Hinter der Maske des Teufels - Markus Scheble - E-Book

Hinter der Maske des Teufels E-Book

Markus Scheble

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Beschreibung

Der Mord an einem Münchner Fotomodell gibt der toughen Kommissarin Sophie Keller Rätsel auf. Nicht der kleinste Hinweis deutet darauf hin, warum der Killer seinem Opfer das Herz brutal aus dem Leib gerissen hat und wie er nach der Tat spurlos aus der Wohnung im siebten Stock verschwinden konnte. Der Druck auf Sophie wächst, als weitere Morde folgen. Und schließlich gerät sie selbst ins Visier des Serienkillers ...

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Seitenzahl: 411

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Kapitel Eins

Sophie Keller trat durch die stählerne Brandschutztüre hinaus aufs Dach. Dicke Regentropfen fielen aus den dunkelgrauen Wolken. Ihr Kleid war schon nach kurzer Zeit durchnässt, doch das interessierte sie nicht. Ihr Blick fixierte den Rand des Daches. Alles in ihr schrie: »Kehr um!«. Doch sie ignorierte die Stimmen und schritt langsam vorwärts über den regenfeuchten Asphalt, der das oberste Stockwerk des Hochhauses bedeckte. Aus unzähligen Entlüftungsrohren strömte Dampf, der sich mit dem Dunst der Großstadt mischte und sich schließlich in nichts auflöste. Wie automatisiert bewegte sich Sophie vorwärts. Irgendwo flogen Tauben auf. Sophie zuckte beim flatternden Geräusch des Flügelschlages zusammen, doch ihre Augen starrten weiterhin gebannt auf den Rand des Daches. Wie in Trance bewegte sie sich darauf zu. Mit jedem Schritt beschleunigte sich ihr Puls. Noch einmal wandte sie sich um und warf einen Blick auf die Stahltür, die Sicherheit versprach, doch ihre Beine trugen sie langsam weiter auf den Abgrund zu. Das blonde Haar hing ihr in nassen Strähnen ins Gesicht und der Regen wusch ihre Schminke ab, die wie schwarze Tränen auf den hellen Stoff ihres Kleides tropfte. Heftig atmend erreichte sie den Rand. Nach kurzem Zögern stieg sie auf die verblechte Ummauerung. Sophies Augen wanderten über die Dächer der Stadt. In der Ferne konnte sie im Regenschleier undeutlich die beiden Türme der Frauenkirche ausmachen. Für einen kurzen Augenblick zögerte sie, dann senkte sie den Kopf und zwang ihren Blick nach unten. Elf Stockwerke tiefer liefen Menschen mit Regenschirmen über die Straße und die Lichter des Feierabendverkehrs brachen sich im Dunst. Niemand sah nach oben, niemand ahnte, dass sie hier stand. Allein im Regen. Sophie spürte, wie es an ihr zog und zerrte. Eine unsichtbare Kraft, die alles daransetzte, sie in den Abgrund zu reißen. Sie spannte alle Muskeln an und ballte die Fäuste, bis die Knöchel weiß hervortraten. Doch die Tiefe war wie ein Sog, dem sie nichts entgegenzusetzen hatte. Vor ihren Augen verschwamm das Bild der Großstadt und sie stieß einen lautlosen Schrei aus, während ihr Körper nach vorne kippte. Sie wollte sich festhalten, irgendwo festkrallen, doch ihre Muskeln waren wie paralysiert. Und dann fiel sie. Tiefer und tiefer. Ihr war bewusst, dass sie in einem kurzen Augenblick auf der Straße zerschellen musste, ahnte bereits, an welcher Stelle sie aufschlagen würde. Sophie wollte schreien, doch noch immer brachte sie keinen Ton heraus. Sie fragte sich, was wohl ihre letzte Empfindung sein würde. Schmerz? Erlösung? Der Boden raste auf sie zu …

Dann wachte sie auf. Sie setzte sich schwer atmend an den Bettrand und griff sich an die Brust. Ihr Herz pochte wie verrückt und sie brauchte einen Moment, bis sie realisierte, dass es nur ein Albtraum gewesen war. Wieder. Sie hatte immer wieder denselben Traum. Erschöpft fuhr sie sich durch die Haare. Sie blieb noch einen Augenblick sitzen und sah auf das Display ihres Radioweckers. Es war halb sechs. Eigentlich zu früh zum Aufstehen, aber Schlaf würde sie jetzt sowieso nicht mehr finden. Sie stand auf, ging in die Küche und trank ein Glas Leitungswasser. Sophie war wütend. Seit der quälende Albtraum sie zum ersten Mal heimgesucht hatte, zermarterte sie sich das Hirn, was es damit auf sich haben könnte. Es blieb ihr ein Rätsel. Sie zog einen Stuhl unter dem Küchentisch hervor, setzte sich kopfschüttelnd und zündete sich eine Zigarette an. Draußen war es immer noch dunkel. Die Sonne würde erst in einer guten Stunde aufgehen. Es war nicht mehr richtig Winter, doch die warme Jahreszeit, die sie so liebte, lag noch in weiter Ferne. Vielleicht war sie deshalb so depressiv. Vielleicht lag es aber auch daran, dass Daniel vor einer Woche mit ihr Schluss gemacht hatte. Dieser Idiot. Sicher, sie verstand ja, dass ihr Schichtdienst bei der Polizei nicht einfach für eine Partnerschaft war, aber musste er sich deswegen gleich eine andere anlachen? Sophie drückte die Zigarette aus und schlich müde ins Badezimmer. Ein kurzer Blick in den Spiegel genügte. Sie sah furchtbar aus. Sie zog das schweißnasse Shirt aus und ging unter die Dusche. Das warme Wasser entspannte ihre verkrampften Muskeln und ihr Pulsschlag normalisierte sich allmählich. Sophie atmete tief durch. Es war an der Zeit, ihren Ex abzuhaken und nach vorne zu schauen.

Nach dem Duschen wischte sie den beschlagenen Spiegel frei, doch noch immer blickte ihr ein müdes Gesicht entgegen. Sie zwang sich zu einem künstlichen und völlig übertriebenen Lächeln, stellte fest, dass das nicht sie war, versuchte es mit einem grimmigen Ausdruck und kapitulierte schließlich mit einem »Fuck you!«.

Sie schlüpfte in ihre Jeans, zog sich ein Motörhead T-Shirt an und machte sich eine Tasse Kaffee, die sie im Stehen trank. Sie sah aus dem Fenster und beobachtete, wie sich im Osten die Silhouette der Stadt vom heller werdenden Himmel abhob.

Dann schlüpfte Sophie in ihre neuen Doc Martens Rockabilly Boots, warf sich ihre Lederjacke über und verließ die Wohnung. Im Treppenhaus konnte sie hören, wie sich das Ehepaar in der Nachbarwohnung wieder einmal lautstark stritt. Sophie wusste, dass ihr Nachbar, ein fetter, ungepflegter Drecksack, gerne trank und sich dann häufig an seiner Frau abreagierte. Aber so früh am Morgen? Sie blieb noch einen kurzen Moment stehen und lauschte, doch anscheinend hatte sich die Situation schon wieder beruhigt, denn jetzt war es still. Kopfschüttelnd machte sich Sophie auf den Weg. So etwas sollte mal ein Kerl mit ihr versuchen.

Sie brauchte etwa fünfzehn Minuten zu Fuß bis zum Kommissariat in der Türkenstraße. Auf halbem Weg kaufte sie sich in einer Bäckerei einen Bagel, den sie im Gehen hinunterschlang.

Sophie Keller betrat die Dienststelle und stapfte verdrossen die Treppe in den ersten Stock hinauf in ihr Büro.

