Hinter der Hölle - Matthias Koppe - E-Book

Hinter der Hölle E-Book

Matthias Koppe

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Beschreibung

In dem kleinen Ort Erfweiler in der Pfalz geschieht ein grausames Verbrechen: ein achtjähriges Mädchen wird brutal vergewaltigt und anschließend getötet. Damit die Leiche nicht gefunden wird, vergräbt der Täter die Leiche im Wald und erweckt so die dunklen Mächte, die tief im Wald zu Hause sind. Das Mädchen kehrt zurück und hinterlässt auf der Suche nach ihren Mörder eine blutige Spur ... Nur eine kleine Gruppe Jugendlicher kann dem Geschehen Einhalt gebieten, doch dazu müssen sie sich selbst in allerhöchste Gefahr begeben.

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EPUB
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Seitenzahl: 608

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Inhalt

Cover

Erstes Kapitel

Zweites Kapitel

Drittes Kapitel

Viertes Kapitel

Fünftes Kapitel

Sechstes Kapitel

Siebtes Kapitel

Achtes Kapitel

Neuntes Kapitel

Zehntes Kapitel

Elftes Kapitel

Zweiter Teil: Lucy

Zwölftes Kapitel

Dreizehntes Kapitel

Vierzehntes Kapitel

Fünfzehntes Kapitel

Sechzehntes Kapitel

Siebzehntes Kapitel

Achtzehntes Kapitel

Neunzehntes Kapitel

Zwanzigstes Kapitel

Einundzwanzigstes Kapitel

Zweiundzwanzigstes Kapitel

Dritter Teil: Die Höhle im Wald

Dreiundzwanzigstes Kapitel

Vierundzwanzigstes Kapitel

Fünfundzwanzigstes Kapitel

Sechsundzwanzigstes Kapitel

Siebenundzwanzigstes Kapitel

Achtundzwanzigstes Kapitel

Neunundzwanzigstes Kapitel

Hinter der Hölle

Cover

Erstes Kapitel

Neunundzwanzigstes Kapitel

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Erstes Kapitel

Frederic

Das Leben ist wie eine giftige Schlange, es beißt ohne Vorwarnung aus dem Hinterhalt zu, injiziert ihr qualvolles, lähmendes Gift schnell und präzise in die Blutbahn; man spürt den unerträglichen Schmerz, der sich schlagartig durch den gesamten Körper ausbreitet und in jeder einzelnen Zelle zu spüren ist. Eine Schlange, die sich unbemerkt anschleicht, um dann ihre Zähne tief ins Fleisch zu bohren, sodass der grausame Schrecken das Gefühl einer innerlichen Lähmung zu vermitteln erscheint. Dieses grausame Gefühl erlebte Frederic bereits als Fünfjähriger, als sein Vater am 19. September 1995 bei einem Autounfall auf der A3 tödlich verunglückte. Obwohl er erst fünf Jahre alt war, wusste Frederic, was der Tod bedeutete oder glaubte es zumindest zu wissen.

Seine Mutter stand in seiner Zimmertür, die Lippen fest zusammengepresst, die Augen von Tränen gerötet und geschwollen, eine Hand gegen den Mund gedrückt, sodass sie einen Mundwinkel nach oben schob und sich ihr Gesicht zu einer hässlichen Grimasse verzog. Das Telefon hatte geklingelt – es war ein Arzt aus dem Klinikum Barmherzige Brüder Regensburg, der ihr mitteilte, dass ihr Mann soeben an den schweren inneren Verletzungen, die sich sein Vater bei dem Auffahrunfall zugezogen hatte, gestorben war. Sie hatten zwei Stunden lang um sein Leben gekämpft, hatten versucht, die vielen inneren Blutungen zu stoppen, die Ruptur der Milz und die Beckenfraktur zu versorgen, aber es kam zum Multiorganversagen. Die Aorta im Bauchraum war ebenfalls gerissen und immer mehr Blut floss in die Bauchhöhle. Schließlich wurde um 15:53 Uhr, zweieinhalb Stunden nach dem Unfall, der Tod festgestellt und Frederics Mutter telefonisch informiert. Frederic fühlte sich ohnmächtig, war nicht im Stande etwas zu sagen, als ihm klar wurde, dass er seinen Vater nie wiedersehen würde. Bis heute Abend, hatte er gesagt und ihm einen Kuss auf die Wange gegeben, bevor er zu seinem Geschäftstermin in Neutraubling aufbrach. Und nun würde er nie wieder kommen … nie wieder – das hatte etwas Endgültiges, es war erschreckend, klar und endgültig.

»Papa hatte einen Unfall«, sagte Christina Bollmann mit heiserer Stimme. Tränen liefen über ihre Wangen. »Es war ein sehr schlimmer Unfall«. Jetzt spürte Frederic das plötzliche Brennen hinter seinen Augen.

»Was … was ist passiert«, stotterte er. Jetzt liefen auch seine Tränen.

»Es war auf der Autobahn, Papa ist mit dem Auto verunglückt«, die Worte waren kaum zu verstehen vor Heiserkeit. Dann nahm sie ihren Sohn in den Arm und weinte. Und Frederic, der sich an die nächsten Stunden kaum erinnern konnte, nahm seine Mutter in den Arm und weinte auch.

Später kamen zwei Polizisten, um seiner Mutter die schreckliche Nachricht zu überbringen. Frederic saß oben auf der Treppe und ließ seine Beine durch das Treppengeländer baumeln. Er weinte und seine Augen brannten. Er hatte nicht geredet, seitdem seine Mutter bei ihm im Zimmer war und ihm erzählte, dass Papa einen Unfall hatte. Sie saßen auf Frederics Bett und weinten beide. Erst als es an der Tür klingelte, stand Christina auf ohne zu wissen, wie lange sie mit ihrem Sohn weinend auf dem Bett gesessen hatte.

Ein Lkw-Fahrer hatte das Stauende übersehen und ist ungebremst in den schwarzen Audi A4 gefahren und hat ihn gegen den davorstehenden Kleintransporter gedrückt. Stefan Bollmann hatte keine Chance. Das Auto wurde zusammengedrückt wie eine Pappschachtel. Die Feuerwehr musste Stefan freischneiden, bevor der Rettungshubschrauber nach Regensburg in die Notaufnahme flog. Christina hörte die Worte der Beamten, aber sie reagierte kaum.

»Frau Bollmann?« Christina gab keine Antwort. »Möchten Sie, dass ich jemanden informiere? Gibt es jemanden, der Ihnen beistehen kann?«

Sie zuckte mit den Schultern. »Ich kann Ihnen über unsere Dienststelle psychologische Hilfe organisieren.«

Christina schaute auf, dem Beamten direkt in die Augen und er konnte die Verzweiflung spüren, die in diesen tränengefüllten Augen lag. Für einen Moment spürte Oberkommissar Trinkmann selbst das Bedürfnis zu weinen, dann schaute er zu seinen Kollegen.

»Ich möchte, dass Sie jetzt gehen«, sagte sie leise aber klar.

»In Ordnung, aber wenn Sie unser Angebot doch annehmen möchten, dann melden Sie sich bitte.« Christina nickte. »Danke.« Die beiden Polizisten verließen das Haus und Christina fing wieder an zu weinen.

Frederic kam die Treppe herunter und setzte sich neben seine Mutter – sie nahmen sich in den Arm und weinten wieder gemeinsam.

Dieser grauenhafte Tag war genau zehn Jahre her. Am Abend vor dem zehnten Todestag seines Vaters war Frederic früh ins Bett gegangen und schnell einen tiefen Schlaf entgegen geglitten. Es war ein warmer Tag und am Abend zogen neue Wolken auf, die Regen ankündigten. Die Bäume wogen jetzt stärker im Wind und durch das Fenster warfen die sich bewegenden Äste immer wieder wechselnde Muster auf den Teppich. Frederic lag in seinem Bett und schaute den Mustern zu, die in seinem Zimmer wie Schneeflocken im Wind tanzten. In dieser Nacht zum zehnten Todestag seines Vaters, an dem eine schreckliche Epoche des Grauens seinen Anfang nehmen sollte, erwachte er mitten in der Nacht schweißgebadet aus einem sehr realistisch erscheinenden Albtraum. Er schreckte hoch und saß aufrecht in seinem Bett. Seinen Herzschlag spürte er bis in die Kehle; er spürte, wie es schnell und kräftig in seiner Brust schlug und er hatte das Gefühl, als würde es ihm gleich aus dem Kopf springen. Schweiß lief ihm ins Gesicht, kalter, nasser Angstschweiß. Er spürte einen Tropfen auf seinen Lippen und bemerkte den salzigen Geschmack. In seinen Augen war Angst zu erkennen – nein, es war mehr als einfach nur Angst; es war etwas Grausames, ein Schrecken, den man sich nicht einmal in den schlimmsten Träumen vorstellen kann.

