Hinter dem Tor - Martin S. Burkhardt - E-Book

Hinter dem Tor E-Book

Martin S. Burkhardt

3,7

Beschreibung

Die 15-jährige Lara kommt auf ein Internat an der Nordsee. Eines Tages entdeckt sie in einem abgesperrten Flügel der Schule ein geheimnisvolles Tor. Der Raum dahinter erscheint seltsam verzerrt. Mutig wagt sie einen Schritt durch das Tor. In einem kargen Krankenhaus kommt sie wieder zu sich. Langsam begreift sie: Sie befindet sich in Alea, einer Stadt in einer anderen Dimension. Und dort warten eigenartige Wesen auf sie - gute wie böse. Das größte Abenteuer ihres Lebens nimmt seinen Anfang …

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Martin S. Burkhardt

Hinter dem Tor

Fantasy

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-digital.de

Gmeiner Digital

Ein Imprint der Gmeiner-Verlag GmbH

© 2014 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75/20 95-0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Katja Ernst

E-Book: Mirjam Hecht

Umschlagbild: © hitdelight – Fotolia.com

Umschlaggestaltung: Matthias Schatz

ISBN 978-3-7349-9232-2

1. Das Internat

Sie fuhren seit vier Stunden auf der Autobahn. Die Bäume jagten an Laras Fenster vorbei, während ihr Blick gedankenversunken in die Ferne schweifte. Der heutige Tag stellte ihr ganzes bisheriges Leben auf den Kopf. Wie lange würde es dauern, bis sie endlich da waren? Sie schaute zu ihrem Vater. Sie konnte nur einen Teil seines Gesichtes sehen, da sie hinten rechts auf der Rückbank saß, während er den Wagen fuhr. Trotzdem merkte sie, dass er traurig war. Seine Mundwinkel hingen herab, als hätte er seit Jahren nicht mehr gelacht. Dabei konnte er unglaublich lustig sein. Aber in letzter Zeit war er meistens schweigsam und irgendwie bedrückt. Es war jetzt vier Wochen her, seit ihre Eltern beschlossen hatten, sich für eine Weile zu trennen. Sie erinnerte sich genau an die Szene im Wohnzimmer. Sie war von einer Shoppingtour mit ihren Freundinnen zurückgekommen und hatte ihrer Mutter ihre neuen Shirts präsentieren wollen. Doch schon beim Betreten des Wohnzimmers hatte sie gemerkt, dass etwas anders war. Ihre Eltern hatten zerknirscht auf dem altmodischen Sofa gesessen und ihr müde zugelächelt.

»Wir müssen dringend mit dir sprechen«, hatte ihr Vater leise gesagt.

»Deine Einkäufe schauen wir uns nachher an«, hatte ihre Mutter versprochen und versucht, dabei fröhlich zu klingen. Doch Lara hatte gespürt, dass ihre Mutter ganz und gar nicht fröhlich gewesen war. In knappen Sätzen hatten ihre Eltern erzählt, dass sie sich nicht mehr so lieb wie am Anfang ihrer Ehe hatten und dass sie eine Weile Abstand voneinander bräuchten.

»Ihr werdet euch scheiden lassen?«, hatte sie ungläubig gerufen.

Ihre Mutter hatte beschwichtigend die Hände gehoben. »Nein, Lara. Wir wollen uns nicht scheiden lassen. Jedenfalls noch nicht. Dein Vater und ich wollen uns eine Auszeit nehmen. Papa wird ausziehen und sich eine eigene Wohnung suchen. Trotzdem kannst du ihn natürlich jederzeit besu…«

Lara hatte nicht mehr hingehört, sondern war aufgesprungen, aus dem Zimmer gelaufen und die Treppe hochgerannt. Mit Tränen in den Augen hatte sie ihre Zimmertür aufgerissen, sich auf ihr Bett fallen lassen und in ihr Kopfkissen geweint. Dabei hatte sie ihre Hände zu Fäusten geballt. In ihrem Inneren hatte reines Chaos geherrscht. Sie war traurig gewesen. Aber auch furchtbar wütend. Und ängstlich. Und das alles gleichzeitig.

»Ist alles in Ordnung mit dir?«, fragte ihr Vater nun und nahm eine Hand vom Lenkrad. Er hatte anscheinend bemerkt, dass sie mit ihren Gedanken abgeschweift war. Jetzt versuchte er, sie über den Innenspiegel zu betrachten.

