Hinter dem Schleier - Amy Jasmin Ritter - E-Book
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Hinter dem Schleier E-Book

Amy Jasmin Ritter

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Beschreibung

Was ist wahre Schönheit? Dieser Frage geht die junge deutsche Debütautorin Amy Jasmin Ritter in ihrem historischen Liebesroman auf den Grund, indem sie im England des 19. Jahrhunderts eine junge Frau, durch ein Unglück entstellt, und einen Blinden aufeinandertreffen lässt. 1857: Elissa Belham ist der schöne Liebling der Londoner Gesellschaft. Doch dann wird sie bei einer Explosion schwer entstellt und versteckt sich fortan hinter einem Schleier. Als sie mitbekommt, dass es jemand auf die abgesehen hat, flieht sie mittellos nach York und nimmt im Haus eines jungen Arztes eine Anstellung an. Raphael Williams hat erst kürzlich sein Augenlicht verloren und hadert mit dem Leben bis Gott Elissa in seine Dunkelheit treten lässt. Doch wie können Elissa und Raphael wieder Freude finden, wenn beide den Blick für die Schönheit des Lebens verloren haben? Und was ist mit Elissas Verfolgern, die weiterhin auf der Suche nach der "verschleierten Frau" sind?

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Amy Jasmin Ritter

Hinter demSchleier

Roman

Die Bibelverse in diesem Roman folgen in der Regel dem Bibeltext der Schlachter. Copyright © 2000 Genfer Bibelgesellschaft. Wiedergegeben mit freundlicher Genehmigung. Alle Rechte vorbehalten.Matthäus 6,26 / Römer 5,3 – Bibeltext der Elberfelder 1905. Gemeinfrei. Sprüche 4,23 – Elberfelder Bibel 2006, © 2006 by SCM R.Brockhaus in der SCM Verlagsgruppe GmbH, Witten/Holzgerlingen

© 2023 Brunnen Verlag GmbH Gießen

Lektorat: Carolin Kotthaus

Umschlagfotos: © Marta Bevacqua / Trevillion Images und Adobe Stock

Umschlaggestaltung: Daniela Sprenger

Satz: Brunnen Verlag GmbH

ISBN Buch 978-3-7655-3621-2

ISBN E-Book 978-3-7655-7699-7

www.brunnen-verlag.de

Inhalt

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Was ist Schönheit?

Danksagung

Prolog

Sie erinnerte sich noch gut an diese Nacht. Vielleicht zu gut.

An das Davor. Und das Danach.

Der Mond war gerade aufgegangen, geheimnisvoll war er aus den schwarzen Wogen des Meeres aufgetaucht, war sofort wieder hinter einigen Wolken verschwunden und hatte nur durch deren rötlichen Schimmer seine Anwesenheit verraten. Sie hatte die Zehen in den nassen Sand gegraben und die Arme um sich geschlungen.

Vor ihr brachen sich die Wellen am Strand, doch über ihre Füße strichen sie nur noch wie eine weiche Decke. Es war warm, aber nicht zu warm. Der Wind streichelte mit seiner federleichten Berührung ihren Kopf.

Sie beobachtete, wie der Vollmond gemächlich aus den Wolken aufstieg, sie in sein dunkelrotes Licht tauchte, das sich wunderschön und doch irgendwie bedrohlich im Schwarz des Himmels verlief.

Er war ungewöhnlich groß, als müsste sie nur die Hand ausstrecken, um ihn zu berühren. Sein goldrotes Licht spiegelte sich auf den sanften Wellen, ließ es aussehen wie eine Straße zum Mond. Als könnte sie einfach über die glitzernden Wogen laufen und die Wolken passieren, die sich dort wie das Tor zu einer anderen Welt erhoben.

Sie starrte auf die goldene Kugel, die dort am Himmel stand.

Wie gerne würde sie jetzt, nachdem alles vorüber war, wieder an diesen Strand zurückkehren und diese andere, verheißungsvolle Welt betreten.

Zurück zu dieser Nacht, in der ihre Träume zum Greifen nahe gewesen waren.

Zurück zu dieser Nacht, die so voll von lange gehüteten Geheimnissen gewesen zu sein schien.

Wie sehr wünschte sie jetzt, das, was gefolgt war, wäre für immer in jener Nacht voller Wünsche, Träume und Sehnsüchte verborgen geblieben.

Doch das war es nicht.

Weder das laute Läuten der Alarmglocken, als die Bewohner der Stadt das gelandete Schiff entdeckt hatten. Noch die Schüsse, die Rufe, die Schreie der Verwundeten, die Panik.

Auch nicht die Tatsache, dass sie sich alleine aus dem Sommerhaus ihrer Familie geschlichen hatte, um einen kleinen Augenblick lang allein zu sein, um der Spannung zu entfliehen, die dem Streit ihrer Eltern gefolgt war.

Und egal wie sehr sie wünschte, sie wäre nicht allein an den Strand gegangen an jenem Abend; egal wie sehr sie wünschte, sie wäre bei ihren Eltern gewesen, als die Piraten die Stadt in Brand gesetzt hatten, als der Piratenkapitän Jack Brixton an Land gegangen war und die Verwüstung betrachtet hatte, die seine Männer über das friedvolle Städtchen gebracht hatten. Als er sich umdrehte – und sie dort entdeckte. Allein.

Egal wie sehr sie wünschte, es wäre anders gekommen – das war es nicht.

Und egal wie sehr sie wünschte, die Geschehnisse jener Nacht für immer aus ihrer Erinnerung löschen zu können – das, was gefolgt war, hatte sie für immer gezeichnet. Und wenn sie ehrlich zu sich war, dann rannte sie noch immer, weg von den Schüssen, den Schreien, den Flammen jener Nacht …

1

Juli 1857

Heute Nacht würde niemand sterben.

Auch wenn alles in ihr sich danach sehnte, Patricia an die Kehle zu springen.

Elissa Belham war eigentlich kein gewalttätiger Mensch, überhaupt nicht. Ganz im Gegenteil. Sie war die perfekte Tochter. Wäre bald die perfekte Ehefrau. Die perfekte Lady.

Wenn nur ihre ehemalige Freundin Patricia nicht ganz so dicht neben David Manners, Earl Lavendale, stehen, nicht so liebreizend lachen würde. Aber vielleicht wäre heute der Abend, an dem die Londoner Gesellschaft erfahren würde, dass Elissa doch nicht so perfekt war.

„Hör auf, so eifersüchtig dort rüberzustarren, Elissa“, raunte ihr ihre Freundin Lady Amelia Westcliff mit einem amüsierten Grinsen zu. „Komm mit.“ Sie packte Elissas Hand und begann, sie zu den Rückzugsräumen der Frauen hinter sich her zu ziehen. Mit einem letzten Blick auf Lord Lavendale, wie der Earl genannt wurde, und die junge Frau, die vor gar nicht allzu langer Zeit ihre beste Freundin gewesen war, folgte sie Amelia. An ihrem Ziel angekommen, stellten sie fest, dass sie das Zimmer komplett für sich hatten; der Rest der Damen tummelte sich wohl auf der Tanzfläche von Lady Mendrows Sommerball. Dort, wo eigentlich auch Elissa sein sollte. In Lord Lavendales Armen.

Amelia packte sie an beiden Schultern und sah ihr eindringlich in die Augen: „Hör mir jetzt gut zu. Ich weiß, dass du wütend bist. Zu Recht, wie ich finde. Aber Männer mögen keine wütenden Frauen, genauso wenig, wie sie eifersüchtige mögen.“

„Ich bin nicht –“

„Doch, das bist du.“ Amelia legte den Kopf schief und sah ihr herausfordernd in die Augen.

Elissa kniff ihre Lippen zusammen und schwieg. Ihre Freundin hatte recht. Sie war wütend und eifersüchtig. Und verletzt. Aber das würde sie niemandem auf die Nase binden.

„Ich sage dir, was wir jetzt machen. Du machst dich ein wenig frisch und beruhigst dich. Diese Rivalität ist weit unter deinem Niveau. Du bist Elissa Belham, um Himmels willen! Dein Vater ist einer der reichsten Männer Englands!“

Amelia drehte sie an den Schultern um, sodass Elissa nun gezwungen war, sich selbst im Spiegel zu betrachten. „Es wird Zeit, dass du dir dessen wieder bewusst wirst, und dann gehst du da raus und gewinnst Lord Lavendale für dich, ohne noch einen Gedanken an diese … diese Verräterin zu verschwenden!“

Elissa starrte ihrem Spiegelbild in die Augen. Sie wusste, was Amelia dort sah: blaue, mandelförmige Augen umrahmt von langen Wimpern. Ein perfekter Teint, ihre blonden Haare in sanfte Wellen gelegt. Das lavendelfarbene Kleid nach der neuesten Mode, das sich eng an ihren zierlichen Körper legte und all die richtigen Kurven unterstrich.

Aber Elissa sah nur die unliebsamen Sommersprossen, die es allmählich wagten, unter dem Puder auf ihrer Stupsnase hervorzuleuchten. Sah, dass ihre Rundungen nicht einmal halb so beeindruckend waren wie Patricias. Sah, dass ihre gelockten Strähnen dort, wo die vielen Menschen, die schwülwarme Augusthitze und die zahlreichen Kronleuchter des Ballsaals ihr den Schweiß auf die Schläfen getrieben hatten, wieder zu ihrem eigenen, völlig formlosen Selbst zurückgefunden hatten.