Thomas Brendel, ihr Kollege, hob überrascht die Augenbrauen und sah auf seine Armbanduhr. »Du bist früh dran heute.«

Sophie konnte Brendel, der ihr erst vor Kurzem zugeteilt worden war, nicht besonders leiden. Mit seinen mausgrauen Anzügen, den konservativen Krawatten, seiner Ordnungsliebe und der spießigen Art, verkörperte er alles, was ihr gegen den Strich ging. Sophie zwang sich zu einem Lächeln.

»Guten Morgen, Tom.« Sie wusste, dass er die Abkürzung seines Namens hasste, und nannte ihn deshalb immer so. »Was liegt an?«

Brendel zog den Kopf ein. Obwohl er erst wenige Wochen mit Sophie zusammenarbeitete, hatte er ihre Launen schon zur Genüge kennengelernt. Und ihr Tonfall verhieß heute nichts Gutes.

Er räusperte sich und bemühte sich, sie seine Verunsicherung nicht spüren zu lassen. »Du brauchst deine Jacke erst gar nicht auszuziehen, wir haben einen Mord.«

Sophie verzog gequält das Gesicht. »Ist es nicht ein bisschen früh für einen Mord?«

Brendel lag auf der Zunge, ihr zu entgegnen: »Du kannst dich ja beim Mörder beschweren, wenn wir ihn geschnappt haben«, aber er entschied sich im letzten Moment, seine Chefin nicht unnötig zu reizen, und ließ ihre Frage unbeantwortet.

Sophie griff sich den Autoschlüssel vom Schreibtisch und holte ihre Dienstwaffe aus dem Spind.

»Dann los«, herrschte sie Brendel an und wandte sich zur Tür. Im Gehen murmelte sie verdrossen: »Oh Mann, der Tag geht ja schon richtig scheiße los.«

Kurze Zeit später standen sie im siebten Stock eines Münchner Wohnhauses vor einer offenen Tür, aus der ein Kollege von der Landespolizei heraustrat und sie wortlos mit einem Nicken grüßte.

»Eine schöne Schweinerei haben wir hier«, sagte er ernst und ging voraus zurück in die Wohnung. »Ich weiß nicht, ob ihr von der KPI so etwas gewohnt seid, aber mir dreht es den Magen um.«

Er führte die beiden ins Schlafzimmer, in dem bereits die Kriminaltechniker zugange waren und erste Spuren sicherten. Auf dem französischen Bett lag die Leiche einer jungen, schönen Frau in einer Blutlache. Die Tote war unbekleidet und in ihrer Brust klaffte ein faustgroßes Loch.

Der Polizist deutete fassungslos auf die tote Frau. »Ihr Herz wurde herausgeschnitten.« Er nahm seine Dienstmütze ab, wischte sich mit dem Ärmel über die Stirn und fügte kopfschüttelnd hinzu: »Wer macht so etwas?«

Sophie legte ihm ihre Hand auf die Schulter. »Gehen Sie schon mal vor in die Küche. Wir kommen gleich nach.«

Dankbar verließ der Polizist den Raum.

Sophie trat näher an die Tote, die mit offenen Augen an die Decke starrte. Ihr Körper war über und über mit Blut besudelt, das mittlerweile schwarz und krustig aussah. Auch die Wände und sogar die Decke wiesen Blutspritzer auf. Ein Beamter der Spurensicherung drehte die Ermordete kurz auf die Seite, um den Rücken nach weiteren Einstichen zu untersuchen. Die Unterseite der Leiche war mit dunklen, schwarz-violetten Flecken übersät, die entstehen, wenn sich das Blut nach dem Tod durch die Schwerkraft an den tiefen Stellen absetzt. Sophie schätzte das Alter der Ermordeten auf Anfang zwanzig.

»Könnt ihr schon was zum Todeszeitpunkt sagen?«, wandte sie sich an die Kollegen von der Kriminaltechnik und einer der Männer antwortete: »Ich würde schätzen dreißig bis fünfunddreißig Stunden. Aber genau kann ich es erst nach der Obduktion sagen.«

»Habt ihr schon das Herz gefunden?«

Der Kollege im weißen Overall schüttelte den Kopf. »Nein, das hat der Täter vermutlich als Souvenir mitgenommen.«

Sophie schluckte. »Verdammte Scheiße. Was ist das wieder für ein krankes Arschloch?«

Sie verließ das Schlafzimmer und ging hinüber in die Küche, wo der Kollege von der Landespolizei auf sie wartete. »Was haben wir?«

Der Uniformierte holte einen kleinen Schreibblock heraus und fasste zusammen: »Gestern ging bei uns auf der Dienststelle ein Anruf von einem gewissen Uwe Hartmann ein, der sich um seine Kollegin Angie Heitkämper sorgte. Hartmann ist Fotograf einer bekannten Werbefirma hier in München und Angie Heitkämper hatte gestern Morgen mit ihm ein Fotoshooting geplant, und zwar auf den Kanaren, also ein sogenannter Top-Job. Hartmann hatte gemeint, die Models der Agentur hätten sich um dieses Shooting gerissen. Umso erstaunter war er, als die Heitkämper nicht erschien. Immer wieder hatte die Agentur versucht, sie telefonisch zu erreichen, und auch hier in ihrer Wohnung hatte man mehrfach probiert, sie anzutreffen. Nachdem eine Kollegin bestätigt hatte, wie versessen Angie Heitkämper auf das Shooting war und sich auch die Eltern das plötzliche Verschwinden nicht erklären konnten, kam man zu dem Schluss, es müsse etwas passiert sein.« Der Polizist steckte den Block ein und fuhr fort: »Heute Morgen gegen sieben Uhr kam es deshalb zur Wohnungsöffnung durch uns.«

Thomas Brendel betrat die Küche und deutete mit dem Daumen hinter sich. »Das solltest du dir ansehen.«

Sophie folgte ihrem Partner zurück zur Wohnungstür.

Brendel zeigte mit einem Kugelschreiber auf zwei Punkte am Türstock. »Hier und hier unten auch.« Die Türzarge war an drei Stellen aufgebrochen. Einmal in der Mitte, wo der normale Riegel ins Schließblech greift, außerdem ein Stück darüber und einige Zentimeter unterhalb des Türschlosses.

Sophie sah sich die Tür an und entdeckte, was die Zarge beschädigt hatte. »Zwei zusätzliche Sicherheitstürriegel?«

Der Uniformierte nickte. »Ja. Der Hausmeister und der Mann vom Schlüsseldienst haben trotz ihrer Erfahrung mit Schließanlagen kapituliert und wir mussten die Tür zu guter Letzt gewaltsam öffnen.«

Sophie schob einen der Stahlriegel vor und wieder zurück. Man konnte die zusätzlichen Verschlüsse nur von innen zuschieben.

Sophie rief erschrocken den Kollegen zu: »Gibt es einen zweiten Ausgang? Wurden alle Räume durchsucht?«

Brendel sah sie entsetzt an. »Glaubst du, der Mörder ist vielleicht noch in der Wohnung?«

Sie zückte ihre Dienstpistole und eilte von Raum zu Raum, öffnete alle Türen und Schränke, sah in alle Winkel und Versteckmöglichkeiten. Es gab weder einen weiteren Ausgang, noch einen Balkon, noch sonst irgendeine Möglichkeit außer der Wohnungstüre, um das Penthouse zu verlassen. Sophie kontrollierte alle Fenster. Aber entweder konnte man sie nicht aufmachen oder sie waren fest verschlossen. Lediglich in der Küche stand ein kleines Fenster offen. Sophie schob es ganz auf und lehnte sich hinaus. Zuerst sah sie nach oben. Bis zum Dach waren es geschätzte drei Meter glatte Wand. Nirgends ein Vorsprung oder ein Sims, auf den man hätte klettern können. Dann sah Sophie nach unten und sofort wurde ihr schwindelig. Ihr fiel der Traum der letzten Nacht ein und sogleich spürte sie, wie etwas an ihr zerrte und sie nach unten zog. Schnell drückte sie sich zurück in die Wohnung.