Die schwarzen Vorhänge, die seine Mutter einmal von ihrer Urgroßtante geerbt hatte, hingen am Fenster herunter wie bedrohliche Schlangen. Frederic konnte die Schlangen erahnen, wie sie sein Zimmer verdunkelten und bedrohlich über ihn hingen. Er versuchte, diesen albernen Gedanken beiseite zu schieben, appellierte an seinen Verstand, der ihn klar zu verstehen gab, dass dort keine Schlangen hängen – auch wenn er für einen Moment glaubte, sie wirklich gesehen zu haben. Frederic sah sich um, versuchte, im Dunkeln vertraute Gegenstände zu entdecken. Er versuchte, seinen Verstand vollends davon zu überzeugen, dass er zu Hause in seinem Bett und in Sicherheit war. Er entdeckte einige grobe Umrisse vom Schrank und vom Regal. Das schwache Mondlicht, das in sein Zimmer schien, erlaubte ihm nur, die Gegenstände als Schatten zu sehen. Hektisch bewegte er seinen Kopf von der einen Seite zur anderen, unterschwellig darauf gefasst, von irgendeiner Hand plötzlich gepackt zu werden. Die Hand eines ekligen, hässlichen Monsters. Frederic konnte regelrecht spüren, wie sich irgendetwas Grauenvolles anschlich, wie langsam diese Hand mit Warzen und langen Fingernägeln unter seine Bettdecke kroch. Ihm war, als könne er den Atem dieses Monsters hören, langsame und tiefe Atemzüge. Ihm war bewusst, dass diese Vorstellung unreal war, genauso wie die Vorstellung der Schlangen an seinem Fenster. Und trotzdem – trotz des Realitätsbewusstsein seines Verstandes – wurde er diese Vorstellung nicht los. Er schaute sich weiter um, doch außer Schatten, die die Gegenstände in seinem Zimmer warfen, war nichts zu sehen: keine Hand, die ihn packen wollte, kein Monster, dass mordlüstern darauf wartete, ihn im richtigen Moment zu packen, um seine Eingeweide herauszureißen. Aber er spürte, dass irgendetwas in diesem Zimmer war, etwas Unheimliches, etwas Übernatürliches, etwas, zu dem der menschliche Geist gar nicht im Stande ist, es zu begreifen. Frederic wusste nicht, dass er später diese Nacht als eine Art Omen ansehen würde für die Ereignisse, die in gut vierzehn Stunden ihren Anfang nehmen würden. Rational betrachtet – auch wenn nur in Erinnerung – lag zu diesem Zeitpunkt wirkliches etwas Magisches vor, einen Zustand, den man weder beschreiben noch mit gesundem Menschenverstand erklären kann. Es waren keine Monster, die Frederic anfallen wollten, auch keine Schlangen, die an seinen Fenstern herunterhingen, es waren die Vorstellungen eines fünfzehnjährigen Jungen, der aus einen furchtbaren Alptraum erwacht war und aufgrund seiner Angst Dingen zu sehen glaubte, die nicht existierten. Dennoch war die seltsame Atmosphäre, die Vorstellung des Übernatürlichen, deutlich spürbar. Auch in seinen Erinnerungen konnte Frederic es nicht richtig beschreiben. Es war, als sei die Luft irgendwie elektrisiert, der kleine Hauch einer Vorahnung, der nicht ganz verblassen wollte.

Reiß Dich zusammen, hier ist rein gar nichts, flüsterte Frederics Verstand. Stille erfüllte den Raum, dann folgte das Geräusch einer zufallenden Tür und lautes Quietschen verrosteter Türangeln war zu hören, dann folgte das Einrasten ins Türschloss. Frederic lauschte, konnte seinen eigenen Atem hören, dann widmete er seine Aufmerksamkeit wieder den Geräuschen draußen auf dem Flur: ein leises, qualvolles Stöhnen, dann Schritte über die Dielen in Flur. Das ergibt einen Sinn, dieses Ding ist nicht in meinem Zimmer, es ist draußen auf dem Flur … dieses Stöhnen, diese näherkommenden, schlurfenden Schritte, es ist auf dem Flur und gekommen, um mich zu holen. Die Dielen im Flur knarrten leise. Nein!, schrie sein Verstand. Im schlechten Horrorfilm würde das einen Sinn ergeben, aber ich bin in keinem Film. Eine weitere Tür fiel ins Türschloss, dann war es wieder ruhig. Frederic nahm die rechte Hand, um die Decke zurückzuschlagen, er wollte ganz sicher sein, dass außer seiner Angst nichts in seinem Zimmer war. Seine Finger griffen den Bezug der Decke und er zog sie langsam zur Seite. Seine Augen waren auf das gerichtet, was unter der Decke war. Ohne es selbst zu bemerken, atmete er tief ein und aus. Unter der Decke war nichts außer er selbst.

Frederic konnte jetzt besser sehen, aus den Schatten waren klare Linien geworden. Er sah den großen Kleiderschrank, von dem eine Tür offen stand, sah seinen Schreibtisch mit all den Schulbüchern und Zetteln darauf, die Kommode und die Umrisse des Wäschebergs, der sich seit Tagen hinter seiner Tür auftürmte. Frederic griff nach rechts, wo er die Nachttischlampe vermutete und spürte einen dumpfen Schmerz, der ihn wie ein Blitz traf und sofort wieder verschwand. Er wollte nach dem Schalter der Lampe greifen und stieß gegen die scharfe Kante des Nachttischs. Dann fand er den Schalter und die Dunkelheit verschwand.

Frederic zog tief Sauerstoff in seine Lungen, sein Brustkorb hob und senkte sich und als er wieder ausatmete, war ihm, als glitt der ganze Schrecken aus ihm heraus. Nachdem seine Mutter wieder in ihrem Schlafzimmer verschwunden war, stand Frederic auf, um selbst zur Toilette zu gehen. Das Licht war viel heller als das in seinem Zimmer. Er stellte sich vor das Becken und hatte die Augen fast geschlossen, während er urinierte. Anschließend ging er zurück in sein Zimmer und setzte sich auf sein Bett. Frederic versuchte sich an das zu erinnern, was ihm so eine Angst gemacht hat.

Es war eine sternklare, kalte Nacht. Der Vollmond schien auf die verlassene Landschaft und Frederic Bollmann stand in der Nähe einer Bushaltestelle mitten im Nirgendwo. Er hatte keine Ahnung, wie er hier hingekommen war. Er trug noch den gleichen Pyjama, den er am Abend zuvor angezogen hatte, bevor er ins Bett ging. Es war ein weißer Pyjama mit blau kariertem Muster, den seine Mutter einmal im Angebot im Supermarkt am Ende der Straße gekauft hatte. Frederic sah sich um, versuchte, die Umgebung und die Gegenstände, die er sehen konnte, zu erkennen; versuchte, Parallelen zu einer vertrauten Umgebung zu finden, denn alles, war seine müden Augen im Mondlicht erkennen konnten, war absolut fremd. Er hatte nicht die geringste Ahnung, wo er war, und das machte ihm Angst. Nachdem er sich umgeschaut hatte und sein Verstand langsam realisierte, dass er mitten in der Nacht an einem Ort war, den er nicht kannte und auch nicht wusste, wie er hier hergekommen war, begann er, Unbehagen zu spüren. Es war, als krieche langsam etwas in seine Eingeweide – eine Art Angst, die sich ganz langsam und unbemerkt anschleicht, um sich im ganzen Körper auszubreiten und letztendlich zu blanken Entsetzen wird. Frederic spürte, wie sein Herz zu rasen begann. Er wollte weg, unbedingt, sofort.

