Hinter der Fassade schlummern die Geschichten - Christina Schwalm - E-Book

Hinter der Fassade schlummern die Geschichten E-Book

Christina Schwalm

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Beschreibung

Warum ist meine Mutter so, wie sie ist? Verunsichert durch das Wesen ihrer Mutter, beginnt Christina Schwalm im Laufe ihres Lebens, deren Make-up-Fassade zu hinterfragen. Warum sind ihr andere Dinge wichtiger als die emotionalen Bedürfnisse ihrer Kinder? Warum strebt sie stets nach Höherem? Getrieben von dem drängenden Wunsch, mehr über ihre Mutter und ihre Familie zu erfahren, begibt sich die Autorin in die Vergangenheit. Ihre Recherchen führen sie unter anderem nach Buenos Aires, wo ihre Großeltern, ihre Mutter und einige Verwandte einst gelebt haben, nach Chile und in verschiedene Gegenden der Schweiz. Mithilfe von Fotos, Erinnerungen ihrer Verwandten und der schriftlichen Hinterlassenschaft ihrer Mutter rekonstruiert sie die spannende Geschichte einer Schweizer Auswandererfamilie.  

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Seitenzahl: 196

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie­.

Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fern­sehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und ­auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.

© 2025 novum publishing gmbh

Rathausgasse 73, A-7311 Neckenmarkt

[email protected]

ISBN Printausgabe: 978-3-99130-633-7

ISBN e-book: 978-3-99130-634-4

Lektorat: Maria Hentschel

Umschlagfoto: Caimacanul | Dreamstime.com

Umschlaggestaltung, Layout & Satz: novum publishing gmbh

Innenabbildungen: Christina Schwalm, Tomáš Pešek

www.novumverlag.com

1. Kapitel: Geschichtenkisten

Der Zugang zu meinen Familiengeschichten führte über Tag- und Nachtträume, Fantasien sowie Dokumente, Briefe und Fotografien, die über die Jahre kistenweise bei mir auf dem Dachboden gelandet waren – meist nach Todesfällen, Trennungen und Erbteilungen in unserer Familie, unserer Verwandtschaft.

Auf meinem Dachboden begegneten sich Gegenstände und Schriftstücke, die von Ahnen zurückbehalten und lange aufbewahrt worden waren, von fernen und nahen Familienmitgliedern, Verstorbenen und Zeitgenossen sowie mir selbst.

Als ich es wagte, mein „Erbgut“ zum ersten Mal näher unter die Lupe zu nehmen, traf ich auf ein verwirrendes und überwältigendes Sammelsurium von Erinnerungen an meine Kindheit, von Briefen aus nah und fern, eng oder kaum bekritzelten Postkarten und oft schon vergilbten Fotografien, amtlichen Dokumenten und Zeugnissen, Tagebuchnotizen und Fresszetteln, Briefmarken aus aller Welt, Kochrezepten und getrockneten Pflanzen in Alben, zwischen Zeichnungen oder Schulheften mit Aufsätzen. Ich fand Stammbäume, privat handgezeichnet oder amtlich nachgeführt mit Einträgen aus Geburts-, Heirats- und Todesregistern, erstellt in alter Schrift und kaum mehr lesbar, beginnend im 18. Jahrhundert, ich fand Auszüge aus Erbschaftsverträgen, Arbeitszeugnisse, Militär- und Impfbüchlein nebst Arztberichten und …Qué sé yo? (Was weiss ich?)

Es gehört zur Natur solcher Kisten, dass Menschen Dinge, Gedanken und Gefühle dorthin bringen, die sie nicht mehr wollen oder brauchen, aber keinesfalls wegwerfen möchten. Ihre Nachkommen öffnen sie, um etwas zu finden, was sie nie gesucht haben, gedrängt von brennenden Fragen, auf die sie nie Antworten erhalten haben. Wie ich. Wieder andere stöbern einfach gerne in alten Sachen und lassen sich überraschen, getrieben von Nostalgie und Emotionen.

In fast jeder Familie gibt es eine Person, die sich für die Vergangenheit, die Familiengeschichte interessiert, während sich alle anderen keinen Deut darum scheren und froh sind, alles entsorgen, vergessen oder irgendwo abladen zu können, da sie von ihrer persönlichen Gegenwart und Zukunft in Beschlag genommen werden. Nicht selten sind die Suchenden Alleinstehende, ohne eigene Nachkommen – wie ich.