Entgeistert sah Brendel sie an. »Was hast du?«

Sophie schüttelte den Kopf. »Nichts. Nur Staub im Auge.« Sie zwinkerte ein paar Mal und rieb mit dem Fingerknöchel am Auge herum.

»Brauchst du ein Taschentuch?«

»Nein, es geht gleich wieder. Sieh mal nach, ob der Täter irgendwie da runtergeklettert sein kann.«

Brendel streckte den Kopf aus dem Fenster. »Machst du Witze? Hier geht es gut und gern zwanzig Meter runter und die Fassade ist absolut glatt. Da könnte sich nicht einmal Spiderman festhalten.« Brendel sah nach links und rechts. »Hier links unten ist ein kleiner Fries um das Treppenhausfenster, aber da könnte man sich nie und nimmer festhalten. Außerdem … wie sollte man von dort bis zu den Balkons der unteren Wohnungen kommen. Das sind drei bis vier Meter. Nein. Der Täter kann unmöglich durchs Fenster abgehauen sein.«

Sophie dachte wieder an den Traum der letzten Nacht. »Könnte man sich mit einem Kletterseil vom Dach herunterlassen?«

Der Kollege von der Landespolizei mischte sich ein: »Nein. Das Dach hat laut Hausmeister keinen Zugang.«

»Keinen Zugang?«, wunderte sich Sophie, »Was ist, wenn das Dach mal kaputt ist und es hereinregnet? Wie kann man das dann reparieren?«

Der Uniformierte zog die Schultern hoch und machte ein ratloses Gesicht. »Keine Ahnung.«

»Na, dann holen Sie mir den Hausmeister nochmal her.«

Sophie begab sich zurück zu den Kriminaltechnikern ins Schlafzimmer. »Könnt ihr schon irgendetwas sagen?«

Die Männer in den weißen Overalls schüttelten die Köpfe. »Zu früh. Es gibt Fingerabdrücke, aber die könnten auch von der Ermordeten stammen.«

»Was ist mit der Tatwaffe?«

»Tut mir leid.«

Der Toten hatte man mittlerweile Plastiktüten über die Hände gestülpt. Überall wurden Abstriche genommen und unzählige Fotos gemacht. Man hatte alle möglichen Gegenstände mit fluoreszierendem Fingerabdruckpulver bepinselt und auch die anderen Räume mit Luminol besprüht, um Blutspuren zu sichern.

Brendel trat von hinten an Sophie heran. »Was denkst du?«

Die Hauptkommissarin schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht. Wie konnte der Mörder die Wohnung verlassen, wenn die einzige Tür von innen verriegelt war?« Sophie betrachtete die Einrichtung. Alles war sehr exklusiv und geschmackvoll. »Wir müssen feststellen, ob etwas fehlt. Außerdem möchte ich mich gerne einmal mit diesem Fotografen unterhalten …«

»Uwe Hartmann«, las Brendel von seinem Notizblock.

»Ja, den meine ich. Sind eigentlich die Eltern der Ermordeten schon benachrichtigt worden?«

»Ich weiß nicht, aber ich kümmere mich darum.«

Der Polizeihauptmeister war zurückgekommen, vermied es aber, das Schlafzimmer zu betreten, und steckte nur kurz den Kopf zur Tür herein. »Frau Kommissarin, der Haustechniker wäre dann draußen.«

»Ich komme.« Bevor Sophie dem Polizisten folgte, fiel ihr Blick noch einmal auf das riesige Poster über dem Bett. Es zeigte Angie Heitkämper in einem sexy Bikini an einem karibischen Strand. Sie lächelte fröhlich in die Kamera und ihre Augen waren voller Leben.

Sophie nickte dem Hausmeister zu. »Keller, Kriminalpolizei. Sie sind hier für die Haustechnik zuständig?«

»Ja, Wenzel mein Name.«

»Sagen Sie, Herr Wenzel, wie kommt man denn auf das Dach hinauf?«

»Aufs Dach? Ja, im Moment gar nicht.«

»Was heißt, im Moment?«

»Schauen Sie, früher ging eine Treppe hinauf aufs Dach. Aber dann hat die Hausverwaltung eine Luxussanierung durchgeführt und die Obergeschosswohnung in dieses Penthouse umgebaut und da war die Treppe im Weg. Das hätte auch nicht schön ausgesehen. So mitten im Wohnzimmer eine Treppe …« Der Hausmeister musste grinsen, merkte aber sofort, dass dies angesichts der Umstände völlig fehl am Platz war.

»Und dann?«, wollte Sophie ernst wissen.

»Dann hat man die Treppe abgerissen und die Öffnung zubetoniert.«

»Und wie kommt man dann auf das Dach?«

»Ja, wie gesagt, im Moment gar nicht. Im Frühjahr dann will die Hausverwaltung eine Stahlaußentreppe vom sechsten Stock aus aufs Dach ziehen lassen. Hinten auf der Gebäuderückseite, weil es da nicht so stört.«

»Das heißt, im Augenblick kommt niemand auf das Dach?«

»Nein, außer er kann fliegen.«

Kapitel Zwei

Zurück im Kommissariat führte Sophies erster Weg in die Kaffeeküche. Der Boden der gläsernen Kanne war nur noch knapp mit einer braunen Brühe bedeckt, die offensichtlich schon ein paar Stunden auf der Heizplatte schmorte. Das verriet der brenzlige Geruch, der das winzige Kabuff durchdrang. Sophie fluchte. Einzig die Aussicht auf einen großen Becher mit frischem, starkem Kaffee hatte sie auf dem Rückweg vom Tatort davon abgehalten, den Tag schon vor Mittag als völlig verpfuscht abzustempeln.

»Dann eben nicht«, brummte sie vor sich hin und knallte die Küchentür zu. Sie rauschte zurück in ihr Büro und schnauzte ihren Kollegen an: »Du kannst gleich einen frischen Kaffee kochen, sonst wird das heute nichts mehr mit uns zweien.« Im selben Atemzug fiel ihr auf, dass sie diesmal den Bogen überspannt hatte, und lenkte ein: »War ein Scherz, sorry.«

Brendel nahm ihr die halbherzige Entschuldigung nicht ab. Doch er kam nicht dazu, darüber nachzudenken.

Sophie polterte direkt weiter: »Was ist mit dem Fotografen? Hartlieb, Harthaus oder wie der heißt? Hast du den schon angerufen?«

Thomas Brendel presste die Antwort durch seine zusammengekniffenen Lippen. »Hartmann. Uwe Hartmann. Ja, ich habe ihn schon vom Tatort aus angerufen. Und er ist schon hier.« Mit einer Kopfbewegung deutete er auf den Besucherstuhl.

Sophie schoss die Schamesröte ins Gesicht. In ihrer Wut hatte sie völlig übersehen, dass sie mit Brendel nicht alleine war.

Sie atmete tief durch und zwang sich zu einem Lächeln. »Herr Hartmann. Wie schön, dass Sie so schnell kommen konnten.«

Der Fotograf rutschte unbehaglich auf dem harten Hocker herum. Seine sonnengebräunte Haut hatte im Gesicht jegliche Farbe verloren und sein Blick irrte nervös zwischen Brendel und Sophie hin und her.

»Ihr Kollege hat mich schon informiert, was mit Angie passiert ist. Wie furchtbar.« Seine Stimme zitterte. »Ich habe mir schon gedacht, dass etwas nicht stimmt, als sie nicht zum Shooting erschienen ist. Aber gleich ein Mord, wer denkt denn an so etwas?«

»Fangen wir mal ganz von vorne an«, unterbrach ihn Sophie. »Was war das für ein Termin, den sie gestern mit Frau Heitkämper hatten?« Hartmann rückte seine Ray Ban zurecht, die er lässig über die Stirn geschoben hatte.