Er setzte einen Fuß vor den anderen und versuchte zu gehen. Dann war ein seltsames Geräusch zu hören, das so klang, als würde man Pflaster von der Rolle ziehen. Seine Füße bewegten sich nur sehr schwerfällig, es war, als würde er festgehalten werden, als ziehe irgendetwas an seinen Füßen. Frederic sah zum Boden, der anfing, sich langsam aufzulösen. An seinen Schuhen klebte eine eklige, schwarze Masse und für einen Augenblick machte es den Anschein, als seien es Krallen. Krallen eines Ungeheuers, das auf ihn gewartet hat und jetzt im Begriff war, ihn zu schnappen. Doch dann schaffte er es endlich, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Wieder nahm etwas von seinem Fuß Besitz. Der zähflüssige Boden umschlang seinen Fuß wie eine fleischfressende Pflanze. Frederic wollte schreien, doch es kam nur ein müdes Krächzen heraus. Wahrscheinlich waren seine Stimmbänder im Traum nicht im Stande, einen lauten Schrei auszustoßen. Und selbst wenn er schreien könnte, glaubte er etwa, jemand könnte ihn hören? Wohl kaum. Noch grauenvoller könnte es wohl nicht werden, dachte Frederic, als er sah, dass etwas auf ihn zukam. Der Alptraum erreicht wohl seinen Höhepunkt, das Entsetzen und die Angst steigern sich ins Unermessliche. Ein Schatten näherte sich mit konstanter Geschwindigkeit. Sein Hals schwoll an und der Herzschlag war bis in die Kehle spürbar. Er schloss die Augen, wollte aufwachen, wollte, dass dieser entsetzliche Traum endlich vorbei war. Wie weit mochte sich das Grauen noch steigern? Frederic zog so viel Luft in seine Lungen, bis er sich fühlte, als platze er gleich. Die Luft, die er atmete, war so real, als würde all das wirklich geschehen. Und dann das Zerren an den Füßen, die Krallen, die sich so wirklich anfühlten …

Nur ein Traum, nichts als ein Traum. Morgen wird mein Verstand sicherlich die Widersprüche entdecken, egal, wie klar und real der Traum jetzt auch erscheinen mag, dachte Frederic.

Seine Augen waren noch immer geschlossen. Gleich wird alles weg sein. Kein Boden mehr, der versucht, ihn zu verschlingen, kein Schatten mehr, der sich auf ihn zubewegt und kein matter Mondschein mitten im Nirgendwo neben einer Bushaltestelle mehr. In Träumen geschieht das oft: Landschaften und Gegenstände verschwinden plötzlich, als wären sie nie da gewesen. In einem Moment spaziert man durch die Stadt, unterhält sich mit Freunden, hört die Motoren der vorbeifahrenden Autos, sieht, wie die Menschen hektisch durch ihren Alltag eilen und im nächsten Moment steht man am Fuße eines rauchenden Vulkans, der kurz davor ist, seine tödliche Lava auszuspucken. Man spürt die magmatischen Beben unter seinen Füßen und sieht die Rauchsäule oben über den Krater. Und man selbst ist der Held, der die Stadt vor dem drohenden Untergang retten wird und todesmutig den Berg hinaufklettert. Dann gibt es eine ohrenbetäubende Explosion und eine pyroplastische Wolke rast auf einen zu, doch bevor sie einen selbst davon fegt wie ein Blatt Papier sitzt man plötzlich auf einen fliegenden Teppich im Orient und fliegt zu Alibaba und den vierzig Räubern.

Dann öffnete Frederic seine Augen wieder und sah, wovor er solche Angst gehabt hatte. Kein Gespräch mit Freunden in der Stadt, kein Vulkan, der mit seiner pyroplastischen Wolke Bäume wie Streichhölzer umknickt und auch kein fliegender Teppich. Er sah wieder den Schatten, der jetzt unmittelbar vor ihm stand. In der rechten Hand hielt er ein von Blut verschmiertes Messer und in der linken Hand hielt er etwas, was ihm fast den Atem nahm: ein abgetrennter Kopf, der von dem Mann, den Frederic zuvor nur als Schatten sehen konnte, an den Haaren festgehalten wurde. Der Kopf schien sauber mit einem Skalpell abgetrennt worden zu sein und es tropfte noch Blut aus dem Hals, als wäre der Mensch gerade erst enthauptet worden. Die Haare waren verklebt vom Blut und es sickerte eine gelbliche Masse aus dem Schädel. Beim näheren Hinsehen war zu erkennen, dass sich ein Loch im Kopf befand, durch das Frederic das Gehirn erkennen konnte. Der Gesichtsausdruck des abgetrennten Kopfes war entsetzlich, als hätte der Mensch kurz vor seinem Tod ein grauenhaftes Erlebnis gehabt. Die tiefen Wunden im Gesicht ließen erkennen, dass es einen Kampf gegeben haben muss. Tiefe Kratzer und Messerschnitte übersäten die Haut. Frederic war darauf gefasst, dass der Mann ihn gleich mit dem Messer angreifen würde und dann seinen Kopf in der Hand halten würde. Sicherlich läuft der geheimnisvolle Unbekannte dann weiter durch die Straßen, den einen Kopf in der einen Hand und seinen in der anderen. Und sicherlich würde sein Kopf genauso sauber abgetrennt sein wie der andere. Und sein Gesichtsausdruck? Der Gedanke daran ließ ihn laut aufschreien. Das Krächzen war verschwunden, es war ein lauter, entsetzlicher Schrei.

Dann schnellte sein Oberkörper hoch und er saß aufrecht in seinem Bett.

Zweites Kapitel

Lucys letzter Tag (erster Teil)

Es war viertel vor sieben, als Lucy erwachte. Die meisten Wolken waren verschwunden und die Sonne schien schwach in ihr Zimmer. Sie hatte zwar noch nicht so viel Kraft, aber es reichte, um Lucy aufzuwecken. Die Sonnenstrahlen schienen durch die einzelnen Lamellen der Jalousie hindurch und trafen genau Lucys Augenlieder. Sie blinzelte, schlug die Augen kurz auf und verschloss sie wieder. Die Lamellen bewegten sich leicht und warfen abwechselnd Licht und Schatten auf ihr Gesicht. Schließlich öffnete sie die Augen und gähnte. Sie setzte sich aufrecht in ihr Bett und stützte sich dabei auf ihren rechten Ellenbogen. Mit der anderen Hand rieb sie sich durch die Augen. Lucy hatte gut geschlafen. Fast zu gut, sie war erholt und fühlte sich fantastisch. Sie schwang ihre Beine aus dem Bett und setzte sich auf ihre Bettkante. Ihre Arme streckte sie weit in die Luft und gähnte noch einmal laut. Sie schaute auf ihren Wecker, den sie zum sechsten Geburtstag geschenkt bekommen hatet, einen Funkwecker mit ihrem Namen, ihren Geburtstag und einem großen Styracosaurus zwischen den Ziffern. Sie war ein großer Dino-Fan, seitdem sie mir ihren Eltern im Dinosaurierpark Denkendorf gewesen ist. Diese großen, majestätischen Tiere imponierten ihr. Neben dem Wecker stand noch ein Plüsch-Diplodocus und auch die Lampe neben ihrem Bett hatte einen Schirm mit Dinosauriern.

Lucy hörte, wie ihre Mutter sich im Bad ihre Haare föhnte. Die Kinderzimmertür war nur angelehnt und Lucy wusste, wann ihre Mutter fertig sein würde und in ihr Zimmer kommt, um sie für die Schule zu wecken. Sie hatte noch ungefähr zehn Minuten Zeit, und nutzte diese, um ein wenig vor sich hin zu träumen.

Auch Frederic war gerade aufgewacht, nachdem er in der Nacht diesen schrecklichen Traum hatte, von dem er dachte, dass er ihn wohl ewig in Erinnerung behalten würde. Die Realität des Traumes, dass alles so echt wirkte, als ob es wirklich passieren würde, hatte ihn Angst gemacht. Und nachdem er endlich aus dem Alptraum erwacht war, ging es ihm nicht anders. Der Gedanke an die Schlangen, die scheinbar an seinen Fenstern herunterhingen, an das Monster in seinem Zimmer und der, dass irgendetwas unter seine Decke gekrochen war, um ihn zu packen und die Kehle durchzuschneiden, ließen ihn weiter Angst verspüren. Es dauerte über eine Stunde bis Frederic, nachdem er auf der Toilette war, wieder einschlafen konnte. Er dachte, an der gleichen Stelle weiter zu träumen, wieder den Mann mit dem abgetrennten Kopf und das im matten Mondlicht blutverschmierte Messer aufblitzen zu sehen, doch er glitt in einen tiefen, traumlosen Schlaf.

Nachdem er am Morgen erwachte und ihm der Traum so weit weg erschien, dass er für einen Moment gar nicht mehr wusste, dass er überhaupt geträumt hatte, versuchte er, sich für einen kleinen Moment zu erinnern. Langsam fiel es ihm wieder ein und er erinnerte sich, welche Angst er hatte, die ihm jetzt völlig unbegründet erschien. Frederic dachte über den Traum nach, aber nicht so, als ob er ihn selbst geträumt hätte, sondern so, als wäre es jemand anderem passiert oder er hätte es im Fernsehen gesehen.

