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Sofie Sarenbrant

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Beschreibung

Waschen – schneiden – sterben.

Jede Frau träumt davon, sich hier frisieren zu lassen – bei Stefano de Luca, im angesagtesten Salon Stockholms. Als die wunderschöne Angelina Silver dort zu arbeiten beginnt, scheinen die Geschäfte noch besser zu laufen. Nur Jenny, bisher der Star des Salons, beäugt missgünstig die Künste ihrer neuen Kollegin, die aus ihrer Herkunft ein Geheimnis macht. Dann wird der erste Kunde ermordet – und das ist erst der Anfang ...

Ein Thriller mit einem ungewöhnlichen Schauplatz – von dem neuen Krimistar aus Schweden.

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Über Sofie Sarenbrant

Sofie Sarenbrant, Jahrgang 1978, hat als Journalistin gearbeitet und gilt als der neue Star der Krimiszene in Schweden. Sie lebt mit ihrem Mann und zwei Kindern in Bromma, einem Stadtteil von Stockholm. Von ihr sind bisher drei Spannungsromane um die Stockholmer Polizistin Emma Sköld erschienen: »Der Mörder und das Mädchen«, »Das Mädchen und die Fremde« sowie »Die Tote und der Polizist«.Mehr zur Autorin unter www.sofiesarenbrant.se

Hanna Granz, geboren 1977, hat in Bonn Skandinavistik, Romanistik und Vergleichende Literaturwissenschaften studiert. Sie lebt mit ihrer Familie in Wanfried/im Werratal.

Informationen zum Buch

Waschen – schneiden – sterben.

Jede Frau träumt davon, sich hier frisieren zu lassen – bei Stefano de Luca, im angesagtesten Salon Stockholms. Als die wunderschöne Angelina Silver dort zu arbeiten beginnt, scheinen die Geschäfte noch besser zu laufen. Nur Jenny, bisher der Star des Salons, beäugt missgünstig die Künste ihrer neuen Kollegin, die aus ihrer Herkunft ein Geheimnis macht. Dann wird der erste Kunde ermordet – und das ist erst der Anfang …

Ein Thriller mit einem ungewöhnlichen Schauplatz – von dem neuen Krimistar aus Schweden.

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Sofie Sarenbrant

Hinter deinem Rücken

Thriller

Aus dem Schwedischenvon Hanna Granz

Inhaltsübersicht

Über Sofie Sarenbrant

Informationen zum Buch

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Prolog

Donnerstag18. Mai

Freitag19. Mai

Montag22. Mai

Mittwoch24. Mai

Donnerstag25. Mai

Freitag26. Mai

Samstag27. Mai

Sonntag28. Mai

Montag29. Mai

Dienstag30. Mai

Danksagung

Impressum

FürKharmaundKenza

Es geht so schnell. Plötzlich liegt er auf dem schachbrettgemusterten Fliesenboden und weiß nicht, wie er dort gelandet ist.

Sein Herz rast.

An seinem Hals rinnt Blut herab, aber er spürt keinen Schmerz. Die Kinderzeichnungen an der weißen Medaillontapete haben rote Flecken. Der Anzug wird ihm zu eng, und mit jeder Sekunde fällt ihm das Atmen schwerer. Ihm ist schwindlig, und er sieht nichts mehr, ahnt lediglich die Umrisse eines Menschen, der sich über ihn beugt.

Dennoch weigert er sich, in seinem eigenen Haus eine Niederlage einzugestehen.

In seinem Flur.

Einiges hat er für diesen Morgen vorhergesehen, aber nicht seinen Tod. Nicht heute.

Der Termin. Er muss pünktlich sein.

Die Kinder. Hat er ihnen überhaupt in die Augen geblickt, als die Tür vor einer knappen halben Stunde hinter ihnen ins Schloss gefallen ist? Statt sie zu umarmen und ihnen einen schönen Tag zu wünschen, hat er irgendeine SMS gelesen.

Mia. Da ist so vieles, was du nicht weißt, so vieles, das nicht mit mir verschwinden darf.

Das Leben kann nicht hier und jetzt zu Ende sein.

All das will er sagen, doch aus seiner Kehle dringt nur ein Röcheln.

Es kommt ihm vor, als würde eine Tür geschlossen, weit entfernt hört er ein Handy klingeln.

Er kann sich nicht bewegen. Sein Körper verweigert ihm den Dienst.

Endlich wird ihm bewusst, dass man ihn alleingelassen hat.

Alleingelassen, um zu sterben.

Donnerstag18. Mai

Jenny

Es ist ihr furchtbar peinlich, zu spät zu kommen, doch sobald sie den legendären Salon de Luca auf der Riddargatan betritt, weicht dieses Gefühl, und übrig bleibt nur noch blanke Wut.

Ihre Kundin sitzt auf dem falschen Stuhl.

Die einunddreißigjährige Jenny Ericson weiß genau, warum Mia Bonnevier schnell nach dem Handy greift, sobald sie den Blick hebt und sie erblickt: Es ist ihr unangenehm.

»Hallo, Mia«, sagt Jenny und zupft ihre gemusterte Bluse von Versace zurecht. Mia grüßt nervös zurück und weicht ihrem Blick dann aus.

Verräterin.

Natürlich kann sie sich aussuchen, bei wem sie sich die Haare schneiden lässt. Die Kunden kommen und gehen, selbst im angesagtesten Friseursalon Stockholms, man darf es nicht persönlich nehmen, wenn jemand wechseln möchte. Dennoch empfindet Jenny es als Niederlage, vor allem, wenn die Leute sich ausgerechnet lieber von Angelina Silver die Haare schneiden lassen wollen. Es wäre etwas anderes, wenn sie den Salon wechseln würden, aber warum sollten sie? Jenny mustert die stilvollen hohen Decken, das gediegene Parkett sowie die goldgerahmten Spiegel und Schwarz-Weiß-Porträts an den Wänden. Es ist reichlich Platz, aber es gibt nur drei Frisierstühle. Seit drei Jahren arbeitet sie hier, es ihr zweites Zuhause. Allerdings macht es jetzt längst nicht mehr so viel Spaß wie früher.

»Hast du verschlafen?«, fragt Angelina und schneidet Mia unbekümmert die Haare.

»Ich war noch beim Zahnarzt«, lügt Jenny, um sich vor der sechs Jahre jüngeren Kollegin nicht noch kleiner zu machen.

Eigentlich müsste sie inzwischen abgehärtet sein; Mia ist nicht die erste Kundin, die Angelina ihr wegschnappt. Schon nach wenigen Wochen hat Jenny gemerkt, dass Angelina es geradezu darauf anlegt, ihr die Kunden auszuspannen. Und zwar sowohl die neueren als auch Leute, die seit Jahren zu ihr kommen, wie zum Beispiel Mia und Thomas Bonnevier. Ganz offensichtlich hat sie keine Scham im Leibe.

Wenn es wenigstens dabei geblieben wäre.

Jenny schaut zu Stefano hinüber, dem Eigentümer des Salons. Wenn er sie ansieht, bekommt sie jedes Mal weiche Knie, auch wenn sie es nicht zugeben möchte.

»Hallo«, sagt er jetzt und lächelt angespannt.

Jenny merkt, wie schwer es ihr fällt, sich zu beherrschen und es unkommentiert zu lassen, dass Angelina ihr eine Kundin nach der anderen wegnimmt und Stefano nur daneben steht und zusieht. Er weiß, dass Familie Bonnevier seit Jahren bei ihr Kunde ist, dennoch mischt er sich nicht ein. Das verletzt sie. Und es wird auch nicht besser davon, dass von den Haarwaschbecken nebenan, wo die beiden Ledersessel für wartende Kunden dem Aquarium gegenüberstehen, ein verärgertes Räuspern erklingt.

