Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Eine junge Ärztin wird leblos in ihrer Wohnung aufgefunden. Auf den ersten Blick sieht es für den Ersten Kriminalhauptkommissar Sommer und sein Team nach Suizid aus. Er wäre jedoch nicht Leiter der Berliner 9. Mordkommission, wenn er nur einmal hinsehen würde. Schnell wird klar: Die junge Ärztin ist einem Tötungsdelikt zum Opfer gefallen. Während der Ermittlungen löst sich eine Hypothese nach der anderen in nichts auf. Dennoch reiht sich ein Mosaikstein an den anderen. Ist am Ende ein Schlüssel der Schlüssel zur Lösung des Falles?
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 483
Veröffentlichungsjahr: 2024
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Julia ließ sich von ihm widerspruchslos ins Schlafzimmer bringen. Das bis fast zum Fußboden reichende zweiflügelige Fenster war jetzt in der Nacht weit geöffnet. Sollte Abkühlung von der seit Tagen über Berlin liegenden Hitze ins Zimmer bringen. Es half nur wenig. Der kalendarische Sommer zweitausendneunzehn war noch keine fünf Tage alt, hatte es aber schon jetzt in sich. Wollte wohl den vergangenen Sommer in puncto Hitzerekord und Trockenheit überbieten. Die Temperaturen waren in den letzten Nächten kaum unter zwanzig Grad gesunken. Somit fast tropische Nächte. Die Luft stand förmlich im Raum. Auch draußen kein Luftzug. Es roch nach dem nahen Tierpark ... nach Stall ... nach Wildtieren. Dieser Dienstag, der fünfundzwanzigste Juni, der kurz davor war, sich zu verabschieden, war der bisher heißeste Tag des Jahres. Und der morgige Tag sollte, so die Wettervorhersage, sogar noch wärmer werden.
Er wischte mit dem Handrücken über die schweißnasse Stirn. Schloss die Fenster des Schlafzimmers, zog die Übergardinen zu und schaltete die Nachttischlampe an Julias Bett ein. Julia versuchte inzwischen, sich auszuziehen, aber der Wein war ihr nicht nur in den Kopf gestiegen, auch die Beine versagten ihr den Dienst. Sie schwankte und musste sich an ihm festhalten. Er half ihr aus dem Kleid. Wunderte sich, dass sie darunter nichts weiter anhatte. Sie ließ sich, nackt wie sie war, ins Bett fallen. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. Er legte das Kleid auf den Stuhl neben dem Nachttisch. Sah auf dem Fußboden BH und Slip liegen. Legte beides auf den Stuhl, dabei den Slip argwöhnisch betrachtend. Setzte sich zu ihr auf die Bettkante. Strich mit etwas unsicherer Hand über ihren Kopf, über ihre kurzgeschnittenen, dunkelbraunen Haare.
»Wann musst du morgen früh aufstehen?«, fragte er und deckte sie bei den Worten behutsam mit einem dünnen Laken zu. »Ich stelle dir den Wecker.«
Sie antwortete nicht. Ihre Augen wurden langsam immer kleiner.
»Bist du noch wach?« Keine Antwort. Schlief sie schon? Die vier Schlaftabletten in zwei Glas Rotwein hatten wohl ganze Arbeit geleistet. Hastig erhob er sich vom Bettrand, ging in die Küche. Holte auf dem Weg dorthin Haushaltshandschuhe aus der Gesäßtasche seiner Hose und versuchte, sie anzuziehen. Sie waren widerspenstig, wollten sich nicht über seine schweißstumpfen Hände streifen lassen. Er schaltete die Deckenlampe ein und suchte im Kühlschrank nach einem geeigneten Getränk. Eine Flasche Orangensaft bot sich an. Er nahm ein Wasserglas aus dem Küchenschrank und füllte es zur Hälfte mit Leitungswasser. Dann fasste er in seine Hosentasche, holte eine Handvoll Tabletten heraus und ließ sie schnell ins Glas gleiten. Musste nachfassen, da er nicht sofort alle Tabletten gegriffen hatte. Zum Schluss tat er noch zwei Tabs Acetylsalicylsäure dazu. Kleine Bläschen stiegen aus ihnen auf und reihten sich zu feinen Linien aneinander. Schlangenförmig bewegten sie sich nach oben, einen Ausweg aus der Flüssigkeit suchend. Zerplatzten an der Oberfläche, wobei sie, wenn er genau hinhörte, ein feines und leises Geräusch von sich gaben, als ob ein Frosch leise quakte. Es dauerte ihm alles viel zu lange. »Wann löst sich das alles endlich auf?« redete er vor sich hin und stöhnte dabei leise. Es kam ihm wie eine Ewigkeit vor. Ein vom Licht der Küchenlampe irritierter Nachtfalter war durch das weit geöffnete Fenster in die Küche geflogen und umschwirrte seinen Kopf. Er schlug mit der Hand nach ihm. Verfehlte ihn. Der Falter flog zur Deckenlampe und kam an die heiße Glühbirne. Staub löste sich von seinen Flügeln und schwebte wie Schnee lautlos zu Boden. Ein paar Staubkörnchen landeten im Glas. Die Tabletten wollten sich einfach nicht auflösen. Er half mit einem Löffel nach und zerdrückte sie an der Glaswand. Schließlich nahm er das Glas mit einer Hand und deckte es mit der anderen zu. Schüttelte den tödlichen Cocktail mehrmals kräftig. Endlich. Alle Tabletten hatten sich aufgelöst. Er füllte das Glas mit Orangensaft auf. Trotzdem musste es scheußlich schmecken. Würde Julia es merken? Müsste er leichte Gewalt anwenden, damit sie alles trinkt? Er setzte sich wieder zu ihr auf den Bettrand. Sie schlief bereits tief und fest. Erst nach kräftigem Rütteln gab sie ein Lebenszeichen von sich.
»Julia, trink bitte noch den Saft ... du musst einen klaren Kopf bekommen. Die Nacht ist kurz und du musst morgen früh wieder auf Station sein«, sagte er zu ihr während er mit seinem Mund direkt an ihrem Ohr war.
»Ich bin soo müüde ... bin ... wohl ... etwas ... betrunken … Lass ... mich ... schlaaafen«, lallte sie leise. Musste gähnen.
Er griff ihr unter die Arme und versuchte, sie im Bett aufzurichten. Wie schwer sie ist, dachte er und stöhnte dabei vor Anstrengung. Dabei ist sie doch so schlank. Schließlich gelang es ihm. Mit seinem rechten Arm stützte er ihren Rücken, legte seine Hand an ihren Hinterkopf und setzte das Glas an ihren Mund.
»Trink bitte alles in einem Zug aus. Ich habe dir Aspirin ins Glas getan … es schmeckt nicht gut … ist aber gut gegen einen Kater.«
Julia trank tatsächlich alles aus, verzog dabei das Gesicht, als hätte sie Essig getrunken. Ahnte dabei jedoch nichts Böses. Während er ihren Kopf langsam ins Kopfkissen zurücksinken ließ, schlief sie bereits wieder. Dann nahm er ihre linke Hand, drückte sie mehrmals um das leere Wasserglas. Stellte es auf den Nachttisch. Sprang hastig vom Bettrand auf und ging ins Wohnzimmer. Dort schob er den Stuhl, auf dem er noch vor wenigen Minuten Julia gegenübergesessen hatte, unter den in der Mitte des Zimmers stehenden rechteckigen Eichentisch. Sah dabei mehr unbewusst auf eine Wanduhr. Der Sekundenzeiger drehte unerbittlich seine Runden. Null Uhr fünf. Er erschrak. Schon Mittwoch. Die Zeit rannte ihm davon. Schnell nahm er Julias Weinglas und die Weinflasche und wischte mit einem Geschirrtuch seine Fingerabdrücke sorgfältig ab. Am Weinglas waren Spuren von Julias Lippenstift. Er ließ sie dran und ging schnell ins Schlafzimmer. Dort nahm er Julias Hand und drückte sie mehrfach auf Glas und Flasche. Julia merkte nichts mehr davon. War noch tiefer in den Schlaf eingetaucht. In einen Schlaf, aus dem sie nicht mehr erwachen sollte. Dann stellte er Glas und Flasche mit spitzen Fingern zurück auf den Wohnzimmertisch und ging eilig in die Küche, wo der lästige Falter noch immer um die Lampe kreiste. Sie wohl mit dem Mond verwechselte. Sorgfältig wusch und trocknete er das von ihm benutzte Weinglas ab, machte das Licht aus und schloss die Küchentür hinter sich. Dann stellte er das Weinglas im Wohnzimmer ins Highboard zurück. Beim Hinausgehen warf er schnell noch einen Blick zurück. Es sah alles so aus, als hätte Julia allein am Tisch gesessen und allein ein Glas Wein getrunken. So sollte es auch sein. Er überlegte: Hatte er die Blumenvase auf dem Tisch in der Hand gehabt? … Nein. Julia hatte ihm den Rosenstrauß abgenommen. Ihn dann selbst in die Vase gestellt. Auch das Wasser hatte sie eingefüllt. Er zuckte zusammen. Aus dem Kinderzimmer war eine Kinderstimme zu hören. Verdammt, an Emma hatte er überhaupt nicht gedacht. Hatte sie ihn gehört und war aufgewacht? Würde sie gleich aus ihrem Zimmer kommen? Es wäre die Katastrophe. Er hastete zur Wohnungstür um von Emma ungesehen die Wohnung verlassen zu können. Hatte die Tür geöffnet und stand schon mit beiden Beinen im dunklen Treppenhaus. Blickte gebannt auf die Klinke der Kinderzimmertür. Aber es bewegte sich nichts. Leise ging er zum Kinderzimmer und lauschte, indem er ein Ohr vorsichtig an das Türblatt drückte. Nichts. Kein Geräusch zu hören. Emma hatte wohl nur laut geträumt. Behutsam drehte er den Schlüssel zum Kinderzimmer herum, das kleinste Geräusch vermeidend. Schloss die Wohnungstür wieder und beeilte sich jetzt noch mehr. Ging nochmals in die Küche. Das Licht des geöffneten Kühlschranks musste reichen. Er stellte die Saftflasche zurück. Hatte er darauf Spuren hinterlassen? Auch nicht. Hatte sie nur mit Handschuhen angefasst. Und was war mit den Tablettenverpackungen und den Blistern? Er hatte sie auf Julias Nachttisch gelegt. Waren daran Spuren von ihm? Auch nicht. Auch die hatte er nur mit Handschuhen angefasst. Er ging ins Schlafzimmer und legte Verpackungen und Blister in die Nachttischschublade.