Als Fünfjähriger, einige Monate bevor er seinen Vater auf der Autobahn verloren hatte, hatte Frederic immer den gleichen Alptraum gehabt. Er schloss die Augen und fand sich in einer verlassenen Höhle wieder, die einer Tropfsteinhöhle ähnelte. Rings um ihn herum waren ungleichmäßige Steinwände. Es hatte den Anschein, als wäre die Höhle in einen großen Fels geschlagen worden. Die Wände und die Decke waren feucht und hin und wieder tropfte Wasser herab, das sich an einer etwas tieferen Stelle der Höhle sammelte. Frederic saß zusammengekauert in einer Ecke und schaute sich ängstlich um. Er schaute zu den Wänden, zu der Decke und zu dem Durchgang, der sich in Dunkelheit hüllte. Hinter dem Durchgang befand sich ein Gang, der sich nach rechts und links erstreckte. Das Licht war matt und kalt, aber man konnte recht gut sehen, vielleicht sogar zu gut. Tropf. Ein weiterer Wassertropfen fiel zu Boden. Frederic lauschte, suchte nach Hinweisen, ob noch jemand oder noch etwas in dieser Höhle war. Doch außer dem Geräusch des herabtropfenden Wassers war nichts zu hören. Dennoch spürte er, dass er nicht alleine war. Irgendetwas war hier, etwas, was er weder sehen noch hören konnte. Es fühlte sich an, als hätte sich etwas aufgemacht, ihn heimzusuchen; Frederic konnte spüren, wie es an seinen Gedanken zog. Dieses etwas zog ihn zu den in Dunkelheit gehüllten Durchgang, er sollte aufstehen, nachsehen, wohin der Gang führt. Sein Blick war auf den Eingang gerichtet. Irgendwie fühlte er eine Art Faszination, eine Art Anziehungskraft, die sich langsam in sein Hirn schlich. Frederic versuchte aufzustehen, stützte seine Hände, die er um seine angewinkelten Beine geschlungen hatte, auf den Boden und stand auf. Wieder tropfte das Wasser von der Decke. Langsam ging er auf den Durchgang zu. Seine Füße überstiegen die Wasserlache, in der sich das herabtropfende Wasser sammelte, und dann stand er vor dem Durchgang. Die Dunkelheit verschwand jetzt langsam und der Gang war besser zu erkennen. Er stützte sich mit der rechten Hand gegen die Wand und schaute in beide Richtungen. Es war nichts zu sehen. Der Gang schien ins Nichts zu führen. Die Sichtweite betrug nur wenige Meter und dann erfüllte wieder Dunkelheit den Gang. Wieder tropfte Wasser von der Decke und Frederic warf einen kurzen, flüchtigen Blick zurück. Dann ging er rechts in den Gang hinein. Als er die Dunkelheit erreichte, erfüllte mattes, kaltes Licht den Gang, von dem nicht zu erkennen war, wo es herkam. Um Frederic herum waren die gleichen Wände, der gleiche Boden und die gleiche Decke wie in dem Raum, in dem er erwacht war. Kalte, feuchte Wände umschlossen ihn und gaben ihm ein Gefühl von Kälte und Einsamkeit. Auch hier tropfte Wasser von der Decke. Wie lange Frederic den Gang entlang ging, wusste er nicht und nachdem er immer weiter gelaufen war, erreichte er einen anderen Raum, der dem ersten in fast allen Einzelheiten glich. Langsam begriff er, dass er gefangen war, dass es keinen Ausgang gab und das Unbehagen steigerte sich zur Angst. Er wollte nach Hause, zu seinen Eltern, doch sein Verstand sagte ihm mit einer entsetzlichen Gewissheit, dass er hier nie wieder rauskommen würde.

Irgendwann im Laufe des Traumes erwachte er und einige Tage später hatte Frederic wieder den gleichen Traum: es war immer dasselbe. Er schlief ein und fand sich zusammengekauert in der Höhle wieder. Und jedes Mal suchte er vergebens den Ausgang ohne diesen zu finden. Es schien fast so, als wäre er ein Gefangener seines eigenen Traumes. In seinen Erinnerungen wusste Frederic nicht mehr genau wann es passierte, aber es geschah: nachdem er mehrere Monate lang immer denselben Traum hatte, fand er eines nachts den Ausgang. Wie die anderen Male war er zuvor den Gang entlang geirrt und dann nahmen seine Augen Tageslicht wahr. Er ging auf das Licht zu und fand sich dann inmitten einer Großstand wieder, in der seine Eltern auf ihn warteten. Danach hatte Frederic diesen Traum nie wieder gehabt. Fast hätte er diesen Traum vergessen, aber an diesen Morgen fiel er ihm wieder ein.

Lucy stand auf und ging zu ihrem Schreibtisch. Auf dem Schreibtischstuhl lagen die Sachen, die sie heute anziehen wollte. Sie schaute kurz zum Kleiderschrank herüber und musterte ihn. Zahllose Sachen lagen davor und die Tür war einen kleinen Spalt geöffnet. Sie sah einige Röcke, ein paar Schuhe, Pullover, einige Decken und noch viele andere Sachen. Davor lagen viele ihrer Spielsachen, ebenso ungeordnet wie die Sachen, die eigentlich in den Kleiderschrank gehörten. Zahlreiche Puppen bedeckten den Boden, daneben befand sich ein Puppenhaus und viele andere Gegenstände, mit denen achtjährige Mädchen spielen. Lucy stand vor dem Schreibtischstuhl und nahm sich ihre Sachen zum Anziehen. Lucy war wohl die Einzige, die sich in dem vollkommen durcheinanderliegenden Berg aus Wäsche zurechtfand – ihre Mutter sprach immer nur von einem Chaos, aber sie hatte es längst aufgegeben , die Sachen wieder ordentlich in den Schrank zu legen, da es keine zwei Tage dauerte, bis es wieder ein Chaos war. Lucy zog ihr Nachthemd aus und warf es vor den Schrank. Das weiße Nachthemd mit roten Blumen landete auf dem unübersichtlichen Wäscheberg. Dann zog sie die Sachen an, die ihre Mutter am Vorabend auf den Schreibtischstuhl gelegt hatte und ging ins Bad. Ihre Mutter war im Badezimmer fertig mit föhnen und mittlerweile in der Küche, um das Frühstück vorzubereiten. Ihr Vater saß am Küchentisch und las die Tageszeitung. Gegen halb acht würde er das Haus verlassen und irgendwann am Abend zwischen fünf und sechs Uhr – manchmal wurde es auch später – müde von seiner Arbeit heimkommen. Ihr Vater arbeitete hart und machte fast jeden Tag Überstunden. Sie wusste, dass er und ihre Mutter es nicht einfach hatten, dass es viele Probleme gab. Als sie vor einem Jahr von Oldenburg nach Erfweiler zogen, wollten sie von vorne anfangen, weil – so hatte es ihre Mutter ihr erzählt – Dinge passiert sind, die nicht hätten geschehen dürfen.

»Was denn für Sachen«, hatte sie gefragt. Das war vor ungefähr einen Monat gewesen. Lucy und ihre Mutter Sandra saßen im Garten auf der Hollywoodschaukel. Lucy war nach dem Mittagessen nach draußen gegangen um zu spielen. Sie hatte eine Menge ihrer Puppen und Autos und ihr Puppenhaus mit in den Garten genommen und spielte. Sie setzte verschiedene Puppen in die Autos und fuhr mit denen hin und her. Sie konnte das stundenlang tun, ohne dass ihr langweilig wurde. Aber an diesem Nachmittag hatte sie bald die Lust verloren und setzte sich in die Schaukel und beobachtete die Wolken, die langsam am Himmel vorbeizogen. Ihre Mutter stand oben am Fenster und beobachtete sie. Sie nahm gerade ein Handtuch aus dem Wäschekorb, um es über den Handtuchheizkörper im Bad zu hängen, als ihr eine Träne über die Wange lief. Sandra machte sich oft Sorgen, wie es weitergehen soll. Sie hatten fünfundzwanzig Jahre ihres Lebens das Haus mit einer Hypothek belastet und wussten nicht, ob sie das durchhalten würden. Sie hatte Angst vor der Zukunft; Angst davor, dass Frank weiterhin so viele Überstunden leisten muss, damit sie wenigstens annähernd so viel Geld haben, um über die Runden zu kommen. Und sie hatte Angst vor dem, was in Oldenburg passiert war, als Frank seinen Job verloren hatte. Er hatte etwas getan, was er hätte nicht tun dürfen, und sie fragte sich, ob sich eine ähnliche Situation nicht wiederholen könnte und er wieder seinen Job verlor. Dann müssten sie das Haus verkaufen und würden fast alles verlieren, was sie sich bis heute so schwer erkämpft haben.