»Wie Sie wissen, bin ich Fotograf«, begann er, »spezialisiert auf Modefotografie. Und ziemlich erfolgreich«, ergänzte er stolz, bemerkte jedoch direkt, dass das hier niemanden interessierte. »Ich sollte Bademoden fotografieren und hatte für das Shooting zwei Tage auf Lanzarote eingeplant. Der Kunde hat darauf bestanden, dass Angie Heitkämper seine Kollektion präsentiert. Nur sie. Das ist ungewöhnlich, meist arbeite ich bei diesen Jobs mit drei oder vier Models, aber der Kunde ist König und so hatte ich Angie für die zwei Tage gebucht. Flug, Hotel, Mietwagen – alles war arrangiert. Wir wollten uns gestern im Hotel treffen und dann zur Playa del Chaco de los Clicos fahren.« Als er den fragenden Blick Sophies bemerkte, ergänzte er: »Das ist ein schwarzer Lava-Strand in der Nähe eines Kratersees, der aufgrund seiner ungewöhnlich grünen Farbe berühmt ist.« Zwischen den Zeilen war deutlich zu hören, dass man in seinen Kreisen diesen Ort einfach kennen musste und dass er die Unwissenheit der Oberkommissarin belächelte. Dann konzentrierte er sich erneut auf seinen Bericht. »Jetzt im März sind noch nicht so viele Touristen auf Lanzarote und die spärliche Vegetation der Vulkaninsel strahlt in einem üppigen Grün. Das Farbenspiel ist einfach umwerfend und perfekt für ein Foto-Shooting.«

»Wann ist Ihnen aufgefallen, dass etwas nicht stimmte?«, hakte Sophie nach.

»Wir wollten gleich um sechs Uhr in der Früh vom Hotel aus starten, um die spezielle Atmosphäre des Morgenlichts auszunutzen. Ich hatte am Vorabend noch einen Termin und bin erst sehr spät im Hotel angekommen. Angie hatte ich am Abend nicht getroffen. Ich bin davon ausgegangen, dass sie bereits schläft. Wissen Sie«, erklärte er den Kommissaren, »jede Stunde Schlaf, die ein Model vor dem Shooting zu wenig hat, mindert die Qualität der Bilder. Deshalb schicke ich die Mädels immer früh ins Bett.« Er räusperte sich, dann fuhr er fort: »Angie war ein Profi und überpünktlich. Als sie zehn Minuten nach sechs Uhr immer noch nicht in der Lobby erschienen ist, war mir klar, dass etwas nicht stimmt. Als ich an der Rezeption nachgefragt habe, wurde mir mitgeteilt, dass sie überhaupt nicht eingecheckt hatte. Damit konnte ich das Shooting abschreiben. Ich habe mich gleich um einen Rückflug bemüht und war schon am Abend wieder in München. Parallel habe ich natürlich versucht herauszufinden, wo Angie steckt. X-mal habe ich sie auf dem Handy angerufen. Ihre Agentur hatte auch keine Ahnung, warum sie den Job hat sausen lassen. Die anderen Mädels hätten sich darum gerissen, für diesen Kunden gebucht zu werden. Irgendwer hat dann wohl auch bei den Eltern nachgefragt. Aber auch die Familie hatte keine Idee, wo sie geblieben war.«

Sophie hatte sich Notizen gemacht und legte nun den Stift zur Seite. »Sehr mysteriös«, bemerkte sie und schüttelte den Kopf. »Was war das eigentlich für eine Persönlichkeit, die Angie Heitkämper?«, wandte sie sich wieder an den Fotografen. »Können Sie mir dazu etwas sagen? Über ihre Familie, ihr Privatleben?«

Hartmann kaute auf seiner Unterlippe. »Hm, viel weiß ich nicht über sie. Ich hatte seit ein paar Jahren beruflich mit ihr zu tun. Ihre Karriere nahm in einer dieser Casting-Shows Fahrt auf. Meist verlischt der Stern dieser Mädchen ja sehr schnell wieder. Aber Angie war eine Ausnahme. Sie war schön, natürlich, das sind sie alle … Aber sie war unglaublich vielseitig und ein richtiges Arbeitstier. Sie hatte keine Allüren und war sich für nichts zu schade. Keine Pose war ihr zu gewagt und kein Job zu anstrengend. Ein Profi eben.«

Das Bedauern, dass er nie wieder würde mit ihr arbeiten können, war Hartmann anzusehen. Inzwischen hatte er einen Kugelschreiber aus der Brusttasche seines Poloshirts gefingert und ließ die Klemme immer wieder gegen den Stift schnappen. Das klickende Geräusch trieb Sophie schier in den Wahnsinn.

»Würden Sie das bitte unterlassen?«, forderte sie Hartmann auf. »Meine Nerven sind gerade nicht die besten.«

Brendel rollte amüsiert mit den Augen. Seine Chefin hatte Schwächen?

»Bitte erzählen Sie weiter«, forderte Sophie den Fotografen auf.

»Über ihr Privatleben weiß ich nicht viel«, berichtete Hartmann. »Sie kommt aus einer ganz normalen Familie, falls es heutzutage so etwas überhaupt noch gibt. Die Eltern sind beide Lehrer und besitzen irgendwo im tristen Münchner Westen ein Reihenhaus mit einem kleinen Garten. Nichts Besonderes. Als Angies Karriere Fahrt aufnahm, haben sie sich wohl von ihr abgewandt, wie ich gehört habe. Ihr Beruf war den Eltern anscheinend nicht seriös genug. Und Angie konnte mit dem spießigen Lebensstil nichts mehr anfangen. Sie hatte Gefallen am Luxusleben gefunden. So haben sich ihre Wege immer weiter voneinander entfernt. Sie hatten kaum noch Kontakt. Nur zu Geburtstagen oder an Weihnachten, Sie wissen schon …«

Sophie nickte. Ihr Verhältnis zu den Eltern war auch nicht ganz konfliktfrei und unbelastet, so wie sie es sich eigentlich gewünscht hätte.

Brendel meldete sich zu Wort. »So wie Sie es beschreiben, war die Angie Heitkämper ja fast ein Supermodel. Wie hat sie es Ihrer Meinung nach geschafft, diesem Leistungsdruck standzuhalten?«

Hartmann war klar, worauf der Kommissar hinauswollte. »Drogen meinen Sie? Ich weiß nichts davon. Klar, es gibt überall schwarze Schafe. Aber ich kann es mir bei Angie nicht vorstellen.« Er zögerte einen Moment. »Aber da fällt mir etwas ein. Vor zwei Jahren saßen wir nach einem erfolgreichen Job mal noch ein paar Stunden an der Hotelbar. Und nach ein paar Cocktails wurde sie sehr redselig. Sie hat mir erzählt, dass sie ab und zu in den Münchner Katakomben unterwegs ist.«

»Münchner Katakomben?«, fragte Brendel nach.

»Das kennst du als Nordlicht natürlich noch nicht«, mischte sich Sophie ein. »So wird das kilometerlange, verwinkelte Gangsystem unter dem Münchner Hauptbahnhof genannt. Es ist ein beliebter Treff für Junkies und Obdachlose. Eine ziemlich gefährliche Gegend, die sogar von der Bahnpolizei und den dortigen Sicherheitskräften gemieden wird. Wie man hört, gibt es inzwischen in einigen Kreisen den Trend, in diesem Umfeld illegale Underground-Partys zu veranstalten. Ich kann nicht verstehen, warum man freiwillig in Dreck und Gestank seine Zeit verbringt. Aber anscheinend gibt das manchen Menschen erst den richtigen Kick.«

Hartmann nickte. »Davon habe ich auch gehört. Angie war wohl ein paar Mal bei solchen Raves dabei. Ob sie die Gefahr einfach nur prickelnd fand oder selbst Drogen konsumiert hat? Ich weiß es nicht. Einstiche wären mir aufgefallen, aber es gibt ja genug anderes Zeug. Jedenfalls hat sie mir damals berichtet, dass sie von Typen, die mit ihr etwas anfangen wollten, als Mutprobe verlangt hat, mit ihr in die Katakomben zu gehen, mitten in die Welt der Junkies. Und wehe, es hat einer gekniffen. Angies Häme und Spott waren ihm sicher. Da konnte sie wirklich grausam sein.«

Sophie unterbrach ihn. »Dann bekommt das schöne Bild von ihr doch ein paar Kratzer.«

Der Fotograf schüttelte den Kopf. »Im Grunde ihres Herzens war sie ein liebes, bodenständiges Ding. Eine Vorstadt-Schönheit, der in der Pubertät der halbe Fußballverein hinterhergelaufen ist. Aber irgendwann ist ihr das anscheinend zu Kopf gestiegen und sie hat die Männer nur noch benutzt. Und wenn einer nicht so gespurt hat, wie sie es wollte, dann hat sie ihn ihre Verachtung deutlich spüren lassen und all seine Makel und Schwächen vor anderen bloßgestellt.«

Hartmann wollte wieder nach dem Kugelschreiber greifen, besann sich aber eines Besseren, als er den warnenden Blick Sophies bemerkte.

