Für ihn war ich wie Luft. Klar, Stefan war der Ältere, mit ihm konnte er mehr anfangen, redete ich mir ein. Irgendwann würde bestimmt auch der Tag kommen, an dem ich hinten auf dem Motorrad sitzen dürfte. Die Hoffnung hielt weiter an. Aber was, wenn nicht? Vielleicht war es diese Angst, die mich so traurig machte. Die Angst, dass mein Vater mich niemals sehen würde. Dass ich für immer vergessen bliebe. Ich spürte, wie sich meine Kehle langsam zuschnürte. Ich wischte mir die Träne weg und ging ins Haus.

Mein Vater blieb mir immer ein Rätsel. Ich wusste nicht, wie ich ihn einschätzen sollte.

Das mag auch daran gelegen haben, dass ich so wenig von ihm mitbekam. Er war meistens gar nicht da. Vater arbeitete als Maurer und war ständig außer Haus. Selbst am Wochenende war er oft arbeiten. Er verließ das Haus, als wir noch schliefen, und er kam zurück, wenn wir schon wieder im Bett waren. Eigentlich habe ich ihn nie wirklich kennengelernt. Aber ein paar Monate, nachdem er mich vor unserem Haus einfach übersehen hatte, gab es eine Gelegenheit, ihm ein wenig näher zu kommen. Das war die Woche, in der mein kleiner Bruder Thomas geboren wurde. Ich war fünf Jahre alt, meine Mutter war noch im Krankenhaus und mein Vater wurde dazu verpflichtet, dass er sich in dieser Zeit um mich und Stefan kümmern sollte. Das fiel ihm scheinbar nicht so leicht. Eines Morgens stand ich in der Küche. Vater saß auf seinem Stuhl und las in seiner Zeitung. Stefan saß neben ihm. Es roch nach frischem Kaffee und das Radio lief. Ich schaute mich um. Ich war ein wenig verwundert, dass er mich nicht geweckt hatte. Schließlich musste ich in den Kindergarten. Es war eigentlich schon viel zu spät. Aber er schien das vergessen zu haben, jedenfalls schaute er mich genauso überrascht an, wie ich ihn, als er mich entdeckte.

»Guten Morgen, Jani«, sagte er, »willst du etwas frühstücken?« Er steckte eine Scheibe Brot in den Toaster, bestrich sie mit Butter und legte sie mir dann auf einen Teller.

»Wie spät ist es?«, fragte ich ihn.

»Halb neun«, sagte er. »Hast du gut geschlafen?«

Pflichtbewusst wie ich war, erinnerte ich ihn daran, dass ich doch in den Kindergarten müsste.

»Kindergarten?« Er stockte. »Brauchst du heute nicht«, sagte er ziemlich überzeugt, wahrscheinlich weil er gar nicht wusste, dass ich überhaupt in den Kindergarten ging. Dann widmete er sich wieder seiner Zeitung.

»Heute muss ich auch nicht in die Schule«, sagte Stefan stolz und tat es meinem Vater nach, indem er den Sportteil las, den Vater ihm von der Zeitung abgegeben hatte.

Okay, dachte ich. Keine Schule. Kein Kindergarten. Dann ist es halt so. Wenn Vater es so für richtig hält, dann wird es so auch sein. Ich wollte mich nicht beschweren, immerhin hatte ich so die Gelegenheit, ein wenig Zeit mit ihm zu verbringen. Darauf hatte ich immer gewartet. Ich schaute aus dem Fenster. Es war komplett vereist. Draußen wehte ein schwerer Schneesturm. Der Wind war so heftig, dass er durch die Fugen pfiff. Ich schaute wieder auf meinen Vater. Er hatte sich hinter seiner Zeitung versteckt. Im Radio liefen irgendwelche Schlager. Ich lehnte mich zurück und aß mein Brot. Na ja, irgendwie würde Vater mich schon beschäftigen, dachte ich und wartete darauf, dass etwas passierte. Aber es passierte nichts. Als er seine Zeitung fertig gelesen hatte, legte er sie weg und sah mich an. Ich glaube, er hatte ganz vergessen, dass ich noch im Zimmer war.