»Bitte entschuldigen Sie«, sagt Jenny und hofft inständig, dass Alexandra heute nicht vergessen hat, ihre Pillen zu nehmen. Sie beeilt sich, durch den breiten Durchgang zwischen den beiden Räumen zu schlüpfen, und begegnet ihrem strafenden Blick.

»Mussten Sie lange warten?«

Alexandra sieht mürrisch auf die Uhr. »Eine Viertelstunde.«

»Setzen Sie sich doch schon mal nach drinnen«, sagt Jenny und deutet in Richtung Salon. »Soll ich Ihnen Kaffee nachschenken?«

»Nein, lass mal, komm lieber in die Gänge.«

Die akademische Viertelstunde scheint nur für sie selbst zu gelten. Es ist bestimmt das erste Mal, dass Alexandra pünktlich ist, doch das würde sie nie zugeben. Natürlich ist es für eine Hausfrau wichtig, Termine einzuhalten. Schließlich könnte sie ein paar Minuten zu spät beim Champagner-Lunch im Kaufhaus NK sein und müsste dann neben der Frau sitzen, die sie am wenigstens mag. Jenny weiß, wie Alexandra immer über ihre »Freundinnen« redet. Sie hat inzwischen Material für eine ganze Fernsehserie und ist schon vor geraumer Zeit zu dem Schluss gekommen, dass es alles andere als Freundschaft ist, was diese Frauen verbindet. Der richtige Familienname oder Titel wiegt schwerer.

Alexandra nimmt ihre exklusive Krokodillederhandtasche vom Tisch, so dass die Vase ins Wanken gerät. Die Schnittblumen sehen müde aus. Jenny wundert sich nicht, dass niemand sie erneuert hat. Angelina würde niemals freiwillig welche kaufen.

Schnell versieht sie Alexandra mit bunt glänzenden, ausländischen Modemagazinen wie Vanity Fair, Elle und Vogue und legt ihr anschließend den Frisierumhang um.

»Aber die Vogue ist ja vom letzten Monat«, beschwert sich Alexandra.

Bevor Jenny reagieren kann, ist Angelina zur Stelle. »Hier ist die neueste Ausgabe«, sagt sie und reicht sie Alexandra, die anerkennend lächelt, bevor sie Jenny einen verächtlichen Blick zuwirft.

Jenny bemüht sich um Fassung. Sie weiß, dass sie sich nicht von solchen Zwischenfällen herunterziehen lassen darf, sondern nach vorne schauen muss. Sie muss Spitzenleistung erbringen und die Kunden halten, die sie noch hat. Bei Alexandra würde es ihr zwar nichts ausmachen, sie zu verlieren, aber sie kann es sich leider nicht leisten, wählerisch zu sein.

Nicht, seit Angelina im Salon angefangen und alles kaputt gemacht hat.

Angelina

Dass Jenny um fünf nach elf gestresst hereinkommt, ist das eine, das bedeutet jedoch noch lange nicht, dass sie sich so unverschämt benehmen darf! Angelina kann schließlich nichts dafür, dass sie eine gute Friseurin ist.

In den drei Monaten, die sie nun schon zusammenarbeiten, hat sie sich redlich bemüht, Jenny entgegenzukommen, aber es bringt nichts. Jenny hat sie von Anfang an nicht gemocht, und es ist ja auch nicht das erste Mal, dass eine andere Frau ein Problem mit ihr hat. Mit Männern ist das etwas anderes. Mit Stefano ist sie von Anfang an gut klargekommen, und das ist die Hauptsache.

Schon als Kind hat sie von einem Leben als Starfriseurin in Stockholm geträumt. Viele Jahre hat sie von weitem die Entwicklung des Salon de Luca verfolgt, vor allem die Karriere Stefanos, nachdem dieser ihn von seinem italienischen Vater übernommen hatte. Dort wollte sie arbeiten und mit der Elite auf Tuchfühlung gehen.

Und jetzt, dreizehn Jahre später, ist sie endlich hier.

Der Salon spielt noch immer in einer eigenen Liga. Der Stil und die Details aus den sechziger Jahren sind beibehalten worden, auch wenn er renoviert und modernisiert worden ist, um den hohen Standard zu halten.

Auch Jenny täte eine Auffrischung gut, vor allem ihrem langen braunen, nichtssagenden Haar. Natürlich muss es sie kränken, ohne jede Erklärung ausgetauscht worden zu sein, doch sie täte besser daran, ihre Enttäuschung zu verbergen. Sie scheint nicht zu begreifen, dass es auf sie selbst zurückfällt. Stefano weiß schließlich genau, was vor sich geht.

In einem Salon voller Spiegel kann niemand etwas verbergen.

Angelina hatte sich eingebildet, alles würde gut, sobald sie hier anfing zu arbeiten. Noch aber ist ihr Leben weit entfernt von perfekt. Der Weg zum Glück ist eben doch steinig.

Wer wüsste das besser als sie.

Draußen scheint die Sonne, und eigentlich müsste sich nun endlich das herrliche Frühsommergefühl einstellen. Niemand darf ihr das verderben. Sie hat all die Jahre gekämpft, um hierher zu kommen, und jetzt soll es bitteschön auch genauso fantastisch werden, wie sie es sich ausgemalt hat. Natürlich wäre der Salon de Luca ein wesentlich angenehmerer Arbeitsplatz, wenn Jenny nicht da wäre. Angelina ist sich beinahe sicher, dass ihre mürrische Art böse Energien freisetzt und etwas Schreckliches geschehen wird.

Oder sogar bereits geschehen ist.

Jenny

Sie steht bei der Arbeit nicht mehr neben Stefano, denn diesen Platz hat Angelina eingenommen. Nach nicht einmal einem Tag hat sich alles verändert. Jenny hatte sich gerade von dem langersehnten Weggang von Beatrice erholt, doch die Freude darüber, keine weibliche Konkurrenz mehr zu haben, hielt nur kurz. Dass es schlimmer werden könnte als zuvor, hätte sie sich in ihren wildesten Fantasien nicht träumen lassen. Jenny weiß nicht, wie oft sie sich in den letzten Monaten nach Beatrice zurückgesehnt hat.

Jede andere ist besser als Angelina.

Es war erschreckend mit anzusehen, wie schnell sich der Salon nach deren Auftauchen veränderte. Jenny hatte tagein, tagaus hier gestanden und akzeptierte, dass nichts verändert werden durfte, dass alles im Originalzustand bleiben musste. Und jetzt, plötzlich, gibt es Neuerungen! Angelina hat einen hellen Silbervorhang für das Fenster zum Raum mit den Haarwaschbecken vorgeschlagen. Sie meinte, gewisse Stars und Sternchen würden vielleicht nicht so gerne bei Snapchat landen. Und da beide Räume des Salons große Schaufenster zur Straße hin haben, ist er komplett einsehbar, doch das wissen die Kunden ja auch, wenn sie zu ihnen kommen. Der Salon de Luca hat all die Jahre immer gleich ausgesehen und ist genau dafür berühmt. Dennoch ging Stefano sofort auf Angelinas Vorschlag ein und fand sogar, der Silbervorhang passe ausgezeichnet zu der goldenen Fondtapete.