»Aber so einen Tod hat sie nicht verdient«, beendete er seinen Bericht. »Niemand hat das.«

Sophie schob ihren Notizblock beiseite. »Tom, hast du noch Fragen?«, wandte sie sich an ihren Kollegen.

Dieser schüttelte stumm den Kopf.

»Dann hätten wir es fürs Erste«, verabschiedete sie sich von Hartmann. »Und wenn Ihnen noch etwas einfällt«, sie reichte ihm ihre Visitenkarte, »können Sie mich jederzeit anrufen.«

Kaum hatte Hartmann das Büro verlassen, klingelte das Telefon. Brendel nahm ab, horchte und nickte. »Alles klar. Wir kommen vorbei.« Er legte den Hörer auf und sah Sophie an. »Das war die Gerichtsmedizin.«

Eine Viertelstunde später betraten die Kommissare das Institut für Rechtsmedizin in der Nußbaumstraße. Der Weg war den beiden bestens bekannt und so gingen sie direkt ins Untergeschoss, wo eine Ärztin mittleren Alters bereits auf sie wartete. Nach einer kurzen Begrüßung führte die Rechtsmedizinerin sie in den Pathologie-Raum, wo der Leichnam von Angie Heitkämper auf einem Edelstahltisch lag.

»Was hat die Obduktion ergeben?«, wollte Sophie wissen, während ihr Kollege seinen Schreibblock aus dem Jackett fischte, um sich Notizen zu machen.

Die Ärztin nahm eine Akte vom Tisch und las: »Der äußeren Besichtigung nach wurde das Opfer nicht verlagert, wie wir anhand der Totenflecken feststellen konnten. Den Zeitpunkt des Todes würden wir auf Freitagnacht zwischen dreiundzwanzig und null Uhr schätzen. Das Herz wurde unterhalb des Rippenbogens mit einem circa dreißig Zentimeter langen und etwa fünf Zentimeter breiten Messer herausgeschnitten. Der Täter hat dabei den Bauchraum und das Zwerchfell geöffnet und mit einem weiteren Schnitt die Aorta, die Pulmonalvenen und Arterien, sowie die obere Hohlvene durchtrennt. Danach muss er das Herz regelrecht mit der Hand aus dem Brustkorb herausgerissen haben, wie die rupturierte untere Hohlvene zeigt.« Die Ärztin ließ den zwei Beamten einen Moment Zeit, um zu erfassen, was sie erklärte. Sie sah in die erblassenden Gesichter der beiden Polizisten. Dann sprach sie mit einem wütenden Unterton weiter: »Der Täter hat dies mit großer Eile getan, vermutlich um dem Opfer in seinen letzten Sekunden das eigene Herz vor Augen zu halten.«

Kapitel Drei

Sophie Keller und Thomas Brendel betraten die Gebäudeverwaltung der Deutschen Bahn AG. Ein Angestellter brachte die Kriminalbeamten zu seinem Chef, der sie mit vollem Mund hereinbat und ihnen auf den Stühlen vor seinem Schreibtisch Platz anbot. Schnell wischte er noch die Krümel einer Butterbreze von der Tischplatte auf einen Teller, setzte sich ebenfalls und fragte dann, was er für sie tun könne. Mit seinem Schnauzbart, den Hosenträgern und dem dicken Bauch, machte der Mann einen gemütlichen Eindruck. Sophie fand es sympathisch, dass er völlig ungeniert einen Brezenkrümel aus einer Hemdfalte über dem kugelrunden Bauch herauszupfte und in den Mund steckte.

»Tom Brendel und Sophie Keller«, stellte sie ihren Kollegen und sich vor. Der Verwaltungschef warf einen flüchtigen Blick auf die Dienstausweise und nickte den beiden aufmunternd zu.

»Wir würden uns gerne einmal in den Räumlichkeiten unter dem Hauptbahnhof umsehen«, bat Sophie freundlich. Sie wusste, falls ihr Gegenüber damit nicht einverstanden wäre, müssten sie sich erst einen Durchsuchungsbeschluss besorgen.

»Oh«, der Chef der Gebäudeverwaltung kratzte sich hinter dem Ohr. »In die Katakomben wollen Sie?«

»Ja, wenn das möglich wäre?«, erwiderte Sophie und ergänzte: »Leider kann ich Ihnen aus ermittlungstaktischen Gründen nicht sagen, warum wir uns dort umsehen möchten.«

Der dicke Mann verzog das Gesicht, als hätte er eine Darmkolik. »Haben Sie sich das auch gut überlegt? Sie müssen wissen, dass es da unten unzählige Gänge, Schächte und Räume gibt. Der Bahnhof wurde vor über hundertsiebzig Jahren errichtet und immer wieder saniert und umgebaut. Viele Bereiche wurden abgerissen und erneuert. Im Zweiten Weltkrieg gab es da unten Bunkeranlagen, Verbindungsgänge und Stollen. Dann kamen die Bomber und haben große Bereiche demoliert. Manches war komplett zerstört, andere Gewölbe konnten wieder repariert werden und wieder andere wurden einfach verschlossen und verriegelt. Jetzt treibt sich da unten allerlei Gesindel herum. Junkies, Obdachlose und was weiß ich für Gestalten. Jede Woche haben wir ein paar Tote durch Überdosis. Manche finden wir erst Wochen später. Die Junkies locken auch oft Touristen hinunter, um sie dann auszurauben. Es gibt Vergewaltigungen. Und das alles in einem Gewirr aus Gängen, in denen nicht einmal wir uns auskennen. Die Bahn nutzt nur noch einen kleinen Teil der Unterkellerung und der wird auch von Wachpersonal kontrolliert. Aber der Rest? Da geht nicht einmal die Bahnpolizei hinunter. Das ist Niemandsland. Da herrschen andere Gesetze.«

Sophie schüttelte erstaunt den Kopf. »Wie kommen denn die Junkies da hinunter?«

Der dicke Mann winkte lachend ab. »Das ist kinderleicht. Überall gibt es Zugänge. Viele haben wir verschlossen, aber die Kerle brechen die Schlösser auf, verschaffen sich einfach Zugang. Irgendwann waren wir es leid und haben uns gar nicht mehr die Mühe gemacht, alles abzuriegeln. Bei einigen Eingängen wissen wir gar nicht, dass es sie gibt, oder wohin sie führen. Sie können sich gar nicht vorstellen, was das da unten für ein Labyrinth ist.«

»Gibt es denn jemanden, der sich dort auskennt?«

»Na ja, einer meiner Mitarbeiter, der Franz, der war schon öfter da unten. Aber eben auch nicht überall und Sie können mir glauben, es ist auch keiner scharf darauf, da hinunter zu gehen.«

»Wir würden trotzdem gern einmal hinunterschauen.«

»Hm, wie Sie meinen.« Der Chef der Gebäudeverwaltung nahm achselzuckend den Telefonhörer ab und tippte eine Nummer ein. »Ja, ich bin es. Hol mir mal den Franz an den Apparat …«

Zehn Minuten später standen sie zu dritt in einer Tiefgarage gleich um die Ecke. Franz Hofer führte sie zu einer Brandschutztüre.