Lara nickte langsam. »Ja, alles okay.«

Das war zwar eine glatte Lüge, doch was wollte er hören? Was sollte in Ordnung sein, wenn die eigenen Eltern beschlossen hatten, künftig getrennte Wege zu gehen?

»Es dauert nicht mehr lange. Jetzt, wo wir Hamburg hinter uns gelassen haben, ist die Autobahn auch wieder leerer. In zwei Stunden werden wir am Ziel sein.«

Am Ziel? Lara presste die Lippen zusammen. Warum sagte er nicht ›am Internat‹? Traute er sich nicht, die Dinge beim Namen zu nennen? In zwei Stunden würden sie das Internat an der Nordsee erreichen, in dem sie zukünftig wohnen sollte. Wieder drängte sich die Unterredung mit ihren Eltern in ihr Bewusstsein. Als Lara sich beruhigt hatte, war sie zurück ins Wohnzimmer gegangen und sie hatten ihre Unterhaltung fortgesetzt.

»Lara, mein Schatz«, hatte ihre Mutter gesagt, »jetzt, wo wir alle nicht genau wissen, wie es weitergehen wird, sollst wenigstens du einen festen Bezugspunkt haben.«

Lara hatte genickt und angenommen, dass ihre Mutter ihr gleich mitteilen würde, bei wem sie zukünftig wohnen würde. Als sie dann aber von dem Internat erzählt hatte, hatte es Lara für einen Augenblick die Sprache verschlagen.

»Ihr wollt mich abschieben?«, hatte sie ungläubig geschrien.

»Nein, nein«, hatte ihr Vater, der sich bislang komplett zurückgehalten hatte, versucht, sie zu beruhigen. »Wir wollen einfach sichergehen, dass sich deine schulischen Leistungen nicht noch weiter verschlechtern.« Er hatte gezögert und nach den richtigen Worten gesucht. »Wenn die Eltern sich trennen«, hatte er schließlich ruhig gesagt, »leiden die Kinder ja auch ein bisschen …«

Ein bisschen? Für diese Bemerkung wäre sie ihrem Vater am liebsten an die Gurgel gesprungen. Sie hatte Höllenqualen gelitten und tat das auch heute noch. Bekam das überhaupt irgendjemand mit?

»… damit also deine Leistungen in der Schule nicht in den Keller gehen und du möglicherweise sitzen bleibst, denken wir, dass ein Internat momentan die beste Lösung für uns alle ist«, hatte ihr Vater den Satz beendet.

Für uns alle? Sie hatte gedacht, sie höre nicht richtig. Ihr schien es eher, als wäre es die bequemste Lösung für ihre Eltern.

Die Stimme ihres Vaters holte sie zurück in die Gegenwart. »Bald endet die Autobahn. Dann müssen wir eine Dreiviertelstunde über die Landstraße fahren. Wollen wir vorher an einem Rastplatz eine Kleinigkeit essen?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Okay«, meinte er und zuckte mit den Schultern.

Die Gegend hier war flach. Dort, wo Lara herkam, gab es immerhin Hügel. Wieso fiel ihr das jetzt ein? Sie lächelte und fuhr sich mit den Händen durch ihre blonden Haare. Auf den ersten Schock, als ihre Eltern von dem Internat gesprochen hatten, war eine sachliche Auseinandersetzung damit gefolgt. Ihre Eltern hatten unzähliges Infomaterial angefordert, das sie widerwillig durchgelesen hatte. Doch so sehr es ihr widerstrebt hatte, sie hatte zugeben müssen, dass ihr viele Dinge gefielen, die sie in den Prospekten entdeckt hatte. Zum Beispiel gab es ausschließlich Einzelzimmer. Das war ihr sehr wichtig. Sie konnte es nicht leiden, wenn man in ihren Sachen schnüffelte. Sie brauchte Privatsphäre! Das Internat war international ausgerichtet, was bedeutete, sie würde in Kontakt mit Schülern aus der ganzen Welt kommen. Neben Deutsch war dort Englisch die Hauptsprache. Davor hatte sie zwar Angst, denn das war nicht gerade ihre Stärke, aber nach einer Weile würde sie sicherlich besser werden. Außerdem hatte das Internat keine festen Klassen. Man besuchte in jedem Fach einen der Leistungsstufe entsprechenden Kurs. Das gefiel Lara sehr. Sie ging zwar bisher aufs Gymnasium, war jedoch wegen ihrer schlechten Mathezensuren ein Wackelkandidat. Sie hatte ein ernstes Gespräch mit dem Schuldirektor geführt, der betont hatte, dass sie bei der nächsten Fünf mit Konsequenzen rechnen müsste. Im Internat war das anders, hier bräuchte sie keine Angst vor dem Sitzenbleiben zu haben. Warum war das nicht an jeder Schule so geregelt?