»Ach, Jan«, sagte er, überrascht mich noch in der Küche zu sehen. »Ich muss gleich los, ich treffe mich noch mit einem Freund. Komm, wir machen dich fertig.«

Er ging in unser Kinderzimmer und öffnete den Schrank. Dann drückte er mir eine Hose und ein Nicki in die Hand. Ein kurzärmliges T-Shirt. Ich stutzte kurz, wollte Vater aber nicht widersprechen und zog das Nicki an. Dann schob er mich und Stefan schon vor die Tür.

»Geh ein bisschen mit deinem Bruder spielen«, sagte er, während er in sein Auto stieg und wegfuhr. Es fiel noch immer ziemlich viel Schnee. Ich schaute mich um. Außer mir und meinem Bruder war niemand da. Die anderen Kinder waren wohl in der Schule. Ich zitterte. Es war verdammt kalt. Wir setzten uns auf die kleine Schaukel. Ich hatte das Gefühl, dass meine Hände an den Ketten festfroren, also steckte ich sie zitternd in die Hosentasche.

»Papa kommt bestimmt gleich wieder«, sagte Stefan.

»Bestimmt«, sagte ich.

Ich wartete darauf, dass Stefan sich irgendein Spiel für uns ausdachte, aber er saß nur da und zitterte. Ich überlegte, etwas vorzuschlagen. Einen Schneemann bauen. Aber das war keine gute Idee. Ich spürte meine Hände jetzt schon nicht mehr. Und auch Stefan war nicht wärmer gekleidet als ich. Und so saßen wir da. Zitterten und starrten vor uns hin. Ich glaube, Stefan war wirklich davon überzeugt, dass Vater jeden Moment wiederkäme. Ich war da nicht so optimistisch. Ich machte mir schon Gedanken über einen Plan B. Wir könnten zu Oma und Opa gehen, überlegte ich. Aber nein, das wäre kaum zu schaffen. Sie wohnten einige Kilometer entfernt. Der Weg war zu weit. Wir könnten bei den Nachbarn klingeln … In meinem Kopf arbeitete es. Eigentlich verließ ich mich immer auf Stefan. Er war mein großer Bruder. Er war derjenige, der sagte, was zu tun war. Aber ich hatte zum ersten Mal in meinem Leben das Gefühl, dass er mit der Situation überfordert war. Ich weiß nicht, wie lange genau wir so vor unserer Haustür saßen, aber irgendwann kam der Trabbi meiner Mutter vorgefahren. Sie stieg aus, ging zur Beifahrertür und hob unseren kleinen Bruder aus der Babyschale im Auto. Dann sah sie uns auf der Schaukel sitzen. Sie wurde bleich.

»Jungs!«, rief sie. »Was macht ihr denn hier draußen? Wieso habt ihr keine Jacken an? Seid ihr völlig verrückt geworden?« Unserer Mutter ist beinahe der Thomas aus der Hand gefallen vor Schreck.

Selbst wenn wir ihr hätten antworten wollen, wir hätten es nicht geschafft. Wir bekamen kein Wort mehr raus, so erfroren waren wir. Ich hörte meine Zähne klappern. Mein Körper gehorchte mir gar nicht mehr. Geschockt schloss Mama uns die Wohnung auf und wickelte uns in warme Decken ein.

»Was zur Hölle ist denn hier passiert? Ihr seid ja ganz blau gefroren! Wieso geht ihr so vor die Tür? Wo ist euer Vater?«

Alles, was uns übrig blieb, war mit den Schultern zu zucken.

Wir wussten es ja auch nicht.

»Dieser Kerl«, stöhnte Mutter und schüttelte den Kopf.