Damit gab Angelina sich allerdings noch längst nicht zufrieden, sie wollte auch, dass die Retro-Küche ein neues Gesicht erhielt. Und dann überschritt sie alle Grenzen, indem sie eines der Bilder von Leonardo herunternahm. An der Wand sieht man noch die Staubspuren, die der Rahmen hinterlassen hat. Angelina fand, das Porträt sei sexistisch und unmodern und propagiere die Unterdrückung der Frau. Der leere, verletzliche Blick des Modells gebe ihr eine Opferrolle. Doch statt sie daraufhin kurzer Hand hinauszuwerfen, nickte Stefano nachdenklich und murmelte nur, so habe er das Foto noch nie gesehen. Er sei dankbar für diesen Input.

Dankbar?

Jenny fiel die Kinnlade herunter, und sie hätte am liebsten das Aquarium gegen eine der großen Fensterscheiben geworfen. Stefanos Vater Leonardo hätte sich im Grab umgedreht, wenn er gewusst hätte, was hier geschah. Er verabscheute Veränderungen, vor allem, wenn es um die Einrichtung des Salons ging. Das machte er ihr bei den wenigen Malen klar, die sie sich getroffen hatten. Sie selbst hat niemals auch nur einen Verbesserungsvorschlag geäußert. Sie dachte, das wäre, wie in einer Kirche laut zu fluchen.

Angelina dagegen wagte es bereits an ihrem ersten Tag.

Stefano ist völlig verblendet von ihr.

»Wie hübsch das wird«, zwitschert Mia hinter Jennys Rücken.

Jenny schluckt und gibt sich größte Mühe mit Alexandras Haar, das sich heute jedem Frisierversuch verweigert. Die Locken fallen in sich zusammen, sobald Jenny die Lockenzange weglegt, und das Haar bleibt glatt, so heiß sie die Zange auch einstellt.

»Montazami-Locken, hatte ich gesagt«, mahnt Alexandra verärgert, und Jenny versucht zu liefern, ohne dabei das spröde Haar zu verbrennen.

Es ist, als hätte sich alles gegen sie verschworen.

Ihr Leben befindet sich in einer Abwärtsspirale, und sie weiß nicht, wie sie sich daraus befreien soll. Vielleicht ist sie doch eine schlechte Friseurin. Doch dann würde sie hier ja nicht arbeiten. Jenny merkt, wie ihr Selbstvertrauen mit jeder Minute schrumpft, die sie in Angelinas Gesellschaft verbringt. Die Wut über ihre Ohnmacht wird immer größer. Noch hat Jenny nichts von Angelinas Gesellenbrief gesehen, doch inzwischen wundert sie gar nichts mehr.

Wahrscheinlich hat sie gar keinen.

Und das wird nicht das Einzige sein, worüber Angelina lügt.

Stefano

Er kann gar nicht aufhören, an das Wesen neben sich zu denken, das sich ihm an einem kalten Februartag mitten auf dem Stureplan in den Weg gestellt und gesagt hat, es würde alles dafür tun, im Salon de Luca arbeiten zu dürfen. Sie war viel zu leicht bekleidet, in einem enganliegenden, knielangen Kleid und einem viel zu weiten Mantel. Doch darunter ahnte er eine sportliche Silhouette, und er hatte recht. Angelina hat eine hübsche Figur, er muss sich zusammenreißen, sie nicht ständig anzustarren. Damals klapperte sie mit den Zähnen und hatte eine rote Nasenspitze. Er erinnert sich an seinen Instinkt, sie wärmen zu wollen. Stattdessen schlug er vor, sie könnten ins Tures in der Sturegalerie gehen und dort weiterreden.

Es war die beste Entscheidung seines Lebens.

Ihr Gesicht leuchtete auf, und sie erzählte ihm, dass sie seit ihrer Kindheit auf diesen Moment gewartet habe. Den ganzen Weg durch die Galerie redete sie ununterbrochen, und er konnte nicht anders, als sich von ihrer Begeisterung mitreißen zu lassen. Ihre Aufrichtigkeit und ihre furchtlose Ehrlichkeit faszinierten ihn. Natürlich hatte er nicht vorgehabt, den freien Stuhl in seinem Salon an jemanden wie sie zu vermieten. Er hatte eine ganze Liste verdienstvoller Friseurinnen und Friseure, die daran interessiert waren, bei ihm zu arbeiten. Aber Angelina machte ihn einfach neugierig.

Stefanos bisherige Erfahrung mit dem anderen Geschlecht war, dass man sich zwischen Schönheit und Intellekt entscheiden musste. Nicht so bei Angelina. Sie hatte alles. Schönes, aschblondes Haar und leuchtend blaue Augen, die einem den Atem verschlugen. Lange schlanke Beine, einen durchtrainierten Körper mit nicht zu großen Brüsten und ein strahlendes Lächeln mit schneeweißen, perfekt gebleichten Zähnen. Ihre kecke Art vermittelte Intelligenz und Integrität. Immer hat sie diesen Komm-mir-nicht-mit-irgendwelchem-Unsinn-Blick, und ihre ganze Persönlichkeit strahlt Selbstvertrauen aus – zu Recht! Sie ist wahnsinnig geschickt mit der Schere und traut sich, alles auszureizen, die Kunden herauszufordern, etwas Neues auszuprobieren. Gleichzeitig ist sie eine hervorragende Zuhörerin und interessiert sich mehr für die Kunden als für sich selbst. Die Leute stehen Schlange, um einen Termin bei ihr zu bekommen, was angesichts der kurzen Zeit, die sie erst hier arbeitet, eine unglaubliche Leistung ist. Und als wäre das noch nicht genug, hat sie auch noch einen hintergründigen Humor, wie er ihn bisher nur von Männern kannte. Sie hat ein loses Mundwerk und zögert nicht, Kraftausdrücke zu benutzen. Total befreiend. Sie ist so weit vom Östermalm-Ton entfernt, wie man es sich nur vorstellen kann, und man kann nicht anders, als diese Art zu lieben.

Deshalb fällt es ihm nicht schwer, über den ausbleibenden Gesellenbrief hinwegzusehen. Wen kümmert die Ausbildung? Sie ist auch so verdammt gut, ob sie sich das nun selbst beigebracht oder eine Friseurschule besucht hat. Es spielt keine Rolle. Wer wüsste das besser als er, der so gut wie alle Tage seines zweiundvierzigjährigen Lebens in diesem Salon verbracht hat.

Jetzt steht Angelina eine Armlänge von ihm entfernt und arbeitet. Es ging alles ganz schnell und schmerzlos.

Zumindest am Anfang.

»Die Locken wollen heute nicht so recht«, hört er Jenny hinter sich sagen, versucht jedoch, sie zu ignorieren. Stattdessen konzentriert er sich auf Michel, der vor ihm sitzt.

Er kann Männer mit langen Haaren nicht ausstehen. Männer sollten keinen Zopf tragen, hört Stefano seinen Vater im Hinterkopf sagen. Laut Leonardo de Luca ist es ein regelrechtes Dienstvergehen, nicht zur Schere zu greifen und den Zopf abzuschneiden. Doch Stefano weiß, dass es dasselbe wäre, wie Michel die Geschlechtsorgane abzuschneiden. Er hat diese Frisur schon sein ganzes Erwachsenenleben, er ist diese Frisur. Ohne sie würde er seine Identität verlieren, und das will Stefano nicht riskieren.

Michel trinkt den grünen Saft, den er mitgebracht hat, und obwohl er ihm den Rücken zukehrt, riecht Stefano den eigenartigen Geruch aus seinem Mund.