In solchen Kisten entdeckte ich Fotos aus dem Leben meiner Grosseltern in Buenos Aires, von meiner Grossmutter rückseitig sorgfältig beschriftet. Eines vom August 1921: Grossmutter, in einem weissen, knöchellangen Sommerkleid, trägt ein weisses Tuch um den Kopf gewickelt wie einen Turban, beugt sich über einen Waschtrog in der Sonne draussen in einem kleinen Hinterhofgarten. Sie zieht Wäsche über ein Waschbrett, sie ist schlank, Mitte dreissig. Neben ihr steht ihre älteste Tochter Dorli, zweijährig. Anita, meine Mutter, zweite Tochter von Señor Federico Schwalm und Señora Ana Rahm de Schwalm (die Frauen behalten in Argentinien ihren Mädchennamennach der Heirat), liegt in einem schwarzen Kinderwagen mit grossen Speichen-Lufträdern; sie erblickte am 31. Juli 1921 das Licht von Argentinien – mitten im südhemisphärischen Winter.

Ihre ersten sechseinhalb Jahre verbrachte meine Mutter in Buenos Aires mit ihrer zwar armen, aber intakten Familie. Es wurde erzählt, mein Grossvater hätte nicht mit Geld umgehen können. Wie Pestalozzi hätte er zu viel an Ärmere verschenkt. Deshalb hätte meine Grossmutter ihre mitgebrachte Hallauer Tüchtigkeit ausgepackt, alle Kleider selbst genäht und unter einfachsten häuslichen Umständen sparsam gekocht und gehaushaltet.

Ihr habe ich die spärlichen Spuren zu verdanken auf den Fotos, die sie aus Buenos Aires in die Schweiz geschickt oder mitgebracht und nach ihrem Tod hinterlassen hatte. Sie hatte immer peinlich genau in gut leserlicher Schrift notiert, wer, wo mit wem und wann bei welchem Anlass abgebildet war. Hätte sie das vernachlässigt, gäbe es praktisch keine Informationen über die ersten sechseinhalb Jahre meiner Mutter. Doch kein einziger Brief fand sich in den Kisten auf meinem Dachboden, den meine Grosseltern in die Schweiz geschrieben haben mussten, nicht einmal im Nachlass meiner Mutter. Stattdessen offizielle Dokumente: Arbeitsbestätigungen meines Grossvaters, Pässe, Identitätskarten, Impfscheine, Geburtsurkunden, Familienbüchlein, Führerschein, Militärbüchlein – die wichtigsten Papiere halt, die man fürs Auswandern und Immer-wieder-neu-Anfangen braucht. Meine Grosseltern hatten bei ihren Weiterreisen an Persönlichem nur das Unentbehrliche mitgenommen. Grossmutters kleine schwarze Bibel mit der Goldschrift auf dem Cover sowie ein Zeitungsartikel über Hallau mit dem verblassten Bild der Dorfkirche reisten überall hin mit, ebenso Grossvaters Briefmarkensammlung, die mit den Jahren immer umfangreicher wurde und weit entfernte Länder einschloss wie Indien und Australien.

Warum ist die kleine Familie, angewachsen auf drei Töchter, 1928 in die Schweiz zurückgekehrt? Könnte es sein, dass meine Grosseltern angesichts der drohenden Weltwirtschaftskrise und der erstarkenden Oppositionsbewegung in Argentinien beschlossen, in die Schweiz zurückzufahren? Präsident Yrigoyen sass nicht mehr sicher im Sattel (er wurde 1930 bei einem Militärputsch gestürzt). Oder waren es rein private Gründe, das Drängen meiner Grossmutter, die ihre drei Töchter gut ausgebildet haben wollte und die öffentlichen Schulen in Buenos Aires nicht gut genug fand? Für die besseren, privaten Schulen fehlte das Geld. Oder stimmte das Gerücht, dass von der Familie Schwalm in Winterthur Druck ausgeübt wurde, endlich in die Schweiz zurückzukehren? Ida Schwalm, die ledige Schwester meines Grossvaters, wohnhaft in Winterthur, so erzählten sich die Verwandten, hätte die Familie finanziell unterstützt, aber auch in ihrem Sinne beeinflusst. Es gibt wenig Gewissheiten in dieser Geschichte, dafür umso mehr Gerüchte und widersprüchliche Behauptungen. Die Faktenlage war äusserst dünn. Von meiner Mutter erfuhr ich nichts.