Die Blister? Er legte den Kopf in den Nacken, schloss die Augen und überlegte. Das ist es doch. Er fand sich genial. Kurz entschlossen nahm er die leeren Blister wieder aus der Schublade. Warum war ihm die Idee erst jetzt gekommen? Er setzte sich an den Wohnzimmertisch und drückte eingedrückte Wölbung für eingedrückte Wölbung in ihre ursprüngliche Form zurück. Es kostete ihn zwar wertvolle Zeit, aber die musste er sich nehmen. Als er damit fertig war, ging er zurück ins Schlafzimmer, setzte sich auf den Bettrand, nahm Julias Daumen und versuchte, damit die Wölbungen erneut einzudrücken. Es ging nicht. Er suchte nach einer festen Unterlage. Im Nachttisch fand er ein Buch, legte es aufs Bett, legte einen Blister drauf, nahm erneut Julias Daumen und versuchte, eine Wölbung einzudrücken. Es funktionierte. Er drückte Wölbung für Wölbung mit Julias Daumen wieder ein. Legte die so präparierten Blister auf den Nachttisch und war mit sich zufrieden.
War es das jetzt? … Hatte er an alles gedacht? … Konnte er jetzt gehen, ohne das jemand Zweifel an Suizid haben würde? Würde die Dosis zu hundert Prozent tödliche Wirkung haben? Er stand an Julias Bett und sah in ihr Gesicht. Sie lag reglos da. Er beugte sich über sie und lauschte mit einem Ohr ihrem Atem. Es war nichts zu hören. Schon seit einiger Zeit war ihm aufgefallen, dass er auf dem linken Ohr nicht mehr so gut hörte. Er lauschte mit dem rechten Ohr. Jetzt hörte er ihren Atem. Er war schwach. Zur Sicherheit suchte er auch noch nach ihrem Puls am Handgelenk ... da war er. Langsam und auch schwach, aber doch deutlich zu fühlen. Vierzig Tabletten – das hatte er im Internet gefunden – sollten ausreichen. Sollten ... aber reichten sie wirklich? Sein Wissen über die Wirkung derTabletten war mehr oder weniger laienhaft. In Kombination mit Alkohol würde sich die Wirkung verstärken. Hatte er gehört. – Oder gelesen? Mit drei, vier, fünf doppelten Wodka vielleicht. Aber zwei Glas Rotwein? Zweifel kamen in ihm auf. Würde das alles wirklich ausreichen? Und was könnte passieren, wenn Emma nochmals träumt und aufwacht. Er wurde immer unsicherer. Emma könnte ja übel werden ... oder sie könnte Fieber bekommen. Würde dann nach ihrer Mutter rufen, bestimmt aufstehen und zu ihrer Mutter gehen. Und dann? Emma würde ihre Mutter wecken wollen, aber Julia würde nicht wach werden. Was würde Emma dann machen, fragte er sich. Sie könnte vielleicht jemanden anrufen. Und was dann? Dann kommt der Rettungsdienst ... und dann? Die Gedanken wirbelten in seinem Kopf herum, als würde sie ein Strudel in die Tiefe reißen wollen. Er dachte das Szenario nicht zu Ende. Kurz entschlossen, ohne weiter darüber nachzudenken, nahm er das Kopfkissen vom Nachbarbett und drückte es auf Julias Gesicht. Anfangs ganz langsam und zögerlich. Irgend etwas in ihm hemmte ihn, fest zuzudrücken. Als sich Julia aber nicht bewegte, erhöhte er den Druck. Julia regte sich noch immer nicht. Ist sie doch schon tot, ging es ihm durch den Kopf. Nein. Er hatte doch eben noch ihren Puls gefühlt. Drückte fester zu. Jetzt bewegte sie sich. Ihre Beine begannen zu zucken. Er drückte noch fester zu. Sie begann, mit den Beinen zu strampeln und griff mit beiden Händen nach dem Kopfkissen. Wollte es von ihrem Gesicht ziehen. Aber sie war schon zu schwach. Ihre Arme fielen kraftlos aufs Bett zurück.
Er wusste nicht, wie lange er das Kissen auf ihr Gesicht gedrückt hatte. Zwei oder drei Minuten? Er hatte kein Zeitgefühl. Jedenfalls regte sich Julia nicht mehr. War sie jetzt tot? Irgendwo hatte er gelesen, dass es vier bis fünf Minuten dauern würde, bis der Tod eintritt. Die Tabletten und der Alkohol hatten dann wohl doch alles beschleunigt. Er legte das Kopfkissen wieder an seinen Platz auf dem Nachbarbett und strich es glatt. Sah dann in Julias Gesicht. Ihre Augen waren weit aufgerissen, blickten ihn aber nicht an. Sahen durch ihn hindurch, sahen in die Ewigkeit. Der Mund war weit offen. Wohl von dem verzweifelten Versuch, Luft zu bekommen. Hatte sie noch wahrgenommen, was mit ihr geschah? Ihr Gesichtsausdruck war die stumme und schreckliche und ihn beruhigende Antwort auf seine Frage. Er war mit sich zufrieden. Nahm das nach unten gerutschte dünne Laken und bedeckte ihren nackten Körper bis knapp über den Busen.
Ein Blick auf seine Armbanduhr trieb ihn erneut zur Eile an. Es war null Uhr dreißig. Die letzte U-Bahn wollte, musste er noch bekommen. Musste sich beeilen. Mit einem Druck auf den Sensor schaltete er die Nachttischlampe aus, so, wie er mit dem Kopfkissen Julias Leben ausgeschaltet hatte. Stellte die Schlafzimmerfenster auf Kipp und tastete sich in der Dunkelheit durch den Korridor. Das Kinderzimmer war ja noch abgeschlossen, fiel ihm im letzten Moment ein. Er drehte den Schlüssel leise wieder zurück und tastete sich durch den Korridor weiter in Richtung Wohnungstür. Stieß dabei mit dem Knie gegen etwas Größeres. Es fiel um und zerbrach mit lautem Geräusch. Es muss die Bodenvase sein, dachte er. Der Schreck fuhr ihm in die Glieder, ließ ihn für einen kurzen Moment förmlich erstarren. Emma, ging es ihm durch den Kopf ...
Emma wurde wach. Wusste nicht, warum. Im Zimmer war es dunkel. Sie machte ihre kleine Nachttischlampe an, stand auf, ging zum Fenster und schob die mit maritimen Motiven bedruckte Übergardine etwas zur Seite. Wolken, Wellen, Anker, Segelboot, Leuchtturm schwankten als wäre schwerer Seegang. Sie sah hinaus in die Dunkelheit. Der Kastanienbaum vor ihrem Fenster, den sie bei Tage so liebte, machte jetzt in der Nacht einen gruseligen Eindruck auf sie. Machte ihr Angst, obwohl er völlige Ruhe ausstrahlte, obwohl sich kein Blatt an ihm bewegte. Aber vielleicht war es gerade das, was ihr Angst machte. Sie ging in den Korridor und trat mit ihren nackten Füßchen auf etwas hartes, machte Licht und sah die auf dem Fußboden verstreuten Scherben. Das war es wohl, warum sie aufgewacht war. Aber warum war die Vase kaputt? Hatte Mami sie umgekippt? Sie wusste keine Antwort und suchte sich auf Zehenspitzen gehend vorsichtig einen Weg zwischen den Scherben hindurch zum Schlafzimmer.