Sah, dass sie die eigentliche Verräterin war. Dass sie schuld war an dem Streit, der Patricia und sie entzweit hatte, der ihre beste Freundin zu ihrer Rivalin hatte werden lassen. Dass die Worte, die Patricia ihr an den Kopf geworfen hatte, vielleicht wahr sein könnten.

„Er wird bereuen, dich mir vorgezogen zu haben. Wird all die Dinge sehen, die du zu verstecken versuchst. Und er wird sehen, dass er die schlechtere Wahl getroffen hat.“

Elissa hatte geschwiegen, als ihre beste Freundin davonmarschiert war, hatte verschwiegen, dass nicht er es war, der eine Wahl getroffen hatte.

Und vielleicht war das die eine Tatsache, die noch mehr schmerzte als Patricias Worte.

Doch trotz alledem straffte sie nun ihre Schultern, atmete tief ein und schenkte sich ein selbstbewusstes Lächeln. „In Ordnung. Ich bin bereit.“

Amelia lächelte sanft. „Gut. Dann gehen wir jetzt da raus und gewinnen diese Schlacht.“ Mit bestimmten Schritten ging ihre Freundin auf die Tür zu, öffnete diese schwungvoll und warf einen Blick nach draußen. Dann hielt sie inne und bedeutete Elissa mit einem verlegenen Grinsen, dass sie vorangehen sollte.

Elissa lachte leise, nahm die Hand ihrer Freundin in ihre und drückte sanft zu, um ihr Mut zu machen. Amelia mochte ihr zwar mutig die Stirn bieten, wie sonst kaum jemand in der Londoner Gesellschaft es tat, doch sobald sie nicht mehr unter sich waren, war ihre Freundin beinahe schmerzhaft schüchtern und brachte kaum ein Wort über die Lippen.

Seite an Seite traten sie wieder in den Trubel des Ballsaals.

Elissa war Amelia dankbar für die wenigen ruhigen Minuten und die aufmunternden Worte. Sie war nun wieder bereit, die Führung zu übernehmen und sich durch das Chaos an Menschenleibern, bedeutungslosen Floskeln und gesellschaftlichen Erwartungen hindurch bis zu ihren Zielen durchzukämpfen.

Und vielleicht war es diese Entschlossenheit, mit der es ihr irgendwie gelang, dass Patricia keine zwanzig Minuten später mit einem jungen Offizier und Amelia mit einem Freund des Earls, Raphael Williams, tanzte, während sie selbst sich in Lord Lavendales Armen zur Musik wiegte.

Das Licht der zahlreichen Kristallleuchter spiegelte sich in den Fensterscheiben, die bunten Röcke der Damen webten einen fröhlichen Farbenteppich um sie herum und Elissa schien es, als wäre dies eine Nacht, in der die Sterne zum Greifen nahe waren. In der Wünsche tatsächlich Wirklichkeit werden konnten.

Vielleicht die Nacht, in der Lord Lavendale ihr endlich die Frage stellen würde, auf die sie nun schon beinahe ein halbes Jahr lang wartete.

Er beugte sich leicht vor und raunte: „Auch wenn ich es Ihnen sicher schon bei jedem unserer vergangenen Tänze gesagt habe: Sie sind wahrlich wunderschön. Und eine ausgezeichnete Tänzerin. Ich bin mir sicher, dass mich alle anwesenden Herren beneiden um jede Minute, die ich mit Ihnen an meiner Seite verbringen darf.“ Seine leicht rauchige Stimme schien jedes Kompliment in ein Sonett zu verwandeln.

Elissa sah zu ihm auf und auf einmal waren ihr seine Lippen so nahe, dass ihr für einen kurzen Moment der Atem stockte und sie zu stolpern drohte. Das selbstbewusste Lächeln auf seinem ebenmäßigen Gesicht und der Humor in seinen Augen zeigten ihr, dass er sich seiner Wirkung auf sie durchaus bewusst war. Nervös schlug sie die Augen nieder, befeuchtete ihre Lippen mit der Zungenspitze.

Langsam hob sie ihren Blick wieder. Hitze stieg in ihre Wangen und die Röte auf ihrem Gesicht vertiefte sich noch weiter, als sie sah, dass plötzlich jeglicher Humor aus seinen stahlblauen Augen gewichen war und sein Blick auf ihren Lippen verweilte.

Einen Augenblick lang fühlte sie sich tatsächlich wunderschön. Begehrt. Als wäre sie genug.

Sie sah das Verlangen, das nun in seinem Blick lag.

Aber sie wusste auch, er würde sie nicht hier auf der Tanzfläche küssen, nicht hier, wo jeder zuschauen konnte. Wo auch –

Ein Räuspern hinter ihr ließ sie herumfahren. Und tatsächlich. Hinter ihr stand – ihr Vater.

Er verbeugte sich leicht, sah den jungen Earl an und fragte mit hochgezogenen Augenbrauen: „Darf ich Sie ablösen?“

Lord Lavendale nickte, hauchte ihr einen Kuss auf die Hand und verschwand rasch im Menschengetümmel.

Elissa legte ihre Hand in die ihres Vaters und folgte ihm zum Takt der Musik. Aber sie war nicht ganz bei der Sache, sondern durchbohrte ihren Vater mit ihrem Blick, bis dieser leise lachte.

„Was ist denn los, mein Mäuschen?“ Sein tiefes Glucksen, das sie sonst so an ihm liebte, trieb sie heute einfach nur zur Weißglut.

„Nenn mich nicht so“, rügte sie leise und sah sich peinlich berührt um. Mäuse waren grau, langweilig. Und hässlich. „Was sollte das?“

Ihr Vater rieb ihr beschwichtigend über den Arm.

„Vielleicht wollte ich einfach nur verhindern, dass der junge Mann dich mit seinen Blicken bei lebendigem Leibe verschlingt, bevor ihr rechtmäßig verheiratet seid.“

„Wenn du so weitermachst und uns jedes Mal störst, bevor er einen Schritt in die richtige Richtung macht, wird das niemals geschehen!“

„Elissa.“

„Was?“

„Ich kenne Lavendale schon, seit er ein kleiner Junge war. Der Mann ist noch jung und braucht seine Freiheit. Aber er weiß auch, was er will und wann er es will. Und bis es so weit ist, mach dir keine Sorgen. Eure Verbindung ist absolut sicher, sein Antrag nur noch eine Formsache.“

„Gut.“

Elissa blieb stehen und wandte sich von ihrem Vater ab.

Für sie war der Antrag deutlich mehr als nur eine Formsache. Aber ihr Vater hatte ja auch nicht die letzten vier Jahre seines Lebens damit verbracht, davon zu träumen, wie Lord Lavendale vor ihr niederknien, ihr einen Ring an den Finger stecken würde. Sie zu der Seinen machen würde.

Sie trat einen Schritt zur Seite, um die Tanzfläche zu verlassen, doch die Stimme ihres Vaters hielt sie erneut zurück: „Elissa.“

Ungeduldig wandte sie sich um.

„Deine Mutter hat Kopfschmerzen. Das heißt, wir gehen nach diesem Tanz – falls du dich noch von deinen Freunden verabschieden willst.“

Elissa nickte knapp und ging dann auf Amelia zu, die noch immer mit Raphael Williams tanzte.

Sie tippte ihrer Freundin leicht auf die Schulter und fühlte sich dabei ein wenig wie ein ungebetener Eindringling, weil sie deren angeregtes Gespräch mit Mr Williams während des Tanzens unterbrach. Doch Amelia drehte sich sofort mit einem strahlenden Lächeln auf den Lippen zu ihr um, das sich bei einem Blick in Elissas Augen in leichte Besorgnis verwandelte.

„Ist etwas passiert?“ Elissa nahm die Hände der Freundin, bedachte Mr Williams nur mit einem kurzen Blick. Sie verstand nicht, warum Amelia offensichtlich so angetan war von diesem Mann, der nicht einmal Engländer war, nichts von seiner Mutter geerbt hatte als nur seine etwas zu dunkle Haut und die dunklen Haare. Der nichts vorzuweisen hatte als das Geld seines Vaters.

Beschwichtigend drückte sie Amelias Hände.

„Nein, nein, es ist nichts passiert. Mutter fühlt sich nur nicht so wohl, das heißt, wir gehen schon früher.“

„Jetzt schon?“

Elissa hörte die leichte Panik in der Stimme der jungen Frau. Sie wusste, dass die etwas schüchterne Freundin große Menschenansammlungen nicht allzu sehr mochte und noch viel weniger, wenn sie niemanden hatte, hinter dem sie sich verstecken konnte. Und da Elissa in ihrer aufgeschlossenen Mutter schon seit Kindesbeinen an das perfekte Vorbild gehabt hatte, was ein bestimmtes und zugleich unaufdringliches Auftreten in Londons Elite betraf, machte es ihr nichts aus, diese Person zu sein. Vielmehr blühte sie auf unter all der Aufmerksamkeit. Und auch wenn sie ganz sicher wusste, dass sie Lord Lavendales Frau werden würde, auch wenn er der Einzige war, der jemals infrage kommen würde, musste sie wenigstens sich selbst gegenüber zugeben, dass sie es genoss, ein wenig mit den anderen jungen Männern zu flirten. Dass sie die Blicke – ebenso wie die Aufmerksamkeit – genoss, mit denen sie bedacht wurde.

Und wenn sie erst mit dem Earl verheiratet war, war er sicher froh um ihre Beziehungen, ihre Schönheit, ihre guten Umgangsformen und die Fähigkeit, andere dazu zu bringen, genau das zu tun, was sie wollte. Denn war das nicht einer der Gründe, weshalb er sie heiratete?