Sie hatte sich ja bereits daran gewöhnt, dass Vater in seiner ganz eigenen Welt lebte. Aber das hätte selbst sie ihm nicht zugetraut.

Als er am Abend wieder nach Hause kam, hatten Stefan und ich wieder unsere normale Farbe angenommen und waren halbwegs wieder aufgetaut. Wir lagen in unserem Stockbett und hörten, wie die beiden sich stritten. Es war eigentlich so wie immer. Es gab nur einen Unterschied. Dass wir unser Zimmer jetzt mit unserem kleinen Bruder teilten, der seit heute bei uns eingezogen war. Das Zimmer war damit komplett voll. Und die Wohnung war noch beengender geworden. Ab ich hatte einen ganz anderen Gedanken, der mich die Nacht über wach hielt. Ab sofort war ich nicht mehr der Jüngste. Vielleicht, dachte ich, würde das das Verhältnis zu meinem Vater ein bisschen besser machen.

Ich weiß nicht, ob mein Vater ein schlechtes Gewissen bekam, weil er uns beinahe hatte erfrieren lassen, oder ob irgendetwas anderes in ihn gefahren war, aber ein paar Wochen nachdem er uns in der Kälte vergessen hatte, kam er zu mir und verkündete, dass heute ein ganz großer Tag sei.

»Was denn für ein großer Tag?«, fragte ich ihn.

»Heute wirst du Fahrrad fahren lernen«, verkündete Vater stolz, packte mich am Arm und zog mich vor unsere Haustüre. Bei uns in der Gegend hatten alle Kinder ein Fahrrad. Die meisten hatten selbst zusammengeschraubte Räder mit dicken Reifen, die ein wenig wie BMX-Räder wirkten. Die waren ideal für die Feldwege und die Wälder, die es bei uns gab. Vater hatte mir Stefans altes 20er-Kinderrad ohne Gangschaltung hingestellt. Es war blau. Das war irgendwie so eine fixe Idee von Vater: Alle Räder der Familie Ullrich mussten blau sein. Keine Ahnung warum. Er nahm sie also mit in seine Werkstatt, strahlte den Lack ab und verpasste ihnen dann eine neue Farbe.

»Na komm«, sagte Vater. »Steig auf.«

Ich war ziemlich aufgeregt. Ich wollte schon immer einmal lernen, wie man Fahrrad fährt. Aber bisher hieß es immer, dass ich dafür noch zu jung wäre. Vater fasste das Rad am Sattel. »Keine Sorge«, sagte er und hielt mich am Oberarm. »Es kann nichts passieren.« Ich setzte meine Füße auf die Pedale und griff nach dem Lenkrad. »Gut so«, sagte Vater. »Und jetzt schau nach vorne. Einfach geradeaus auf die Straße.« Ich blickte vor mich. Ich war so aufgeregt, dass ich gar nicht mitbekam, was für ein besonderer Moment das hier eigentlich war. Mein Vater nahm sich Zeit für mich. Es war vielleicht das erste Mal, dass er sich einfach nur um mich kümmerte. »Und jetzt tritt in die Pedale«, sagte er. Ich drückte meine Füße ab und spürte, wie sich das Rad plötzlich zu bewegen begann. Ich fuhr. Krampfhaft versuchte ich, das Gleichgewicht zu halten und nicht umzukippen. Mein Vater lief neben mir her. »Genauso, Jan, ganz genauso! Du machst das gut!«

Mein Herz schlug schneller. Ich tat es tatsächlich. Ich fuhr Fahrrad. »Weiter so, mein Sohn«, hörte ich meinen Vater. »Immer nach vorne schauen.« Ich umklammerte den Lenker und blickte starr vor mich auf die Straße. Ich fuhr nun eine kleine Abfahrt herunter und das Fahrrad wurde immer schneller. Ich wusste nicht, wie ich bremsen sollte, trat stattdessen einfach weiter in die Pedale. »Du hast es!«, hörte ich die Stimme meines Vaters, merkte aber, dass plötzlich etwas anders war. Sie war so weit entfernt.