»Mami«, sagte sie leise. »Maami … Bist du wach?« Mami antwortete nicht, rührte sich nicht. Emma krabbelte im vom Korridorlicht spärlich beleuchteten Schlafzimmer über das leere Bett ihres Papis. Tastete sich an ihre Mami heran. Ergriff mit beiden Händen einen Oberarm und versuchte, sie zu wecken. Aber Mami schlief tief und fest. Schließlich gab Emma auf. Der lange Tag und der Ausflug mit ihrer Mama … die Müdigkeit war stärker. Sie krabbelte unter das Laken, kuschelte sich an ihre Mami und schlief schnell wieder ein.
Der Krach vom Umfallen der schweren Bodenvase hatte ihn völlig aus dem Konzept gebracht. Fluchtartig verließ er die Wohnung. Schlug dabei die Wohnungstür in der Hektik viel zu laut hinter sich zu. Nur schnell weg von hier, dachte er. Emma durfte ihn auf keinen Fall sehen. Er hörte Musik und Stimmengewirr. Es kam wohl aus der Wohnung gegenüber. Der Geruch von Zigarettenqualm zog in seine Nase. Vielleicht hatte jemand hier im Treppenhaus geraucht. Er nahm alles mehr oder weniger unbewusst wahr. Nur kein Licht machen, sagte er sich. Die Ruftaste des Fahrstuhls leuchtete im dunklen Treppenhaus wie ein Glühwürmchen und wies ihm den Weg. Bloß nicht den Fahrstuhl nehmen, ging es ihm durch den Kopf. Der könnte steckenbleiben. Er tastete sich an der Fahrstuhltür vorbei. Hier musste doch irgendwo die Treppe sein. Die Wand wollte kein Ende nehmen. Endlich. Seine Hand fand das Treppengeländer. Jetzt hatte er wieder Orientierung. Schnell und fast geräuschlos lief er nach unten. Die Haustür war nicht abgeschlossen. Er trat vorsichtig auf die Straße hinaus. Zog die Handschuhe aus und steckte sie in die Hosentasche. Schaute nach rechts und links. Es war zu dieser späten Stunde völlig ruhig. Kein Mensch mehr unterwegs. Lediglich ein freies Taxi fuhr langsam an ihm vorbei. Er hätte es nehmen können, wollte aber lieber mit der U-Bahn fahren. Von der Straße am Tierpark war ein Martinshorn zu hören. Das Blaulicht verlieh den Häusern und Bäumen für einen Moment ein gespenstisches Aussehen. Kein Luftzug war zu spüren. Es roch hier unten vor dem Haus noch intensiver nach Tierpark, nach Tierexkrementen. Er ging ein paar Schritte, blieb stehen und überlegte. Sah ihn jemand der Hausbewohner aus dem Haus gehen? Sollte er sich umdrehen? Die Neugier war es nicht. Es war die Angst. Sie zwang ihn, sich umzudrehen. Er sah zu den Fenstern hinauf. Fast alle waren nach der fast unerträglichen Hitze des Tages weit geöffnet und sahen wie schwarze, leere Augenhöhlen aus. Stand in einer der schwarzen Höhlen ein von der Hitze geplagter Hausbewohner, der nicht schlafen konnte? Sah, wie er sich vom Haus entfernte? Er sah niemanden, war sich aber nicht sicher, ob nicht doch jemand von dort seine Augen auf ihn gerichtet hatte. Seine Schritte wurden schneller. Nur weg hier, dachte er.
Auf dem Weg zur U-Bahn erfasste ihn Unruhe. Hatte er an alles gedacht? Hatte er wirklich alle Spuren, die ihn verraten könnten, beseitigt? Er spürte, wie ihm Schweiß von der Stirn in die Augenbrauen und von dort in ein Auge lief. Es brannte wie Feuer. Mit einem Taschentuch wischte er sich ein paar Tränen aus dem Auge. Wischte den Schweiß von der Stirn. Was könnte ihm noch zum Verhängnis werden? Die Zeit, alles zu planen, was in dieser Nacht geschehen war, hatte er nicht gehabt. Innerhalb weniger Stunden hatte er regelrecht panikartig handeln müssen. Musste dabei alles riskieren. War ein von sich selbst Getriebener. Er suchte krampfhaft nach irgendwelchen Ungereimtheiten, aber es fielen ihm im Moment keine ein. Würde nun alles so eintreten, wie er es sich gedacht hatte? Natürlich würde es das. Oder redete er sich das nur ein? Er gab sich innerlich einen Ruck. Ein Anflug von Zufriedenheit breitete sich in ihm aus. Stück für Stück fiel eine Last von ihm ab. Jetzt nur nicht noch von irgend einem Bekannten oder gar Kollegen gesehen werden. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte doch alles so gut geklappt.
Der Weg bis zum U-Bahnhof Friedrichsfelde kam ihm endlos vor. Er sah auf die Uhr und beschleunigte seine Schritte. Nach dem Fahrplan müsste er den letzten Zug noch bekommen. Wenn nicht, dann müsste er doch ein Taxi nehmen. Der Bahnhof war noch offen. Hastig lief er die Treppen hinunter und sah auf die Anzeige
U 5 Alexanderplatz in 3 min
Der Bahnsteig war fast leer. Nur am anderen Ende des Bahnsteigs warteten Leute. Er konnte sie nicht sehen, aber dem Stimmengewirr nach waren es nicht nur zwei. Es hörte sich nach jungen Leuten an, für die das Nachtleben wohl jetzt erst anfing. Ein Bahnhofsreiniger lenkte seine Putzmaschine gelangweilt über den Bahnhof. Sie hinterließ eine breite, feuchte Spur, so, als ob eine Riesenschnecke über den Bahnsteig gekrochen wäre. Es roch aufdringlich nach Reinigungsmittel. Er mochte diesen Geruch nicht. Sein Gehirn stellte immer, wenn er diesen Geruch wahrnahm, eine Assoziation zu Dreck, zu Unrat her.
Die im Gegensatz zu oben angenehme Kühle des Untergrundes ließ ihn langsam wieder klare Gedanken fassen. Er nahm ein Taschentuch aus der Hosentasche und fächerte sich damit etwas Luft ins Gesicht.
Die Anzeige schaltete geräuschlos um. Noch 1 Minute. Der Zug war schon zu hören. Rumpelte in den Bahnhof. Tunnelluft vor sich hertreibend. Der Geruch von verbranntem Strom, von Kabeln, von mit Carbolineum getränkten Bahnschwellen vermischte sich mit dem vom Bahnhofsreiniger verbreiteten Geruch. Er verspürte vom Luftzug leichte Abkühlung.
Es waren für die späte oder auch frühe Stunde erstaunlich viele Fahrgäste in der Bahn. Fast nur junge Leute. Auf dem Weg in einen der vielen Berliner Clubs? In einer Hand ein Smartphone, in der anderen ein Bier. Machten die Nacht zum Tage. Woher hatten die die Zeit – und das Geld, fragte er sich. Ein Besoffener führte laut lallend Selbstgespräche, dabei mit den Armen wild gestikulierend. Hatte wohl eine Auseinandersetzung mit sich selbst. Ein junges Pärchen war ebenfalls mit sich selbst beschäftigt, hatte nur Blicke für den jeweils anderen. Er sah kein bekanntes Gesicht und war beruhigt. An jeder Station beobachtete er ängstlich, ob nicht doch ein bekanntes Gesicht zusteigen würde. Aber wer sollte das sein?
Alexanderplatz, Endstation. Er hastete zur Rolltreppe, lief die Stufen nach oben und war schnell im Bahnhofsgebäude, vorbei an einem Dönerstand, der noch geöffnet hatte. Noch nie hatte er einen Döner gegessen. Dieses tagelang warmgehaltene Fleisch, er mochte es nicht. Auch heute sollte es dabei bleiben. Die Liebknechtstraße war noch belebt. Fünfzehn Minuten Fußweg hatte er noch vor sich. Sie kamen ihm wie eine Ewigkeit vor. Wäre die Verlängerung der U5 schon fertig, könnte er bis zum U-Bahnhof Museumsinsel fahren. Aber das würde wohl noch einige Zeit dauern.
Die Handschuhe – ihm fielen die Handschuhe ein. Im Vorbeigehen stopfte er sie in einen schon überquellenden Abfallbehälter.
Je näher er den Linden kam, desto ruhiger wurde es. Unter den Linden hörte das Nachtleben schlagartig auf. Auf den Stufen zum Dom saß ein junges Pärchen. Aus dem Schlossneubau drangen Geräusche zu ihm herüber. Es hörte sich nach hämmern und bohren an. Er sah auf die Uhr: kurz nach eins. Wurde dort noch gearbeitet? Die hatten wohl Terminverzug. Das Gorki Theater und die Staatsoper hatten ihre Besucher längst nach Hause entlassen.