Die Liebe ihrer Eltern war tief und aufrichtig. Und das wünschte sich Elissa auch für ihre Ehe. Aber zugleich wollte sie realistisch bleiben, sich nicht völlig ihren Träumen hingeben. In ihren Kreisen galten Freundschaften und Beziehungen wenig mehr als die geschäftlichen Investitionen, die sie waren.

Sie hatte Glück. Lord Lavendale war für sie schon jetzt deutlich mehr als ein Geschäft, das einzugehen sie sich bereit erklärt hatte. Sie bewunderte ihn. Wusste, dass sie seine Ziele im Leben zu den ihren machen würde. Wusste, dass sie ihm Kinder schenken, ihren Körper und ihre Seele mit ihm teilen wollte. Und vielleicht – wenn sie sich anstrengte, wenn es ihr gelang, ein unentbehrlicher Teil seines Lebens zu werden –, vielleicht würde er sie dann eines Tages zurücklieben.

Elissa nickte zur Antwort auf Amelias Frage und fügte mit einem Blick auf Mr Williams hinzu: „Ja, leider. Aber wie ich sehe, bist du in guten Händen.“ Sie legte den Kopf etwas schief und zog fragend eine Augenbraue hoch.

Der junge Mann runzelte die Stirn, antwortete aber dennoch mit einem zustimmenden Nicken.

Amelia zog sie zum Abschied in eine feste Umarmung und raunte ihr verschwörerisch ins Ohr: „Ich weiß, was du von ihm denkst. Aber wusstest du, dass er in Oxford Medizin studiert? Und hast du seine breiten Schultern gesehen? Und diese blauen Augen!“

Elissa zuckte mit den schmalen Schultern, warf einen weiteren kurzen Blick auf den jungen Mann, seine viel zu durchdringenden Augen, die gerunzelte Stirn und den verkniffenen Mund, den sie noch nicht ein einziges Mal hatte lächeln sehen.

Amelia löste sich wieder von ihr, trat einen Schritt zurück und meinte: „Richte deiner Mutter meine besten Wünsche aus. Ich hoffe, es geht ihr bald besser.“

Elissa neigte den Kopf mit einem Lächeln, warf auch Mr Williams ein einnehmendes Lächeln zu, verabschiedete sich und strebte dann auf den Ausgang zu, wo ihre Eltern sich schon von Lady Mendrow verabschiedeten. Sie untersagte es sich, sich ihre Ungeduld ansehen zu lassen, als das Gespräch mit ihrer gesprächigen Gastgeberin sich immer weiter in die Länge zog. Erschöpft fächelte sie sich Luft zu und hoffte, dass der Schweiß den Puder nicht so sehr von ihrem Gesicht gespült hatte, dass jeder ihre Sommersprossen sehen konnte.

Sobald sie – nun doch deutlich später als gedacht – aus dem vollen Festsaal ins Freie traten, erschien die schwüle Augusthitze gleich viel weniger drückend. Und zugleich versprachen die Wolkenberge, die sich in den letzten Stunden am Horizont gebildet hatten, Abkühlung durch ein Gewitter. Ein leichter Wind hob Elissas verschwitzte Locken, brachte eine angenehme Brise mit sich.

Ihre Mutter berührte sie leicht an der Schulter.

„Es tut mir leid, mein Liebes, dass wir nun wegen mir früher gehen müssen; ich weiß, wie sehr du dich auf diesen Abend gefreut hattest.“

Elissa unterdrückte die Enttäuschung, zu der dieser Abend geworden war, ließ zu, dass sich ein Lächeln auf ihr Gesicht legte, und musste eingestehen: „Es wird noch viele weitere Bälle geben.“

Ihre Mutter lächelte sanft und fügte hinzu: „Auf denen du mit Lord Lavendale tanzen wirst. Als seine Frau.“

Ihr Vater legte einen Arm um seine Frau und nickte. „Mary Grace hat recht. Das wirst du.“

Elissa lachte leise und die Worte ihres Vaters von vorhin, die Tatsache, dass sie den Ball schon jetzt verließen, waren vergessen. Vertrauensvoll hakte sie sich auf seiner anderen Seite bei ihm ein und legte ihre Wange an seinen starken Arm. Ihre Mutter warf ihr ein liebevolles Lächeln zu.

Sie waren gerade auf halber Strecke zu ihrer wartenden Kutsche, als ihre Mutter auf einmal innehielt. „Ich habe meinen Mantel vergessen. Geht ihr beide schon mal vor, ich muss noch einmal kurz zurück.“

„Ich kann doch –“

„Ist schon gut, John. Ich komme gleich nach.“

Ihr Vater schaute seiner Frau nach und gluckste leise: „Sie ist beinahe so eigenwillig wie du. Oder andersherum.“

Sie setzten sich langsam wieder in Bewegung. Der Kies knirschte leise unter ihren Schritten, die Pflanzen vor Lady Mendrows Anwesen wiegten sich sanft im Wind. Friedvoll.

Und allmählich fand der Friede auch zurück in Elissas Herz. Ihre Eltern hatten recht. Nicht mehr lange, und sie wäre die neue Countess Lavendale. Nichts könnte daran etwas ändern. Sie wäre nicht Elissa Belham, wenn sie den Earl nicht innerhalb kürzester Zeit so bezaubern könnte, dass er sich wünschen würde, ihr schon vor Wochen einen Antrag gemacht zu haben.

***

Raphael starrte aus dem Fenster der Kutsche, ohne irgendetwas zu sehen.

Seine Gedanken drehten sich im Kreis um die Nachricht, die ihn gezwungen hatte, umgehend den Ball und damit auch Lady Amelia zu verlassen.

Er mochte die ruhige junge Frau, ihre sanfte Art, die Reinheit, die im Vergleich mit der Abgebrühtheit, die in Elissa Belhams Augen stand, umso stärker herausstrahlte. Aber ihr Vater würde eine Verbindung sowieso nie gutheißen.

Lady Amelias hilfloser Blick, als er sie mit einer Entschuldigung einfach auf der Tanzfläche stehen gelassen hatte, blitzte vor seinem inneren Auge auf. Sein schlechtes Gewissen regte sich, nachdem er der jungen Miss Belham doch eigentlich zugesichert hatte, auf deren Freundin achtzugeben. Trotz des etwas arroganten, befehlsgewohnten Blicks von Miss Belham war es ihm alles andere als unangenehm erschienen, für einige Stunden Lady Amelias Babysitter zu spielen.

Doch all das war mit der Nachricht des Butlers unwichtig geworden.

Die Pferde zogen an und bald knarrten die Räder der Kutsche bedrohlich, als der Diener der Familie Williams sie hastig durch die engen Londoner Gassen lenkte.

Raphaels Fingerknöchel wurden weiß und seine Finger, mit denen er sich am Sitz festkrallte, taub. Die viel zu schnell vorbeirauschenden Häuser und Gassen, das rhythmische Trommeln der Pferdehufe drohte ihn zurückzuwerfen. Zurück in der Zeit. Zurück zu seinem größten Fehler!

Sein Atem verfing sich in seiner Lunge, Reue schnürte ihm die Luft ab.

Das plötzliche Rumpeln, als sie durch ein Schlagloch fuhren, holte ihn zurück in die Wirklichkeit. Er atmete einmal tief ein und aus, versuchte, die Erinnerung abzuschütteln. Doch seine Finger, mit denen er sich noch immer an die Polster klammerte, blieben verkrampft.

Raphael starrte weiter aus dem Fenster, während die zahlreichen Lichter Londons allmählich hinter ihnen zurückblieben. Und mit ihnen auch die Welt voller Kronleuchter, strahlender Diamanten und glänzender Seidenstoffe, die er um seines Vaters willen an diesem Abend ein weiteres Mal betreten hatte. Wie jedes Mal zuvor hatte sie sich erneut als eine Lüge entpuppt. Trügerisch. Verführerisch.

Und wie das abrupte Ende seines Abends gezeigt hatte, war all die Pracht weder von Dauer noch vermochte sie es, die hässlichen Seiten des Lebens für längere Zeit zu verdecken.

Er würde sich dort niemals mehr wohlfühlen. Würde niemals dorthin gehören.

Raphael runzelte die Stirn. Wenn schon nicht sein fehlender Titel, so schrie seine etwas zu dunkle Haut die Tatsache, dass er nicht zu Londons Elite gehörte, allzu deutlich heraus. Und wenn er die Blicke, mit denen er heute Abend bedacht worden war, richtig deutete, würde man ihn nicht vergessen lassen, dass einzig das Vermögen, das sein Vater mit seinem Handelsunternehmen erwirtschaftet hatte, ihm die Tür zu diesem Ballsaal geöffnet hatte. Und dass er trotzdem nicht willkommen war.

Für diese Leute war er eine ständige Erinnerung daran, wie wenig ihr vieles Geld tatsächlich bewirken konnte. Dass sie eben doch nur Menschen waren – der Willkür des Lebens hilflos ausgeliefert.

Und ihn erinnerten diese Menschen daran, wie es früher gewesen war.

Vor dem Unfall. Als die Leute die Schönheit seiner südländischen Mutter, den Kontrast ihrer etwas dunkleren Haut gegen die seidenen Stoffe ihrer prachtvollen Kleider, ihre langen schwarzen Locken und die warmen braunen Augen als exotisch, als außergewöhnlich bewundert hatten.