»Vor zwei Monaten haben wir uns gewundert, warum es hier unten in der Parkgarage so stinkt. Da lag einer von denen direkt hinter der Tür. Der war bestimmt schon seit einer Woche hinüber. Pfui Teufel.« Er öffnete die Tür und deutete auf den schmalen Gang dahinter. »Da geht es runter.«

Sophie betrat als Erste den kurzen Korridor, der an einer weiteren Tür endete. Brendel und Hofer folgten ihr. Sie ging voran und erreichte nach einigen Metern eine Treppe, die mit einer Linksbiegung abermals in die Tiefe führte. Sie liefen mehrere Gänge entlang, an deren Decken Wasser aus alten Rohren tropfte. Immer wieder kamen sie an Türen vorbei, aber Hofer bedeutete ihnen, einfach geradeaus zu gehen. Nach einer Weile gelangten sie in einen größeren Raum in dem es grauenhaft nach Exkrementen stank. Überall lagen alte Spritzen und Fixerbesteck herum.

»Passen Sie auf, was Sie hier unten berühren«, warnte sie Hofer. »Ein kleiner Stich mit so einer Nadel und Sie holen sich Hepatitis oder Aids.« Er kramte drei Taschenlampen hervor und reichte jedem eine. »Jetzt kommt ein Abschnitt, in dem die Beleuchtung ausgefallen ist.« Er ging voraus und bog nach rechts ab. Ein schmaler Durchlass führte sie in einen dunklen Gang, der einen weitläufigen Bogen beschrieb. Tom hatte längst schon die Orientierung verloren. Doch Sophie schritt unbeirrt voran, als sei ihr das dunkle Labyrinth bestens vertraut. Hofer blieb stehen und leuchtete nach links in einen unverputzten Abschnitt. Ein enger Backsteintunnel führte dort in die Finsternis.

»Der ist noch von den Nazis«, erklärte Hofer. »Irgendwo am Ende muss sich ein alter Bunker befinden.«

Sie ließen den geziegelten Durchgang links liegen und stapften weiter geradeaus. Nach einer Weile wurde es wieder hell. Neonröhren warfen alle zwanzig Meter einen gelblichen Schimmer über den verdreckten Weg. Der Geruch war fast unerträglich.

»Was suchen Sie eigentlich hier unten?«, wandte sich Hofer an Brendel.

»Das wissen wir erst, wenn wir es sehen«, kam ihm Sophie zuvor.

»Sollen wir nicht langsam wieder umdrehen? Wissen Sie, ich hätte nämlich schon seit einer halben Stunde Feierabend«, jammerte Hofer. »Ich meine, wenn Sie gerne noch weitersuchen wollen, dann können Sie das gerne machen. Sie müssen nur diesem Gang folgen. Biegen Sie nicht ab. Dann kommen Sie an einer Treppe heraus, die Sie zu einer Tür führt, durch die Sie in die U-Bahnstation Hauptbahnhof Süd gelangen.«

Sophie sah ihren Kollegen an. Nicht, um dessen Einverständnis zu bekommen, sondern um seine Reaktion zu sehen. Überraschenderweise zuckte Brendel nur gleichgültig mit den Schultern.

»Einverstanden. Drehen Sie um und machen Sie Feierabend. Wir gehen noch ein bisschen weiter. Die Taschenlampen lassen wir Ihnen morgen zustellen.«

»Gut, dann wünsche ich Ihnen noch viel Erfolg bei Ihrer Suche – nach was auch immer. Und auf keinen Fall abbiegen.« Hofer wandte sich um und verschwand in die Richtung, aus der sie gekommen waren.

Sophie folgte dem beschriebenen Weg und durch einen weiteren Durchgang kamen sie in eine Art gemauerte Kaverne. Das matte Licht der ovalen Gitterleuchte war viel zu schwach für den großen Raum und beleuchtete nur einen geringen Teil des hallenartigen Kellers. Überall lag Gerümpel herum und es gab viele dunkle Ecken. Langsam schlichen sie voran, während sie versuchten, die uneinsehbaren Stellen im Auge zu behalten. Plötzlich überkam Sophie das merkwürdige Gefühl, als ob sie nicht allein wären. Sie blieb stehen und schaltete die Taschenlampe ein. Brendel folgte ihrem Beispiel und leuchtete langsam die Wände ab, die etwa acht Meter von ihnen entfernt die düstere Kaverne begrenzten. Am Boden lagen widerlicher Müll und alte Kartons herum und man konnte erkennen, dass dieser Raum als Schlafstätte und Lagerplatz diente. Unverhofft fiel irgendwo eine Glasflasche um. Tom Brendel richtete den Strahl der Taschenlampe in die Richtung, aus der er das Geräusch vermutete. In einem Haufen aus alten Kleidungsstücken, die vermutlich aus einem Altkleider-Container stammten, war deutlich eine Bewegung wahrnehmbar. Brendel näherte sich vorsichtig. Unter den Stofffetzen lag eine Gestalt und starrte ihn apathisch an. Ein völlig zugedröhnter Fixer kauerte zusammengekrümmt am Boden. Lange, strähnige Haare verbargen zur Hälfte sein dreckverkrustetes, ausgemergeltes Gesicht. Ein Auge war völlig zerfressen und auch die Haut an den Wangen wies tiefe Nekrosen auf. Ein Ärmel war hochgeschoben und die Ellenbeuge zeigte unzählige entzündete Einstiche. An der Hand waren zwei Finger grünlich-schwarz verfärbt und am Daumen fehlte die Haut, sodass der gelblichweiße Knochen freilag. Brendel starrte wie gebannt auf die entzündeten Löcher im Fleisch, als Sophie an ihn herantrat.

»Das macht das Krok mit ihnen.«

»Krok?«

»Krokodil«, erklärte Sophie. »Desomorphin. Eine synthetische Droge aus Russland. Manche Dealer strecken ihr Heroin damit. Das führt zu grauenhaften Gewebeschäden und Nekrosen und irgendwann schließlich zu Organversagen.«

Brendel musste schlucken. Wie konnte sich ein Mensch selbst so etwas antun? Der Drogensüchtige hob den Kopf und richtete sein gesundes Auge lethargisch auf den Polizisten. Dann wanderte sein Blick über Brendels Schulter. Als Tom das Geräusch in seinem Rücken wahrnahm, war es bereits zu spät. Jemand schlug ihm die Taschenlampe aus der Hand und gab ihm einen kräftigen Stoß. Brendel stürzte nach vorne auf den Junkie und schlug mit dem Kopf gegen die Mauer. Er rollte sich zur Seite und hoffte inständig, dass er nicht in einer der vielen blutigen Spritzen landete, die überall am Boden lagen. Dann spürte er einen heftigen Tritt in seine Rippen und stöhnte auf, während der halbtote Süchtige unter ihm plötzlich laut losbrüllte. Im Drogenrausch wirkten die Geräusche und Bewegungen im Halbdunkel auf ihn wie ein Angriff von Dämonen und er durchlebte einen grauenerregenden Höllentrip.

Wieder trat der Angreifer zu und Brendel wunderte sich, dass ihm seine Kollegin nicht zu Hilfe eilte, bis er merkte, dass Sophie selbst in Bedrängnis war. Tom war in den Stofffetzen verheddert und konnte sich nicht bewegen oder in eine bessere Position bringen.

Also schützte er mit den Armen seinen Kopf und schrie: »Kriminalpolizei! Aufhören!«

Doch der Angreifer trat weiter erbarmungslos zu.