Es gab zwar eine Aufnahmeprüfung am Internat, die mathematische Fragen enthielt, doch die hatte sie offensichtlich bestanden. Sonst wäre sie jetzt nicht auf dem Weg dorthin.

Eine halbe Stunde später konnte sie zum ersten Mal das Meer sehen. Na ja, eigentlich sah sie Matsch. Es musste gerade Ebbe sein. Fasziniert betrachtete sie das flache Land, das sich bis zum Horizont erstreckte.

»Da vorne ist ein Hinweisschild«, sagte ihr Vater plötzlich. »Gleich sind wir da.«

Ein schmaler Sandweg führte in ein kleines Wäldchen, das unmittelbar vor der Küste liegen musste. Unvermittelt wurde der Weg breiter und schließlich tauchte das Internat vor ihnen auf. Lara kannte das Gebäude von etlichen Fotografien, trotzdem beeindruckte sie sein Anblick. Das Internat sah aus wie ein kleines Schloss. Es bestand aus vier gleichlangen Flügeln, die miteinander verbunden waren und zusammen ein Rechteck ergaben. Sofort kam ihr der Gedanke, dass es dort einen schönen und großzügigen Innenhof geben musste. Das Gebäude hatte lediglich zwei Stockwerke. Auf jeder Etage gab es unzählige gewaltige Fenster, die bestimmt drei Meter hoch und einige Meter breit waren. Das Dach war leicht abfallend und es sah aus, als würde es sich ebenfalls über zwei Stockwerke ziehen. Etliche Giebel mit kleinen Fensterchen zierten es. Die Räume dahinter mussten gemütlich sein. Im Schein der hellen Mittagssonne leuchtete der schmale, schneeweiße Turm, der so gar nicht zum rot geklinkerten Rest des Gebäudes passte. Eine kleine Turmuhr zeigte mit goldglänzenden Zeigern und Zahlen die Uhrzeit an. Ihr Vater fuhr in eine Parklücke und schaltete den Motor aus.

»Ah, geschafft«, stöhnte er zufrieden und streckte sich auf seinem Sitz. Dann drehte er sich zu ihr um und blickte ihr zum ersten Mal seit ihrer Abfahrt direkt in die Augen. »Ich wünsche mir so sehr, dass es dir hier gefallen wird.«

»Wird schon«, antwortete sie knapp und öffnete die Tür.

Auf dem Parkplatz herrschte rege Betriebsamkeit. Autos standen kreuz und quer, die meisten hatten ihre Kofferräume geöffnet und unzählige Gepäckstücke lagen überall verteilt. Während ihr Vater mit dem Ausladen der Koffer beschäftigt war, entdeckte Lara mehrere Jungen und Mädchen, die unschlüssig herumstanden. Sie lächelte. Wenigstens war sie nicht die Einzige, die sich allein und unwohl in ihrer Haut fühlte.

»Komm, Lara, dort hinten scheint der Eingang zu sein.« Ihr Vater zog zwei schwere Koffer hinter sich her und deutete mit dem Kopf auf eine Tasche, die sie tragen sollte. »Den Rest holen wir später«, erklärte er.

Sie gingen auf eine vergleichsweise schlichte, hölzerne Flügeltür zu, vor der sich eine Gruppe Männer und Frauen mit Notizblöcken in den Händen befand. Als Laras Vater die Tür passieren wollte, wurde er von einer stämmigen Frau angesprochen.

»Willkommen im Nordsee-Internat«, flötete sie fröhlich und sah abwechselnd zu Lara und ihrem Vater. »Wie ist dein Name?« Behutsam legte sie Lara die Hand auf die Schulter.

»Lara Steppmann«, antwortete ihr Vater.