Weil ich so wenig wusste über das Leben meiner Mutter und ihrer Familie in Buenos Aires sowie über die wahren Gründe für ihre Rückreise in die Schweiz, malte ich mir Szenen aus, die sich vom Heiligen Abend (Nochebuena) 24. Dezember 1927 in Buenos Aires bis zur Ankunft in Hamburg Ende Februar 1928 hätten abgespielt haben können. Ein paar weitere Details fand ich 2013 in der Autobiografie meiner Tante aus Buenos Aires und aus Erinnerungsbläschen, die im Alter plötzlich im Bewusstsein meiner Mutter auftauchten.

2. Kapitel: Eine verhängnisvolle Entscheidung

(Fiktion in fünf Filmszenen)

Szene 1

AUFBLENDE

EXT. VERANDA VOR EINEM WEISSEN HAUS IN EINEM ÄRMLICHEN QUARTIER VON BUENOS AIRES

Zeit: 24. Dezember 1927, Sommer, heiss, Nachmittag, 16 Uhr

Personen:

Mutter Anna Schwalm-Rahm zweiundvierzig Jahre, drei Töchter: Dorli acht Jahre, Anita sechseinhalb Jahre und Ruthli (später genannt Heidi) ein Jahr, Vater Federico Schwalm neununddreissig Jahre und Heinrich Rahm Mitte dreissig (Besuch aus Hallau, Schweiz)

Mutter Schwalm sitzt auf einem der zwei Gartenstühle, Vater Schwalm in einem Schaukelstuhl auf der Veranda; vor ihnen steht ein weisses, rundes Tischchen, auf dem ein spindeldürres Weihnachtsbäumchen steht. Die drei Kinder spielen vor ihnen am Boden

MUTTER Schwalm:

schlank, eher klein, gezeichnet von viel Arbeit, Existenzsorgen und Heimweh nach der Schweiz, mit braunen, etwas traurigen Augen und einem bereits angegrauten Chignon, in einem hochgeschlossenen, leichten weissen Kleid

(steht auf und steckt sechs rote Kerzen an das Bäumchen, seufzend) Die Kerzen schmelzen ja in der Hitze, sobald sie angezündet werden. Aber dafür ist es noch zu früh.

(ein deutsches Weihnachtslied ertönt leise im Hintergrund: „Ihr Kinderlein kommet …“, bricht aber nach der ersten Strophe wieder ab)

HEINRICH RAHM:

ein Cousin der Mutter aus Hallau, braune Augen, brauner Schnurrbart, braune in die Stirn hängende Haare, offenes weisses Hemd, nonchalant, gutgelaunt

(kommt raus auf die Terrasse, setzt sich auf den zweiten Gartenstuhl und zündet eine Zigarre an, räkelt sich wohlig, schaut auf seine Uhr) Jetzt beginnt Heiligabend in den meisten Schweizer Familien. In Hallau sitzen sie um einen üppig geschmückten Baum im gut geheizten Wohnzimmer. Es schneit ergiebig, der Schnee türmt sich auf den Fenstersimsen. Es ist kalt, die Fensterscheiben sind bedeckt mit Eisblumen.

Intermezzo

Heiligabend in Hallau, 24. Dezember 1927, ca. 20 Uhr

(mit Beamer an die Wand projiziert)

EXT. MARKTPLATZ VON UNTERHALLAU

Die Kamera nähert sich dem Elternhaus meiner Grossmutter am Marktplatz 138 – viel Schnee liegt überall. Dann Blick durch ein freigekratztes Fenster ins hell-erleuchtete Wohnzimmer.