Bevor seine Mutter Tag für Tag in ihrem prachtvollen Bett lag und kaum noch jemanden erkannte. Bevor jede Minute in dieser Welt ihn daran erinnerte, dass es sein Wunsch gewesen war, der sie all das gekostet hatte – sein Wunsch, zu dieser Welt dazuzugehören.

Die Nachricht seines Vaters, wegen der er umgehend den Ball verlassen hatte, schien ihm ein Loch in die Jackentasche zu brennen. Schon wieder war er nicht da gewesen. Kam zu spät.

Warum nur hatte er sich von seinem Vater überreden lassen, nach London zu reisen?

Er wusste, warum. Er hatte den einzigen Menschen in seiner Familie, der es noch vermochte, ihn ohne Schuldzuweisungen und Vorwürfe im Blick anzusehen, nicht schon wieder enttäuschen wollen. Und Raphael wusste auch, warum sein Vater ihn dort hatte haben wollen. Er wollte, dass Raphael endlich wieder nach vorne sah, sich wieder in Londons hohen gesellschaftlichen Kreisen bewegte, ohne jedes Mal an jene Nacht denken zu müssen. Und vielleicht hatte er sogar gehofft, dass sein Sohn erneut Gefallen an dieser Welt fand und sich für das Familienunternehmen begeistern könnte.

Früher hatte er sich all das gewünscht. Da war es ihm ruhmreich und glänzend vorgekommen. Doch das war lange vorbei. Jetzt durchschaute er die höflichen Worte, die schmerzende Hiebe versteckten; das freundliche Lächeln, das tiefere Absichten verbarg; das unschuldige Blinzeln der Damen, das den messerscharfen Verstand verstecken sollte; das kameradschaftliche Lachen der Männer, das ihre eigentlichen Gedanken verschleierte.

Vielleicht erkannte er nun die Dunkelheit, weil er sie selbst kennengelernt hatte. Erkannte den Schmerz hinter dem zu lauten Lachen, die Leere hinter den scheinbar funkelnden Augen. Vielleicht erkannte er die Schauspieler, seit er selbst einer geworden war.

Nein, Gefallen würde er nicht mehr finden an dieser Welt.

In der Ferne zuckte ein Blitz. Schwarze Gewitterwolken bedeckten den Mond, verbargen das erste Licht des Morgens, das schon bald am Horizont zu sehen sein sollte. Jetzt, da sie London hinter sich gelassen hatten, umgab nur noch rabenschwarze Dunkelheit die Kutsche.

Raphaels nervöse Finger zerknitterten die Notiz seines Vaters.

Nun ging es zurück in die Dunkelheit, zurück zu den hässlichen Seiten des Lebens, in denen Kronleuchter und der Glanz eines Ballsaals keine Rolle spielten. Zurück zu dem stillen Haus am Meer, in dem der Zustand seiner Mutter größtenteils vor der Welt verborgen bleiben konnte; zurück zu den abweisenden Blicken seines Bruders Daniel, den Tränen seiner kleinen Schwester Sarai.

Am allerschlimmsten war es, seine Mutter dort liegen zu sehen, und die laute, anklagende Stimme in seinem Herzen zu hören, die ihn verurteilte: Schuldig.

Raphael stützte seinen Kopf in die Hände, begann zu beten: „Gott, nicht um meinetwillen. Ich weiß, dass ich es nicht verdient habe. Aber um ihretwillen. Sei bei meiner Mutter. Lass sie nicht leiden. Und bitte – ich weiß, ich habe es nicht verdient –, aber bitte … lass mich sie noch einmal sehen.“

Er wollte, nein, er musste sich von ihr verabschieden. Obwohl, wenn er ehrlich war – die starke Frau mit dem lebensfrohen Funkeln in den Augen, die seine Mutter gewesen war, hatte sich schon vor langer Zeit verabschiedet.

Inzwischen waren seine Wangen tränennass, doch er machte keine Anstalten, die Tränen abzuwischen. Er hatte Gott wahrlich keinen Grund gegeben, ihm zuzuhören. Doch vielleicht, vielleicht könnte er eines Tages einen kleinen Teil seiner Schuld wiedergutmachen.

Auch wenn ihm die Wahrheit nur allzu bewusst war: Das, was er angerichtet hatte, konnte niemals wieder gut werden.

Ein besonders tiefes Schlagloch warf ihn gegen die Wand der Kutsche. Weder die gute Federung noch die dicke Polsterung der Sitze waren in der Lage, die tiefen Löcher der Landstraße abzufangen. Und wie seinem Körper kein einziger Moment der Ruhe vergönnt war, so hielt auch die Anspannung ihn hellwach, verhinderte, dass seine Gedanken nur einen Augenblick lang zur Ruhe kamen auf der langen Fahrt durch den anbrechenden Morgen.

Als er schließlich aus der Kutsche sprang, noch bevor diese komplett zum Stillstand gekommen war, die Eingangsstufen hinaufhechtete und in die prachtvolle Eingangshalle stürmte, um seiner Mutter wenigstens ein letztes Mal in die Augen zu blicken, um dort Liebe, nicht Verurteilung zu sehen – da erwarteten ihn nur der Butler und ein stumm trauerndes Kopfschütteln.

2

Juli 1857

Braune, frisch aufgeworfene Erde lag neben dem tiefen Loch, in das sie den Sarg gelassen hatten.

Raphael spürte noch immer das niederdrückende Gewicht auf der Schulter, wo er den Sarg tragen geholfen hatte, den bohrenden Blick seines jüngeren Bruders Daniel im Rücken, der hinter ihm gegangen war.

Gähnende Leere breitete sich in ihm aus, während er auf das blumenbedeckte Holz unter ihm starrte. Warum war er hier oben? Und sie dort unten?

Wenn es einen Gott gab, konnte er jedenfalls nicht gerecht sein. Oder gut. Oder vielleicht waren ihm die Menschen und ihr Schmerz auch einfach egal.

Schwer legte sich die Hand seines Vaters auf Raphaels Schulter. Unterstützend und zugleich eine weitere Last. Erwartungen, die er enttäuscht hatte, und Erwartungen, die er niemals erfüllen könnte.

Raphael schluckte schwer und drehte sich, um der unausgesprochenen Aufforderung nachzukommen. Schüttelte die Hand, die ihm von einem ihm vage bekannt vorkommenden Mann entgegengestreckt wurde. Er ließ seinen Blick über die Versammelten wandern, entdeckte einige bekannte Gesichter und doch kaum eines, dessen Anwesenheit ihm etwas bedeutet hätte. Neben ihm weinte seine sechzehnjährige Schwester Sarai hemmungslos an der Schulter ihres Zwillingsbruders. Jeder Schluchzer fügte dem Druck auf seiner Brust ein weiteres Gewicht hinzu, bis er das Gefühl hatte, kaum noch atmen zu können.

Er schüttelte Hände, fand die richtigen Worte auf Beileidsbekundungen, ohne überhaupt richtig zuzuhören. Versuchte den Schmerz, den Schrei, der sich in seinem Inneren aufbaute, zurückzuhalten.

Sein Blick traf den seines Bruders über Sarais Kopf hinweg.

Schuldig.

Ruckartig drehte er sich um. Und floh.

Erst im Schatten einiger Bäume, die ihn vor neugierigen Blicken schützen würden, hielt er an.

Das einst so schöne Gesicht seiner Mutter vor Augen – nun, in ewigem Schlaf endlich wieder friedlich – schlug er die Hände vors Gesicht.

Und weinte.

***

Elissa hasste Beerdigungen. Sie machten ihr Angst.

Sie wusste, das klang fürchterlich oberflächlich. Was der Grund dafür war, dass sie diese Worte auch niemals laut äußern würde. Gegenüber keiner Menschenseele.

Und es war auch der Grund, warum sie nicht Nein gesagt hatte, als Amelia sie gebeten hatte, sie zu Miriam Williams’ Beerdigung zu begleiten.

Amelia musste Raphael Williams wirklich gern haben, wenn sie für ihn sogar bereit war, zu der Beerdigung seiner Mutter zu gehen. Elissa war sich nicht ganz sicher, ob sie nicht lieber versuchen sollte, ihre Freundin von deren Schwärmerei für den jungen Mann abzubringen, solange es noch nicht zu spät war. Raphael Williams hatte weder englische Wurzeln, noch einen Titel oder guten Ruf. Und Letzteres konnte einer jungen Frau mehr als alles andere zum Verhängnis werden.

Doch sie kannte Amelia. Es war noch nicht zu spät. Denn wenn die junge Frau schließlich zu einer Entscheidung kam, dann konnte man sicher sein, dass sie – ganz im Gegensatz zu Elissas Entscheidungen – lange und gut durchdacht sein würde. Nein, Amelia würde ihr Herz niemals leichtfertig verschenken.

Außerdem hatte Elissa ihre Freundin in den letzten Monaten zu so vielen Unternehmungen überredet, dass sie ihr diese eine Bitte kaum hatte abschlagen können.

Und so stand Elissa nun an Lord Lavendales Arm neben Amelia und wandte schnell den Kopf ab, als ihr Blick den von Raphaels Vater traf. Die Augen des Mannes glitzerten verdächtig.

Unsicher starrte sie auf ihre Füße. Die Verzweiflung und Trauer im Blick des mächtigen Unternehmers trafen sie irgendwo tief in ihrem Herzen, an einem der Plätze, mit denen sie sich noch nicht auseinandersetzen wollte.