»Brokkoli?«, fragt er und deutet auf die grüne Pampe in Michels durchsichtigem Plastikbecher.

»Woher weißt du das?«, fragt Michel beeindruckt. »Willst du mal probieren?«

Nie im Leben würde er dieses Gift trinken, das aussieht, als käme es direkt vom Kompost.

»Nein, danke, ich versuche gerade aufzuhören«, scherzt Stefano und stößt diskret auf. Er muss an gestern Abend denken. Der Geschmack nach Wodka, der bereits im Magen war und wieder zurückkehrt, verursacht ihm Übelkeit. Warum kann er nie rechtzeitig mit dem Trinken aufhören? Wobei der Promillegehalt gestern noch das geringste Problem gewesen ist. Dabei hatte er sich doch selbst versprochen, nie wieder zu spielen. Dennoch hat er mehr gesetzt, als er hatte, und musste sich etwas leihen. Schon wieder. Geld, das er nicht besaß, aber gewinnen wollte.

Der Abend endete übel und mit noch viel größeren Verlusten.

So groß, dass er den Gedanken daran lieber von sich schiebt.

Jenny

Jenny fährt mit den Fingern durch Alexandras kaputt gebleichtes Haar. Sie färbt es sich viel zu oft, aber Jenny weiß, dass sie nichts sagen darf, was auch nur im Entferntesten kritisch klingt.

»Bist du bald fertig mit den Locken?«, fragt Alexandra.

»Sofort«, sagt sie und sprayt vergeblich.

So unfreundlich die Leute auch sind, muss sie doch lächeln und tun, was von ihr verlangt wird. Gerade wohlhabende Menschen scheinen oft zu glauben, sie hätten das Recht, einfach so herumzumeckern. Der Kunde hat immer recht, egal wie unrecht er hat. Interessanterweise ist ausschließlich sie es, die mit der schlimmsten Sorte zu tun hat. Noch nie hat sie ähnliche Sticheleien oder gemeine Kommentare gegenüber Angelina oder Stefano gehört. Auf ihr dagegen kann man anscheinend problemlos herumhacken.

Es kommt ihr vor, als würde der Respekt für alle im Salon reichen, nur nicht für sie. Sobald Angelina den Raum betritt, bleibt alles stehen, so auch, als sie zum ersten Mal im Salon de Luca auftauchte.

Es war der Tag, an dem Jennys Leben in Stücke ging.

Sie wusste sofort, dass Angelinas natürliche Autorität und ihr Selbstvertrauen sie selbst zerbrechen würden. Sei es aus weiblicher Intuition oder früherer Erfahrung.

Beziehungsweise: Sie liest es immer wieder aufs Neue in Stefanos Blick.

Stefano, dieser ewige Single, der nie eine findet, die gut genug ist. Der ständig von Frauen umlagert wird. Sie stehen Schlange, um seine italienischen Lippen zu küssen, mit den Fingern durch sein schokoladenbraunes Haar zu fahren (Kakaogehalt: siebzig Prozent) und ihre Arme um seinen muskulösen Oberkörper zu schlingen.

Sie erinnert sich mit Abscheu, wie fasziniert er Angelina betrachtete. So wie Jenny es sich immer gewünscht hatte, worum sie Woche für Woche gekämpft hatte. Stefano hatte sie nach der Arbeit sogar einmal in den Sturehof und ins Riche eingeladen. Endlich schien sich etwas zwischen ihnen zu entwickeln, auch wenn es bei diesen beiden Dates blieb. Sonst hätte er sie doch nicht geküsst. Doch nach Angelinas Auftritt im Salon war das vorbei. Jetzt hechelt er ihr hinterher. Der Diamantring am linken Ringfinger dieser Schlampe scheint ihn nicht zu stören, er ist ihr total verfallen.

Jenny begreift nicht, dass Stefano nicht merkt, wie Angelina ihn manipuliert. Er ist so leichtgläubig, dass sich ihr der Magen umdreht. Sie wirft ihm einen Blick zu, wie er in seinem anspruchslosen T-Shirt dasteht, das über dem Brustkorb spannt. Er ist immer leger gekleidet, in Jeans und Pullover oder aufgeknöpftem Hemd, kann es sich jedoch auch leisten, weil er Leonardos Sohn ist.

Jenny sucht nach ihrem Kamm und ihrer Schere, findet sie aber nirgends. Sie dreht sich zu Angelina um und stellt fest, dass auf ihrem Rollwagen umso mehr Werkzeug liegt.

»Hast du schon wieder meine Sachen genommen?«, fragt sie. Angelina erstarrt und sieht sie kühl an.

»Kann sein, ich weiß es nicht genau«, antwortet sie vage, und Jenny merkt, wie ihr Zorn noch mehr ansteigt. Natürlich weiß sie, ob sie sich etwas ausgeliehen hat oder nicht!

»Das sind meine«, sagt Jenny und reißt den Kamm und die sündhaft teure Schere für sechstausend Kronen an sich, obwohl jeder im Raum sie hören kann. Wie schwer kann es sein, ihre Sachen in Ruhe zu lassen?

»Sorry, ich wusste nicht, dass du da so empfindlich bist.«

Jenny wirft den Kopf zurück, ist sich jedoch im Klaren, dass sie die große Verliererin ist, wenn sie hier im Salon eine Szene macht. Dabei spielt es überhaupt keine Rolle, dass sie eigentlich im Recht ist.

»Vielleicht möchtest du auch noch meine Handtasche durchsuchen«, murrt Angelina, und Jenny hört zu ihrer Verzweiflung, wie Stefano lacht.

Das ist nicht witzig.

Dann verzieht sich Angelinas Gesicht plötzlich zu einer erschrockenen Grimasse, und sie hält sich krampfhaft an der Lehne des braunen Retrosessels fest.

Ihre Knöchel treten weiß hervor.

Angelina

Ihr wird schwarz vor Augen, und die scharfe japanische Schere mit den Goldverzierungen gleitet ihr aus der Hand. Sie kann gerade noch den Fuß wegziehen, bevor sie mit einem klirrenden Geräusch auf dem Fischgrätparkett landet.

»Entschuldigung«, ist das Einzige, was sie herausbringt.

Sie bückt sich, um die Schere aufzuheben, die in den Haarbüscheln zu ihren Füßen gelandet ist. Gleichzeitig versucht sie die schrecklichen Bilder zu verdrängen, die sie heimsuchen.

Unheimliche Bilder von Tod.

Im Spiegel sieht sie nicht mehr Mias fragenden Blick, sondern eine ganz andere Szene, von einem ganz anderen Ort in Stockholm. Da ist so viel Blut überall, wie von einem Kampf. Einem heftigen Kampf. Der Mann auf dem Boden ist kreidebleich, er wurde brutal ermordet. Seine Hände sind dunkelrot, er muss versucht haben, die Blutung an seinem Hals zu stoppen. Seine Finger haben das Blut auf dem Boden verschmiert.

»Alles okay bei dir?«, fragt Mia Bonnevier besorgt.

Angelina schließt die Augen und öffnet sie dann wieder, kann jedoch nach wie vor nicht richtig fokussieren. Im Spiegel ahnt sie eine verschwommene Gestalt.

Atmen.

Eine Wolke von Haarspray aus Jennys Richtung bringt Angelina wieder zu sich.

Auch wenn es nicht das erste Mal ist, dass sie Bilder von Tod und Gewalt sieht, hat sie weiche Knie, und ihr ist schwindlig. Und es bringt auch nichts, diese Visionen wegzuschieben. Das hat sie schon als Kind gelernt.