Lara ballte die Fäuste. Warum ließ er sie nicht ihren Namen sagen? Böse schaute sie ihn an. Er verstand augenblicklich und lächelte entschuldigend. Die Frau blätterte in ihrer Liste und winkte einen Jungen herbei, der am Rand des Foyers gewartet hatte.

»Das ist Kevin aus unserem Abschlussjahrgang. Er wird euch herumführen und dir dein Zimmer zeigen, Lara.« Sie drückte Kevin ein Blatt Papier in die Hand und sagte: »Hier ist ihre Zimmernummer«, ehe sie sich einem Mann und seinem Sohn zuwandte.

»Guten Tag, Herr Steppmann. Hi, Lara«, sagte Kevin freundlich. »Du siehst gar nicht mal so jung aus. In die fünfte wirst du wohl kaum kommen, oder?«

»Nein, bestimmt nicht. Ich gehe in die achte Klasse«, antwortete Lara fröhlich.

Kevin nickte. »Das ist das Schöne an diesem Internat. Es gibt jedes Jahr in jedem Jahrgang neue Schüler.« Als er ihr fragendes Gesicht bemerkte, lachte er kurz auf. »Ich meine, natürlich fangen wir hier mit der fünften Klasse an, obwohl das bei uns nicht fünfte Klasse, sondern erster Jahrgang heißt. Klassen haben wir nicht. Es sind eher …«

»Leistungskurse, ich weiß«, unterbrach Lara.

»Genau. Ich sehe, du hast dich mit dem System vertraut gemacht. Natürlich fangen die meisten Neuen im ersten Jahrgang an, aber auch in jedem anderen Jahrgang gibt es jedes Jahr neue Schüler. Und jedes Jahr gehen Schüler ab.«

»Man kann seine Kinder auch nur für ein oder zwei Jahre auf dieser Schule anmelden«, erklärte Laras Vater wichtigtuerisch.

»Genau. Daher der relativ hohe Wechsel«, bestätigte Kevin. »Ich schätze, im vierten Jahrgang, in den du kommst, werden mit dir bestimmt zehn oder zwölf neue Schüler anfangen. Du bist also nicht die einzige Neue.«

Lara nickte erleichtert. Nichts war schlimmer, als in eine schon ewig existierende Gemeinschaft zu stoßen. Man hatte es als Neuling immer schwer. Wenn es allerdings üblich war, dass Schüler kamen und gingen, würde man als Neueinsteiger wohl nicht komisch angesehen werden. Sehr beruhigend. Kevin deutete Laras Schweigen als Aufforderung, ihr nun endlich das Internat zu zeigen.

»Ich rede zu viel«, sagte er entschuldigend und hob die Hände. »Kommt, hier entlang.«

Sie gingen einen breiten Flur entlang. Als Lara eine Mutter sah, die ihrem Sohn aufmunternd durch die Haare strich, versetzte es ihr einen Stich. Zum x-ten Mal fragte sie sich, warum ihre Mutter nicht mitgekommen war. Hielt sie es nicht mehr aus, so lange Zeit neben Laras Vater zu sitzen? Oder interessierte sie sich einfach nicht mehr für Laras Angelegenheiten? Sie schluckte schwer. Zum Glück hatte sie keine Zeit mehr, länger ihren Gedanken nachzuhängen, denn Kevin sagte mit feierlicher Stimme: »Das ist der Trakt, in dem dein Zimmer liegt.«

Er schaute kurz auf das Papier, welches er von der stämmigen Frau erhalten hatte. »Deins ist das letzte Zimmer auf der rechten Seite«, erklärte er. »Das würde mir ebenfalls gefallen. So hast du nicht auf beiden Seiten irgendwelche lauten Nachbarn, sondern nur auf einer Seite.« Er zwinkerte ihr zu.

Sie schaute ihn fragend an. Was meinte er mit lauten Nachbarn? Sie selbst drehte ihre Musik auch gern mal auf.