INT. WOHNZIMMER

Verwandte meiner Hallauer Grossmutter Anna Rahm sitzen im Halbkreis vor einem grossen, dichten, sattgrünen Weihnachtsbaum; Geschenke sind um die prächtige selbstgeschnitzte Weihnachtskrippe mit der Heiligen Familie und den üblichen Krippenfiguren gelegt. Die Fenster sind fast zugedeckt mit Eisblumen. Die Kerzen am Baum brennen. Sie singen dasselbe Weihnachtslied von vorher weiter: Strophen 2+3 „Ihr Kinderlein kommet“

(mit Beamer an die Wand projiziert:

Ein Buntglasfenster aus der Sagrada Familia, Kathedrale in Barcelona, mit der Krippenszene: Maria, Josef und das Jesuskind in der Krippe. Die heile, „heilige Familie“.)

HEINRICH RAHM (fährt fort):

Hier in der Sommerhitze gefällt es mir viel besser als in der winterlichen, kalten Schweiz! Ich möchte am liebsten bei euch bleiben!! (rollt die Hemdsärmel weiter nach hinten, räkelt sich auf seinem Stuhl, streckt seinen ganzen Körper aus, zieht genüsslich an seiner Zigarre)

VATER Schwalm:

schwarze gewellte Haare, blaue Augen, Schnauz wie Charly Chaplin, offenes, weisses Hemd mit Stehkragen (sog. Mao-Hemd), nimmt die zweite Tochter, Anita, die nun vor ihm steht, auf die Knie und schaukelt sie vergnügt – beide lachen glücklich.

(Er singt den Anfang des spanischen Weihnachtsliedes.) „Feliz navidad, feliz navidad, feliz navidad. Prospero año y felicidad!“ (schaut hinauf in den blauen Himmel)

Wie blau ist der Himmel über Buenos Aires! Heiss ist es heute! Einfach herrlich! Bald bekommst du dein Weihnachtsgeschenk, Anita, und deine Schwestern natürlich auch.

Mutter Schwalm:

(schmückt das spindeldürre Bäumchen auf dem Tischlein mit ein paar farbigen Bändern, legt ihre kleine schwarze Reisebibel darunter) Wir haben nicht einmal eine Krippe mit der Heiligen Familie. (Mit Beamer an die Wand projiziert: einfaches Glasfenster von der Geburt Jesu oder irgendein Bild der Heiligen Familie aus einer einfachen Methodistenkirche in Buenos Aires)

ABBLENDE

Szene 2

AUFBLENDE

EXT. VERANDA VOR DEM HAUS IN B.A.

Abend ca. 20 Uhr

(Die drei Mädchen spielen am Boden. Vater Schwalm sitzt wieder auf dem Schaukelstuhl neben dem runden Tischchen. Noch nicht zu sehen Heinrich Rahm und Mutter Schwalm)

Mutter Schwalm:

(kommt aus dem Haus und bringt vier kleine Weihnachtsgeschenke, legt sie unter das Bäumchen auf dem Tisch, zündet die sechs roten Kerzlein an. Im Hintergrund, von der Heilsarmee gespielt, ertönt leise das Weihnachtslied „Stille Nacht, Heilige Nacht“. Mutter Schwalm summt mit. Dann gibt sie jeder Tochter ein kleines Weihnachtsgeschenk. Jede reagiert auf ihre Art.)

Anita:

sechseinhalb Jahre alt, braune Haare, blaue Augen wie der Vater, lebhaft, neugierig, plaudert gerne, lacht viel

(reisst ungeduldig an Bändel und Papier, packt ein Bilderbuch aus mit dem Titel „El Niño“. Sie blättert sofort durch die Seiten und lächelt dabei, zeigt es ihrem Vater) Mira, Vati, die Familie, los niños mit de vile Spielsache … die hend en Bueb … nöd wie mir … donde viven? (zeigt das Buch ihrem Vater.)

Vater Schwalm:

(nimmt sie auf die Knie und beginnt zu erzählen) Érase una vez una pequeña familia feliz que vivia en Buenos Aires, Argentina …

Mutter Schwalm:

Aber nicht auf Spanisch, Otto, erzähl auf Schweizerdeutsch!

S’ isch e mal e chlini, glücklichi Familie gsi, …

Dorli:

acht Jahre alt, dunkelbraune Augen, dunkle kurze Haare, ein hübsches, nachdenkliches, ruhiges Kind

(packt langsam und sorgfältig ihr Geschenk aus. Sie hält den von der Mutter gestrickten Pullover in die Höhe und verbirgt ihr Gesicht in der weichen Wolle) Danke, Mutti, danke Vati – der ist aber schön … und weich!