Viele waren gekommen, um Mrs Williams die letzte Ehre zu erweisen, aber Elissa entdeckte kaum jemanden aus der Londoner Gesellschaft, den sie erkannte. Es verwunderte sie nicht sehr. Aus irgendeinem Grund war es der Familie Williams als Neureiche niemals gelungen, sich so zu integrieren, wie ihre eigene Familie es geschafft hatte. Vielleicht lag es daran, dass das Geld ihrer Familie inzwischen einige Generationen alt war und ihr Vater sich beim Militär einen Namen gemacht und die Offiziersränge schneller erklommen hatte, als viele für möglich gehalten hätten. Und vielleicht auch daran, dass sie schon seit Kindesbeinen an dem ältesten Sohn des Duke of Corundy versprochen war.

Sie warf einen Blick auf den Earl, der neben ihr ging. Sie sah ihm nur allzu deutlich an, dass er sich hier ebenso fehl am Platz fühlte wie sie. Dass er sich genauso wenig wohlfühlte an diesem Ort, an dem er sein übliches fröhliches Lachen und seinen Charme eintauschen musste gegen Ernst und Mitgefühl.

Sie passierten eine kleine Gruppe junger Männer, die sich in gedämpftem Ton unterhielten, als Raphael Williams plötzlich an ihnen vorbeirauschte.

Sie blieben stehen und Amelia wandte sich an Lord Lavendale: „Meinen Sie, jemand sollte ihm nachgehen?“

Der Earl zuckte nur unbehaglich mit den Schultern und Amelia hakte noch einmal nach: „Möchten Sie nicht schauen gehen, ob alles in Ordnung ist?“

Der junge Mann sah seinem Freund nachdenklich hinterher. Elissa drückte leicht seinen Arm. „Mylord?“

Ihr Beinahe-Verlobter schüttelte schließlich den Kopf. „Er redet nicht gern über seine Gefühle. Ich glaube, er will einfach etwas allein sein.“

Amelia legte zweifelnd den Kopf schief, aber in den Augen des Earls sah Elissa ein tieferes Verständnis, als sie ihm zugetraut hätte, weshalb sie Amelia mit einem leichten Kopfschütteln bedachte. Die Freundin verstand ihre stumme Aufforderung, das Thema fallen zu lassen, doch in ihren Augen meinte Elissa Enttäuschung zu entdecken. Worüber? Über ihre und Lord Lavendales Reaktion? Aber musste nicht jeder Mensch alleine mit seinem Schmerz fertigwerden? Kein Mensch konnte einem anderen seine Last abnehmen.

Ihre Gedanken schienen sich zu bestätigen, als sie weitergingen und kurz darauf vor dem älteren Mr Williams stehen blieben. Er nahm ihre Worte des Trostes mit einem traurigen Lächeln an, dann wandte er sich um, der Schmerz in seinem Blick kein bisschen gelindert. Nein, Worte halfen wahrlich nicht. Nichts, was einer von ihnen sagen oder tun könnte, würde dieser Familie helfen.

Auf einmal wollte Elissa nur noch weg von hier, weg von diesem Ort des Todes und der Trauer.

Es änderte nichts, über den Tod nachzudenken. Lieber wollte sie das Leben feiern, das sie hatte. Jede Stunde genießen, jede Minute voll auskosten.

Plötzlich sehnte sie sich danach, in die kalten Wogen des Meeres zu springen, das sie in der Ferne silbern glitzern sah, ihre Füße in den warmen Sand zu graben, zu lachen, bis ihr Bauch schmerzte. Sie wollte zu den vollen Klängen eines Orchesters in Lord Lavendales Armen über eine Tanzfläche gewirbelt werden, den weichen Stoff eines farbenfrohen Kleides um ihre Beine streichen spüren. Sie wollte ihre Finger über die Tasten eines Flügels fliegen lassen, bis sie außer Atem und das Lied zum Leben erweckt war, sich verbeugen zum begeisterten Applaus ihres Publikums.

Sie wollte alles tun, überall sein – nur nicht hier.

Als Lord Lavendale und Amelia sich den beiden jüngeren Williams-Geschwistern zuwandten – wie hießen sie noch gleich? Daniel und Samira? Sarah? –, um sich mit ihnen zu unterhalten, blieb sie etwas abseits stehen. Vielleicht war Amelia einfach ein besserer Mensch als sie.

Elissa erschrak, als auf einmal eine knochige Hand ihre Finger umklammerte. Sie sah nach unten und entdeckte eine winzige, anscheinend uralte Frau. Ein Lächeln ließ ihr runzliges Gesicht erscheinen wie altes Pergamentpapier, das jeden Augenblick zu zerreißen drohte. Elissa verzog ihre Lippen zu einem gezwungenen Lächeln und warf Lord Lavendale einen hilfesuchenden Blick zu.

Er sah in genau diesem Augenblick zu ihr herüber, jedoch deutete er ihr Lächeln falsch und gab in der Annahme, dass sie sich mit der Frau unterhalten wollte, ihre Hand frei.

Sie verspürte das dringende Bedürfnis, sich sofort wieder an seinen starken Arm zu klammern, doch stattdessen lächelte sie mühsam weiter und beugte sich vor, um die leisen Worte der Frau verstehen zu können.

„So eine schöne junge Frau, das blühende Leben.“ Ihre Augen leuchteten und sie musterte Elissas Gesicht.

„Es ist gut, wenn wir nie vergessen, wer diese Schönheit gegeben hat. Und danken solltest du dem Herrn Jesus jeden Tag für dein liebliches Gesicht“, ihr Blick wurde gedankenverloren und ihre Stimme sehnsuchtsvoll: „Ich war auch einmal so. So schön. Und unbekümmert.“ Sie nickte, wie um ihre eigenen Worte zu bestätigen.

„‚Meine Sommerblume‘, so hat mein Frederic mich immer genannt. Aber mein Frederic ist nicht mehr. Er liegt jetzt dort drüben und wartet mit der lieben Miriam bei unserem Herrn im Himmel auf mich.“ Sie deutete mit ihrem krummen Finger auf eine Reihe von Gräbern ein Stück entfernt. Dann kehrte das lebendige Funkeln in ihre Augen zurück und sie lachte rau auf. „Hält mir meinen Platz frei bei dem großen Ansturm auf die ewigen Wohnungen.“

Elissa schluckte schwer. Und nickte. Zog vorsichtig ihre Finger aus dem Griff der Alten. „Ihr Verlust tut mir sehr leid.“ Mühsam brachte sie die Worte hervor; ihr Mund schien auf einmal wie ausgedörrt.

In diesem Moment trat Mr Williams zu ihnen, bedachte sie mit einem entschuldigenden Blick und wandte sich tadelnd an die alte Frau: „Mutter, habe ich dir nicht gesagt, du sollst dich in den Schatten setzen? Die heiße Julisonne tut dir nicht gut. Und diese junge Dame wirkt, als hättest du versucht, ihr mit einer deiner Schauergeschichten Angst einzujagen.“

Elissa setzte aus ihr unerfindlichen Gründen dazu an, die alte Dame zu verteidigen: „Sie hat nicht –“, doch der aufblitzende Schalk in den von unzähligen Fältchen umgebenen Augen ließ sie verstummen. Nun gut, vielleicht hatte die alte Dame ihr ein wenig Angst gemacht. Mit all dem Gerede vom Tod und vom Himmel.

Mr Williams begann eindringlich auf seine Mutter einzureden – wie Elissa meinte herauszuhören, um sie dazu zu überreden, sich endlich aus der Sonne zu begeben.

Elissa murmelte eine wahrscheinlich vollkommen unverständliche Entschuldigung vor sich hin, drehte sich mit einem letzten Blick auf die alte Mrs Williams um und ging, so schnell es ihr in ihrem eng geschnürten Korsett möglich war, auf den Ausgang zu. Ein Tropfen Schweiß lief zwischen ihren Schulterblättern hinunter.

Sie hasste Beerdigungen.

Weshalb auch immer Amelia unbedingt hatte herkommen wollen, sie würde es ohne Elissa zu Ende bringen müssen. Sie jedenfalls würde draußen bei ihrer Kutsche warten. Für wie lange auch immer Amelia noch in die Rolle der moralischen Unterstützung für die Familie Williams schlüpfen wollte.

Das wäre eindeutig das geringere von zwei Übeln.

Und wenn Amelia bereit war, sich wieder dem Leben zu widmen, würde sie schon kommen.

Das Friedhofstor fest im Blick, schätzte Elissa, wie weit sie ungefähr davon entfernt war. Noch zwanzig Schritte. Achtzehn. Fünfz– Auf einmal prallte sie gegen eine Mauer und taumelte überrascht zurück.

Atemlos blinzelte sie, versuchte verzweifelt ihr Gleichgewicht wiederzuerlangen und ihre wie zusammengeschnürten Lungen mit einem Quäntchen Luft zu füllen. Vergeblich.

Eine Hand stoppte ihren Fall und sie krallte ihre Finger in feste Muskeln, während sie noch immer nach Luft schnappte.

Ruckartig wanderte ihr Blick nach oben – zu einer maskulinen Brust und breiten Schultern. Und stellte fest, dass die Mauer ein Mann war!

Ein wunderschön gebauter Mann.

Sie blinzelte erneut, entsetzt über ihre eigenen Gedanken, und versuchte mit einer schnellen Handbewegung ihre Röcke wieder in Ordnung zu bringen.

So kamen ihre nächsten Worte schärfer heraus als eigentlich beabsichtigt: „Können Sie nicht besser aufpassen?“

Erst als ihre Anklage lediglich mit Schweigen beantwortet wurde, wanderte ihr Blick weiter nach oben, bis sie beinahe den Kopf in den Nacken legen musste.