Kevin drückte die eiserne Klinke herunter und die Tür öffnete sich. »Die Zimmer sind unverschlossen, wenn niemand darin wohnt. Du bekommst natürlich einen Schlüssel.« Mit diesen Worten betrat er den Raum. Neugierig folgte Lara ihm. Das Zimmer gefiel ihr auf Anhieb. Es hatte einen fast quadratischen Grundriss. Rechts stand ein Holzbett, daneben eine Kommode. Die gesamte linke Seite füllte ein geräumiger Holzschrank aus. Gegenüber der Tür befand sich ein breiter Schreibtisch. Die Dachschräge zog sich über die gesamte Decke. Ein schmales, etwa ein Meter hohes Fenster in einem Giebel direkt über dem Schreibtisch sorgte für ausreichend Helligkeit.

»Wo ist der Speisesaal?«, fragte Lara.

»Das zeige ich euch auf dem Rückweg. Kommt mit.«

Kevin stürmte aus dem Zimmer, ihr Vater hinterher. Lara warf noch einen Blick auf ihr zukünftiges Reich und schloss die Tür. Sie trat gerade in den Flur, als sich die Nachbartür einen Spalt öffnete. Vielleicht war sie nicht richtig ins Schloss gefallen. Ein Mädchen saß auf dem Boden und wühlte in einem Pappkarton herum. Als es aufschaute, war Lara von seinen großen, blauen Augen sofort fasziniert. Das Mädchen hatte schwarze, hüftlange Haare und lächelte ihr freundlich zu.

»Hi.«

»Hi«, erwiderte Lara und lächelte zurück. Sie fand das Mädchen auf Anhieb sympathisch.

»Lara, komm«, rief ihr Vater ungeduldig. Er und Kevin waren bereits an der Treppe.

»Bis später«, sagte Lara und setzte sich in Bewegung.

Als sie den Flur des ersten Geschosses erreichten, bogen sie nach links ab. Ein breiter Gang führte durch die Mitte des Gebäudes.

»Hier sind einige der Schulräume«, erzählte Kevin und blieb vor einer großen Tür stehen. Eigentlich war es schon gar keine Tür mehr, sondern ein mehrere Meter hohes, massives Tor. »Dort hinten liegt der Speisesaal. Er wird immer erst kurz vor Einlass geöffnet.«

»Wo geht es da hin?«, fragte Lara und zeigte auf eine Treppe.

»Da geht es zu den Unterkünften der Jungen«, erklärte Kevin. »Bei uns sieht es genauso aus wie bei euch.«

Nachdem Kevin sie zum Eingang des Internats begleitet und sich verabschiedet hatte, meinte ihr Vater gut gelaunt: »Das ist ganz toll hier.«

Lara nickte, während sie Kevin hinterherschaute. Die stämmige Frau hatte ihm direkt wieder einen Neuankömmling zugewiesen. Der Arme musste anscheinend den ganzen Tag hin und her rennen, das Internat vorstellen und die Räumlichkeiten präsentieren. Sie holten das restliche Gepäck aus dem Wagen und gingen die Flure entlang.

Schnaufend öffnete ihr Vater das Zimmer und ließ den Koffer, den er getragen hatte, fallen. »Meine Güte, du hast viel mitgenommen.«

Lara zuckte mit den Schultern.

»So, jetzt heißt es Abschied nehmen«, sagte ihr Vater und breitete die Arme aus. Er strich ihr über den Kopf und sie ließ es sich gefallen. »Wenn du Probleme hast, ruf jederzeit an«, sagte er ernst und umarmte sie.