Vater Schwalm:

(schaut skeptisch) Der ist doch viel zu warm für diese Hitze!

Ruthli (später genannt Heidi):

ein Jahr alt, helle, blaue Augen, blonde Locken, strahlendes Lächeln, kriecht auf dem Boden rum

(patscht mit den kleinen Händchen auf das Geschenklein, das die Mutter vor sie hin auf den Boden gelegt hat, kriecht darüber hinweg, verliert ihr Interesse daran)

Mutter Schwalm:

Komm, Ruthli, lueg mal, was da drin isch! (kniet sich zu ihr nieder und öffnet das Geschenklein)

Lueg es Bäbi! (Ruth küsst das Bäbi, drückt es kurz an sich, lässt es liegen und kriecht davon)

Vater Schwalm:

(Liest die Puppe vom Boden auf und zeigt sie Ruthli)

Mira, Ruthli, una muñeca, que bonita!

(tanzt mit der selbstgenähten Puppe vor Ruthlis Nase herum, die will sie ergreifen, erwischt sie aber nicht, beginnt zu weinen)

Mutter Schwalm:

(vorwurfsvoll) Sprich Schweizerdeutsch mit dem Kind, Otto. Sie muss Deutsch lernen!

Vater Schwalm:

Hier sind wir zuhause, hier werden meine Töchter in die Schule gehen, hier wird Spanisch gesprochen – Anna sei doch vernünftig!

Heinrich Rahm:

(kommt aus dem Haus mit einem dicken Kuvert in der Hand) Hier ist ein Geschenk aus der Schweiz für euch beide, Anna und Otto (reicht es Vater Schwalm, der es ungeöffnet an Mutter Schwalm weiterreicht)

Mutter Schwalm:

(öffnet das Kuvert, es fällt ein Bündel Banknoten heraus. Sie greift zuerst nach dem Brief, liest laut vor):

Liebe Anna, lieber Otto,

Heinrich bringt euch diesen Brief aus der Heimat, damit ihr zu Weihnachten eine frohe Botschaft aus der Schweiz habt.

Uns allen geht es recht gut, aber wir vermissen euch, besonders wenn wir Weihnachten feiern und alle beisammen sind! Warum seid ihr nur so weit weg? Während wir „Ihr Kinderlein kommet“ singen, sind eure drei Töchter im fernen Argentinien und erleben keine richtige Weihnacht mit viel Schnee, Weihnachtsliedern und Kirchenglocken.

Wir schicken etwas Geld, damit ihr euch einen Wunsch erfüllen könnt. Wie wär’s mit einer Passage nach Europa?

Es geht wieder besser hier in der Schweiz. Die Arbeitslosigkeit ist gesunken – Gottseidank – die Wirtschaft hat sich endlich erholt vom Ersten Weltkrieg. Otto würde hier bestimmt Arbeit finden, und die Kinder könnten die guten Schweizer Schulen besuchen, was wichtig ist für ihre Zukunft.

(Anna mit zitternder Stimme)

Bitte überlegt euch doch, ob ihr nächstes Jahr auf den Schulanfang im April nicht in die Schweiz zurückkehren wollt. Wir würden uns alle sehr freuen. Dann wären wir endlich wieder alle zusammen!!

Mit den besten Wünschen fürs neue Jahr und in der Hoffnung auf ein baldiges Wiedersehn!

Frohe Weihnachten und „es guets Nois“.

Tante Ida und die Schwalmen aus Winterthur

(zählt mit zitternder Stimme das Geld):

So viel Geld. … Das würde reichen für eine Passage nach Hamburg!

Ich habe auch noch etwas Weniges auf der Seite für die erste Zeit in der Schweiz.

Vater Schwalm:

(sichtlich verärgert) Hör auf, Anna! Wir können das Geld hier für Gescheiteres brauchen. Ich will nicht zurück! Hier hab’ ich Arbeit. Das Projekt in Trenque Lauquen ist noch nicht abgeschlossen, und die nächste Anfrage für ein weiteres Dorf ist gekommen. Ich bringe Licht in die Dörfer von Argentinien. Soy electricista. Soy Argentino!!