»Ja, alles bestens«, sagt sie schließlich und schneidet Mias dunkelbraunes Haar an den Seiten noch ein bisschen kürzer. Keine Spur von Spliss soll sie mehr haben, wenn sie den Salon verlässt, so gespalten Angelina sich auch fühlt.

Stefano tut, als wäre nichts geschehen, doch sie wissen beide, dass eine versehentlich zu Boden fallende Schere im angesagtesten Salon Östermalms nicht üblich ist.

Jetzt sieht sie wieder Mia im Spiegel, und sie versucht sich auf das zu konzentrieren, was sie tut: Haare schneiden. Are you with me, ertönen Lost Frequencies aus dem Lautsprecher, und Angelina fühlt sich persönlich angegriffen. Natürlich ist sie dabei, so aufgewühlt sie auch sein mag. Sie ist immer auf Zack, bereit, Leistung zu erbringen, egal, was sich in ihrem Kopf abspielt. Nachdem sie es endlich bis hierher geschafft hat, darf einfach nichts schiefgehen. Vielleicht hört ihr Gehirn ja auf, sie zu terrorisieren, wenn sie wieder redet. Sie muss irgendetwas sagen, egal was. Mias Cappuccino ist alle, der braunweiße Schaum ist an der Innenseite der Tasse festgetrocknet, und ihr roter Lippenstift hat Spuren auf dem Goldrand hinterlassen. Angelina bietet ihr eine zweite Tasse an.

»Nein, danke«, sagt Mia, offensichtlich froh, dass sie das Schweigen endlich bricht. »Ich habe schon eine Tasse bei meinem Frühstücksmeeting getrunken, bevor ich hierher gefahren bin. Nach dem chaotischen Morgen brauchte ich dringend Koffein. Erst die Große zur Schule bringen, dann weiter zum Kindergarten. Es wäre ja okay gewesen, wenn die Kinder einigermaßen kooperiert hätten. Und wenn ich einen Mann an meiner Seite gehabt hätte, der mir geholfen hätte.«

Wenn ich einen Mann gehabt hätte.

Angelinas Nackenhaare stellen sich auf, sie unterbricht sich schon wieder beim Schneiden. Immerhin gelingt es ihr, die Schere nicht zu verlieren oder Mia das Ohrläppchen abzuschneiden, obwohl sie nahe daran ist. Mia plappert unbekümmert drauflos, erzählt von ihrem stressigen Alltag, ihrem ewigen Hamsterrad. Wie erstaunlich wenig Thomas begreift, was sie zu Hause alles leistet, all die unsichtbaren kleinen Handgriffe, die er für selbstverständlich hält. Wenn er sie wenigstens ein bisschen mehr wertschätzen würde. Es klingt nicht gerade reizvoll, wenn jemand kaum einen Brand löschen kann, bevor der nächste auflodert. Dennoch scheint das morgendliche Chaos Mia nicht daran gehindert zu haben, sich sorgfältig zu schminken. Wie immer ist sie elegant gekleidet und trägt diskrete Goldohrringe.

»Ein Geschenk von Thomas, zum Hochzeitstag«, sagt sie stolz und fasst sich an die Ohren. »Wir haben letztes Jahr unser Zehnjähriges gefeiert.«

Angelina wird sich bewusst, dass sie die Ohrringe angestarrt hat. Ihr fallen Mias Fingernägel der rechten Hand auf. Der Lack ist zerkratzt, was nicht zu ihr passt, sie überlässt sonst nichts dem Zufall.

Ein perfektes Äußeres ist ihr wichtig. Es darf nicht durchscheinen, was den Alltag bei ihr zu Hause wirklich bestimmt. Angelina weiß, dass Mia gar nichts zu sagen hat, dass Thomas mit eiserner Hand regiert. Wahrscheinlich hat er auch entschieden, dass die Familie die Friseurin wechselt.

Angelina ist eine Meisterin, wenn es darum geht, andere Menschen zu durchschauen und sich nach ihnen zu richten, doch für den Augenblick ist sie zu erschrocken von den Bildern des toten Mannes, als dass sie das Gespräch aufrechterhalten und interessiert wirken kann.

Und das ist vielleicht auch nicht merkwürdig, wenn man bedenkt, wen sie sieht.

Thomas.

Stefano

Angelina sieht aus, als hätte sie eine Todesnachricht erhalten. Sie entschuldigt sich und geht zur Toilette, und er wendet seine Aufmerksamkeit wieder Michel zu. Erst jetzt bemerkt er die dunklen Ringe unter dessen Augen und begreift, dass er längst hätte fragen müssen, wie es ihm geht, doch er ist sich nicht sicher, ob er die Antwort hören möchte. Immer gibt es Problem mit seinem Freund beziehungsweise mit ihren beiden Hunden, die einfach nicht miteinander klarkommen. Er hat keine Lust auf Michels Ausführungen über Hundetherapien, die ohnehin keinerlei Wirkung zu zeitigen scheinen. Stefano kann nur schätzen, wie viel Geld Michel und sein Freund bereits dafür ausgegeben haben, damit ihre Haustiere sich vertragen. Ein Jahresgehalt vielleicht?

Als Angelina von der Toilette zurückkehrt, treffen sich ihre Blicke. Normalerweise würde sie den Song mitsingen, der gerade läuft, und zwar ziemlich falsch. Aber sie bleibt stumm. Das Leuchten ist aus ihren Augen verschwunden. Sie sieht aus, als hätte sie ein Gespenst gesehen.

»Don't let me down«, singt Michel stattdessen mit düsterer Stimme mit.

Stefano mustert ihn und hofft, dass er ihn nicht irgendwie enttäuscht hat. Er kann es sich nicht leisten, Kunden zu verlieren. Es ist schwierig, heute noch wirtschaftlich zu arbeiten, der Salon blutet förmlich aus.

»Entschuldigung, meinst du mich?«

»Das Lied. Das heißt so«, sagt Michel mürrisch. »Ich habe mich gerade gefragt, ob ihr es extra für mich spielt.«

Oder für mich.

Stefano muss an seinen Vater denken, wie er auf dem Totenbett die Hand nach ihm ausstreckte, um sich zu verabschieden. Im selben Moment übergab er ihm auch die Verantwortung für den Salon. Bis zuletzt hatte er damit gewartet, denn er klammerte sich immer noch an die Hoffnung, den Krebs besiegen zu können. Zwei Tage später starb er, und Stefano schwor, alles zu tun, um sein Vertrauen zu rechtfertigen.

Der Geruch nach Leonardos Rasierwasser hängt noch immer in den Wänden – und leider auch der Zigarrenrauch, auch wenn dieser von den täglichen Überdosen Haarspray ein wenig übertönt wird. Er spürt die Anwesenheit seines Vaters permanent, obwohl er bereits vor zweieinhalb Jahren gestorben ist. Wo Stefano jetzt steht und seiner Arbeit nachgeht, hat er früher neben den hochhackigen Schuhen der Kundinnen auf dem Boden gesessen und dem regelmäßigen Klappern der Schere seines Vaters gelauscht. Er hat immer gewusst, dass er Friseur werden würde, es war ihm in die Wiege gelegt. Und sobald jemand fragte, was der Junge einmal werden würde, erwiderte sein Vater genau das. Ob er in die Fußstapfen seines Vaters treten werde? Natürlich, und nicht nur das, er würde sie ausfüllen, buchstäblich gesprochen, noch dazu in derselben Schuhgröße.