»Das würdest Du nicht verstehen, Lucy. Zumindest noch nicht«, antwortete Sandra. Sie hatte den Wäschekorb in den Garten gebracht und war dabei die Wäsche aufzuhängen. Lucy schaute verträumt zu und nachdem ihre Mutter alles aufgehangen hatte, setzte sie sich zu ihr auf die Schaukel.

»Warum werde ich das nicht verstehen? Was hat Papa gemacht?« Lucys Augen schauten Sandra direkt an.

»Du weißt doch, dass Papa Lehrer an der Schule war, bevor wir umgezogen sind?«

»Ja«, Lucy nickte.

Sandra holte tief Luft, sie suchte nach Worten, mit denen sie einem achtjährigen Mädchen möglichst verständlich erklären konnte, was passiert war.

»In Papas Klasse gab es zwei Schüler – ich glaube Ahmet und Dimitri –, die Papa nicht besonders mochten. Die beiden hatten wohl irgendwie das Gefühl, ungerecht behandelt zu werden. Dabei hat Papa alle Schüler immer gleich behandelt.« Sandra schaute ihre Tochter an und Lucy erwiderte den Blick. Sie sah die Traurigkeit, die in den Augen ihrer Mutter lag.

»Es waren nur noch wenige Wochen bis zu den Sommerferien und Ahmet brauchte in der letzten Englischklausur mindestens eine drei, um auf dem Zeugnis keine fünf zu bekommen, denn dann wäre er sitzen geblieben.« Sandras Stimme bebte.

»Was heißt sitzen bleiben?«, fragte Lucy.

»Wenn man in der Schule sitzen bleibt, muss man das letzte Jahr wiederholen.« Sandra hielt kurz inne. »Auf jeden Fall ist genau das passiert. Ahmet musste die zehnte Klasse wiederholen und er gab Papa die Schuld daran, obwohl Papa ihm Nachhilfeunterricht angeboten hatte. Aber den wollte er nicht, da er seinen Lehrer nicht mochte. Und Dimitri war sein bester Kumpel, die haben alles zusammen gemacht. «

»Was ist dann passiert?«

Sandra kämpfte mit den Tränen und sah einen Moment lang hinauf in den Himmel, dann senkte sie ihren Blick wieder.

»An dem Tag nach der Englischklausur haben die beiden nach Schulschluss die Autoscheibe von Papas Auto eingeschlagen und Papa ist darauf zugekommen.« Jetzt liefen Sandra Tränen über die Wangen.

»Und dann ist Papa sauer geworden?«

Sandra ergriff Lucys Hand. »Ja, Schatz, das ist er«, ihre Stimme war tränenerfüllt und sie spürte, wie sich wieder der Kummer von damals in ihr ausbreitete. »Papa ist darauf zugekommen, als Ahmet gerade den Stein durch die Scheibe schlug und dann hat er die beiden geschlagen.«

Lucy nickte zustimmend. »Das hätte ich wohl auch gemacht.«

Sandra erschrak. Mit dieser Antwort hätte sie nicht gerechnet. »Aber das durfte er nicht, Schatz. Ein Lehrer darf seine Schüler nicht schlagen, auch nicht, wenn sie seine Autoscheibe einschlagen. Papa hätte die Polizei rufen müssen. Aber das hat er nicht. Und deswegen arbeitet Papa an dieser Schule nicht mehr und wir sind hier her gezogen.«

Für einen Moment schwiegen beide und Sandra versuchte sich daran zu erinnern, wie es wirklich gewesen ist. Die Wirklichkeit sah brutaler aus. Es war nicht so einfach, wie sie es ihrer kleinen Tochter mit verständlichen Worten erklärt hatte. Andreas hatte Ahmet und Dimitri nicht einfach nur geschlagen, er hatte sie regelrecht verprügelt. Ahmet musste für mehrere Tage ins Krankenhaus, weil er mehrere Platzwunden am Kopf, zwei gebrochene Rippen und unzählige Prellungen am Oberkörper hatte. Dagegen hatte Dimitri mehr Glück gehabt, er hatte nur ein blaues Auge davongetragen, weil er sich aus dem Staub gemacht hatte, während Andreas mit Ahmet beschäftigt war.

Aber Sandra hatte Angst. Andreas hatte ihr zwar versprochen, dass sich so ein Vorfall nie wieder ereignen wird, aber sie konnte dafür nicht ihre Hand ins Feuer legen. Und waren sie jetzt wirklich glücklicher? Nein, sie und Andreas waren es bestimmt nicht. Und Lucy – so dachte sie – wäre wohl auch lieber in Oldenburg geblieben. In Oldenburg hatten zwei Lehrerkollegen auch Kinder in Lucys Alter und dann war da noch der Kindergarten, in der sie jede Menge Freundinnen hatte. Aber hier gab es kaum Kinder in Lucys Alter und in der Schule hatte sich noch nicht recht Anschluss gefunden. Und es stimmte: Lucy war unglücklich, sie fühlte sich einsam. Besonders dann, wenn sie an ihre beiden besten Freundinnen Maja und Natalie dachte. So wie jetzt, als sie im Bad stand, sich die Zähne putzte und ihre Mutter in der Küche hörte.

Sie stellte den Zahnputzbecher und ihre Zahnbürste wieder auf den Waschbeckerrand, verließ das Bad und ging hinunter in die Küche. Ihr Vater blätterte gerade auf die letzte Seite der Tageszeitung, warf einen kurzen Blick darauf und legte sie zur Seite auf den Küchentisch.

»Guten Morgen, Lucy«, sagte er.

»Guten Morgen, Papa.« Lucy setzte sich an den Tisch.

Andreas stand auf, gab Sandra einen Abschiedskuss und wandte sich dann Lucy zu.

»Pass auf Mama auf«, sagte er mit einem Lächeln und gab Lucy einen Kuss auf die Stirn. Und Lucy, die nicht wusste, dass es ihr letzter Tag sein würde und sie ihren Vater nie wieder sieht, lächelte zurück und umarmte ihren Vater. Andreas liebte seine Tochter und seine Frau sehr und er wusste, dass er die beiden nie verlieren wollte. Er schätzte solche kurzen Momente von Glück, auch wenn sie nur für der Dauer einiger Sekunden waren.

Dann ging Andreas zur Tür, warf noch einen kurzen Blick auf die beiden und fuhr zur Arbeit.

Es war das letzte Mal, dass er seine Tochter lebend sah.

Drittes Kapitel

Schulweg

Benjamin Winter – der beste Freund von Frederic – saß auf einem Baumstumpf und rauchte eine Zigarette. Er atmete den Rauch tief in seine Lungen, lies ihn dort für einen kleinen Augenblick und atmete ihn langsam wieder aus. Um ihn herum bildete sich für einen kleinen Moment eine Wolke aus Qualm, die sofort im Wind verschwand. Ben saß fast jeden Morgen hier und wartete auf Frederic, bevor sich beide auf den Weg zur Schule machten.