Mutter Schwalm:

(hörbar verärgert) aber du verdienst zu wenig hier, die öffentlichen Schulen sind hinterwäldlerisch. Ich will eine gute Schulbildung für meine Töchter und gute Aussichten für ihre berufliche Zukunft. Was soll Dorli mit dieser veralteten argentinischen Dorfschulbildung später mal erreichen? Du bist so verschwenderisch mit deinem Lohn, dass für uns oft zu wenig übrigbleibt, lass uns zurückfahren!

(sie überreicht Heinrich zwei Geschenke)

Heinrich:

(packt die Geschenke aus, zieht ein selbstgenähtes Gilet mit aufgesticktem Hallauer Wappen von Anna über und steckt sich eine der brasilianischen Zigarren an, die er von Otto erhalten hat)

Mir gefällt das Leben hier. Das Klima ist wunderbar, die Leute sind fröhlich und offen, nicht so verschlossen und eigen wie in der Schweiz. Sie geniessen das Leben. Nicht nur beten und arbeiten. Bildung ist nicht alles, Anna!

Mutter Schwalm:

Ja, hilf du ihm auch noch … (geht weinend ins Haus – die Kinder schauen ihr erschrocken nach)

ABBLENDE

Adios Buenos Aires 1928

Szene 3

AUFBLENDE

EXT. AUF DEM SCHIFF „ARTURO DELFINO“ VON BUENOS AIRES NACH HAMBURG

Zeit: Ende Februar 1928, Abend, Sonnenuntergang

Vater Schwalm:

(steht mit Anita auf dem Deck zweiter Klasse an der Reling, während Mutter Schwalm mit Dorli und Ruthli auf einer Bank sitzt. Neben ihnen stehen vier Koffer verschiedener Grösse. Das Schiff „Arturo Delfino“ legt ab.)

(traurig zu Anita) Adios Buenos Aires! Du siehst es zum letzten Mal, hija! Wir fahren nach Europa, dann in die Schweiz. Vergiss nie, dass du in Argentinien geboren bist, Anita. Niemals. Du bist Argentinierin!

Anita:

Vamos a Suiza, papa, porque? Ich will nicht in die Schweiz gehen! No quiero suicidarme.

[Sie versteht die Bedeutung des Wortes suicidarse falsch. Es bedeutet Selbstmord begehen

und nicht in die Schweiz gehen]

Vater Schwalm:

Deine Mutter will, dass ihr Schweizerdeutsch sprecht, gute Schulen besucht und eine gute Bildung bekommt, du und Dorli.

Anita:

Tu lloras, Papa, porque? No quieres ir a Suiza? No quieres suicidarte?

Vater Schwalm:

(wischt sich die Tränen ab und schaut traurig auf die langsam verschwindende Stadt)

Me gusta vivir en Argentina. Me gusta Buenos Aires, chiquita (schaut wehmütig zurück, dann dreht er sich um zu Mutter Schwalm und den anderen Töchtern, zornig) Das haben wir dir zu verdanken, Ana, dir und unserer „verbildeten“, eingebildeten Verwandtschaft in der Schweiz.

Mutter Schwalm:

(richtet ihren Blick nach vorn aufs Meer, bugwärts) Schau nicht zurück! Dort vorne liegt unsere Zukunft, Otto.

Wann kommen wir in Hamburg an? Hat Heinrich das Hotelzimmer reserviert?

Vater Schwalm:

In drei Wochen, abends um zehn, in grösster Dunkelheit und Kälte! Im europäischen Winter!!

Keine Sorge – Heinrich hat alles erledigt für uns in Hamburg.

Kommt, essen wir etwas aus dem Korb, ich habe Hunger. Picknick auf dem Unterdeck, Galadiner in der ersten Klasse – die Welt ist zweigeteilt.

(packt Sandwiches/bocadillos aus dem Korb und einen Thermoskrug, giesst heisses Wasser über die Kräuter vom Maté in der Calabaza)

ABBLENDE

Szene 4

AUFBLENDE

EXT. AM HAFEN VON GRAN CANARIA.

Etwa zwei Wochen später. Mittag. Die Sonne steht hoch am Himmel.