»Papa?«, fragte ich etwas ängstlich. »Bist du noch da?«

»Du fährst! Du fährst!«, hörte ich seine Stimme, die immer leiser wurde.

Ich klammerte mich an den Lenker, drehte mich um und sah, wie er gut 20 Meter hinter mir stand und jubelte. Aber … wenn er das Fahrrad nicht mehr festhielt …? Ich wurde panisch, merkte, wie ich langsam das Gleichgewicht verlor. Wie bremste ich das Ding nur ab? Mir gingen tausend Gedanken durch den Kopf. Dann krachte ich in ein paar Mülleimer hinein. Ich drehte mich zu Vater um.

Er jubelte jetzt nicht mehr, sondern hatte die Fäuste in die Hüften gestemmt und schüttelte den Kopf. »Na ja, für einen Moment bist du gefahren«, rief er. »Der Rest ist nur noch Übung.«

Dann ging er ins Haus. Ich rappelte mich auf. Bis auf eine kleine Schramme am Arm war nichts passiert. Aber ich war Fahrrad gefahren. Und Vater hatte mich beachtet. Das tröstete mich wirklich über all die Enttäuschungen der letzten Monate hinweg.

Von diesem Tag an übte ich jede freie Minute auf meinem neuen Fahrrad. Ich sah das als eine Herausforderung an. So wie die Wettkämpfe mit meinem großen Bruder für mich eine Herausforderung waren. Und ich wurde besser und besser. Nach ein paar Tagen zeigte ich ihm meine Fortschritte. Mittlerweile fuhr ich wirklich sicher. Vater zeigte sich beeindruckt. Unser Verhältnis sollte sich an diesem Tag ändern. Plötzlich war ich für ihn nicht mehr der unsichtbare Sohn.

Was ich in dieser Zeit gelernt habe:

Ich war damals noch viel zu jung, um zu verstehen, dass ich nicht bloß einfach nur Fahrrad fahren lernen wollte. Vielmehr wollte ich gesehen werden. Meine Motivation, etwas richtig gut hinzubekommen, entstand aus einem Mangel. In meinem Fall war das ein Mangel an Aufmerksamkeit. Als Kind litt ich ganz furchtbar darunter, dass ich von meinem Vater nicht gesehen wurde. Aber durch meine Fortschritte auf dem Rad, bekam ich ihn dazu, mich endlich wahrzunehmen. Ich glaube, dass meine Wettkämpfe mit meinem großen Bruder aus der selben Motivation heraus entstanden. Ich wollte, dass mein Bruder mich ernst nimmt. Mich als jemanden akzeptiert, mit dem er sich messen kann. Ich wollte mit ihm auf Augenhöhe sein. Ich denke, dass dieses Gefühl, nicht gesehen zu werden, viele Menschen kennen. Nicht nur, wenn sie Kinder sind. Wie selten bekommen wir doch wirklich Wertschätzung für das, was wir in unserem Alltag leisten? Hand aufs Herz: meistens nicht oft genug. Vielleicht ist das auch der Grund, warum soziale Medien so erfolgreich sind. Wenn wir schon nicht in der analogen Welt wahrgenommen werden, dann kriegen wir ja vielleicht zumindest ein paar Likes in der digitalen Welt. Das scheint zumindest die Hoffnung vieler Menschen zu sein.