Es war Raphael Williams, der da vor ihr stand und sie noch immer festhielt.

Elissa spürte, wie ihr das Blut in die Wangen stieg. Hastig trat sie einen Schritt zurück, raus aus dem sicheren Griff, der sie hielt.

Er ließ seine Hand an seine Seite fallen.

Elissa tat einen weiteren Schritt nach hinten, stolperte beinahe und schwankte. Sofort streckte Raphael seinen Arm wieder nach ihr aus, doch sie hob abwehrend die Hände. Sie musterte intensiv einen kleinen Stein, der vor ihren Schuhspitzen auf dem Weg lag. Als er weiter schwieg, hob sie langsam wieder den Blick.

Erst da bemerkte sie die dunklen Ringe unter seinen Augen, den kleinen Ast, der sich in seinem dichten Haar verfangen hatte. Sah, dass seine Augen gerötet waren, als ob er geweint hätte. Elissa hatte noch nie einen Mann weinen sehen.

Hilflos rang sie die Hände, wusste nicht, was sie sagen sollte.

Schließlich murmelte sie, sich an ihre Manieren erinnernd: „Mein Beileid.“

Es hörte sich fürchterlich oberflächlich an. Unzureichend.

Er musterte sie nur weiter aus diesen viel zu durchdringenden Augen.

Elissa erinnerte sich an die Gerüchte, dass er dieses Leid über seine Familie gebracht hatte. Dass dies der Grund war, warum die Gesellschaft ihn mied wie eine ansteckende Krankheit.

Unbehaglich verlagerte sie ihr Gewicht von einem Bein auf das andere. „Ich sollte wieder …“

Mr Williams nickte. Sie blieben beide stehen.

Elissa sah an seinen Kiefernmuskeln, dass er die Zähne fest zusammengebissen hatte. In seinem Blick, der zu den vielen Menschen irgendwo hinter ihr wanderte, entdeckte sie den Unwillen, dorthin zurückzugehen. Seine Schultern waren gebeugt wie unter einer schweren Last.

Sie kämpfte dagegen an, ihre Hände erneut zu ringen, trat stattdessen vor und zog in einer raschen, etwas ungeschickten Bewegung den Ast aus seinen schwarzen Haaren. Sie schenkte ihm ein – wie sie hoffte – aufmunterndes Lächeln und floh zu ihrer Kutsche.

3

2. August 1857

Warmer Sonnenschein und das leise Rauschen der Wellen begrüßten Elissa, sobald sie vor das Haus ihrer Eltern trat. Der Strand war nicht weit von hier entfernt. Eine sanfte Brise ließ den wunderbar luftigen Stoff ihres hellen Strandkleides fröhlich um ihre Füße tanzen und ihre Hutbänder flattern. Elissa atmete tief ein, genoss die frische Luft. Wie jeden Sommer war sie unglaublich froh, Londons Hitze und vor allem den Gestank der Themse hinter sich lassen zu können.

Sie entdeckte Amelia und winkte fröhlich. Die Freundin kam ihr entgegen, sie begrüßten sich und machten sich dann gemeinsam auf den Weg zum Strand. Gemütlich schlenderten sie die gepflasterte Straße entlang, jede mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt.

Elissas Gedanken wanderten zurück zu Miriam Williams’ Beerdigung. Das war nun schon mehr als zwei Wochen her und dennoch verfolgte ihr Zusammenstoß mit Raphael Williams sie noch immer. Es war der Blick in seinen Augen, der selbst jetzt noch immer wieder vor ihrem geistigen Auge aufblitzte und ihre Gedanken durcheinanderbrachte. Der ihr irgendwie Angst machte. Da war eine solche Leere gewesen und zugleich ein so tiefer Schmerz.

Elissa konnte sich nicht vorstellen, jemals eine solche Verzweiflung zu spüren, wie sie sie in seinen Augen gesehen hatte. Auch sie war ab und zu traurig oder wütend, aber die meisten ihrer Tage waren angefüllt mit Freude und Lachen. Ja, sie verstand seine Trauer, sie war nicht hartherzig. Seine Mutter war gestorben. Und trotzdem konnte sie sich nicht vorstellen, was seine Augen mit einer solchen Verzweiflung gefüllt hatte.

Ihr Blick wanderte zu Amelia. Sollte sie versuchen, ihrer Freundin von ihren Gedanken zu erzählen? Sie warnen vor den Untiefen, die sie in seinen Augen zu sehen geglaubt hatte? Vor der Gefahr, dass er ihre Freundin mit hineinziehen würde in diese Verzweiflung, die Dunkelheit? Sollte sie sie warnen vor dem Leben, das die Frau eines solchen Mannes führen würde?

Mit einem weiteren Blick auf Amelia schüttelte sie diese Gedanken ab. Es war ein viel zu schöner Tag für ihre melancholischen Gedanken. Ein Sonnenstrahl kitzelte Elissas Nase und sie hoffte inständig, dass die Augustsonne ihre Haut nicht braun färben würde wie die eines gewöhnlichen Farmers.

Allmählich wurde der Geruch des Meeres intensiver, das Rauschen der Wellen lauter. Der Ozean tauchte vor ihnen auf, wunderschön glitzernd im hellen Sonnenlicht und zugleich so unbezwingbar gewaltig, so ewig.

Elissa liebte diesen Ort, liebte das Kreischen der Möwen über ihr, den spielerischen und doch schon Jahrhunderte andauernden Kampf der unaufhörlich gegen die Küste schlagenden, geduldig die Felsen aushöhlenden Wellen. Auf einmal konnte sie es kaum erwarten, am Strand zu stehen, die unendlichen Weiten des Meeres vor sich.

Lachend packte sie Amelias Hand und zog sie mit sich. „Komm!“

Sie war kleiner als die Freundin, ihr aber dennoch einige Schritte voraus, als sie schließlich lachend und etwas außer Atem auf dem weichen Sand stehen blieben. Der Strand war menschenleer. Kurz musste sie daran denken, dass sie ihrer Mutter versprochen hatte, unter anderen Menschen zu bleiben. Sie hatte gedacht, an einem solch sonnigen Sommertag wären wenigstens einige Spaziergänger am Strand unterwegs. Aber was sollte ihnen hier schon passieren? Es gab auf dieser Welt vermutlich keinen sichereren Ort als dieses wunderbar verschlafene, manchmal schon fast ein wenig zu langweilige Städtchen.

Gemächlich spazierten sie ein Stück den Küstenstreifen entlang. Eine Möwe kreiste über ihnen, ließ ihren Schrei über den einsamen Strand klingen.

Amüsiert erinnerte sich Elissa an das Dinner des vorigen Abends. Sie musste leise kichern und erklärte auf Amelias fragenden Blick hin: „Ich glaube, ich werde nie vergessen, wie Lord Wembley den Kerzenhalter umgestoßen und bei seinem Versuch, die Kerzen zu löschen, auch noch seinen Hemdsärmel in Brand gesetzt hat. Lady Wembleys Gesicht war so rot, als wäre es nicht das Weinglas ihres Mannes, sondern ihres gewesen, das einige Mal zu oft nachgefüllt worden war.“

Amelia stieß Elissa leicht den Ellbogen in die Seite und rügte: „Elissa!“

Die junge Frau war manchmal einfach ein wenig zu gutherzig. Elissa bedachte die Rüge ihrer Freundin nur mit einem fröhlichen Grinsen, woraufhin Amelia sich auf die Lippe biss und murmelte: „Wir sollten nicht darüber lachen! Wie leicht hätte das alles schiefgehen und jemand verletzt werden können …“

Doch dann machte sich auf einmal auch auf ihrem Gesicht ein Grinsen breit und sie kicherte: „Aber es war auch einfach zu komisch!“ Der Wind trug das perlende Lachen der beiden jungen Frauen mit sich fort.

Sie schlenderten beieinander eingehakt weiter.

Irgendwann öffnete Amelia den Mund, als ob sie etwas sagen wollte, schloss ihn jedoch wieder ohne ein Wort. Elissa blieb stehen und legte fragend den Kopf schief.

„Was ist?“

„Nichts. Es ist …“ Amelia schüttelte den Kopf. „Ach nichts.“

Sie ging weiter und zwang damit auch Elissa, sich wieder in Bewegung zu setzen. Nachdem sie jedoch einige Schritte gegangen waren, setzte Amelia erneut an: „Denkst du …“

Elissa blieb erneut stehen und lachte: „Nun sag schon! Was ist?“

Amelias Blick wanderte unsicher zu den blauen Weiten des Meeres. „Denkst du, es ist sicher, hier einfach so spazieren zu gehen?“

„Warum? Weil wir zwei Frauen sind?“

Amelia zuckte mit den Schultern. „Na ja – ja. Und weil Lord Randalf gestern erzählt hat, dass dieser … dieser Jack Brixton“, sie senkte die Stimme, als wäre es möglich, dass allein sein Name den Piraten in Hörweite bringen könnte, „wieder unterwegs sein soll.“ Sie erschauderte leicht. „Die Geschichten, die Lord Randalf meinem Vater gestern erzählt hat, sind überhaupt nicht schön. Er dachte wohl, ich höre nicht zu.“

Elissa schüttelte den Kopf. „Warum sollte dieser Brixton denn hierherkommen? Es gibt bei uns doch überhaupt nicht viel zu holen. Piraten kapern Schiffe auf See, um möglichst viel Gewinn zu machen“, beruhigte sie ihre Freundin.