Eine vom Abfall der Touristen dick und fett gefressene Ratte wollte den Bürgersteig der Schlossbrücke in Richtung Schloss überqueren. Als sie ihn bemerkte, flüchtete sie ohne große Eile zurück hinter das Brückengeländer. Im Schutz der Dunkelheit war sie wohl auf Nahrungssuche – oder auf Partnersuche? Er sah über das Geländer. Vom Kupfergraben stieg der Geruch von Algen auf und setzte sich in seiner Nase fest. Von der Ratte nichts zu sehen. War sie ins Wasser gesprungen? Er dachte nicht weiter darüber nach. Hatte es jetzt nicht mehr weit. Auf dem Pflaster der Straße sah er im Licht der Laternen seinen Schatten. Mit jedem Schritt, den er sich von einer Laterne entfernte, wurde der länger und länger. Es sah so aus, als ob sein Schatten vor ihm flüchtete. Wollte sein Schatten nichts mit ihm zu tun haben? Nichts mit dem, was in dieser Nacht passiert war? Das Licht der nächsten Laterne verschlang seinen Schatten mit jedem Schritt, den er sich ihr näherte. Im Gehen drehte er sich um. Da war er wieder, der Schatten. Verfolgte ihn jetzt. Seine Schritte wurden unwillkürlich schneller. Erneut kam Unsicherheit in ihm auf. Er versuchte, die quälenden Gedanken mit Gesang zu vertreiben. Immer, wenn er Probleme hatte, half ihm singen oder summen. Jetzt, da er so gut wie allein war, sang er laut sein Lieblingslied:
Die Gedanken sind frei
wer kann sie erraten,
sie fliegen vorbei
wie nächtliche Schatten.
Kein Mensch kann sie wissen,
kein Jäger erschießen,
es bleibet dabei:
die Gedanken sind frei.
Waren die nächtlichen Schatten seine Gedanken, die mal vor ihm flohen, mal ihn verfolgten. Auch böse Gedanken sind frei. Auch sie kann keiner erraten. Das beruhigte ihn. Angst und Unsicherheit verflogen langsam. Verwandelten sich in Überlegenheit.
Ein junges Pärchen überholte ihn auf einem E-Scooter. Er vorn, sie hinten, ihn eng umfassend. Sie bogen vor ihm in die Bauhofstraße. Der Schein des Rücklichts wurde schwächer und schwächer bis er schließlich am Ende der schmalen, kurzen Straße völlig verschwand. Nur noch wenige Schritte und er war am Ziel. Frau Fanfani war jetzt die letzte Hürde, die er in dieser Nacht zu nehmen hatte. Alle im Haus nannten sie nur Fanni. An ihrer Wohnung in der zweiten Etage musste er heute Nacht jedenfalls ungesehen, ungehört vorbei. Erst dann hatte er es geschafft.
Fanni war schon dreiundachtzig ... oder fünfundachtzig? So genau wusste es keiner, sie selbst wohl auch nicht. Oder war sie auch im hohen Alter noch eitel und verschwieg ihr wahres Alter? Auf jeden Fall war sie der Wachhund des Hauses. Ihr entging so gut wie nichts, was in diesem Hause passierte. Sie registrierte so gut wie jeden, der im Haus aus- und einging. Einerseits war das ja eine gute Sache. Andererseits konnte es die Hausbewohner aber auch nerven. Einige fühlten sich von der Alten regelrecht beobachtet. Sicher, sie machte hin und wieder den Eindruck, etwas verwirrt zu sein. Daher musste man ihr wohl so manches verzeihen. Hausbewohner munkelten auch, Fanni habe ihr Gespartes unter dem Kopfkissen liegen. Es war zwar nur ein Gerücht, aber warum sollte es nicht stimmen? Vielleicht war sie deshalb so misstrauisch. Sie traute keinem, keiner Bank, keiner Sparkasse und auch keinem Hausbewohner.
Er machte eine Ausnahme, war so gut wie der Einzige, den sie schon mal in ihre Wohnung gelassen hatte und dem sie so halbwegs vertraute. Sollte er sich darauf etwas einbilden? Er kümmerte sich hin und wieder um sie. Erkundigte sich nach ihrer Gesundheit. Nahm ihr auch mal kleine Einkaufswege ab. Das war es wohl, womit er ihr Vertrauen gewonnen hatte. Heute Nacht allerdings wollte er von ihr nicht gehört und schon gar nicht gesehen werden. Aber Fanni hörte ihn doch. Zwei, drei knarrende Treppenstufen, die er in dieser Nacht das erste Mal wahrnahm, verrieten ihn. Er war schon an ihrer Wohnungstür vorbei fast eine halbe Treppe höher, da rasselte die Türkette und Fanni steckte ihren Kopf durch den Türspalt. Mit ihren grauen Haaren, die ihr immer etwas wirr ins Gesicht hingen, machte sie schon bei Tage nicht gerade den freundlichsten Eindruck. Aber nachts … bei der spärlichen Treppenbeleuchtung ...
»Juten Abend – oda juten Morjen? Is ja schon nach eins. Ick hab Sie die letzten Tare nich jesehn. Wo war’n Se denn?«, fragte Fanni in nicht gerade leisem Ton. Trug wie immer ihre obligatorische Kittelschürze. Es war wohl ein Restbestand aus der längst vergangenen DDR. Dederon. Ging wohl mit ihr auch schlafen.
Er blieb stehen. Schloss die Augen, zog die Augenbrauen nach oben, legte die Stirn in Falten und stöhnte leise. Musste sie ihn doch noch erwischen. Was blieb ihm übrig? Er ging die paar Stufen nach unten, tat freundlich und lächelte Fanni etwas gequält an.
»Ich war für ein paar Tage in Zepernick auf dem Grundstück einer Bekannten. Hatte ein verlängertes Wochenende«, antwortete er leise.
»Na, na! Von wejen Bekannte.« Sie zwinkerte mit einem Auge.
Er musste sich seine Antworten gut überlegen.
»Nein nein. Ich war allein dort.«
»Allene? – Bei ’ner Bekannten? – Also doch nich allene. Na ja, jeht mich ja och nischt an.«
Er wunderte sich über ihre Fragen. Sie ist ja noch gar nicht so verkalkt, dachte er. »Frau Fanfani, ich war wirklich ganz allein dort.«
»Ham Se sich da nich jejrault? So allene of ’nem fremden Jrundstück? Na ja ... wat die Leute heute och für Grabben im Kopp ham. Die Hauptsache is, Se ham sich erholt.«
»Das habe ich, Frau Fanfani. Ich muss dann mal …«
»Na denn bis zum nächsten Mal. Ach so, wat ick noch saren wollte, könnten Se so nett sein und mir bei Jelejenheit, muss ja nich gleich heute sein, fünf Fund Kartoffeln mitbring? Bei die Hitze traut man sich ja jar nich vor’t Haus. So alte Leute wie ick kippen bei det Wetter um wie de Fliejen.«
»Mache ich. Bleiben Sie nur schön zu Hause.«
Als er schon eine halbe Treppe höher war, rief sie ihm nach: »Mehlich kochend! ... Ham Se jehört?! ... Meeehlich!«
Er blieb stehen, ging zwei Stufen nach unten, hob eine Hand zum Zeichen, es verstanden zu haben.
Fanni schloss kopfschüttelnd ihre Wohnungstür.
Die vorgezogenen, in zartgrünen Frühlingsfarben gehaltenen schweren Übergardinen ließen das Tageslicht des noch jungen Tages nur spärlich ins Schlafzimmer. Ein Sonnenstrahl zwängte sich dort, wo sie aneinanderstießen, durch einen kleinen Spalt. Zeichnete eine schmale Linie auf den Parkettfußboden. Verkroch sich schließlich unter dem Doppelbett, als wolle er vom Geschehenen im Zimmer nichts sehen.
Emma rieb sich die Augen. Der Gesang eines wohl einsamen Amselmannes hatte sie geweckt. Er saß im vor dem Haus stehenden Kastanienbaum. Ein Haussperling antwortete dem Amselmann mit seinem Gesang, der keiner war. Von einem Spatz wollte der Amselmann allerdings nichts wissen. Es sollte schon eine Amsel sein, möglichst eine Amseldame. Emma mochte den Kastanienbaum. In der Nacht hatte sie sich vor ihm gefürchtet, jetzt am Morgen war die Angst verflogen. Sie freute sich schon jetzt darauf, im Herbst seine Kastanien sammeln zu können und zum Verfüttern in den nahen Tierpark zu bringen. Auch lustige Figuren wollte sie aus Kastanien basteln. Bei diesen Gedanken fiel ihr ein: Mami wollte doch mit ihr in den Tierpark gehen. Sie hatte sich schon lange darauf gefreut. Es sollte ein nachträgliches Geschenk zu ihrem fünften Geburtstag sein. Sie überlegte. Ist es heute? – Oder doch an einem anderen Tag?
Erst jetzt merkte sie, dass sie bei ihrer Mami im Schlafzimmer geschlafen hatte. Sie drehte sich zur Seite und tippte mit dem Zeigefinger an Mamis Nase, dabei verschmitzt in sich hineinlachend. Keine Bewegung. Mami schlief. Emma beugte sich über ihre Mami und sah in ihr Gesicht. Mami war doch schon wach. Hatte die Augen doch schon auf. Aber so hatte sie Mamis Gesicht noch nie gesehen.