Manchmal scheuert diese imaginäre Fußfessel gewaltig an seinem Knöchel.

Leonardo war ein Visionär, kein Realist. Die Finanzen und anderes dummes Zeug interessierten ihn nicht, wie er selbst immer sagte. Und als er starb, stellte sich heraus, dass der Salon auf einem ganzen Schuldenberg stand. Stefano weiß noch immer nicht, wie er das finanzielle Chaos in den Griff bekommen soll, das sein Vater ihm statt eines Erbes hinterlassen hat.

Angelina

Thomas' Bild steht ihr immer klarer vor Augen. Das Blut pulsiert aus der offenen Halswunde, und er rührt sich nicht mehr. Seine Augen sind panisch aufgerissen.

Es ist wie eine Szene aus einem Horrorfilm.

»Bist du sicher, dass alles in Ordnung ist?«, fragt Mia. »Du bist ganz blass.«

Angelina schiebt es auf einen plötzlichen Blutzuckerabfall. »Ich habe noch nicht gefrühstückt.«

Sofort berichtet Mia von den Diäten, die sie ausprobiert und wieder verworfen hat, doch Angelina hört ihr nur mit halbem Ohr zu. Sie kann nicht aufhören, an Thomas zu denken. Erst vor wenigen Tagen hat er gefragt, ob sie nicht zu einem Hausbesuch nach Bromma kommen könnte, um den Kindern die Haare zu schneiden. Deshalb hat sie ein klares Bild vor sich, wie es bei ihnen zu Hause aussieht. Mit dem großen Unterschied, dass Thomas damals nicht tot auf dem Boden lag.

Angelina weiß noch genau, wann sie gemerkt hat, dass sie einen sechsten Sinn hat. Sie war elf Jahre alt und erwachte mitten in der Nacht aus einem schrecklichen Albtraum. Ihr kleiner Bruder Mons war im Eis eingebrochen. Der Traum war so real, dass sie die ganze Nacht nicht mehr zur Ruhe kam. Ihr Herz klopfte viel zu schnell, und sie war am ganzen Körper schweißgebadet. Irgendwann musste sie dann doch wieder eingeschlafen sein. Als sie das nächste Mal die Augen öffnete, war es hell. Am Morgen wagte sie nicht, ihrer Mutter etwas zu erzählen, sie hätte ihr ohnehin nicht geglaubt. Mutter Kerstin, die sie nie bestätigte, sondern immer alles relativierte. Egal, worum es ging: Angelina hatte die Hoffnung aufgegeben, dass sie ihr jemals zuhören würde. Und ihr Vater Lennart war der Letzte, dem sie sich anvertrauen wollte. Er hatte niemals Zeit für sie.

So beschloss sie zu schweigen.

Es dauerte nur wenige Tage, bis der schreckliche Albtraum in Erfüllung ging. Als sie Mons auf dem dünnen Eis unten am Steg spielen sah, blieb ihr beinahe das Herz stehen. Sie erinnert sich, wie sie ihn anschrie, sofort auf den Steg zu klettern, herunter von dem lebensgefährlichen Eis. Doch ihr sechsjähriger Bruder liebte es, das Schicksal herauszufordern. Und warum sollte er auf sie hören, wenn kein anderer aus der Familie etwas sagte? Mit trotziger Miene entfernte er sich immer weiter vom Steg, er begriff nicht, dass die Unterwasserströmungen hier besonders tückisch waren.

Angelina rannte zum Ufer.

Sie rannte so schnell sie konnte, doch bevor sie das Schilf erreichte, brach das Eis unter seinen Füßen. Direkt vor ihren Augen ging ihr Bruder unter. Ein verblüffter Schrei, dann verschwand er im tiefen, eiskalten Wasser, rettungslos verloren. Der See verschluckte ihn. Sie erinnert sich, dass sie schrie und ihm hinterherstürzte.

Dann wurde alles schwarz.

Nachdem der erste Schreck sich gelegt hatte, wunderte sie sich, dass ihre Haut brannte, obwohl sie eigentlich hätte frieren müssen. Plötzlich waren überall fremde Menschen, und ein Rettungshubschrauber kreiste über ihren Köpfen. Sie war in Wolldecken gehüllt, deren Farben sie nicht kannte. Das verunsicherte sie und ließ alles unwirklich erscheinen. Dann begann es in Fingern und Füßen zu kribbeln, es pulsierte und tat höllisch weh.

Mons wurde gefunden, aber nicht schnell genug.

Angelina begriff nie, warum sie ihre Eltern nicht vorgewarnt hatte. Als Kind dachte sie, dass sie das Unglück hätte verhindern können.

Heute weiß sie, dass es nichts genutzt hätte.

Seit Mons' Unfall wird sie immer wieder von den Bildern toter Menschen heimgesucht. So wie jetzt. Soll sie versuchen, Mia etwas zu sagen? Aber was? »Du, ich glaube, du solltest zu deinem Mann nach Hause fahren und nachsehen, ob er nicht im Flur liegt und verblutet.«

Wohl kaum.

Jenny

Sie hat nie ein Problem mit dem Lärmen des Föhns gehabt, heute aber frisst sich das andauernde Surren geradezu in ihr Gehirn. Jenny merkt, dass Angelina sich seltsam benimmt, und das nicht zum ersten Mal.

Sie ist so widersprüchlich.

Offiziell behauptet sie, sie sei im nobelsten Viertel von Bromma aufgewachsen, doch das kann gar nicht stimmen. Man hört sofort, dass sie nicht einmal aus dem Stockholmer Umland kommt. Es ist Jenny unbegreiflich, dass niemand außer ihr es bemerkt.

Darüber hinaus beherrscht sie die sozialen Codes nicht. Über gewisse Dinge spricht man einfach nicht, zum Beispiel über Geld. Auf die Frage, wie es einem geht, antwortet man »gut«, selbst wenn beim Partner gerade Krebs diagnostiziert wurde. Angelina dagegen holt immer weit aus, wenn sie antwortet, und erwartet dasselbe von ihren Kunden. Die Gespräche werden dadurch so intensiv, dass manche anschließend wie auf Wolken davonschweben, als hätten sie soeben Mutter Teresa getroffen und wären erleuchtet worden. Es ist so peinlich, wie sie sich ständig in Dinge einmischt, die sie nichts angehen.

Jenny selbst arbeitet lieber in entspanntem Schweigen.

Niemand, der auf ihrem Frisierstuhl sitzt, soll das Gefühl haben, sie unterhalten zu müssen. Angelina dagegen redet ganz offen über alles und bläst sich vor den Kundinnen geradezu auf. Und egal worüber sie sich unterhalten, hat sie immer eine Antwort parat. Sie versteht alles und jeden und bestätigt übertrieben jeden kleinsten Gedanken.

So ein Geschleime!

Zwar ist Angelina deutlich jünger als sie, dadurch lässt sich ihre berechnende Art in Jennys Augen jedoch nicht entschuldigen. Angelina behauptet steif und fest, mit einem reichen Mann verheiratet zu sein, und dass sie in einer fantastischen Wohnung in der Skeppargatan wohnen würden. Jenny hat Peter Silver gegoogelt. Da er nie im Salon auftauchte, hatte sie den Verdacht, es gebe ihn möglicherweise gar nicht. Beschämt musste sie sich eingestehen, dass sie unrecht hatte.

Das Schlimmste ist, dass Angelina sich ständig Jennys Scheren ausleiht, ohne vorher um Erlaubnis zu fragen. Sie scheint nicht zu begreifen, dass es dasselbe ist, wie eine fremde Zahnbürste zu benutzen.