Sophie spürte, wie eine Hand ihren Hals umschloss. Reflexartig packte sie das Gelenk, machte eine Drehung und setzte dem Angreifer einen schmerzhaften Hebel. Ihr Gegner brüllte auf. Mit einem Ruck am Arm zog sie den Mann zu sich und rammte ihm ihr Knie in die Magengrube, als eine weitere Person nach ihr schlug. Im dämmrigen Licht des Kellers verfehlte die Faust jedoch haarscharf ihr Gesicht. Während der erste Angreifer keuchend zu Boden ging, konnte Sophie eine weitere Attacke des zweiten Gegners abblocken und wuchtete mit ganzer Kraft ihre Handkante in einem schnellen Bogen an die Halsseite des Widersachers, der daraufhin in den Knien einknickte und zur Seite umfiel. Ein kurzer Blick in Richtung ihres Kollegen ließ sie sofort handeln. Mit ein paar schnellen Schritten war sie bei ihm und verpasste dem Mann, der bereits zu einem weiteren Angriff angesetzt hatte, einen gezielten Fußtritt. Die Wucht des Kicks warf den Kerl nach vorne und er prallte hart gegen die Wand. Sophie war sofort hinter ihm, packte seine Arme und legte ihm Handschellen an.

Dann nahm sie Brendels Hand, zog ihn hoch und half ihm beim Aufstehen. »Bist du in Ordnung?«

Tom musste aufpassen, dass er nicht auf den unter ihm liegenden Süchtigen trat, der sich ebenfalls aufrappelte und immer noch gefangen in marternden Halluzinationen, weinend davonkroch. Sophie half ihrem Kollegen aus dem Altkleiderhaufen heraus und sah, wie ihre beiden Gegner in die Dunkelheit davonliefen.

Brendels Rippen schmerzten und er hatte vom Aufprall an der Wand eine Beule am Kopf, aber ansonsten schien er in Ordnung zu sein.

»Ja, danke, ich glaube, es ist noch alles dran«, stöhnte er und griff nach der Taschenlampe, die vor ihm auf dem Boden lag. Er klopfte ein paar Mal mit dem Handballen dagegen und siehe da, sie funktionierte noch. Sophie packte den gefesselten Mann und zog ihn auf die Beine. Mit einer Hand drückte sie ihn grob gegen die Wand, während sie mit der anderen seine Taschen durchsuchte.

»Kein Portmonee, kein Ausweis, nichts. War ja klar«, gab sie knurrend von sich.

»Lassen Sie mich los!«, jammerte der Mann. »Wir wollten uns doch nur verteidigen.«

»Du Pisser hast zuerst zugehauen. Also erzähl mir nichts von Selbstverteidigung.« Sophie gab ihm einen Rempler.

»Wir hatten einfach Angst. Immer wieder kommen hier welche runter, die uns fertig machen wollen.«

»Wer?« Sophie packte ihn wieder fester.

»So Typen.« Der Mann klang verzweifelt. »Immer wenn die ihre Rave-Partys machen, kommen ein paar Tage vorher so Schläger hier herunter und wollen uns verjagen. Meinen Freund Billy haben die so verprügelt, dass er fast hopps gegangen wäre.«

Sophie sah ihren Kollegen an. Sie waren auf der richtigen Spur.

»Was weißt du von diesen Partys?«

»Können Sie mir nicht erstmal diese Dinger abnehmen?«, fragte der Gefangene kleinlaut und klapperte mit den Handfesseln.

»Träum weiter.« Sophie blieb hart. »Also raus mit der Sprache. Wo werden diese Partys gefeiert und wie läuft das ab?«

»Da gibt es einen Bereich weiter vorne, da ist ein Raum wie eine Halle. Mit so einer gewölbten Decke und so Stützsäulen und so. Da machen die das immer. Alle paar Wochen. Und wehe, wir kommen ihnen in die Quere … Die würden uns sowas von verdreschen.«

»Und wer sind ‚die‘?«

»Keine Ahnung. Die Handschellen schneiden ein. Können Sie die nicht abmachen?«, jammerte der Mann.

»Wenn du uns in diese Halle bringst und uns zeigst, wie man von dort aus am schnellsten wieder hinaufkommt.«

»A-also gut, aber zuerst abmachen.«

Sophie nahm ihm die Fesseln ab, hielt ihn aber an der Kapuze seines Shirts fest.

»Also los. Und keine Tricks, verstanden?«

Der Junkie führte sie aus der Kaverne in einen schmalen Gang. Die Decke war so niedrig, dass sie nicht aufrecht gehen konnten. Nach etwa zwanzig Metern standen sie vor einer Metallluke. Gebückt krochen sie hindurch. Auf der anderen Seite war der Raum wieder höher. Sie folgten dem Korridor um eine Biegung, stiegen eine kurze Treppe hinauf und standen vor einer weiteren Tür.

Der Junkie drehte sich zu Sophie und deutete mit dem Daumen auf die Tür. »Hier dahinter.«

Sophie gab ihrem Kollegen ein Zeichen. Tom öffnete die Tür einen Spalt und sah vorsichtig in den dahinterliegenden Raum.

Dann schob er die Tür ganz auf. »Niemand da.«

Die drei betraten das Gewölbe, das von vier gemauerten Säulen gestützt wurde. Die Halle war groß genug, um leicht hundert Partygästen Platz zu bieten. Sophie konnte sich gut vorstellen, wie man diesen Gewölbekeller in eine perfekte Party-Location verwandeln konnte. Sie ließ die Kapuze des Junkies los.

»Weißt du, wann die nächste Party geplant ist?«

Der Mann nickte. »Immer bei Vollmond.«

»Okay. Zeig uns, wie man von hier aus rauskommt.«

Der verwahrloste junge Mann ging voraus. Ein paar Gänge und eine halbgewendelte Treppe später standen sie in einer Art Heizungsraum, von dem aus es nur noch wenige Meter in den öffentlichen Bereich der U-Bahnstation waren.

Sophie sah dem Junkie in die Augen. »Na gut, hau ab.«

Sofort lief er davon und war Sekunden später zwischen den Fahrgästen, die auf die nächste Bahn warteten, verschwunden.

Brendel war entrüstet. »Wieso hast du ihn laufen lassen? Immerhin war das Körperverletzung.« Demonstrativ rieb er sich die Rippen.

Sophie lächelte ihn provozierend an. »Du lebst doch noch …«

Dann kehrte sie ihm den Rücken zu und ging davon.

Eine gute halbe Stunde später trafen die beiden wieder in der Inspektion ein. Während Sophie Keller direkt ins Büro stiefelte, bog Thomas Brendel links zur Herrentoilette ab, um seine Blessur zu begutachten. Obwohl die Beule an der Stirn nicht besonders groß war und die Haut nur eine kleine Abschürfung zeigte, brummte ihm der Schädel. Schlimmer für ihn war jedoch, dass sein kurzer Lodenmantel verdreckt war und auch die Knie seines dunkelgrauen Anzugs lehmige Flecken aufwiesen. Am meisten ärgerte ihn, dass er hilflos wie ein Käfer auf dem Rücken am Boden gelegen hatte, und ihn seine Kollegin, die einen Rang über ihm stand, herausboxen hatte müssen. Das Verhältnis zwischen den beiden war nicht das Beste. Während er den seriösen Kriminalbeamten verkörperte, wirkte Sophie mit ihren legeren Klamotten, dem burschikosen Auftreten und ihrem saloppen Jargon stets, als wäre sie selbst dem Gangstermilieu entsprungen. Häufig gab es zwischen den beiden Meinungsverschiedenheiten bezüglich der Ermittlungsmethoden, bei denen sich Sophie oft über die dienstlichen Anweisungen und Vorschriften hinwegsetzte, und ihre eigenen Wege ging, die sich nicht selten in einer gesetzlichen Grauzone befanden.

Als Brendel das Büro betrat, war Keller gerade in den Ermittlungsbericht der Kriminaltechnik vertieft.