Eine Weile blieb Emma still auf dem Bauch liegen, stützte sich mit den Ellenbogen ab und nahm ihren Kopf zwischen beide Hände. Wartete auf die leiseste Bewegung ihrer Mami. Wartete darauf, dass Mami endlich aufwachte. Die Zeit kam ihr unendlich lang vor. Hunger und vor allem Durst machten sich durch leises Knurren im Bauch bemerkbar. Sie stand auf und ging vorsichtig zwischen den im Korridor liegenden Scherben zur Küche. Dabei fiel ihr ein, dass sie wohl vom Umfallen der Vase aufgewacht und dann zu Mami ins Bett gekrabbelt war. Sie suchte nach einem Getränk. Im Kühlschrank fand sie eine angefangene Flasche Orangensaft, nahm sie in beide Hände und trank daraus.
Abermals versuchte sie, Mami zu wecken, Sprang zu ihr ins Bett. Wippte auf dem Bett. Mami bewegte sich. Oder nicht? War es vom Wippen? Emma fasste ihre Mami an der Schulter und versuchte, sie mit ihren kleinen Ärmchen zu rütteln.
»Mami! ... Maami! ... Maaami! ... wach! ... doch! ... auf!«, rief sie fast wütend. Mami rührte sich nicht. Ein erneuter Blick in Mamis Gesicht machte ihr Angst.
Emma fing an zu weinen. Stand abermals auf und ging zur Wohnungstür, machte sie vorsichtig einen Spalt breit auf und lauschte ins Treppenhaus. Irgendwo weiter unten im Treppenhaus waren Schritte zu hören. Kurz danach hörte sie das metallisch harte Klicken der ins Schloss fallenden Haustür. Danach war es wieder totenstill. Jemand war wohl aus dem Haus gegangen. Emma schloss die Wohnungstür und ging zurück zu ihrer Mami. Kniete sich jetzt auf sie und trommelte mit ihren kleinen Fäusten auf Arme und Schultern ... vergeblich. Sie beugte sich abermals über das Gesicht ihrer Mami und sah in die weit geöffneten Augen. Sah in Leere und Kälte. Sah in ein Nichts. Und warum stand Mamis Mund so weit offen?
Angst kroch Emma über Rücken und Arme. Sie weinte.
Die Leitende Stationsschwester Simone wusste nicht mehr, wo ihr der Kopf stand. Wie lange arbeitete sie schon hier im Vivantes Klinikum im Friedrichshain? Es waren jetzt schon über zehn Jahre, dass sie hier auf der Inneren war. Die Belastungen für das Stationspersonal hatten im Laufe der Jahre kontinuierlich zugenommen. Gestern war es besonders stressig. Und dann war da noch der Betriebsausflug am Nachmittag. Er war ja sehr schön, aber besser wäre es gewesen, sie hätten ihn auf einen späteren Zeitpunkt verschoben. Jetzt, mitten in der Hitzeperiode, war es denkbar ungünstig.
Und was kam heute auf sie zu? Schon jetzt am frühen Mittwochmorgen, sie sah auf die Uhr, es war kurz vor halb acht, hatten sie bereits fünf Neuaufnahmen, obwohl nur drei geplant waren und auch nur drei Betten frei werden würden. Die anhaltende Hitze machte insbesondere den alten Menschen zu schaffen. Es könnten heute durchaus noch mehr Aufnahmen werden. Wie nur sollte sie die neuen Patienten unterbringen? Jetzt einfach nur die Ruhe bewahren, sagte sie sich. Und – war es nicht schon immer so gewesen – am Ende des Tages hatte sich alles wieder zurechtgerüttelt. Warum sollte es ausgerechnet heute anders sein. Nicht noch die Kollegen zusätzlich verrückt machen. Die hatten schon genug zu tun. Und schließlich ging die Hitze an denen ja auch nicht gerade spurlos vorüber, an ihr allerdings auch nicht. Regulär hatte sie noch sechs Jahre bis zur Rente. Noch ging es ihr gesundheitlich gut – noch. Aber was ist, wenn sie sechsundsechzig ist? Wie viele Patienten, die sie im Laufe ihres Berufslebens schon auf Station hatte, waren in dem Alter schon ziemlich kaputt. Hoffentlich blieb sie gesund. Sie durfte gar nicht daran denken.
Im Wetterbericht heute Morgen hatten sie für den Abend und die Nacht Gewitter von Westen kommend in Richtung Brandenburg und Berlin angekündigt. Schwester Simone sah aus dem Fenster. Der Himmel war strahlend blau. Von Gewitter keine Spur, aber alle warteten sehnsüchtig darauf. Es könnte die ersehnte Abkühlung bringen und damit auch Entspannung für die Krankenhäuser und natürlich für die Patienten.
Oberarzt Dr. Müller würde erst gegen Mittag im Haus sein. Darauf war sie eingestellt. Aber was war mit ihrer Stationsärztin, mit Frau Dr. Krug, mit Julia? Sie sah kurz auf den Dienstplan. Da stand es schwarz auf weiß:
Mittwoch, 26. Juni, Frühdienst Frau Dr. Krug
Um sieben hätte sie doch hier sein sollen. Sie sah abermals auf die Uhr. Jetzt war es bereits nach halb acht. Sie schüttelte den Kopf. Warum hatte sich Julia nicht gemeldet? Das war schon sehr ungewöhnlich und passte überhaupt nicht zu ihr. Wenn sie im Stau stehen würde, hätte sie sich garantiert telefonisch gemeldet, denn sie war eine immer pünktliche und korrekte Person. Und was sollte sie den Patienten sagen, die auf Frau Doktor Krug warteten? Wer sollte die Neuaufnahmen untersuchen? Wer die Abschlussuntersuchungen machen, die Abschlussberichte schreiben? Der junge Assistenzarzt gab sich alle Mühe, war aber heillos überfordert – allein zeitlich. Julia fehlte an allen Ecken und Enden.
An dem kleinen Betriebsausflug gestern hatte knapp die Hälfte des Stationspersonals teilgenommen. Auch Julia war dabei, hatte ihre kleine Tochter Emma mitgebracht. Als man sich abends voneinander verabschiedete, waren die beiden gesund und munter und guter Dinge. So gegen halb neun, als alle aufbrachen, waren die beiden zu Oberarzt Doktor Müller ins Auto gestiegen. Das hatte sie gesehen. Fand es sehr nett vom Doktor, dass er die beiden nach Hause brachte. Aber warum meldete sich Julia nicht? Auf ihrem Smartphone meldete sich nur die Mailbox. Auch das war ungewöhnlich. Schwester Simone versuchte es mit dem Festnetz.
Emma sprang beim ersten Klingeln sofort ans Telefon.
»Papi! Mami schläft so fest!«, rief sie ganz aufgeregt ins Telefon.«
»Emma, bist du es?«, fragte Schwester Simone.
»Ja«, antwortete Emma mit jetzt leiser und weinerlicher Stimme. War wohl enttäuscht, nicht Papis Stimme zu hören.
»Ich bin Schwester Simone. Du kennst mich doch. Ich bin gestern mit dir Kahn gefahren auf dem Neuen See. Es hat dir doch großen Spaß gemacht. Du hast doch auch selbst gerudert. Kannst du dich erinnern?«
»Ja.«
»Kannst du mal deine Mami ans Telefon holen?«
»Ja ... nein … Mami schläft so fest ... wird gar nicht wach!« Emmas Stimme klang jetzt noch weinerlicher. »Und dein Papi ... wo ist der? ... Weißt du das?«
»Weiß nicht ... ist nicht da.«
»Schläft Mami denn schon lange?«
»Weiß nicht.«
Schwester Simone hörte Emma schluchzen. Konnte für einen Moment nicht reden. Ihr Hals war wie zugeschnürt. Sie musste sich zusammenreißen.
»Ich habe Mami immer so gerüttelt«, redete Emma weiter. »Die Augen sind auf, aber Mami sagt nichts.«
»Emma, habe keine Angst«, versuchte Schwester Simone die Kleine zu beruhigen. Bemühte sich, mit beruhigender Stimme zu sprechen, obwohl es ihr schwerfiel. »Du brauchst nicht weinen. Ich sage deinem Papi, dass er nach Hause kommen soll. Hast du gehört? Bleibe schön zu Hause, dein Papi ist bald da. Ich rufe gleich noch mal bei dir an und sage dir dann, wann dein Papi kommt … Hast du das verstanden, Emma?«
»Ja.«
Emma wollte noch etwas sagen, aber am anderen Ende war nur noch ein leises Knacken zu hören. Sie legte das Telefon zur Seite und ging wieder zu ihrer Mami ins Schlafzimmer. Die lag immer noch unverändert auf dem Bett. Auch erneutes rütteln, schubsen, stoßen, rufen half nicht. Emma weinte wieder, jetzt noch mehr als vorher.
Der Notarzt konnte nur noch den Tod feststellen. Sah auf die Uhr. Sieben Uhr fünfzig. Auf den ersten Blick sah alles nach Suizid aus. Auf dem Nachttisch ein leeres Wasserglas. Daneben vier Tablettenblister für je zehn Tabletten. Schmerz- und Beruhigungsmittel, wie er nach einem kurzen Blick darauf registrierte. Alle Blister leer. Seine Erfahrung sagte ihm, dass es eine tödliche Dosis sein könnte. Ob alle Tabletten genommen wurden, konnte er natürlich nicht wissen, musste aber unbedingt davon ausgehen.