Doch ihr Interesse war geweckt. Sie wünschte, Lord Randalf hätte Lord Westcott in ihrer Hörweite die Geschichten über den Piraten erzählt. Ihr eigener Vater achtete viel zu sehr darauf, dass ihr keine grausamen – ihrer Meinung nach schauerlich-spannenden – Details zu Ohren kamen.

Aber auch wenn der Name Brixton unter dem Dach ihres Vaters noch nie erwähnt worden war, so war es ein Name, der in der Londoner Gesellschaft selbst bei feierlichen Anlässen immer häufiger diskutiert wurde. Komplett verschwundene Schiffe mitsamt der wertvollen Waren, die sie getragen hatten, bedeuteten hohe Verluste und Beunruhigung. Und dennoch brachte nichts als ein paar aufgeregt geflüsterte Gerüchte den Piratenkapitän mit dem Namen Jack Brixton in Verbindung.

Wenn Elissa nicht sicher wäre, dass seine Manöver Menschenleben kosteten, hätte sie den Piraten beinahe bewundert für seine listige Taktik. Selbst wenn er in einem der Londoner Ballsäle auftauchen sollte, könnte er jederzeit unbehelligt wieder hinausmarschieren – die Männer, deren Schiffe gekapert und entführt worden waren, hatten nichts, rein gar nichts gegen Jack Brixton in der Hand.

Als sich vor ihnen nun einige Felsblöcke auftürmten, als wären es liegen gebliebene Bauklötze eines Riesen, ließ Elissa die Hand ihrer Freundin los, raffte mit einer Hand ihren Rock und begann leichtfüßig, nach oben zu klettern. Etwa auf halber Höhe drehte sie sich um. „Komm, Amelia!“

Die Freundin schüttelte vehement den Kopf. „Nein, Elissa, das ist gefährlich! Und unschicklich! Was, wenn dich jemand sieht?“

Elissa lachte lediglich unbekümmert und streckte auffordernd die Hand aus: „Nun komm schon! Von hier oben hat man einen viel schöneren Ausblick!“

Amelia schüttelte erneut den Kopf. „Nein, danke. Der hier unten reicht mir. Wenigstens eine von uns muss doch vernünftig bleiben. Ich will nachher nicht deine Mutter anlügen müssen, wenn sie mich fragt, ob ich immerhin versucht habe, dich von etwaigen Dummheiten abzuhalten.“ Sie grinste, ließ sich anmutig auf einem Felsblock nieder und erklärte: „Ich weiß ja, dass ich es dir sowieso nicht ausreden kann. Also mach du nur, ich bleibe solange hier sitzen und bete, dass du dir deinen hübschen Hals nicht brichst.“

Amelia wandte den Blick ab, aber nicht bevor Elissa den Humor in ihren Augen hatte aufblitzen sehen. Elissa grinste, zuckte mit den Achseln und kletterte, darauf bedacht, nicht ihr schönes Sommerkleid zu ruinieren, den Rest des Weges nach oben.

Dort angekommen, richtete sie sich langsam auf.

Hinter ihr erhoben sich Dünen wie sanfte Wellen und der Wind trieb einige Sandkörner als zarten Schleier über den Küstenstreifen.

Vor ihr erstreckten sich die blauen Fluten scheinbar endlos.

Eine Windböe zog an ihrem Kleid, peitschte ihr einige lose Haarsträhnen ins Gesicht und riss an ihrem Hut. Der vom Meer kommende Wind trug einige Wassertropfen mit sich und Elissa konnte das Salz auf ihren Lippen schmecken.

Die Sonne verschwand kurz hinter einer Wolke und auf einmal verwandelte sich die eben noch beinahe durchsichtige, türkisblaue Oberfläche des Meeres. Silbern glitzerte sie nun, erschien hart, als wäre es geschmolzenes Eisen, das unter ihr wogte.

Elissa starrte auf die feine Linie, die die ungezähmten Wassermassen von dem Himmelszelt trennte, das sich über ihr ausdehnte. Von hier oben erschien die Welt unter ihr beinahe fremd. So als wäre sie weit weg. Und ihre Sorgen noch viel weiter weg. Hier oben gab es nur sie, den Wind, nur … Freiheit.

Elissa streckte die Arme aus und stieß einen Jubelschrei aus. Unbeschwert, befreit und irgendwie siegessicher.

Sie würde den Wind besiegen. Sich nicht unterkriegen lassen, egal, wie unruhig die See ihres Lebens werden würde; würde jeden Atemzug auskosten, tief inhalieren, bis die frische Luft ihre Lungen füllte, ihre Seele, ihr tiefstes Inneres. Würde abheben, sich in die Lüfte erheben. Und fliegen. Dorthin, wo der Himmel in einem sanften Kuss auf das Meer traf. Dorthin, wo ihre Träume Wirklichkeit wurden.

Sie lachte leise auf. Nein, das brauchte sie gar nicht. Denn an der Seite des Earls würden sich ihre Träume auch so erfüllen, auch mit beiden Beinen fest auf dem Boden.

Für einen kurzen Moment schloss sie ihre Augen. Sah sein Gesicht vor Augen. David. Es fühlte sich intim an, den Namen, den seine Eltern ihm gegeben hatten, auch nur zu denken. Und zugleich irgendwie … richtig.

Elissa hörte nichts als das laute Rauschen der Brandung, den Wind, der noch immer in Böen um sie wirbelte, spielerisch an ihr zupfte, als wollte er testen, wie fest sie tatsächlich stand. Für einen kurzen Augenblick wurde Amelias Stimme zu ihr nach oben getragen und Elissa beschloss, sich an den Abstieg zu machen.

Der helle Rock, der wild wie eine fröhlich im Wind tanzende Fahne um ihre Beine wirbelte, störte sie dabei kaum. Dennoch war sie sehr vorsichtig und konzentriert, um mit ihren behandschuhten Händen nicht von dem feuchten Felsen abzurutschen.

Schließlich war sie nur noch ein kleines Stück vom Boden entfernt und sprang gewandt zu Boden. Sie drehte sich um – und stand direkt vor David.

Sie unterdrückte einen erschreckten Aufschrei und atmete einmal tief ein und aus, um ihren rasenden Herzschlag zu beruhigen. Dann breitete sich ein strahlendes Lächeln auf ihrem Gesicht aus.

Scherzhaft verbeugte er sich vor ihr und erklärte: „Ich ziehe meinen Hut vor der Herrin des Windes.“

Er musste sie dort oben gesehen haben! Elissa spürte, wie sie rot wurde.

David schenkte ihr ein entwaffnendes, leicht amüsiertes Lächeln. Grübchen bohrten sich in seine Wangen und Elissa spürte, wie sie sich entspannte, obwohl sie völlig zerzaust aussehen musste. Sie reichte David ihre Hand und er hauchte einen Kuss darauf.

„Miss Belham.“

Sie neigte anmutig den Kopf. „Mylord.“

Sein Blick wanderte bewundernd über ihre Erscheinung: „Es scheint, als ob nicht einmal die stürmischen Böen des heutigen Tages Ihrer Schönheit etwas anhaben können.“

Er streckte seine Hand aus und strich ihr mit rauen Fingern eine der Haarsträhnen, die sich gelöst hatten, hinters Ohr. Elissa spürte, wie ihr Gesicht zu glühen begann.

David zog seine Hand nur langsam zurück und dennoch sehnte Elissa sofort seine Berührung zurück. Sein Blick wanderte liebkosend über ihr Gesicht, blieb an ihren Lippen hängen. Elissa schlug die Augen nieder. Vielleicht würde er nun endlich –

Ein Kichern zerstörte den innigen Augenblick. Sie sah Amelia einige Schritte entfernt mit Raphael Williams und einem fremden jungen Mann stehen. Ihre Freundin schien sich prächtig zu amüsieren. Sie stand dicht neben Mr Williams, ihre lächelnden Wangen waren rosig und Elissa meinte, sogar auf Mr Williams’ Gesicht die Anflüge eines Lächelns erkennen zu können.

David führte sie mit einer leichten Berührung am Arm auf die drei zu und stellte den Fremden als Henry Miller vor, einen Studienfreund von Mr Williams. Das strohblonde Haar des Mannes erschien neben Mr Williams’ dunklerer Haut und schwarzem Haar sogar noch heller und unzählige Sommersprossen leuchteten ihr von seinem Gesicht entgegen. Er war sehr groß, selbst neben David und Mr Williams, die beide keine kleinen Männer waren, wirkte er noch riesig. Ihre Hand fühlte sich mickrig an in seiner, als er einen Kuss darauf hauchte, und selbst Amelia, die ein Stück größer war als Elissa, sah neben ihm winzig aus.

Überrascht bemerkte Elissa, dass ihre sonst so menschenscheue Freundin nur Augenblicke zuvor in der Gegenwart gleich zweier Männer kein bisschen ängstlich ausgesehen hatte. Erst als David an ihrer Seite wieder zu der kleinen Gruppe getreten war, war die übliche Scheu in ihrem Blick aufgetaucht.

Sie unterhielten sich ein wenig und es wurde schnell klar, dass Mr Miller zwar eine beachtliche Größe hatte, dass seine hünenhafte Gestalt aber auch das einzig einschüchternde an dem stillen jungen Mann war.

Die Blicke, die er ihrer zurückhaltenden Freundin zuwarf, entgingen ihr nicht. Ebenso wenig wie die Tatsache, dass anscheinend auch Mr Williams diese Blicke bemerkte. Doch statt seinen Studienfreund in dessen Schranken zu verweisen und Amelias Aufmerksamkeit für sich zu beanspruchen, trat er einen Schritt zurück und richtete seinen Blick auf den weit entfernten Horizont. Interessant.