Ben war wie Frederic ebenfalls fünfzehn und rauchte nur gelegentlich. Er rauchte nicht, weil er das Nikotin brauchte und war auch nicht süchtig – zumindest war er selbst davon überzeugt –, sondern es gab ihn das Gefühl des Älterseins, des Erwachsensein. Wenn er sich nachmittags mit seinen Freunden traf – meistens mit Frederic und seit ein paar Monaten waren auch Cathy und Sarah dabei – rauchten sie alle. Ben hatte damit angefangen, als er von seinem Vater ein paar Zigaretten genommen hatte und sie heimlich rauchte. Er konnte sich noch genau daran erinnern, wie schlecht ihm davon geworden ist und dass er sich fast übergeben musste. Er hatte sich die Zigaretten eines nachts aus der Schachtel unten aus der Kommode genommen, auf dem das Telefon steht, nachdem seine Eltern bereits geschlafen hatten. Ben war wach geworden, weil er auf Toilette musste und hat diese Gelegenheit genutzt. Nachdem er auf der Toilette war, schlich er lautlos in die offene Küche und öffnete die oberste Schublade der Kommode, in der drei verschlossene und zwei offene Zigarettenschachteln lagen. Er nahm aus jeder Schachtel drei Zigaretten heraus und schob die Schublade wieder zu. Er schaute zur Treppe hinauf, um sicherzugehen, dass seine Eltern weiterhin schliefen. Es war alles ruhig. Ben steckte sich die Zigaretten in seine Tasche vom Schlafanzug und schlich wieder nach oben. Seine Eltern schliefen in der ersten Etage und Benjamin hatte sein Zimmer im ausgebauten Dachgeschoss. Als er wieder in seinem Zimmer war, legte er die Zigaretten in eine seiner Schreibtischschubladen und legte einige Blätter Papier darüber. Dann ging er wieder ins Bett. Am nächsten Morgen zündete er auf dem Schulweg eine der Zigaretten an, bevor er sich mit Frederic traf, und inhalierte langsam den Rauch. Er hustete ein wenig und zog ein zweites Mal an der Zigarette. Dann überkam ihm sehr plötzlich ein Schwindelgefühl und fast im selben Moment überkam ihm die Übelkeit. Er warf die Zigarette weg und einige Minuten später war die Welt wieder in Ordnung. Zwei Tage später wollte er es noch einmal probieren. Auf dem Weg zum Waldesrand, wo er sich jeden Morgen mit Frederic am großen Baumstumpf traf, zündete er sich wieder eine Zigarette an und war darauf gefasst, dass ihm gleich wieder übel werden würde und das Gefühl verspüren würde , als müsse er sich jeden Moment übergeben. Für einen kurzen Moment war ihm, als müsse er sich wirklich übergeben; dann atmete er den Rauch wieder aus und Ben verspürte ein ungewohntes Glücksgefühl.

Als sich sein Vater wieder einmal mehrere Schachteln gekauft hatte – er kaufte sich am Monatsanfang immer den Vorrat für einen Monat – nahm er sich eine Schachtel und brachte sie am Nachmittag mit. Es war ein ziemlich heißer Sommertag in den Ferien, an dem sich Frederic und Ben im Wald getroffen haben und an dem auch Frederic zum ersten Mal an einer Zigarette zog. Sie saßen beide nebeneinander auf einem Fels, der in mitten des Waldes an einer kleinen Lichtung stand. Ein kleiner, schmaler Pfad führte dorthin. Frederic fand es irgendwie immer faszinierend, den Pfad entlang zu gehen. Der Pfad begann am Rand des Waldes und er kam jeden Morgen an ihm vorbei, wenn er auf dem Weg zur Schule war und sich zuvor noch mit Ben traf. Es war eine seltsame Atmosphäre. Die Kronen der Bäume hingen ineinander und gaben so das Gefühl, als wäre der Pfad eine Art Tunnel. Unter ihm sammelten sich langsam mehrere tote Zweige und Äste, die eine dicke Schicht Totholz bildeten. Die Luft wirkte hier anders, irgendwie leichter, sie erinnerte ihn an ein Ereignis, das ein paar Jahre zurück lag. Er war mit seinen Eltern auf den Rückweg vom Geburtstag seiner Oma, als sie auf der Landstraße spät abends eine Autopanne hatten. Der Motor war ausgegangen und sie hielten am Straßenrand, rechts und links von ihnen gab es nur Wald. Sein Vater hatte den ADAC gerufen, aber es dauerte fast zwei Stunden, bis ihnen geholfen wurde. Ben war ausgestiegen und am Waldrand entlanggegangen. Langsam hatte sich ein seltsames Gefühl in ihn eingeschlichen, der Wald hatte eine seltsame Atmosphäre in der Dunkelheit. Es gab kein Licht und die Bäume waren kaum zu erkennen. Und hier war das Gefühl ähnlich, merkwürdig aber durchaus nicht unangenehm.

Ben fasste in seine Hosentasche und zog eine Packung Marlboro heraus. Er nahm sich eine Zigarette, steckte sie sich in den rechten Mundwinkel und hielt Frederic die Schachtel hin.

»Du rauchst?«, fragte er überrascht.

»Hin und wieder. Möchtest Du auch?«, antwortete Ben.

Frederic zögerte, er wusste nicht genau, ob er sich auch eine nehmen sollte. Er hatte sich damit nie befasst. Seine Mutter rauchte nicht und er kannte auch in seiner Verwandtschaft niemanden, der rauchte. Aber die Versuchung war groß.

»Ja.«, sagte er und nahm sich eine Zigarette aus der Packung. Frederic schaute zu Ben, der eine Schachtel Streichhölzer in der Hand hielt. Er nahm sich einen Streichholz aus der Schachtel und schaute kurz verträumt in den Himmel. Dann zündete er den Streichholz hinter seinen Handrücken an, um die Flamme vor dem Wind zu schützen. Mit einer zügigen Bewegung rieb er das Streichholz an der Packung und es roch kurz nach Schwefel. Frederic sah, wie die Flamme hinter dem Handrücken hin und her tanzte und war für einen Augenblick wie gefesselt. Auch er roch den Schwefel, der dann im Wind verschwand. Bens Zigarette begann zu glühen und er hielt den noch brennenden Streichholz zu Frederic , der für den Bruchteil einer Sekunde nur in die Flamme sah und nichts um ihn herum realisierte. Für einen Moment dachte er an Glühwürmchen, die er nachts stundenlang beobachten konnte, weil er sie so faszinierend fand.

Dann kehrte sein Verstand zurück und er zündete sich seine Zigarette an.

Cathy und Sarah, die beiden Mädchen, die seit einigen Monaten einige ihrer Nachmittage mit Frederic und Ben verbrachten, gingen an diesem Morgen die Gartenstraße entlang. Sie gingen – ohne dass es abgesprochen war – fast im Gleichschritt. Sie waren wie Frederic und Ben und die anderen Kinder unterwegs zur Schule in der Thalstraße.

Cathy war fünfzehn und ist erst gegen Ende des letzten Schuljahres mit ihrer Mutter nach Erfweiler gezogen. Ihr Vater lebte weiterhin in München. Nachdem sich ihre Eltern haben scheiden lassen, war Cathy in ein tiefes, schwarzes Loch gefallen. Sie hatte in der Vergangenheit zwar immer wieder bemerkt, dass sich ihre Mutter und ihr Vater nicht mehr so verstanden und sich öfter stritten, aber an das böse S-WORT hatte sie nie gedacht. Ihr Verstand wollte es einfach nicht wahrhaben und sie wollte auch nicht darüber nachdenken, weil sie in ihrem Wunschdenken fest davon überzeugt war, dass das nur eine Phase ist und sich ihre Eltern wieder zusammenraufen, wie sie es immer getan haben. Denn das böse S-WORT hatte für Cathy immer etwas Grauenvolles an sich. Wie große bedrohliche Schlangen, die lauernd bedrohlich über ihrer Familie hing.

Es war an einem kalten Märztag, als ihr Mutter zu ihr ins Zimmer kam und ihr erklären wollte, warum Mama und Papa nicht mehr zusammen leben können und nachdem sie das böse S-WORT ausgesprochen hatte, ist Cathy in einen hysterischen Anfall von Heulkrämpfen gefallen.

Mit dem neuen Schuljahr wird alles besser werden, hatte ihre Mutter ein paar Tage später zu ihr gesagt. Wir werden eine neue Wohnung haben, leben in einer neuen Stadt und Du wirst viele neue Freunde finden und bald wirst Du dich an alles gewöhnt haben. Für Cathy klang das alles wie pure Ironie; sie glaubte das alles nicht, sie wollte sich an nichts Neues gewöhnen. Sie wollte auch nicht wegziehen, sie wollte keine neuen Freunde. Sie wollte mit ihrer Mutter und ihren Vater in München bleiben. Und sie konnte und wollte nicht begreifen, warum das nicht möglich war.

Cathy hatte oft gehört, wie sich ihre Eltern gegenseitig angeschrien haben, begriff aber nie, warum sie das taten. Einmal haben sie sich über das Fernsehprogramm gestritten, einmal darüber, dass sich ihr Vater nach der Arbeit auf das Sofa gesetzt hat und ein Bier zum Feierabend getrunken hat. Das waren Dinge, die für Cathy niemals Anlass gewesen wären zu streiten.