Was ihn betroffen machte: Eine junge Mutter nimmt sich das Leben im Beisein ihrer kleinen Tochter. Allein deshalb kamen ihm spontan Zweifel am Suizid der Frau. Ihm war zwar bekannt, dass sich in Deutschland durchschnittlich pro Tag fünfundzwanzig Menschen das Leben. Aber hier und heute ...
Auch die auf dem Fußboden im Korridor liegenden dunkelbraun glasierten Keramikscherben machten ihn stutzig. Sie waren wohl mal eine Bodenvase. Ansonsten gab es auf den ersten Blick keine Anhaltspunkte für ein mögliches Gewaltverbrechen. Die Wohnung machte auf ihn nicht den Eindruck als wären hier asoziale Zustände. Im Gegenteil – alles gepflegt und sauber. Im Stil der wieder modernen sechziger, siebziger Jahre schick eingerichtet. Der Gedanke, hier könnte durchaus etwas anderes, etwas noch schlimmeres als Suizid passiert sein, ließ ihn allein deshalb einfach nicht los. Wobei es natürlich auch so schlimm genug war, was er hier vorfand.
Vorsichtig sah er sich in der Wohnung um. Sah durch die offene Tür ins Wohnzimmer, ging aber, um eventuelle Spuren nicht zu verwischen, nicht hinein. Auf dem rechteckigen Wohnzimmertisch, um den acht Stühle standen, eine fast leere Flasche Rotwein, ein leeres Weinglas und eine Pralinenschachtel, wie er aus der Entfernung sehen konnte. Und eine gläserne Blumenvase mit roten Rosen. Hatte die junge Frau hier gesessen und vom Leben Abschied genommen – allein und verzweifelt? Er wollte es nicht glauben, obwohl eigentlich nichts auf ein Verbrechen hinwies, abgesehen von den Scherben auf dem Korridor. Aber sein Gefühl und eine gehörige Portion Berufserfahrung sagten ihm etwas anderes. So oder so, die Kriminalpolizei musste bei Suizid sowieso hinzugezogen werden. Er zögerte nicht lange, denn Eile war geboten.
Kriminalhauptkommissar Sommer saß in der geräumigen Küche am Frühstückstisch. Las in der »Berliner« seinen Lieblingsteil: Feuilleton. Als Erster Kriminalhauptkommissar leitete er die 9. Mordkommission im Landeskriminalamt LKA 1 – Delikte am Menschen. Sie hatten Rufbereitschaft im Zwei-Wochen-Turnus. Gestern Abend war es spät geworden im Kommissariat. Daher nahm er sich heute etwas mehr Zeit als sonst. Hatte sich für neun im Kommissariat angekündigt.
Er genoss den Platz in der Küche. Es war sein Lieblingsplatz. Die Morgensonne machte die Küche hell und freundlich. Er blickte auf die große Kreuzung Karl-Marx-Allee/Straße der Pariser Kommune in Richtung Frankfurter Tor. Der Strom der Autos in Richtung Zentrum riss zu dieser Tageszeit nicht ab. Er mochte daher das Fenster nicht öffnen. Verkehrslärm und Abgase hinderten ihn daran. Hätte er nicht als Ausgleich das Wochenendhaus am Kleinen Apfelsee, er hätte sich schon längst um eine andere Wohnung bemüht. Eigentlich war die Wohnung für eine einzelne Person auch zu groß. Als er noch verheiratet war, da war es gut. Aber jetzt? Was sollte er allein mit einhundert Quadratmetern? Aber man weiß ja nie. So schnell wollte er sie nun auch nicht aufgeben. In seinem Privatleben könnte sich ja doch noch mal etwas ändern. Dachte dabei an seine neue Beziehung.
Auf dem Tisch sein Lieblingsgetränk: Kaffee schwarz. Würziger Kaffeeduft hatte sich in der Küche ausgebreitet. Sommer mochte den Duft. Nur handgebrühter Kaffee entwickelte nach seiner Meinung diesen Duft. Das nicht mehr ganz kochende Wasser dosiert auf den feingemahlenen Kaffee gegossen, das war es, was den Duft der Röstung freisetzte. Mit den immer mehr werdenden Kaffeevarianten konnte und wollte er sich nicht anfreunden. Aus den Kaffeemaschinen waren inzwischen Kaffeevollautomaten mit Bedienphilosophie geworden. Bedienphilosophie – wer denkt sich derartige Begriffe aus? Sommer schüttelte den Kopf. Oben befüllt man sie mit Kaffeebohnen, Wasser, Milch, Kakao. Unten kommt Kaffee, Milchkaffee, Espresso, Cappuccino, Kakao und manchmal sogar nichts heraus. Ausgerechnet dann, wenn die Garantie abgelaufen ist. Eine Feinschaumdüse sorgt für zarten Milchschaum. Was zum Teufel ist zarter Milchschaum? Und mit Kaffeepads, klassisch, stark, ohne Koffein oder mit Milchpulver konnte er sich schon gar nicht anfreunden. Konnte damit nichts anfangen. Aber auch ein Vollautomat kann mit diesen Pads nichts anfangen. Dafür wird dann eine Kaffeepad-Maschine benötigt. Wer es mag ... bitte sehr. Wer beides mag, muss sich gleich zwei Automaten zulegen. Für ihn jedenfalls kamen diese Dinger nicht in Frage. Er blieb seinem Kaffee schwarz treu. Hatte seine eigene Bedienphilosophie. Handgebrüht mit einem ganz einfachen Kaffeefilter – aber aus Porzellan. Je nach Befinden konnte er sich den Kaffee schwach oder stark brühen. Was ihm fehlte: Ein frisches Brötchen zum Frühstück. Aber er war einfach zu bequem, schon vor dem Frühstück aus dem Haus zu gehen, und sich eine frische Schrippe vom Bäcker zu holen. Dabei hatte er es nicht weit, denn hinter dem Haus in der Pali, der Palisadenstraße, gab es jeden Morgen ab sechs frische Schrippen. Er begnügte sich mit einer Schrippe vom Vortag. Auf dem Toaster gewärmt, schmeckte sie fast frisch, aber eben doch nur fast.
Der Wetterbericht aus dem leise im Hintergrund laufenden Radio versprach den nächsten heißen Tag. Für Berlin waren siebenunddreißig Grad vorhergesagt. Gewitter aus dem Westen würden dann gegen Abend auch Berlin erreichen. Das hörte sich allerdings alles sehr vage an. Der Wetterfrosch glaubte wohl selbst nicht so recht daran. Der wievielte Hitzetag hintereinander war es eigentlich? Etwas ungewöhnlich für Ende Juni.
Das zurückliegende Wochenende hatte Sommer auf seinem Grundstück am Kleinen Apfelsee verbracht. Dort hielt man es aus. Vorgestern noch hatte er auf dem hölzernen Bootssteg gesessen. Die Füße und zwei Angeln im Wasser. Neben sich eine Tasse Kaffee und Claudia. Er korrigierte sich selber: Claudia und eine Tasse Kaffee.
Und dann war da noch etwas. Claudia lag neben ihm auf dem Steg und sah verträumt in den mit kleinen Wolken betupften Sommerhimmel, während er die beiden Posen nicht aus den Augen ließ. Nach einem Blick zu Claudia ließ er plötzlich Kaffee Kaffee und Angeln Angeln sein. Eine andere Pose bewegte sich bei ihm. Er spürte in seinem Kopf eine gewisse Blutleere. Das Blut wurde jetzt an anderer Stelle dringend gebraucht. Der Verstand lief auf Sparflamme. Sie liebten sich auf dem harten Holzsteg. Kamen sich wie jung Verliebte vor, was ja auch stimmte. Als der Alltag sie wieder zurückgeholt hatte, fing er noch vier Plötze. Die Abendmahlzeit war gesichert.
Claudia Engelhardt hatte sein Leben ziemlich verändert. Er hatte sie vor Jahren beruflich kennengelernt. Als Fall-Analytikerin war sie seinerzeit seinem Kommissariat bei einem recht komplizierten Entführungsfall behilflich. Vor knapp drei Monaten hatten sie sich dann zufällig wieder getroffen. Anfangs eine kollegiale Freundschaft, war daraus in den letzten Wochen eine recht intensive Beziehung geworden. Seine Kollegen wussten allerdings noch nichts davon. Vielleicht ahnten sie etwas. Aber eher nicht. So wie er sie kannte, hätten sie ihn schon längst damit hochgezogen. Am kommenden Wochenende wollte er sein kleines Geheimnis dann aber doch preisgeben. Wollte alle zusammen auf sein Grundstück einladen. Dort würden er ihnen dann seine Claudia vorstellen. Caudia hatte es gut, hatte ein paar Tage Urlaub und war auf dem Grundstück geblieben. Wollte alles vorbereiten für das Wochenende. Noch wussten die Kollegen nichts von ihrem Glück. Er wollte es ihnen heute sagen. Hoffentlich hatte nicht der eine oder andere fürs kommende Wochenende schon etwas anderes vor. Na er würde es ja hören. Als er noch verheiratet war, hatte er seine Kollegen hin und wieder mitgenommen auf sein Wochenenddomizil. Aber nach der Trennung von seiner Frau? Er musste überlegen. Das war nun auch schon drei Jahre her. Seitdem hatte er sie nicht mehr eingeladen, war das völlig eingeschlafen. Er selbst war seitdem auch viel zu wenig auf dem Grundstück. Hatte mehr oder weniger immer nur mal nach dem rechten gesehen. Aber jetzt, da er Claudia an seiner Seite hatte, sollte sich das ändern.