Manchmal kommt es Jenny vor, als lege sie es geradezu darauf an, einen Krieg mit ihr vom Zaun zu brechen.

Noch dazu ist Jennys Leopardenetui mit der Extraausrüstung verschwunden. Sie hat es überall gesucht, aber vergebens.

Jenny wirft Angelinas Rücken einen bösen Blick zu. Am liebsten würde sie ihre Fingernägel in das maßgeschneiderte Kleid schlagen und es zerreißen. Dann kann sie allerdings gleich ihren Hut nehmen und braucht sich nie wieder hier blicken zu lassen.

Jenny muss aufpassen, sich nicht immer so in alles hineinzusteigern, doch seit Angelina im Salon angefangen hat und Unruhe und Zwietracht sät, fällt ihr das ungeheuer schwer.

Als sie jetzt ihre Schere mit den grünen Verzierungen säubern will, ist sie ebenfalls verschwunden, obwohl sie sicher war, sie gerade noch in der Hand gehalten zu haben.

»Hat jemand meine Schere mit den grünen Griffen gesehen?«, fragt sie und klingt vorwurfsvoller als beabsichtigt. Die Antwort ist aber auch so offensichtlich!

Angelina zieht die Augenbrauen hoch. Mehr braucht es nicht, um Jenny auf hundertachtzig zu bringen.

»Guck nicht so blöd«, faucht sie. »Du vergreifst dich doch ständig an meinen Sachen.«

Angelina hebt einen schwarzen Umhang auf, den jemand über Jennys Frisierwagen geworfen hat.

»Meinst du diese hier?«, fragt sie, und Mia schaut peinlich berührt zu Boden.

Jenny flucht stumm und reißt die spitze Schere an sich.

Stefano

Jennys Wut ist unübersehbar, und sie tut ihm ja auch leid, obwohl sie selbst schuld ist, wenn sie immer gleich die Stacheln ausfahren muss. Er weiß, dass ihr dieses Verhalten Sekunden später schon wieder leidtun wird, dennoch kann es so nicht weitergehen. Es wird allmählich unerträglich. Er muss sich darum kümmern, sosehr er Konflikte auch scheut. Kann sie sich nicht einfach mit der neuen Ordnung abfinden?

Dass Jennys Mutter, diese grässliche Charlotte, die Miete für Jennys Stuhl bereits für das ganze Jahr im Voraus bezahlt hat, macht die Sache auch nicht einfacher. Er hatte keine andere Wahl, als sie um diesen Vorschuss zu bitten, denn er brauchte das Geld dringend.

Angesichts der Mutter ist es eigentlich ein Wunder, dass Jenny überhaupt so ein guter Mensch geworden ist. Nicht ein einziges Mal in den drei Jahren, die sie nun schon für ihn arbeitet, ist ihr ein wirklicher Fauxpas unterlaufen. Sie kommt normalerweise nie zu spät und vergisst nie, zum Feierabend Kasse zu machen oder die Tür abzuschließen. Jenny ist eine ausgezeichnete Kollegin. Eine unkomplizierte und fügsame Person. Zumindest war sie das, bis Angelina auftauchte. Jenny und Beatrice verstanden sich zwar ebenfalls nicht sonderlich gut, aber dass Jenny als tickende Zeitbombe durch die Gegend läuft, ist relativ neu. Und irgendwie kann Stefano sie auch verstehen. Es ist wahrscheinlich alles andere als lustig, sich als Frau im selben Raum wie Angelina aufzuhalten. In ihrer Nähe würdigt niemand mehr Jenny eines Blickes, die Leute wollen sich nicht einmal mehr von ihr die Haare schneiden lassen. Es ist ein Teufelskreis. Zwar ist sie eine gute Friseurin, doch sie wagt einfach nichts Neues. Sie brennt nicht für ihre Arbeit und traut sich nicht, etwas auszuprobieren. Es ist lange her, seit sie zuletzt eine Fortbildung besucht hat. Friseur zu sein ist ein kreatives Handwerk, man muss über Trends und Entwicklungen auf dem Laufenden bleiben und darf nicht in alten Mustern steckenbleiben. Zumindest nicht, wenn man hier arbeiten will.

Im Hintergrund hört er das Geräusch des Kartenlesegeräts, eine Quittung wird ausgedruckt. Dann spürt er an dem Luftzug hinter seinem Rücken, dass Angelina Mia zur Tür begleitet.

Sie umarmen sich zum Abschied, dann geht Angelina ohne ein Wort in die Küche. Irgendetwas an ihrer Körperhaltung beunruhigt ihn, und er fragt sich, was mit ihr los ist. Er hört das Scharren von Stuhlbeinen und wünscht, er könnte hingehen und ihr Gesellschaft leisten. Sie fragen, ob alles in Ordnung ist. Der Salon ist ein trauriger Ort, wenn sie nicht da ist.

Komm zurück.

Doch mit Telepathie ist da anscheinend nichts zu machen. Stefano ist bewusst, dass sie sehr jung ist, dennoch kann er nicht aufhören, an sie zu denken. Als Dauersingle kann er es sich eigentlich nicht leisten, besonders wählerisch zu sein, aber das ist er. Die Schuld dafür gibt er seinem Vater. Der Unterschied zwischen ihnen beiden war, dass Leonardo als junger Mann nie nach einer langfristigen Beziehung strebte. Während seiner Hochzeit als Starfriseur in seiner Heimatstadt Mailand wollte er frei sein und tun und lassen können, was er wollte und mit wem er wollte, ohne Verpflichtungen. Seine Taktik funktionierte ausgezeichnet, bis die schwedische Schauspielerin und Foto-Ikone Monica Dufva auf seinem Frisierstuhl Platz nahm. Sobald Leonardo ihr blondes Haar berührt hatte und im Spiegel dem scheuen Blick ihrer himmelblauen Augen begegnet war, wusste er, dass er ihr für immer verfallen war. Anschließend dauerte es kein Jahr, bis Leonardo seine Koffer packte und mit seiner zukünftigen Frau nach Stockholm zog. Stefano weiß nicht mehr, wie oft er diese Geschichte gehört hat. Voller Zärtlichkeit denkt er an seinen Vater oben im Himmel.

Gleichzeitig wünscht er sich, ihm würde ein ebensolches Erlebnis zuteil, doch bislang gibt es kein Anzeichen dafür, dass ihm die große Liebe beschieden ist: dieses Gefühl, nichts anderes sei mehr wichtig, Hauptsache, man ist zusammen.

Dass man zu zweit unbesiegbar ist.

Natürlich ist ihm Angelinas exklusiver Ehering nicht entgangen, er ist ja nicht blind. Allerdings hat er den Glücklichen nie persönlich kennengelernt, diesen Peter Silver. Einen Finanzmann mit so großem Portemonnaie, dass er Angelinas ganze Sippe für den Rest des Lebens satt und zufrieden halten kann. Aber liebt sie ihn mehr als den Salon de Luca? Nein, natürlich nicht, schließlich bräuchte sie nicht zu arbeiten, wenn sie nicht wollte. Bereits bei ihrer ersten Begegnung hat Angelina ihm gestanden, dass der Salon de Luca immer ihr Ziel gewesen ist. Er war ihr Traum, und so zehrt er von der Hoffnung, dass sie irgendwann zusammengehören werden.

Er wird sie schon noch dahin bekommen, wo er sie haben will.