Aber sie spürte irgendetwas, sie konnte es nicht einordnen, es war ein merkwürdiges Gefühl von Distanz, insbesondere bei ihrer Mutter. Es war, als würde etwas Unsichtbares zwischen den beiden stehen. Irgendetwas, was Teil einer komplexeren Gedankenwelt war, die sie nicht wirklich deuten konnte und nur als Stimmungen wahrnahm. Auch jetzt – einige Monate später – konnte sie die Gründe für die Scheidung ihrer Eltern, diese komplexe Gedankenwelt der Erwachsenen, nicht verstehen.

Der Umzug von München nach Erfweiler war sehr chaotisch und in ihren Erinnerungen lag irgendwie Magie in der Luft, vielleicht, weil der Tag wirklich etwas Magisches hatte, vielleicht aber auch, weil von diesem Tag an ein völlig neuer Lebensabschnitt für Cathy und ihrer Mutter beginnen würde. Sie waren bereits um fünf Uhr morgens aufgestanden und hatten kurz danach begonnen (mit Hilfe mehrerer Arbeitskollegen ihrer Mutter), die Möbel, die ihre Mutter – nach einem zum größten Teil kriegerischen Streit mit ihrem Vater – behalten sollte, in den LKW zu laden. Und am Abend gegen neun Uhr fiel Cathy in ihr Bett im neuen zuhause. Die Betten waren das erste und einzige, was sie an diesem Tag aufgebaut hatten. Cathy und ihre Mutter waren müde, erschöpft und einfach nur fertig. Cathy legte sich in ihr Bett und schlief sofort ein.

In den nächsten zwei Wochen gab es weder Ruhe noch Alltag; sie waren vollends damit beschäftigt, die Möbel aufzubauen, die Kartons auszupacken und alles einzuräumen. Eine Wand in Cathys Zimmer bekam einen grünen Anstrich und im Schlafzimmer ihrer Mutter wurde eine Wand weinrot gestrichen. Ansonsten ereignete sich bis zu Cathys ersten Schultag in der Schule an der Thalstraße nichts von Bedeutung.

An ihrem ersten Tag an der neuen Schule lernte sie Sarah kennen. Sarah war gerade fünfzehn geworden und ging wie Cathy in die neunte Klasse. Sarah trug an diesen Tag eine blaue Jeans und ein schwarzes Oberteil mit einigen silbernen Verzierungen am Ausschnitt. Sie wirkte recht unauffällig, wie sie jeden Tag wirkte. Sie saß ganz hinten links in der Klasse, als Cathy hereinkam. Sarah hatte keine richtigen Freunde; sie wusste nicht, woran das lag, sie dachte oft darüber nach, fand aber keine Antwort. Oft lag sie abends in ihrem Bett und dachte nach – es waren die Momente, in denen sie sich wirklich alleine fühlte. Sarah war eine Einzelgängerin. Sie hatte einmal gehört, dass jede vernünftige Schule wenigstens zwei dieser Einzelgänger hat, die in ihrem Wesen und ihrer Persönlichkeit so unterschiedlich sind, dass sie sich nicht einander anfreunden konnten und wollten. Diese Personen dienten ihren Mitschülern dafür, ihren Frust an ihnen abzubauen, sooft und wann immer sie wollten. Und wenn man für irgendetwas einen Schuldigen suchte, dann war es eben einer dieser Außenseiter.

In der letzten Nacht war es besonders schlimm. Nach dem Abendessen war Sarah in ihr Zimmer gegangen und legte sich auf ihr Bett. Sie lehnte sich zurück, verschränkte die Arme hinter ihrem Kopf und versuchte, ihre Gedanken zu ordnen. Ihre Augen wirkten leer – fast beängstigend – und starrten zur Decke. Sie dachte an die letzten beiden Monate, die wirklich schlimm waren. Es gab niemanden, mit dem sie hätte etwas unternehmen können oder dem sie sich anvertrauen konnte. Die Schule war oft eine Qual, ihre Mitschüler ignorierten sie und wenn sie einmal nicht ignoriert wurde, dann nur, damit sich die anderen einen Scherz auf ihre Kosten erlauben konnten. Was mache ich falsch? Bin ich anders als die anderen? Bin ich zu schüchtern oder brauchen die anderen Schüler nur jemanden, auf dem sie herumhacken können?

Dann kam ein Geräusch von der Treppe und Sarah lauschte. Es war ihre Mutter, die nach oben kam. Wenn man fünfzehn Jahre mit den gleichen Menschen zusammenwohnt, erkennt man die Person allein daran, wie sie die Treppe gehen.

»Ist alles in Ordnung mit Dir, Sarah?«, fragte ihre Mutter, dann öffnete sie die Tür zu ihrem Zimmer. »Du warst beim Essen vorhin so komisch.«

Für einen Moment hörte sie unerklärliches Vogelgezwitscher in ihren Ohren, dann schaute sie ihre Mutter an.

Natürlich ist alles in Ordnung, Mutter! Was soll denn schon sein? Ich langweile mich zu Tode, habe keine Freunde, in der Klasse werde ich ignoriert, als würde ich gar nicht existieren, aber sonst ist alles in Ordnung! Für einen kurzen Moment dachte sie daran, es auszusprechen, ihrer Mutter es direkt ins Gesicht zu sagen. Das würde den glücklichen Ausdruck in ihren Augen zusammenbrechen lassen. Wie entsetzt sie wohl aussehen würde, wenn sie all das sagen würde, was sie dachte? Ihr Gesicht würde zu einer hässlichen Maske zusammenfallen und sie wäre erstarrt wie eine Statue.

Wenn in der Schule jemand mit mir redet, dann nur, um mich mal wieder fertig zu machen oder um mir zu sagen, wie scheiße ich bin.

»Alles in Ordnung, Mama.« Sarahs Stimme klang tonlos.

»Wirklich? Wenn irgendetwas ist, dann sagst Du mir das doch, oder Schatz?«

»Natürlich, Mama. Alles ist gut.« Dieser Satz klang in Sarahs Kopf wie purer Hohn, es war gar nichts gut. Ihre Mutter verschloss die Tür und ging wieder in die Küche.

Die Schulklingel läutete, um den Beginn der ersten Stunde anzukündigen und Cathy öffnete die Tür zum Klassenzimmer.

»Ist das die 9b?«, fragte Cathy und sah sich um.

»Ja. Du musst Catharina Wildmann sein.«, sagte Frau Reiners, die Klassenlehrerin. Cathy spürte Unbehagen. Da saßen lauter unbekannte Gesichter vor ihr. »Setz Dich doch neben Sarah in der hinteren Reihe links.« Frau Reiners wies auf den leeren Platz neben Sarah Beenke. Cathy ging zwischen den Tischreihen mit den ganzen unbekannten Gesichtern hindurch und setzte sich zu Sarah.

»Kannst Du dich kurz vorstellen, Catharina?«, fragte Frau Reiners und setzte ein künstliches Lächeln auf.

»Ja«, antwortete Cathy und sah sich wieder in der Klasse um. »Ich bin Cathy, fünfzehn Jahre alt und ich bin gerade mit meiner Mutter aus München hergezogen.« Sie hoffte, dass niemand aus der Klasse fragen würde, wo denn ihr Vater sei; sie wollte die ganze Geschichte, die sie sowieso schon beschäftigte und über die sie ständig nachdachte, ohne das Ganze zu verstehen, nicht der gesamten Klasse erzählen. Frau Reiners sah Cathy kurz an, setzte wieder ihr künstliches Lächeln auf und wandte sich dann der Klasse zu.

»Warum seid ihr aus München weggezogen?«, flüsterte Sarah Cathy zu, nachdem Frau Reiners ihre Aufmerksamkeit vollends der Klasse geschenkt hatte.

»Meine Eltern haben sich scheiden lassen«, flüsterte Cathy trocken zurück. Da war es wieder, dieses böse S-WORT. Das Wort, das sie zwar kannte aber dessen Hintergründe, die zur komplexeren Gedankenwelt der Erwachsenen gehörte, für sie nicht greifbar waren. Das Wort, das eine ständige Bedrohung für sie darstellte und gefährlich über ihr hing wie große violette Buchstaben und dann letztendlich wirklich zur grausamen Realität wurde. Aber bei Sarah störte es Cathy nicht, dass sie gefragt hatte. Sarah durfte das fragen, auf eine ihr unerklärliche Weise war es bei Sarah anders. Jedem anderen Menschen hätte sie auf diese Frage nicht geantwortet, aber hier war es okay.