(Vater Schwalm steht mit Anita wieder an der Reling)

Anita:

(sieht die Händler mit den gelben Bananen auf den Schultern aufs Schiff kommen)

Mira Vati, die vielen gelben Bananen!! Son amarillas como el sol! Wer isst all diese Bananen? Podemos tener una?

Vater Schwalm:

 … die sind nur für die erste Klasse. Schau, das Ehepaar dort kommt runter und kauft welche. Sie sind vom oberen Deck. Ich habe sie Schweizerdeutsch sprechen hören. Und jetzt sprechen sie mit Mutti.

Mutter Schwalm:

(nach zehn Minuten kommt sie aufgeregt auf die beiden zu) Stell dir vor, das sind reiche Plantagenbesitzer aus Brasilien, ausgewanderte Schweizer. Die wollen mir doch tatsächlich Ruthli abkaufen, weil sie keine Kinder haben!!

Vater Schwalm:

(scherzend) Was zahlen sie?

Mutter Schwalm:

(kopfschüttelnd)

Egal. Die bezahlen alles. Was für eine Schnapsidee! Würdest du deine Töchter verkaufen? Im Notfall? (Anita beginnt zu weinen)

Vater Schwalm:

Nie und nimmer! Komm Anita, nicht weinen. Keine Angst, ich verkauf dich niemals. (beginnt ein spanisches Kinderlied zu singen)

Veo veo

Anita:

(sofort abgelenkt macht mit)

Que ves?

Vater Schwalm:

Una cosita

Anita:

Y que cosita es ?

Vater Schwalm :

El vienta con la A. Qué serà, que serà, que serà ?

Anita:

(lächelt wieder und ruft laut)

A-n-i-t-a

(Vater Schwalm schüttelt verneinend den Kopf)

Ar-gen-ti-na

Vater Schwalm:

Buenissimo, pequeña! (küsst sie auf die Stirne)

Mutter Schwalm:

Hör endlich auf Spanisch zu singen. Die Kinder werden Schweizer Schulen besuchen – die besten der Welt!

Dorli:

(steht nachdenklich daneben) Bei Hänsel und Gretel haben die Eltern auch ihre Kinder weggegeben, weil sie kein Geld hatten für das Essen. Sie haben sie einfach in den Wald geschickt. Wie traurig! Das versteh ich nicht.

Mutter Schwalm:

Im Märchen ist alles möglich, aber nichts ist wahr.

Anita

(aus tiefster Überzeugung) Du würdest uns nie weggeben, gell Mutti!

ABBLENDE

Szene 5

AUFBLENDE

EXT. HAMBURGER HAFEN.

Mitternacht.

Drei Wochen später.

(Das Schiff „Arturo Delfino“ läuft ein. Es regnet, es ist kalt und dunkel)

Mutter Schwalm:

(müde, aber glücklich) Endlich sind wir in Europa! So lange habe ich davon geträumt. Dorli und Anita nehmt eure kleinen Koffer und bleibt dicht hinter mir, haltet euch fest an meinem Rock. Ich trage Ruthli.

(Vater Schwalm folgt missgelaunt mit den zwei übrigen grossen Koffern.)

Mutter Schwalm: (fährt fort)

Wie heisst schon wieder das Hotel?

Vater Schwalm:

„Zur Schwalbe“. Es liegt direkt am Hafen. (Übermüdet schleppt sich die kleine Familie durch die Hafenanlagen. Nach rund dreissig Minuten stehen sie vor der düsteren Rezeption des Zweit-Klasse-Hotels mit der schäbigen, abblätternden Fassadenanschrift „Zur Schwal.e“, wo das b fehlt)

Stimme aus dem Hintergrund: Schwalben ziehen für den Winter in den Süden, nicht in den Norden.

(Ende der Filmszenen)

3. Kapitel: Über die Rückkehr in die Schweiz 1928

aus TanteHeidis Autobiografie, verfasst 2013

[Klammern: meine Ergänzungen und Berichtigungen]

„Im Jahre 1928 beschloss das Ehepaar Schwalm-Rahm, wieder in die Schweiz zurückzukehren. Was sie dazu bewogen hat, ist mir schleierhaft. Ein leiser Verdacht besteht, dass Angehörige der in der Schweiz lebenden Familie Schwalm (es waren zwei Brüder, Alfred und Eugen, und eine Schwester, Lydia [sie hiess Ida] damit etwas zu tun haben könnten, aber aus welchem Grund?? Unbekannt … die Geschichte dieser Familie zu beschreiben, würde zu weit führen. Ich beschränke mich auf meine Eltern Otto Fritz (in Argentinien genannt Federico) und Anna Schwalm-Rahm.“

Heidi (vormals genannt Ruthli) war zur Zeit der Rückreise wenig mehr als ein Jahr alt, sie konnte sich nicht an viel erinnern und berichtete vom Hörensagen.