Als die Sonne wieder hinter den Wolken hervorbrach und die Küste in ihr goldenes Licht tauchte, bemerkte Elissa zufrieden: „Was für ein herrlicher Tag, nicht wahr? Es ist immer wieder schön, hier spazieren zu gehen, aber an einem Tag wie diesem wünscht man sich beinahe, das Wasser wäre warm genug, um schwimmen zu gehen.“

David nickte zustimmend, doch Mr Williams brummte lediglich, ohne seine Augen vom Horizont abzuwenden: „Es ist allerdings auch nicht ungefährlich für zwei Frauen, hier alleine unterwegs zu sein.“

Leicht verärgert über den missmutigen Mann trat Elissa einen Schritt auf ihn zu, zwang ihn dadurch, sie anzusehen, und fragte herausfordernd: „Weil uns Jack Brixton auf seinem Piratenschiff entführen könnte?“

Amelia räusperte sich und Elissa brauchte nicht viel Fantasie, um sich den Tadel auf dem Gesicht ihrer Freundin vorzustellen. Sie wusste, ihr herausfordernder Ton war nicht sehr höflich, aber warum sollte sie sich von einem übel gelaunten Miesepeter den schönen Tag verderben lassen?

Mr Williams runzelte die Stirn und erklärte: „Ich meinte nicht irgendwelche Märchen über diesen Piraten. Ich dachte eher an sehr reale Landstreicher, die hier manchmal nach angeschwemmten Gütern suchen.“

„Allein die Tatsache, eine Frau zu sein, bedeutet nicht, komplett wehrlos zu sein, Mr Williams.“

Er zog lediglich eine Augenbraue in die Höhe.

Heißer Ärger pulsierte durch sie und sie bekräftigte: „Ja.“

Mr Williams nickte lediglich und wandte sich ab, aber das amüsierte Zucken um seine Mundwinkel verriet ihr, dass er sie noch immer nicht ernst nahm.

Dieser arrogante, herablassende –

Eine warme Hand drückte die ihre beruhigend. David. Sofort begann die Wut in ihrem Bauch sich in tausend Schmetterlinge zu verwandeln. Auch wenn etwas von ihrem Ärger blieb.

David bedachte sie mit seinem entwaffnenden Grinsen und bat: „Ich bin sicher, dass Sie sich sehr effizient verteidigen können, Miss Belham. Doch dürften wir die Damen trotzdem zurückbegleiten?“

Sie nickte mit einem leichten Lächeln.

„Und wenn Sie dann noch den Arm auf meinen legen könnten, wäre ich überaus dankbar. Einfach, damit der Sicherheitsbeauftragte Mr Williams mich nicht wegen mangelhafter Pflichtausübung entlassen kann.“

Ein Grinsen zupfte an Elissas Mundwinkeln, doch sie versuchte noch, es zurückzuhalten. David beugte sich verschwörerisch zu ihr hinunter. „Sie müssen wissen, er ist ein sehr strenger Auftraggeber.“

Mr Williams drehte sich mit nach oben gezogenen Augenbrauen zu David um, doch seine Augen funkelten amüsiert. Als Mr Miller ihm mit seiner Riesenpranke auf die Schulter schlug und lachte: „Das ist er“, Amelia leise kicherte und Mr Williams scherzhaft mit dem Zeigefinger drohte, musste auch Elissa lachen und ihr verbliebener Ärger verflüchtigte sich.

Mit gespieltem Ernst donnerte Mr Williams: „Los jetzt, an die Arbeit, Männer!“

Hastig bot auch Mr Miller Amelia übertrieben galant seinen Arm an, während David grinsend salutierte und Elissa mit seinen klaren blauen Augen ansah. „Wollen wir?“

Elissa nickte und folgte ihm hinter den anderen her zurück in Richtung Stadt.

Mr Miller bedachte Amelia mit einem sanften Lächeln, als sie etwas sagte, und seine Antwort entlockte ihr ein helles Lachen. Mr Williams ging mit langen Schritten ein kleines Stück vor den beiden, drehte sich nun allerdings um und warf eine Bemerkung in die Unterhaltung ein, die den anderen beiden ein Lachen entlockte.

Amelia und die beiden jungen Männer verschwanden ein Stück vor ihnen hinter einer Düne und auf einmal war Elissa sich Davids Anwesenheit neben ihr noch viel deutlicher bewusst. Die Stelle, wo ihre behandschuhte Hand auf seinem Arm lag, das leise Geräusch seines regelmäßigen Atems, sogar sein männlicher Duft schien intensiver. Näher irgendwie.

Er blieb stehen und ihr Herz schlug ein hastiges Stakkato.

Langsam wandte er sich ihr zu – und dann presste er seine Lippen fest und doch unendlich sanft auf die ihren. Seine blauen Augen hielten ihren Blick fragend gefangen und erst als sie ihre Arme um ihn schlang und ihn näher zog, schloss er die Augen und vertiefte den Kuss.

Und sie war wehrlos, Lord Lavendale nahm sie vollkommen gefangen. Sein Humor, sein Charme, seine Lebensfreude. Die Liebe, die sie meinte, in seinen Augen gesehen zu haben.

David. Er zog sich ein wenig zurück und schlug die Augen auf. Sein Blick fand den ihren, fesselte sie und gab sie zugleich frei. Noch nie hatte sie sich so befreit, so schwerelos, so glücklich gefühlt.

„Elissa.“

Er flüsterte ihren Namen, als ob er eine Kostbarkeit war, seine weichen Lippen warm an ihren.

Er zog sich noch ein wenig weiter zurück, sein Daumen streichelte über ihre Wange. Sofort sehnte sie sich nach seiner Nähe und er wusste es. Der für ihn typische Humor funkelte in seinen Augen.

„Ach, Elissa.“

Einer seiner Mundwinkel hob sich zu einem schiefen Lächeln. Ihr Blick fiel unwillkürlich zurück auf seine Lippen.

„Du machst es mir schwer.“

Sie riss sich mühsam los, begegnete seinem Blick. Diesen wunderschönen blauen Augen. Sie wusste, ihr Herz gehörte ihm. Wenn er nur danach fragte, sie würde ihm alles geben.

Aber warum fragte er nicht? Warum zog er sich nun wieder zurück?

Es war nicht schwer.

Sie würde es ihm einfach machen.

Ohne lange nachzudenken, stellte sie sich auf ihre Zehenspitzen und drückte ihre Lippen erneut auf die seinen. Mit einem leisen Stöhnen zog er sie wieder an sich. Seine starke Hand hielt sie fest, sein Mund auf ihrem, bestimmt und zugleich unendlich liebevoll.

Das Blut rauschte in ihren Ohren, vermischte sich mit dem Geräusch der Brandung. Der Wind zerrte an ihren Haaren und während in ihrem Inneren Freude explodierte, wurde ihre Seele ganz ruhig.

Und zum ersten Mal seit den hässlichen Worten, die Patricia ihr an den Kopf geworfen hatte, fühlte sie sich wieder, als wäre sie genug. Mehr als genug. Wunderschön und begehrt.

David hatte sie gewählt. Und nicht nur wegen des Geldes ihres Vaters. Sie war seine erste Wahl. Und seine einzige.

Doch auf einmal riss er sich von ihr los, trat einen Schritt zurück.

Elissas Wangen wurden heiß. Beschämt wandte sie den Blick ab. Sie hatte sich ihm an den Hals geworfen. Elissa wusste, dass sie das nicht nötig hatte. Was hatte sie sich nur gedacht?

Mit hochrotem Kopf schlug sie die Hände vors Gesicht, stammelte: „Entschuldige … Es … Das war unverzeihlich.“

Sie hörte den Sand unter seinen Füßen knirschen, wagte aber nicht, die Hände vom Gesicht zu nehmen.

Erst als seine warmen Hände sich behutsam über ihre kalten Finger legten und sie seine leicht raue Stimme hörte, senkte sie die Arme. „Elissa, sieh mich an.“

Sie schüttelte den Kopf, musterte den grobkörnigen Sand zwischen ihren Stoffschuhen und seinen glatt polierten Lederschuhen.

Sie hatte sich nicht verhalten wie die gewandte Dame von Welt, als die ihre Mutter sie erzogen hatte, wie die zukünftige Erbin, die sie war.

Nein, sie wollte ihn nicht ansehen.

Doch seine Hand an ihrem Kinn zwang sie, langsam den Blick zu heben.

Der Ausdruck in seinen blauen Augen war unlesbar.

„Ich könnte mir nichts Schöneres vorstellen, als –“, David fuhr mit seinem Daumen liebkosend über ihre Lippen, ehe er ihr wieder in die Augen sah, „das gerade eben zu wiederholen.“

Er ließ seine Hand fallen, trat wieder einen Schritt zurück.

„Aber wenn ich –“, er schluckte schwer, „wenn ich jetzt nicht aufhöre … Ich will deine Unschuld nicht gefährden. Habe ich deine Erlaubnis, mit deinem Vater zu reden?“

Elissas Augen wurden groß, doch ihre Stimme klang erstaunlich ruhig, als sie antwortete: „Ja, die hast du.“

Ein wunderschönes Lächeln erhellte sein Gesicht, dann bohrte sich das Grübchen in seine Wange, als er grinste: „Sehr gut. Sonst hätte ich dich einfach mit einem weiteren Kuss überreden müssen.“

Elissa lachte leise, spürte, wie ihre Wangen erneut rot wurden. Doch dieses Mal nicht vor Scham, sondern aus Freude.