Angelina

Das Gefühl, sie hätte Mia etwas über Thomas sagen sollen, nagt weiter an ihr, obwohl der Gedanke natürlich völlig absurd ist. Es gibt nur eine Person, der sie je von ihren Visionen erzählt hat, und das war eine bittere Lektion: Ihre ehemalige Schulkameradin hat sie laut ausgelacht, in einer Mischung aus Furcht und Verachtung.

Danach haben sie nie wieder miteinander gespielt.

Angelina hasst es, so sensibel und empfänglich zu sein. Sie muss endlich mit jemandem darüber sprechen, sich professionelle Hilfe suchen. Doch das Problem ist, dass sie anderen Menschen nicht vertraut. Vor allem nicht irgendwelchen Psychologen.

Nachdem Alexandra den Salon verlassen hat, geht Jenny sich etwas zu essen kaufen, und Angelina kann endlich durchatmen.

»Siehst du irgendwas Interessantes?«

Angelina zuckt zusammen, als sie Stefanos Stimme hört. Manchmal kommt es ihr vor, als schleiche er hinter ihr her. Stefano runzelt die Stirn, und sie sucht nach einer nicht allzu abweisenden Antwort.

»Ein ganzes Regal voller Stylingprodukte«, sagt sie leise und nickt zu dem maßgeschreinerten Wandregal neben Stefanos Stuhl, das mit Shampoos, Balsam und Pflegepackungen im Wert von Tausenden von Kronen gefüllt ist. Sie hat gar nicht gemerkt, dass Michel gegangen ist, jetzt sind sie also allein.

Er lacht. »Willst du was essen?«

»Ich habe vorhin schon ein Sandwich gegessen«, sagt sie ausweichend.

Sie liebt den Salon, aber essen möchte sie lieber allein. Es ist schwierig, zwischen den Bergen von Haar die Ruhe für eine Mittagspause zu finden.

Vor allem heute. Sie schließt die Augen und versucht vergeblich, das Unbehagen abzuschütteln. Als sie die Augen wieder öffnet, ist Stefano einen Schritt nähergetreten und berührt vorsichtig ihre Haarspitzen.

»Du siehst so traurig aus. Kann ich das Fräulein Principessa vielleicht mit einer neuen Haarfarbe glücklich machen?«, fragt er mit einer ironischen Betonung auf dem italienischen Wort für »Prinzessin«.

»Okay«, sagt sie, und sein Gesicht leuchtet auf.

Niemand schlägt Stefano etwas ab, dem berühmtesten Friseur der Stadt. Er darf mit ihrem Haar machen, was er will. Selbst wenn es völlig danebengeht, wird alle Welt ihn als innovatives Genie betrachten. Das liegt an der Atmosphäre des Salons.

Sie betrachtet ihn heimlich. Er ist von geradezu klassischer Schönheit und hat einen besonderen Blick, in dem man leicht ertrinkt.

Leider ist er drei Zentimeter zu klein.

Sie setzt sich in seinen Frisierstuhl und versucht sich zu entspannen, während er die Farbe auf ihrer Kopfhaut verteilt. Wenn sie eine Affäre eingehen würden, würde alles aufs Spiel gesetzt. Sie ertappt sich dabei, wie sie an ihrem Diamantring dreht, der plötzlich drückt. Er ist so klobig, dass sie sich wohl nie an ihn gewöhnen wird.

Irgendwie muss es ihr gelingen, die Spannung zwischen ihnen aufrechtzuerhalten, so dass Stefano sich weiterhin nach ihr verzehrt, ohne dass sie die Grenze überschreitet. Es ist ein schwieriger Drahtseilakt. Sein Interesse könnte plötzlich erlöschen. Und dann würde er den begehrten dritten Stuhl in seinem Salon vielleicht doch lieber jemand anderem vermieten. Das würde sie nicht überleben. Angelina hat hart gekämpft, um sich innerhalb so kurzer Zeit einen Kundenkreis zu erarbeiten, und den will sie nicht verlieren. Vor allem aber will sie nirgendwo sonst sein. Sie hat viele Jahre darauf hingearbeitet, und sie wird alles tun, um ihren Traum voll auszuleben.

Stefano

Als sie zu den Haarwaschbecken hinübergehen, berühren sich kurz ihre Oberarme, und sie bekommen beide einen elektrischen Schlag.

»Autsch«, ruft Angelina. »Was hast du denn unter der Haut?«

Stefano streicht über seinen Bizeps und lacht. Es ist unglaublich, wie sie ihn dazu bringt, alle Sorgen zu vergessen. Seit mehreren Minuten schon hat er nicht mehr an den katastrophalen Abend gestern gedacht.

»Nichts als Mozzarella«, sagt er und versucht ihren Blick einzufangen. »Du musst selbst irgendetwas Metallenes in deinem Arm haben. Gehst du nicht immer zur Akupunktur? Vielleicht haben sie letztes Mal eine Nadel steckenlassen?«

»Ha, ha, sehr witzig.«

Angelina zieht den Arm zurück und setzt sich in den Massagestuhl, welcher der Toilette am nächsten steht. Mittels eines Hebels an der Seite klappt sie die Fußstütze aus, lehnt sich zurück und schließt die Augen. Stefano spürt, wie sein Herz schneller schlägt. Er schaut zu dem großen Fenster, das auf die Straße hinausgeht. Jeder kann hereinsehen, und er liebt es bei der Arbeit im Rampenlicht zu stehen. Es macht einen großen Teil des Reizes aus, dass alles, was sie tun, zu sehen ist. Wie bei der letzten Modenschau in London. Alle schauen zu, alle loben ihn. Hier rechnet er nun nicht mit Applaus, zumindest nicht von der Straße, aber die Leute können auf jeden Fall hereinblicken und von einer neuen Frisur träumen. Viele Leute sind neugierig auf den berühmten Salon, und er will niemanden aussperren, während Angelina anscheinend am liebsten ein Schild anbringen würde: »Zaungäste unerwünscht«. Sie steht zwar gern im Mittelpunkt, ist aber gleichzeitig auf widersprüchliche Weise schüchtern. Er wird einfach nicht schlau aus ihr, und dieses Mystische triggert ihn nur noch mehr.

»Ist es zu heiß?«, fragt er, bereit, die Wassertemperatur zu senken.

»Nein, perfekt«, antwortet sie.

Er spült die Farbe aus ihrem Haar und zieht dann die Gummihandschuhe aus, die das Gefühl von Nähe und Intimität stören würden. Bei manchen Kunden ist Distanz wichtig, aber der richtigen Person die Haare zu waschen und ihre Kopfhaut zu massieren kann mindestens so erotisch sein wie Sex. Mit Gummihandschuhen das Shampoo zu verteilen wäre dann wie mit Kondom zu lieben. Er vergräbt die Finger in Angelinas nassem Haar und hebt ihren Kopf leicht an, um besser an ihren Nacken zu kommen. Massage ist eine seiner Stärken; er hat keine Eile. Er will sie verwöhnen.

»Da, ein bisschen weiter rechts«, stöhnt Angelina, und er versucht, die richtige Stelle zu finden. »Stopp! Genau da.«

Sie kann nicht verbergen, dass sie es genießt, und ihr Wohlbehagen beflügelt Stefanos Fantasie mehr als gut ist. Es fällt ihm schwer, den Blick von ihrem Ausschnitt zu lösen. Am liebsten würde er über sie herfallen, ihr das dünne Kleid vom Leib reißen. Ihre weiche Haut an seiner spüren. Es ist offensichtlich, dass sie befriedigt und entspannt ist. Vielleicht darf er das als Einladung verstehen?