„Auf der Reise gab es aber noch einen recht ungewöhnlichen Zwischenfall. In Rio de Janeiro, Brasilien, stieg ein junges Schweizer Ehepaar dazu, reiche Grossgrundbesitzer einer Plantage. Sie beobachteten mich immer und waren so verliebt in mich oder begeistert von mir, dass sie beim nächsten Halt am Hafen von Gran Canaria mich den Eltern abkaufen wollten!! Aus Jux sagte Vati, sie müssten schon Mutti fragen und die meinte, Vati hätte bei ihnen das Sagen. Die Sache wurde ziemlich ernst, denn das Paar wollte nicht lockerlassen. Die Eltern hätten ja noch zwei Töchter, da könnten sie schon eine abgeben!! Bis dann die Eltern kategorisch erklärten, so was komme gar nicht in Frage. Das Preisangebot war anscheinend ganz erheblich!!“ [ …]

„Das Einleben in der Schweiz war offenbar nicht einfach. Da die beiden älteren Töchter, Dorli und Anita, schon schulpflichtig waren und die Eltern keinen festen Wohnsitz hatten, wurden die beiden bei einer älteren Schwester von Mutter Anna, bei Tante Hedwig und deren Mann, Onkel Jakob, in Basel untergebracht, wo sie auch zur Schule gingen. Unterdessen hatte Vater – von nun an genannt Vati – ein Arbeitsangebot in Spanien erhalten, wohin er mit Mutter – von nun an genannt Mutti – und mir, Heidi, reiste und dort zwei Jahre blieb. Nach ihrer Rückkehr und nach vermutlich kurzem Aufenthalt in der Schweiz bekam er eine Stelle in Portugal, wohin wir zu dritt gingen. Wieder zwei Jahre, an die ich mich nur wenig erinnern kann. Er war Leiter eines Elektrizitätswerks und ich habe noch den Ort und die Halle, wo die grossen Turbinen installiert waren, in Erinnerung. Auch dass ich mit einem Knaben, der einem Angestellten sein Mittagessen brachte, im Hof die Suppe ausgelöffelt habe. Leider kam der Aufenthalt wieder nach ca. zwei Jahren zu einem tragischen Ende. Vati wurde von einem neidischen Angestellten, der seinen leitenden Posten haben wollte, angeschossen. Die Kugel blieb im Bein stecken [Grossmutter hatte von zwei Kugeln in die Knie gesprochen] und Vati musste in ein Spital eingeliefert werden – Mutti und ich dazu. Kann mich erinnern, dass es jeden Tag Hühnersuppe gab!! Nach erfolgloser Operation fuhren wir in die Schweiz zurück, wo nach einer weiteren Untersuchung der Ärzte festgestellt wurde, dass eine Kugel sich im Knie so gut eingebettet hatte, dass eine weitere Operation nicht notwendig war. Die Kugel blieb in seinem Knie bis an sein Lebensende.“ [ …]

„Der Aufenthalt in der Schweiz war dann nicht so erfreulich. Wegen der beiden Aufenthalte in Spanien und Portugal blieben Dorli und Anita bei der Tante in Basel. Es kam die Krisenzeit der 30er-Jahre [Weltwirtschaftskrise] und Vati hatte wohl Mühe, Arbeit zu finden. Ich wohnte mit den Eltern in Winterthur, wo ich die Primarschule besuchte.“

So viel zur Rückkehr in die Schweiz und zu den Gründen für die Aufspaltung der Familie.

(Sobald die Familie in der Schweiz war, wurde Ruthli Heidi genannt, ihr zweiter Vorname)

4. Kapitel: Die Tasche meiner Mutter (Fiktion)

Ort: Dorf zwischen Winterthur und Zürich Schweiz

Zeit: Februar 1959

Die sechsjährige Christina