Mangel an Aufmerksamkeit ist kein schönes Gefühl. Jeder Mensch weiß das. Denn jeder Mensch möchte gesehen, möchte ernst- und wahrgenommen werden. Ich bin aber davon überzeugt, dass ein Mangel immer auch die stärkste Motivationsquelle ist, die wir Menschen haben. Du bist unzufrieden mit den Verhältnissen, in denen du lebst? Du bist unzufrieden mit deiner Partnerschaft? Du fühlst dich im Leben nicht genug gesehen? Du hast zwei Möglichkeiten, damit umzugehen: Nimm es hin oder ändere etwas. Die Wahrheit ist: Der Mensch ist ein bequemes Wesen. Er ist meistens nur dann dazu bereit, etwas in seinem Leben zu ändern, wenn er wirklich darunter leidet. Sieh den Mangel, den du empfindest, also als eine Quelle deiner Motivation. Entwickle einen gesunden Kampfgeist. Und ändere das, was dich stört. Mach dich sichtbar, wenn du dich unsichtbar fühlst. Mein erstes eigenes Fahrrad war nicht einfach nur mein erstes Fahrrad. Mein erstes Fahrrad war ein Instrument der Selbstermächtigung.

Jeder motiviert sich anders. Ich empfand einen Mangel, der bei mir fast schon ein Frustrationsgefühl hervorrief. Das spornte mich so an, dass ich mich meiner Sache voll und ganz widmete und wirklich gut in dem wurde, was ich mir vorgenommen hatte.

Das einsamste Kind der Welt

Die Zeit schien überhaupt nicht zu vergehen. Nervös wippte ich auf meinem Stuhl. Ich war alles andere als ein geduldiges Kind, aber heute war ich noch unruhiger als ich es sowieso schon war. Immer wieder schaute ich auf die große Uhr, die über der Tür hing. Der Minutenzeiger bewegte sich nur schwerfällig. Bewegte er sich überhaupt? Ich hatte das Gefühl, dass der Vormittag niemals mehr enden würde. Konnte es nicht endlich Mittag sein? Ich atmete schwer aus. Dann spürte ich einen kleinen Schlag in die Rippen, der mich wieder aus meinen Gedanken riss.

»Mensch, Jan, du träumst schon wieder«, flüsterte mir mein Sitznachbar zu.

Er hatte recht. Ich riss mich von meinen Gedanken los und versuchte, mich zu konzentrieren. Vor mir stand unsere Kindergärtnerin und las uns eine Geschichte vor.

Im Raum herrschte Ruhe. Die anderen Kinder starrten gebannt nach vorne. Mir gelang das nicht. Ich musste die ganze Zeit an den Nachmittag denken. Heute würde es endlich losgehen. Der große Urlaub, auf den ich mich so lange schon gefreut hatte.

Ich schaute aus dem Fenster. Das Wetter war perfekt.

Dann blickte ich wieder auf unsere Erzieherin. Ich versuchte wirklich, der Geschichte zu folgen, es ging um eine Raupe und einen Schmetterling, aber ich bekam irgendwie nicht zusammen, was es damit auf sich hatte und dann … die Glocke! Endlich! Was für eine Erlösung. Ich packte meine Sachen in meinen Rucksack und rannte so schnell ich konnte aus dem kleinen Kindergarten. Als ich wieder zu Hause war, stand schon mein Vater vor der Tür und packte zwei große Koffer in seinen Camper.

Dass dieser Urlaub unser letzter Familienurlaub werden sollte, das wusste ich damals nicht.

Tatsächlich schweißte mein kleiner Bruder Thomas, der gerade zur Welt gekommen war, die Familie noch einmal zusammen. Aber nur für kurze Zeit. Auch wenn ich mitbekam, dass die Spannungen zwischen meinen Eltern zunahmen, so war es für mich doch unvorstellbar, dass sie sich tatsächlich trennen könnten. Das lag einfach außerhalb meiner kindlichen Vorstellungskraft. Und ganz offenbar wollten sie sich auch noch einmal zusammenraufen. Ein gemeinsamer Urlaub sollte es richten. Also fuhren wir zusammen an die Mecklenburgische Seenplatte zum Camping. Mein Vater liebte es zu campen. Das war für ihn das Größte. Ich weiß nicht genau, was ihn daran so begeisterte, aber er entwickelte eine große Leidenschaft für alles, was mit seinem Wohnwagen zu tun hatte. Er bastelte und werkelte ständig daran herum und konnte es nie erwarten, dass er zum Einsatz kam. Für mich hatte es auch etwas Gutes. Denn ich wusste, dass das bedeutete, dass ich meinem Vater noch einmal ganz nah sein konnte.