Das Smartphone klingelte. Riss ihn aus seinen Gedanken. Er sah auf die Uhr: viertel neun. Er sah aufs Display und legte die Zeitung zur Seite. Was wollte Friedrich denn so früh von ihm? Seit vier Wochen war sie in seinem Kommissariat. Noch waren sie dabei, sich zu beschnuppern. Er hatte einen guten ersten Eindruck von ihr.
»Was gibt’s, Friedrich?«, fragte er mit noch etwas müder Stimme.
»Guten Morgen, Chef. Es gibt Arbeit ... vermutlich Suizid. Der Notarzt hat aber Zweifel. Junge Frau. Anfang dreißig. Ihre kleine Tochter hat wohl alles mit ansehen müssen.«
»Wo?«
»Friedrichsfelde, Alfred-Kowalke-Straße. Die Spurensicherung und die Rechtsmedizin sind informiert.«
»Okay. Wo bist du jetzt, Friedrich?«
»Bin im Kommissariat. Schnappe mir jetzt einen unserer schnellen Dienstwagen und hole dich ab.«
»Wunderbar. Sieh bitte zuerst auf die Spritanzeige. Bin schon losgefahren und stand dann nach wenigen Kilometern mit leerem Tank da. Nichts war’s dann mit schnell.«
Er legte seine sieben Sachen bereit. Smartphone, Portemonnaie, Diktiergerät, Notizbuch. Ganz wichtig: sein Notizbuch. Er brauchte kein Tablet, kein Notbook. War ihm alles viel zu unhandlich, zu umständlich. Es reichte, wenn er am Schreibtisch am Computer arbeiten musste – oder konnte. Da war es sinnvoll. Aber draußen vor Ort? Ein Diktiergerät akzeptiert er ja noch. Aber auf sein Notizbuch lässt er nichts kommen. Es ist und bleibt sein Arbeitsmittel Nummer eins. Und er hat sie alle noch. Vom ersten Dienstjahr an. Hat alle mit Jahreszahl versehen. Hat zwischen dem Dienstlichen auch immer mal private Dinge eingetragen. So sind sie so ganz nebenbei auch zu seinen Tagebüchern geworden. Ohne diese kleinen, unscheinbaren Büchlein, da war er sich sicher, würde er keinen Mordfall aufklären. Na ja. Keinen? Das ist vielleicht übertrieben. Es gibt auch Fälle, die sind von Anfang an so klar, dass es so gut wie nichts zu notieren gibt. Ganz schnell geht es, wenn der Täter sich selbst stellt. Damit ist der Fall dann für gewöhnlich abgeschlossen ... vorausgesetzt, er ist auch der Täter, denn auch falsche Geständnisse hatte er nicht nur einmal erlebt.
Sommer blickte auf die Uhr: Punkt acht. Friedrich würde noch eine Weile brauchen, bis sie vor seiner Tür stand. Er konnte in Ruhe weiter frühstücken.
Vorher riskierte er schnell noch einen Blick in den Spiegel der Flurgarderobe. Mit dem Kamm einmal über die kurz geschnittenen Haare drüber, fertig. Er fand, für einen Achtundfünfzigjährigen hatte er, abgesehen von sich andeutenden Geheimratsecken, einen noch recht üppigen Haarwuchs. Überall schimmerte zwar schon kräftig Weiß durch. Aber das störte ihn nicht. Claudia fand, dass es ihn interessant mache. Wenn ihn nur das Weiß seiner Haare interessant macht ...
Was hatten sie vorhin im Wetterbericht gesagt? Gewitter soll es geben. Vor schweren Gewittern wurde gewarnt. Er sah zum Himmel. Noch war kein Wölkchen zu sehen. Sicher ist sicher, dachte er. Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste. Schnell ging er durch alle Räume und schloss vorsichtshalber alle Fenster. Man weiß ja nie.
Friedrich meldete sich per Handy. Stand bereits hinter dem Haus. Er setzte seinen sommerlichen Bogarthut auf.
Sommer ließ sich auf den Beifahrersitz fallen. Zog die Autotür hinter sich zu.
»Guten Morgen, Friedrich. Was wird uns heute erwarten? Was sagtest du? Suizid im Beisein der Tochter? Das passiert ja auch nicht alle Tage.«
Friedrich antwortete nicht, zuckte nur mit den Schultern. Sommer sah sie etwas verstohlen von der Seite an. Friedrich merkte es nicht, musste sich auf den morgendlichen Straßenverkehr konzentrieren.
So hatte er sie bisher noch nicht gesehen. Hübsches Profil, dachte Sommer. Kleine Stupsnase. Schönes Kinn. Von der Seite sah sie fast noch hübscher aus als von vorn. Die hellblonden, langen Haare waren bis auf den Pony, der fast die ganze Stirn bedeckte, glatt nach hinten gekämmt und ziemlich weit oben auf dem Kopf zu einem Pferdeschwanz gebunden. Es erinnerte ihn an Jugendfotos seiner Mutter aus den Fünfzigerjahren. Damals war der Pferdeschwanz hochmodern. In der Mode kommt alles wieder, hatte seine Mutter immer gesagt. Und sie hatte recht.
Was ihm in den letzten Wochen aufgefallen war: Seine Kollegen benahmen sich, seit Friedrich im Kommissariat war, irgendwie anders. Ließen sich nicht mehr so gehen. Der Tonfall war von einem Tag auf den anderen ein anderer: freundlicher, zuvorkommender. Vielleicht täuschte er sich, aber es kam ihm so vor, als ob seine Kollegen mehr als sonst auf ihr Äußeres Wert legten. Es roch zunehmend nach Rasierwasser oder sonst was für Düften in den Büros. Das Mädel bringt noch das ganze Kommissariat durcheinander, dachte er. Sollte aufpassen, damit es nicht noch Ärger gibt. Was macht aber auch ein so hübsches Persönchen bei der Kripo, fragte er sich. Und dann noch bei »Delikte am Menschen«. Ist ja auch nicht immer so appetitlich, was man da zu sehen und zu riechen bekommt.
»Vielleicht war es ja kein Suizid«, antwortete Friedrich endlich, als sie an einer roten Ampel halten musste. »Ich muss mich auf den Verkehr konzentrieren. Kann noch nicht beides ... fahren und reden. An die Rush Hour hier in Berlin muss ich mich sowieso erst noch gewöhnen. In Helmstedt war es dagegen doch weit ruhiger als hier. Habe das Gefühl, heute sind wieder alle auf einmal unterwegs.«
Sommer nickte zustimmend mit dem Kopf.
»Hier in Berlin sind glaube ich immer alle auf einmal unterwegs. Und es wird immer schlimmer. Allein die Zahl der Radfahrer hat in den letzten Jahren immens zugenommen. Und jetzt noch die E-Bikes und E-Roller. Die fahren damit Kraut und Rüben. Besonders die Touris. Und dann stellen sie die Dinger einfach irgendwo ab. Mitten auf dem Bürgersteig, in Parkanlagen, vor Hauseinfahrten. Da, wo sie meinen halten zu müssen. Na ja, genug gemeckert. Wir beide ändern daran nichts. Wo fahren wir jetzt eigentlich hin, Friedrich?«
»Immer noch Alfred-Kowalke-Straße.«
»Ja richtig, sagtest du ja vorhin. Das ist ja in der Nähe vom Tierpark Friedrichsfelde. Apropos Tierpark: Da sollte ich auch mal wieder hin. Als mein Sohn noch klein war, gingen meine Frau und ich des Öfteren mit ihm in den Tierpark. Jetzt ist der Bengel vierunddreißig. Da hat sich das erledigt. Schade eigentlich. Ich warte auf Enkel, aber es ist nichts in Sicht. Er tut mir nicht den Gefallen, hat wohl Zwiebeln im Sack. Oh Pardon, ist mir so rausgerutscht.«
Friedrich konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen.
»Zwiebeln im Sack? Das habe ich ja noch nie gehört.«
Sommer tat so, als hätte er Friedrichs Reaktion nicht wahrgenommen. Ignorierte sie einfach.
»Rede ich dir zu viel? Du brauchst nur zuhören, Friedrich. Nicht antworten.«
»Rede nur weiter ... ich höre zu.«
»Im Tierpark steht das schöne Schloss Friedrichsfelde. Die Besichtigung ist zwar nur in Verbindung mit einem Tierparkbesuch möglich. Du solltest beides tun. Es lohnt sich wirklich.