Sie erwiderte seine Umarmung. Wen sollte sie anrufen? Ihn oder Mama? Sie versuchte nicht die Fassung zu verlieren, doch das war nicht einfach, wenn die eigenen Eltern plötzlich nicht mehr zusammenwohnten. Ihr Vater strich ihr eine Träne aus dem Augenwinkel und drehte sich schnell um. Er hatte es offenbar eilig, von hier wegzukommen. Vielleicht würde auch er jeden Moment in Tränen ausbrechen? Sie blieb eine Weile mitten im Zimmer stehen, bis sie die Schritte ihres Vaters nicht mehr hören konnte. Sie hasste Abschiede. Gedankenversunken schaute sie aus dem Fenster und beobachtete für einen Moment die Bäume, die sich sanft im Wind bewegten. Im Hintergrund sah sie eine graue Masse. War das das Meer? Es schien noch immer Ebbe zu sein. Schließlich begann sie, ihre Sachen in den Schrank zu sortieren. Sie brauchte eine gute Stunde, um halbwegs Ordnung zu schaffen. Den Inhalt von zwei Koffern und der Tasche hatte sie verstaut, den Rest würde sie am Abend erledigen. Sie öffnete ihre Zimmertür und blickte den Flur entlang. Hier oben herrschte nach wie vor Stille. Möglicherweise waren hinter den anderen Türen auch irgendwelche Mädchen damit beschäftigt, die Koffer auszupacken? Während sie überlegte, wie sie sich die Zeit vertreiben sollte, wurde die Tür des Nachbarzimmers geöffnet. Die Schwarzhaarige stellte einen verknoteten Beutel in den Flur. Sie hatte sich umgezogen und trug nun eine enge, blaue Jeans und ein Top. Lara schaute sie bewundernd an. Sie sah wahnsinnig durchtrainiert aus. Ihre langen Haare waren jetzt zu einem Zopf gebunden. Auf ihrem rechten Oberarm entdeckte Lara eine Tätowierung, die wie eine Rune oder ein verschlungenes Schriftzeichen aussah. Es waren zwei nebeneinanderliegende Dreiecke, deren Spitzen nach innen zeigten und sich leicht berührten. Zwischen ihnen verlief ein senkrechter Strich hinab, der sich kurz unterhalb der Dreiecke aufteilte und auf beiden Seiten mit einer Spirale auslief. Das Mädchen bemerkte Laras Blick und lächelte. Lara errötete, sie hatte ihre Zimmernachbarin nicht anstarren wollen.

»Tut mir leid«, sagte sie kleinlaut.

Das Mädchen lehnte sich gegen den Türrahmen. Sein Blick war nach wie vor freundlich und offen, während es die Hand ausstreckte. »No problem. I am Vivian.«

Lara ergriff sie und stotterte: »Oh, nice … Lara is my name.«

Vivian grinste breit. »Do you speak english?«

»Only a little …«

Vivian atmete laut aus. »Na gut. Dann muss ich wohl mein Deutsch testen«, sagte sie mit starkem Akzent.

»Du spricht deutsch?«, fragte Lara und war insgeheim erleichtert darüber.

»Ich probiere es zumindest«, lachte Vivian. »Ich habe erst vor einem Jahr angefangen, diese Sprache zu lernen.« Sie machte eine einladende Handbewegung in ihr Zimmer. »Komm rein. Möchtest du etwas trinken? Eine Coke?«

»Gerne.« Lara trat ein und schaute sich neugierig um. Das Zimmer war exakt gleich eingerichtet wie ihres. Vivian hatte anscheinend bereits alle ihre Sachen verstaut, denn es lag nichts mehr auf dem Boden oder auf dem Bett herum. Lara ließ sich auf das Bett fallen und beobachtete Vivian dabei, wie sie aus einer Schrankschublade zwei Coladosen hervorholte.

»Wo kommst du her?«, fragte sie neugierig.

Mit einem Zischen öffnete Vivian die Dosen und reichte ihr eine. »Aus einer kleinen Stadt in Maine, USA.«

Staunend riss Lara die Augen auf. »Aus den Staaten? So weit her?«

Vivian zuckte mit den Schultern.

»Und was verschlägt dich ausgerechnet in ein Internat an die deutsche Nordseeküste?«

»Die Schule hat einen ausgezeichneten Ruf«, antwortete Vivian. »Außerdem wollte mein Vater, dass ich in ein europäisches Internat gehe. Und da er außerdem wollte, dass ich eine andere Sprache lerne, schieden die Topadressen in England mal aus.«

Lara hatte das Gefühl, dass noch mehr dahintersteckte. »Gibt es noch einen anderen Grund?«, fragte sie vorsichtig.

Vivian schaute aus dem Fenster. »Ja, aber den kann ich dir nicht sagen.«

Lara nickte und nahm einen Schluck aus der Dose. Hatten sich ihre Eltern ebenfalls getrennt und sie wollte nicht darüber sprechen? War ja auch egal. Sie mochte Vivian, sie würden bestimmt viel Zeit miteinander verbringen. Es war klar, dass man jemandem, den man gerade erst kennengelernt hatte, nicht gleich seine Lebensgeschichte erzählen wollte.

Sie unterhielten sich über das Internat und waren beide gespannt auf ihre anderen Schulkameraden. Lara erfuhr, dass Vivian bereits seit Monaten im Internat lebte.