Und tatsächlich hatte ich das Gefühl, dass sich unser Verhältnis in eine gute Richtung bewegte, dass mein Vater mich mittlerweile ein wenig mehr beachtete als sonst. Er nahm zumindest wahr, dass ich existierte. Das war in den letzten Jahren noch anders gewesen.

Eines Morgens saß ich draußen vor unserem Campingwagen. Mama war mit meinen Brüdern unterwegs, um etwas einzukaufen.

»Wo ist Stefan?«, fragte Papa und schaute sich um.

»Nicht da«, sagte ich und spielte ein wenig mit den zwei Plastikautos, die ich auf dem Boden gegeneinander fahren ließ.

Er stemmte seine Hände in die Hüften und schaute sich um.

»Gut, gut …«, sagte er und blickte zu mir herunter. Er schien einen kurzen Moment zu überlegen. Dann überwand er sich.

»Willst du mitkommen? Ich gehe angeln.«

Ich schaute zu Papa auf. Ich konnte nicht glauben, dass er mich das gerade gefragt hatte. Es war das erste Mal überhaupt, dass er mich mitnahm. Ich musste nicht lange überlegen. Ich ließ die Autos auf dem Boden liegen, sprang auf und nickte wild. Klar wollte ich mitkommen!

»Gut, dann gehen wir mal rüber zum Dieter.« Dieter war ein guter Freund von Vater. Ein großer, grobschlächtiger Typ mit einem enormen Bauch, den er vor sich hertrug. Dieter war Metzger, mehr wusste ich nicht von ihm.

Er wohnte in dem Camper direkt neben uns. Vater klopfte drei Mal an seine Tür. »Ja, ja, komme ja schon«, grummelte er. Dann trat er verschlafen aus seinem Wagen und rieb sich die Augen.

»Haste noch geschlafen?«, fragte Vater und schüttelte den Kopf.

»Quatsch.« Dieter rieb sich den Schlaf aus den Augen, schlug einmal auf seinen gewaltigen Bauch und schaute dann zu mir runter.

»Wer ist das?«, fragte er meinen Vater.

»Mein Sohn.«

»War der nicht mal größer?«

»Nee, ist der Kleinere.«

»Ach so.«

Dieter griff nach einer Tüte, dann machten wir uns auf den Weg zu unserem Boot. Als wir schon beinahe am Ufer waren, fiel mir auf, dass wir gar keine Angelrouten dabeihatten. Ich überlegte, ob ich Vater darauf ansprechen sollte, aber ich ließ es besser bleiben. Er würde schon einen Plan haben. Als wir etwa die Mitte des Sees erreichten, packte Dieter die Tüte aus. In ihr war ein riesiger Pferdekopf. Ich erschrak mich so sehr, dass ich beinahe aus dem Boot gefallen wäre.

»Entspann dich, Jan«, sagte mein Vater beinahe ein wenig verärgert. »Ist doch nichts dabei.«

Sie befestigten den Kopf an einer Schnur und ließen ihn ins Wasser. Dann warteten wir. Wir saßen einfach nur auf dem Boot und warteten. Immer wieder schaute ich in das Wasser hinunter. Stunde um Stunde verging. Als wir den Pferdekopf wieder hochzogen, war er voller Aale. Wie kleine Schlangen wanden sie sich in den Augenhöhlen des Schädels. Der Anblick war eklig.

»Guter Fang«, freuten sich die beiden Männer.

»Heute gibt es ein richtig feines Abendessen«, lachte mein Vater und legte mir die Hand in den Nacken. Bei der Vorstellung, einen dieser Aale essen zu müssen, wurde mir leicht übel. Aber ich war trotzdem auch stolz, dass ich dabei sein durfte.