Er nahm gegenüber seiner Kollegin Platz. »Gibt es was Neues?«

Sophie blickte langsam auf und starrte ihn einige Sekunden lang an. »Das kann man wohl sagen.« Sie schob ihm den Bericht hinüber, wartete aber nicht ab, bis er ihn gelesen hatte, sondern klärte ihn sofort auf: »Die Techniker haben tatsächlich Blut am geöffneten Fenster gefunden.«

»Vielleicht hatte der Täter frische Luft gebraucht?«

Sophie schüttelte den Kopf. »Auch an der Außenwand über dem kleinen Fenster konnten sie Blutspuren feststellen, die nach oben auf das Dach führen.«

»Wie bitte? Soll das heißen, dass der Mörder tatsächlich aus dem Fenster hinauf aufs Dach geklettert ist?« Brendel schüttelte den Kopf. »Im siebten Stock? An einer glatten Wand? Wie soll so etwas gehen?«

Sophie zuckte mit den Schultern. »Vielleicht mit einem Kletterseil, oder einer Strickleiter? Ich weiß es nicht. Wir müssen auf das Dach rauf.«

Brendel überlegte. »Wir könnten versuchen, vom Nachbargebäude irgendwie hinüber zu kommen. Zwischen den beiden Häusern führt nur eine Zufahrt in die Tiefgarage. Das heißt, die zwei Gebäude können nicht weiter auseinanderstehen als viereinhalb Meter.«

Sophie zog noch einmal die Fotos aus der Ermittlungsakte und tatsächlich zeigte eines der Bilder die beiden Wohnhäuser, die etwa dieselbe Höhe hatten und nur durch einen schmalen Weg voneinander getrennt waren.

»Du hast recht. Mit einer Art Gerüstbrücke müsste es funktionieren.« Sie klappte ihren Laptop auf. Nach wenigen Klicks hatte sie gefunden, was sie suchte. Dann nahm sie den Telefonhörer ab und wählte die Nummer.

»Hallo? Bin ich richtig bei Gerüstbau Kovacz?«

Zwei Stunden später trafen sie sich auf der Straße vor dem Tatortgebäude mit dem freundlichen Deutsch-Kroaten. Sophie gab dem Mann die Hand. »Schön, dass Sie so schnell für uns Zeit haben.«

Der Chef der Gerüstbaufirma lachte. »Die Polizei darf man nicht warten lassen.« Dann deutete er nach oben. »Ich war schon mal auf dem Dach. Das dürfte kein Problem werden. Allerdings müssen wir aus Sicherheitsgründen die Zufahrt zur Tiefgarage absperren.«

Sophie sah zu Brendel, der daraufhin nickte und verschwand, um alles zu veranlassen.

Während Kovacz mit zwei Mitarbeitern Aluminium-Gerüstteile aus ihrem Lieferwagen zum Aufzug brachten, begab sich Sophie bereits auf das Flachdach. Sie öffnete die schwere Tür, die hinaus auf die Dachfläche führte und sofort überkam sie wieder ihre Höhenangst. »Verdammt. Reiß dich zusammen«, schalt sie sich selbst. Ihr Körper schüttete Adrenalin aus, wie sie am Zittern der Knie feststellen konnte. Sie atmete tief durch und zwang sich Schritt für Schritt vorwärts. Ein paar Meter vor dem Rand des Daches blieb sie stehen und sah sich um. Die beiden Häuser waren tatsächlich gleich hoch. Der Abstand konnte einem zwar Furcht einflößen, aber theoretisch war es möglich, von einem Dach aufs andere zu springen. Schon bei dem Gedanken lief es Sophie kalt den Rücken hinunter und sie spürte, wie sich ihr Magen zusammenkrampfte.

»Gehen Sie lieber nicht so nah an den Rand«, sagte Kovacz hinter ihr. Er hielt seinen Arbeitern, die mit allerlei Gerüstteilen herauskamen, die Tür auf. Sofort machten sich die versierten Gerüstbauer daran, einen Steg zusammenzustecken. Sie schoben die Gerüstbrücke über die Schlucht zwischen den Wohnhäusern, brachten ein Sicherheitsgeländer an und arretierten die Steckbolzen. Die Konstruktion wirkte stabil. Kovacz betrat den Steg als Erster, trat in die Mitte des Abgrunds und stampfte ein paar Mal auf.

»Alles prima. Sie können jetzt hinüber. Wenn Sie wollen, können wir Ihnen einen Klettergurt und ein Sicherungsseil anlegen – nur zur Vorsicht.«

»Nein danke, das geht schon«, sagte Brendel, der ebenfalls aufs Dach gekommen war. Sophie hätte ihn am liebsten hinuntergestoßen. Natürlich hätte sie gern ein Sicherungsseil gehabt, aber jetzt wollte sie sich nicht mehr die Blöße geben.

Brendel gab der Spurensicherung Bescheid. In kurzen Worten schilderte er, was sie vorgefunden hatten. Zufrieden nickend beendete er das Telefonat. Die Kollegen der Kriminaltechnik würden bald zu ihnen stoßen, um das Dach zu untersuchen. Dann schlenderte er, als sei es ein Spaziergang, über die gut zwanzig Meter tiefe Schneise hinüber auf das andere Gebäude und sah sich schon einmal um. Sophie ging mit schwitzigen Händen auf die Rampe zu. Der Steg war einen guten halben Meter breit und auf beiden Seiten hatten Kovaczs Leute ein stabiles Geländer mit Sicherheitsnetz angebracht. Trotzdem fiel es Sophie unglaublich schwer, den Fuß auf die Brücke zu setzen. Mit beiden Händen krallte sie sich an der Brüstung fest und schob sich vorsichtig vorwärts.

»Nicht nach unten sehen!«, rief ihr Kovacz hinterher, doch Sophies Blick wurde wie von Magneten in Richtung Abgrund gezogen. Ihr Herz raste. Sie biss die Zähne aufeinander und machte den nächsten Schritt. Löste eine Hand, schob sich vorwärts, griff das Geländer. Setzte einen Fuß vor den anderen. Schließlich hatte sie die Mitte der Brücke erreicht. Ihre Beine zitterten. Plötzlich hatte sie das Gefühl, das Aluminium des Gerüstes würde weich wie warmes Wachs. Vor ihren Augen verformte sich die Konstruktion, neigte sich zur Seite. Ihr Blick verschwamm. Sie kippte. Ihre schweißnasse Hand glitt von der Brüstung ab, suchte nach Halt. Ihre Beine knickten ein. Plötzlich war da Brendel. Er packte ihre Hand und zog sie langsam zu sich auf die andere Seite.

»Geht es dir gut? Ist dir schwindelig?«

Sophie stand auf festem Untergrund und schluckte. »Ja, alles okay. Ich kann nur diese Höhe nicht ausstehen.« Schnell trat sie vom Rand zurück und ging weiter in die Mitte des Daches, wo sie sich sicherer fühlte.

»Hier!«, Brendel deutete auf den ehemaligen Dachzugang, der aussah, als hätte man eine Garage auf das Dach betoniert. »Der Hausmeister hatte doch erzählt, dass sich die Treppe zum Dach im Wohnzimmer des Penthouses befunden hatte. Das heißt, hier unter mir müsste das Schlafzimmer sein, hier drüben die Küche …«, er trat gefährlich nahe an den Rand und sah nach unten. »Und hier das kleine Fenster, über das der Täter heraufgeklettert sein muss.« Er ging auf die Knie, stützte sich am Dachrand ab und beugte sich vornüber. »Ja, hier drüben ist das Fenster.«

Sophie wurde schon beim Zusehen mulmig. »Irgendetwas zu erkennen?«

Brendel besah sich die handbreite Betonbrüstung, die das Dach umrahmte. »Das hier könnte Blut sein«, sagte er und suchte nach weiteren Spuren.