»Geht denn das?«, fragte sie erstaunt. »Ich dachte, neue Schüler würden erst zu Beginn eines neuen Schuljahres aufgenommen.«

»Ich war eine Ausnahme«, erklärte Vivian. »Aber auch für mich geht es jetzt erst richtig los.« Sie schaute auf den Wecker, den sie auf der Anrichte neben dem Bett stehen hatte. »In einer halben Stunde treffen wir uns alle im Speisesaal.«

Lara nickte. »Wollen wir hinuntergehen? Ich würde gern einen Blick auf die anderen werfen.«

»Gute Idee«, antwortete Vivian. Sie schnappte sich den Pullover, der auf dem Schreibtischstuhl lag, und öffnete die Tür. Lara schaute erneut auf das Tattoo, bevor Vivians Arm in ihrem Pullover verschwand. Sie hätte sie gern gefragt, was das für ein Zeichen war. Aber sie traute sich nicht.

Die großen Türen zum Speisesaal standen bereits offen. Die beiden Mädchen wurden von einem hageren Mann begrüßt, der gelangweilt in den Raum zeigte. »Die neuen Schüler setzen sich bitte in die Mitte. Die anderen können sich irgendwo an die Seite setzen.« Kaum hatten sie ihre Plätze eingenommen, ertönte eine Glocke. Ein kahlköpfiger Mann stand auf und stellte sich an ein kleines Mikrofon, das neben einem Podest aufgebaut worden war. Er war groß und wirkte auf Lara ein wenig Furcht einflößend.

»Wie schön, dass ihr alle den Weg in diesen Raum gefunden habt«, sagte er locker. »Mein Name ist Carrington. William Carrington. Ich bin der Leiter dieser Einrichtung.«

Lara fiel auf, dass er einen kleinen Akzent hatte.

»Ich möchte euch alle an der Nordseeküste willkommen heißen und euch eure Lehrer vorstellen.«

»Der sieht streng aus«, flüsterte Lara in Vivians Ohr.

Vivian schaute sie mit einem Blick an, den Lara nicht recht deuten konnte. »Nein, er ist einer der Guten«, sagte sie geheimnisvoll.

Verwundert kräuselte Lara die Stirn. Woher wollte Vivian denn wissen, ob Carrington gut war? Kannte sie ihn denn schon? Außerdem, was hieß in diesem Zusammenhang gut? Wenn man ein guter Direktor war, konnte man trotzdem streng sein. Das stellte nicht unbedingt einen Widerspruch dar. Lara zuckte mit den Schultern und schaute wieder zum Podest. Inzwischen waren alle Männer und Frauen, die dort auf den Stühlen gesessen hatten, aufgestanden. Nacheinander gingen sie zum Mikrofon und stellten sich vor. Sie erklärten, welche Fächer und Jahrgänge sie betreuten. Schließlich trat ein hagerer Mann mit schulterlangen, braunen Haaren an das Mikrofon. Er hatte ein liebes Gesicht. Lara konnte sich nicht vorstellen, dass er jemals böse werden könnte. Kleine, grüne Augen, die tief in ihren Höhlen lagen, schauten freundlich auf die Schüler herab. Er trug ein blau-weiß gestreiftes Hemd. »Ich bin Curt Heimer. Ich unterrichte so ziemlich jedes Fach und bin Vertrauenslehrer für den vierten Jahrgang.«

»An den müssen wir uns wenden, wenn wir mit irgendetwas nicht klarkommen«, stellte Vivian fest.

Nachdem sich fünf weitere Lehrer vorgestellt hatten, mit denen sie ebenfalls in Kontakt kommen würden, bedankte sich Carrington für die Aufmerksamkeit und wünschte allen Schülern ein wundervolles und erfolgreiches Jahr.

2. Der Einbruch

In den darauffolgenden Wochen stellte sich bei Lara langsam der Alltag ein. Der Unterricht gefiel ihr. In jedem Kurs nahmen sich die Lehrer Zeit für Fragen und es herrschte allgemein eine gute Stimmung, sowohl unter den Schülern als auch zwischen Lehrern und Schülern. Lara verbrachte viel Zeit mit Vivian. Zwar lernte sie andere nette Mädchen kennen, in Vivians Gegenwart fühlte sie sich jedoch am wohlsten.

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