»Oh«, Sarah suchte nach den richtigen Worten, »tut mir leid für Dich.«

»Ist schon okay«, flüsterte Cathy Sarah zu und sie spürte, wie ihr ein eiskalter Schauer den Rücken runter lief. Es war nicht okay. Aber sie wusste nicht, was sie sonst hätte sagen sollen; sie wollte Sarah nicht die ganze Wahrheit erzählen, zumindest noch nicht.

Ben nahm den letzten Zug seiner Zigarette und schnipste sie dann mit Daumen und Zeigefinger weg. Der Rauch des letzten Zuges kam langsam aus seinem Mund und verschwand im Wind. Er stand vom Baumstumpf auf und schaute den Weg entlang, den Frederic gleich kommen müsste. Die Sonne blendete ihn und er kniff die Augen zusammen. Rechts von ihm erstreckte sich der Waldrand, die auch für Ben wie das Tor in eine andere Welt schien. Wahrscheinlich, weil es der größte zusammenhängende Wald in Deutschland war und für Ben und Frederic erschien er unendlich groß. Frederic wusste viel über den Wald. Sein Großvater hatte ihm viel darüber erzählt und er erzählte es Ben, Cathy und Sarah. Die meisten der Geschichten glaubte Ben nicht, da es alte Sagen waren, die schon über dreihundert Jahre alt sein mochten. Aber an Faszination hatten diese Geschichten nichts verloren. Ben mochte es, wenn Frederic erzählte, was er von seinem Großvater wusste. Und auch Cathy und Sarah waren fasziniert von den Erzählungen.

Auf der anderen Seite erstreckte sich ein großes Maisfeld, das kurz vor der Ernte war. Weiter entfernt konnte Ben einen Schatten erkennen, der auf dem Weg auf ihn zukam. Ben versuchte, zu erkennen, wer es war, sah aber nur den Schatten. Er sah kurz zum Himmel, beobachtete die weißen Quellwolken, die langsam am sonst blauen Himmel vorbeizogen und schaute wieder auf den Weg. Seine Hand fuhr fast unbewusst in seine Jackentasche und zog seine Schachtel Marlboro hervor. Er nahm sich eine heraus, steckte sie sich nach kurzen Zögern in den Mund und zündete sie sich an. Dann ging er Frederic entgegen.

»Hallo«, sagte Frederic, als sie sich begegneten.

Ben erwiderte den Gruß und sie gingen beide in die Richtung, aus der Ben gekommen war.

Zehn Minuten später erreichten sie das Schulgelände. Obwohl die Sonne noch nicht sehr hoch stand, war es schon recht warm; nicht so warm wie die letzten Tage, aber immer noch warm genug für September. Es war einer der wärmsten September, an die sich Frederic erinnern konnte. Die September der letzten Jahre waren eher zu kühl, stürmisch und verregnet.

Cathy und Sarah, die die Gartenstraße mittlerweile verlassen hatten und weiter auf der Thalstraße liefen, sahen Frederic und Ben schon von weitem.

»Hey Ben«, rief Cathy von der anderen Straßenseite und spürte, wie ihre Stimmbänder bebten.

»Hallo Cathy, hallo Sarah«, rief Ben zurück.

»Hallo ihr beiden«, ergänzte Frederic. Er sah zu den beiden Mädchen hinüber, die jetzt zu ihnen über die Straße liefen und auf einmal musste er daran denken, wie sie die beiden Mädchen kennen gelernt haben. Es war gegen Ende des letzten Schuljahres, an dem Tag, an dem Cathy in Sarahs Klasse kam, nachdem sie mit ihrer Mutter nach Erfweiler gezogen waren. Cathy und Sarah standen auf dem Schulhof und unterhielten sich. Sarah war froh, in der Schule endlich eine vernünftige Unterhaltung mit einen ihrer Mitschüler zu führen. Vielleicht werden wir ja Freundinninnen, dachte Sarah, die sich nichts sehnlicher wünschte, als endlich eine echte Freundin zu haben. Viel zu lange war sie alleine in der Schule. Als Frederic und Ben auf die beiden zukamen, konnte man wirklich den Eindruck haben, als unterhielten sich hier zwei Freundinninnen, die sich lange nicht gesehen haben. Einige Tage später hat Frederic von Sarah erfahren, dass Cathy zugezogen ist und neu in ihrer Klasse war. Ben hatte sein Feuerzeug vergessen und ist zu den beiden Mädchen auf den Schulhof gegangen, um die beiden nach Feuer zu fragen.

»Hallo. Hat einer von euch beiden zufällig ein Feuerzeug dabei?«, hatte Ben gefragt. Etwas erschrocken haben sich die beiden Mädchen umgedreht und Sarah griff in ihre Hosentasche, um Ben eine Schachtel Streichhölzer zu geben. Was für ein Glückstag. Erst eine tolle Unterhaltung mit Cathy und dann werde ich von einem Jungen angesprochen. Sarah spürte Glücksgefühle im ganzen Körper.

»Raucht ihr beiden etwa?«, fragte sie, wobei fast ihre Stimme weggeblieben wäre.

»Gelegentlich«, antwortete Frederic und Ben pflichtete ihm bei.

»Wo geht ihr denn hin zum Rauchen?« Sarah konnte ihr Glück kaum fassen. Noch gestern lag sie todtraurig in ihrem Bett und dachte über sich nach.

»Wir gehen da rüber zum Spielplatz und rauchen unter den Bäumen.« Ben zeigte zu den Bäumen, unter denen sie immer rauchten.

»Habt ihr auch eine für mich?«, fragte Cathy.

»Selbstverständlich«, Ben suchte kurz in seiner Tasche und hielt den beiden die Schachtel hin. Cathy nahm sich eine Zigarette und lies sie in ihrer Hand verschwinden. Sarah wirkte überrascht, aber auch sie nahm sich eine Zigarette aus der Packung.

Frederic sah Sarah kurz an und erschrak, als Sarah in diesem Moment genau das gleiche tat. Ihr Blick traf ihn vollkommen unvorbereitet und für einen Moment dachte Frederic, er bekäme keine Luft mehr. Er hatte Sarah schon einige Male auf dem Schulhof gesehen und er wusste, dass sie nicht besonders beliebt war, was er sich nicht erklären konnte. Frederic hatte sich bisher keine Gedanken darüber gemacht, Sarah war eine von ungefähr dreihundert Schülern, die hier zur Schule gingen. Aber in diesem Augenblick, als sich ihre Blicke trafen, dachte er daran und verstand nicht, warum Sarah so unbeliebt war. Er sah ihre Augen entdeckte etwas Klares, etwas, was er sich nicht erklären konnte. Frederic spürte in seinem Magen ein eigenartiges Gefühl, so etwas wie Unbehagen, das aber dennoch angenehm war.

Dann sah er zu Ben, der gerade gehen wollte. Der Blickkontakt mit Sarah war zwar vorbei, aber das Gefühl blieb. Ben und Cathy gingen vor ihm und Sarah und er dachte die ganze Zeit an den Moment, als sich ihre Blicke trafen. Eine Minute später standen sie unter den Bäumen, die zwischen dem Schulhof und dem angrenzenden Spielplatz stehen und rauchten. Sarah hatte den anderen drei die Schachtel Streichhölzer gegeben und sich selbst ihre Zigarette zuletzt angezündet. Sie nahm einen Zug und hustete.

Frederic versuchte sich zu erinnern, worüber sie sich unterhalten haben, doch seine Gedanken rissen ab. Cathy und Sarah waren von der anderen Straßenseite herübergerannt. Er wusste nur noch, dass er sie während sie unter den Bäumen standen gefragt hatte, ob sie sich nicht nachmittags treffen wollten und Sarah war sofort begeistert. Sarah umarmte Frederic und Ben kurz und Cathy tat es ihr gleich. Dann gingen sie ins Schulgebäude. Frederic hatte kurz mit dem Gedanken gespielt, Ben von seinem Traum letzte Nacht zu erzählen, tat es aber nicht. Er erinnerte sich zwar noch sehr genau an seinen Alptraum – und zwar in allen Einzelheiten –, aber er fand keine Bezugspunkte zur Realität. Das Gefühl, dass es kein gewöhnlicher Traum war, war nach wie vor vorhanden, aber Frederic sah keinen Grund, Ben jetzt davon zu erzählen. Die panische Angst in der letzten Nacht erschien auf einmal unbegründet – er hatte sie einfach verdrängt. Mit einem Ladendiebstahl eines Schokoriegels als er acht war, war es ihm ähnlich ergangen. Beides Ereignisse mit einer seltsamen Resonanz, die mehrere Tage mitschwingt.

Viertes Kapitel

Der Treffpunkt im Wald