Wenn es dich interessiert: Das Schloss gehörte ab 1762 Prinz Ferdinand von Preußen. Er war der jüngste Bruder Friedrichs II. – auch Friedrich der Große oder der Alte Fritz genannt. Friedrich der Große, jetzt, wo ich den Namen ausspreche – er ist ja ein Namensvetter von dir. Oder muss man Namensvetterin sagen? Heute wird ja alles auf die Goldwaage gelegt. Na egal. Vielleicht wirst du ja mal Friedrich die Große in unserem Kommissariat. Spaß beiseite. Für den Prinzen lag das Schloss damals jwd.«
Friedrich drehte den Kopf kurz zu Sommer: »Wo lag das Schloss?«
»Jwd ... Ist die berlinische Abkürzung für janz weit draußen. Dem Prinzen war der Weg vom Schloss Friedrichsfelde bis zum Berliner Stadtschloss einfach zu weit. Je nach Wetterlage brauchte man seinerzeit mit der Pferdekutsche zwei bis drei Stunden. Und das Kopfsteinpflaster machte die Fahrt auch nicht gerade zum Vergnügen. Ferdinand ließ aus diesen Gründen 1785/86 im Tiergarten das Schloss Bellevue errichten und zog dort ein.
Schloss Friedrichsfelde wurde schließlich mehrfach verkauft. Zuletzt war es 1945 im Besitz einer Familie von Treskow. Genug Geschichte. Das soll es für heute gewesen sein. Hast du dir alles gemerkt?«
»Selbstverständlich. Kannst mich ja morgen abfragen.« Sommer sagte nichts mehr. Es war nicht mehr weit bis zum Einsatzort. Was würde sie heute erwarten? In Gedanken sah er eine völlig verwahrloste Wohnung vor sich. Überquellende Aschenbecher, leere Bier- und Schnapsflaschen. Der Vater des Kindes unbekannt, der Lebensgefährte im Knast. Dazu womöglich noch ein Hund. Ein Kampfhund, wenn’s ganz schlimm kommt. Das wär’s doch. Und zwischen all dem ein armes, hilfloses Kind. Neulich hatten sie so einen Fall. Es war zum Glück nur versuchter Totschlag. Was heißt zum Glück? Aber es ging eben alles glimpflich ab. Die vier Kinder aber wurden aus diesen katastrophalen Zuständen befreit. Er hatte schon vieles gesehen. Menschen, die einfach nicht auf der Sonnenseite des Lebens standen. Und wenn in diesem Milieu Kinder groß werden ... was soll aus ihnen werden?
Sie waren zusammen mit den Spurensicherern in der Alfred-Kowalke-Straße angekommen. Nahmen gemeinsam den Fahrstuhl. Zu Sommers Erstaunen kein Graffiti an den Wänden. Auch die Hausfassade war ihm schon angenehm aufgefallen … auch sauber. War allerdings bis zur ersten Etage schon mal überstrichen. Das Weiß hob sich von dem darüber etwas ab. War etwas dunkler, ging ins gelblichweiße.
Die Wohnungstür im Vierten stand offen.
»Guten Morgen«, begrüßte der Notarzt Sommer und Friedrich.
»Meine Name ist Sommer. Kriminalhauptkommissar Sommer. Und das ist meine Kollegin Friedrich.« Sommer überlegte kurz. »Und Sie sind Doktor Feist, wenn ich Ihren Namen richtig in Erinnerung habe.«
»Gutes Gedächtnis«, staunte der Doktor. »Und wenn ich mich recht erinnere, sind Sie sogar Erster Kriminalhauptkommissar. Liege ich da auch richtig?«
»Stimmt ... auch ein gutes Gedächtnis.«
»Vorsicht, treten sie nicht auf die Scherben hier im Korridor. War wohl mal eine Bodenvase«, warnte der Doktor die beiden.
Sommer blieb in der Wohnungstür stehen.
»Lassen Sie die Scherben so liegen, Doktor. Sie könnten noch von Bedeutung sein. Hier könnte ja ein Kampf stattgefunden haben. Erstmal muss die Spurensicherung ran. Danach machen wir uns ein Bild von der Lage.«
Die SpuSis hatten sich inzwischen im Treppenhaus in ihre Anzüge gequält, hatten Kopf- und Mundschutz angelegt, hatten sich lange Handschuhe angezogen, die bis über die Ärmel der Schutzkleidung reichten und betraten nun die Wohnung. Machten als erstes Fotos vom Scherbenfeld, von allen Räumlichkeiten, von der Toten.
»Haben Sie hier im Korridor das Licht eingeschaltet, um die Scherben besser sehen zu können?«, fragte Sommer den Doktor.
»Nein. Das Licht war an.«
Sommer machte sich erste Notizen. Nahm dann sein Diktiergerät zur Hand, um erste Eindrücke festzuhalten.
»Und wer hat die 112 angerufen, Doktor?«
»Eine Kollegin der Toten. Wenn ich mich nicht irre, war es die Leitende Stationsschwester aus dem Krankenhaus, in dem die Tote arbeitet. Bei der Toten handelt es sich nämlich um eine Ärztin, um Frau Doktor Krug. Sie ist Stationsärztin im Vivantes Klinikum im Friedrichshain.«
»Interessant.« Sommer nahm wieder sein Notizbuch zur Hand. »Wo steckt der verdammte Kugelschreiber nur wieder?«, brummelte er. »Eben hatte ich ihn doch noch in der Hand.« Er kramte in seinen Taschen. So viele hatte er doch nicht. In einer der Taschen musste er sich doch versteckt haben.
»Nehmen Sie doch den so lange. Er liegt neben Ihnen auf der Flurgarderobe. Ist das ihr Kugelschreiber?«
»Ich Schussel. Habe ihn selbst dort hingelegt. Danke, Doktor. Ich sollte Urlaub nehmen ... mal ausspannen.«
»Woher wusste die Schwester, was hier passiert ist?«, kam Sommer wieder zur Sache.
»Sie wusste es nicht. Hatte sich nur gewundert, weil Frau Krug heute Morgen nicht zum Dienst im Krankenhaus erschienen war. Und daraufhin rief sie hier an. Die Tochter ging ans Telefon. Was sie über ihre Mutter sagte, kam der Schwester unheimlich vor. Und dann kam alles ins Rollen.«
»Dann haben Sie die Tote als Erster gefunden? Ist das richtig?«
»Ja.«
»Wer ließ Sie in die Wohnung?«
»Die Tochter. Meine Kollegin mit Ihrer mütterlichen Stimme konnte die Kleine mit telefonischer Hilfe der Schwester dazu bewegen, uns die Tür zu öffnen.«
Sommer nickte etwas nachdenklich mit dem Kopf.
»Das Mädchen muss in großer Not gewesen sein, wenn es fremden Leuten die Tür öffnet. – Wie alt ist die Tote?«
Der Notarzt reichte Sommer den Personalausweis der Toten.
Sommer sah kurz in den Ausweis.
»Einunddreißig. Kein Alter zum Sterben. Und wo ist die Tochter jetzt?«, fragte Sommer, während er den Ausweis an Friedrich weiterreichte.
»Die Kleine sitzt in der Küche«, sagte der Doktor und zeigte auf die Küchentür. »Sie heißt Emma. Meine Kollegin kümmert sich so gut es geht um sie.«
»Wie alt ist denn das Mädchen?«
»Fünf. Und wenn Sie mich fragen, Herr Sommer«, fuhr er leise fort, sich dabei zur nur angelehnten Küchentür umdrehend, »ich habe meine Zweifel, was Suizid betrifft. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass sich eine Mutter im Beisein ihrer fünfjährigen Tochter das Leben nimmt. Das Mädchen hat doch alles mitbekommen. Wollte heute früh ihre Mutter wecken, aber die war tot. Ist das nicht furchtbar? Das macht doch keine Mutter.«
Sommer lief bei dem Gedanken trotz des heißen Tages ein kalter Schauer über den Rücken. Er hatte in seinem Berufsleben wirklich schon die übelsten Dinge erleben müssen. Dinge, die ein normal Sterblicher so nie erlebt. Er kam damit klar. Konnte, wollte und durfte sich nicht alles zu Herzen nehmen. Nicht alles zum Feierabend mit nach Hause schleppen. Dann hätte er den Beruf gleich an den Nagel hängen können. Aber wenn Kinder im Spiel waren, dann machte ihn das doch immer wieder betroffen. Wenn, wie in diesem Fall, ein fünfjähriges Mädchen seine Mutter auf so tragische Weise verliert. Solche Bilder begleiten ihn dann doch schon etwas länger. Die nimmt er dann doch mit nach Hause, ob er will oder nicht. Und so würde es ihm diesmal bestimmt auch wieder gehen.
»Sie haben mit Ihrer Vermutung vielleicht recht, Herr Doktor. Aber es könnte ja auch ein missglückter Apell-Suizid sein«, sagte er schließlich.
»Ist natürlich auch möglich. Übrigens weiß die Kleine noch nicht, dass ihre Mutter tot ist. Sie denkt, ihre Mutter ist krank und muss ins Krankenhaus.«
»Das sollte im Moment auch erst einmal so bleiben«, sagte Sommer mit jetzt auch leiser Stimme.