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Stell dir vor, du lebst in einer ruhigen Vorstadt, wo jeder Nachbar scheinbar ein offenes Buch ist – bis auf einen. Ein junger, unauffälliger Mann beobachtet die Menschen in seiner Umgebung mit einer beunruhigenden Präzision. Er kennt ihre Schwächen, ihre Geheimnisse, ihre Fehler. Durch kleine, gezielte Manipulationen bringt er das fragile Gleichgewicht ihrer Leben ins Wanken, ohne je selbst in den Fokus zu geraten. Doch als plötzlich eine Reihe brutaler Morde die Nachbarschaft erschüttert, fällt der Verdacht auf ihn. Gefangen zwischen Polizei, der wachsenden Paranoia seiner Nachbarn und einem Mörder, der sein Spiel kopiert, muss er beweisen, dass er unschuldig ist – oder herausfinden, wer sein tödliches Werk vollendet. Ein Krimi voller Spannung, Täuschung und der Frage, wie weit Menschen für die Wahrheit gehen würden.
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Seitenzahl: 221
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Vorwort
Stell dir vor, du lebst in einer ruhigen Vorstadt, wo jeder Nachbar scheinbar ein offenes Buch ist – bis auf einen. Ein junger, unauffälliger Mann beobachtet die Menschen in seiner Umgebung mit einer beunruhigenden Präzision. Er kennt ihre Schwächen, ihre Geheimnisse, ihre Fehler. Durch kleine, gezielte Manipulationen bringt er das fragile Gleichgewicht ihrer Leben ins Wanken, ohne je selbst in den Fokus zu geraten. Doch als plötzlich eine Reihe brutaler Morde die Nachbarschaft erschüttert, fällt der Verdacht auf ihn. Gefangen zwischen Polizei, der wachsenden Paranoia seiner Nachbarn und einem Mörder, der sein Spiel kopiert, muss er beweisen, dass er unschuldig ist – oder herausfinden, wer sein tödliches Werk vollendet. Ein Krimi voller Spannung, Täuschung und der Frage, wie weit Menschen für die Wahrheit gehen würden.
Über den Autor
Der Autor Rajan Durnwald wuchs in einer kleinen Stadt auf, in der jeder jeden kannte, und entdeckte früh seine Faszination für die dunklen Seiten der menschlichen Natur. Inspiriert von echten Verbrechen und den stillen Dramen, die sich hinter verschlossenen Türen abspielen, begann er Geschichten zu schreiben, die sich um Geheimnisse, Täuschung und moralische Abgründe drehen. Seine Erzählungen fesseln durch ihre atmosphärische Dichte und die psychologische Tiefe seiner Figuren. Heute lebt er zurückgezogen, umgeben von alten Büchern und Notizen, und lässt in seinen Geschichten Welten entstehen, in denen die Wahrheit oft tödlich ist.
Titel: Hinterlist des Nachbarns: Mord unter Beobachtung
Kapitel 1: Die Straße schläft nie
Die Kaffeetasse war noch warm, aber der Milchkaffee längst bitter. Er mochte das so – ein bisschen wie er selbst, dachte er grinsend, während er den Rauch seiner Zigarette in die kalte Dezemberluft blies. Der Balkon seines Lofts war klein, gerade groß genug für einen abgewetzten Holzstuhl und ein paar leere Blumentöpfe, die irgendwann mal Basilikum beherbergen sollten, bevor er sie vergessen hatte. Über ihm flackerte eine alte Glühbirne. Die Stromleitungen in dieser Gegend waren so alt wie die Geschichten, die sich die Nachbarn erzählten. Verlässlich unzuverlässig.
Er lehnte sich zurück und zog an der Zigarette, die halb zerdrückt zwischen seinen Fingern hing. Die Straße unter ihm war still. Zu still. Irgendwie unecht. Es war diese Art von Vorstadt, wo man das Gefühl hatte, dass sich hinter jeder Gardine kleine Augenpaare versteckten, gierig darauf, etwas – irgendwas – zu sehen, das ihre monotonen Leben aufbrach. Kein Wunder, dass er sich hier wohlfühlte. Er war das Chaos, das sie brauchten. Die Ironie war, dass sie es noch nicht wussten.
Die meisten Fenster waren dunkel, bis auf eins. Der Neue. Gerade erst eingezogen, und schon spielte der Typ den perfekten Nachbarn. Tagsüber hatte er gesehen, wie der Kerl Kisten geschleppt hatte – groß, braunhaarig, schlichte Jeans und ein Sweatshirt, wie aus einem verdammten Modekatalog für Mittelmäßigkeit. Als er fertig war, hatte er allen in der Straße ein gezwungen freundliches „Hallo“ zugerufen. Ein falsches Lächeln, als würde er versuchen, sich selbst davon zu überzeugen, dass er hierher gehörte.
Er beobachtete ihn jetzt. Der Neue hatte das Licht in seinem Wohnzimmer angeknipst. Nicht zu hell, aber auch nicht schummrig. Gerade so, dass es einladend wirkte, wie eine verdammte Ikea-Werbung. Der Typ saß auf der Couch, trank Tee oder so einen Scheiß, und hatte die Beine hochgelegt. Neben ihm ein Laptop. Ein Klischee von einem Vorstadtfuzzi, der sich wahrscheinlich nach Ruhe und einem „Neuanfang“ sehnte. Typen wie der Neue hatten immer irgendeinen verkorksten Hintergrund. Eine gescheiterte Ehe. Ein Job, den sie nicht mochten. Geheimnisse, die sie tief genug begraben wollten, um so zu tun, als wären sie nicht da.
Er nahm einen letzten Zug von seiner Zigarette und drückte sie langsam im Aschenbecher aus. Der Geruch von kaltem Rauch und halbherzig geputztem Metall lag in der Luft. Eine Mischung, die ihn beruhigte. „Willkommen in der Nachbarschaft, Kollege,“ murmelte er und kippte den Rest seines kalten Milchkaffees über das Balkongeländer. Der Schwung des Falls war befriedigend, das dumpfe Klatschen auf dem Beton darunter noch mehr. Er grinste.
Es war nicht so, dass er dem Neuen was Böses wollte. Nicht direkt. Er wollte nur wissen, was der Typ verbarg. Denn jeder verbarg etwas. Die Frau im Haus gegenüber hatte ihren Mann letzten Monat in der Küche angeschrien, weil sie wusste, dass er sie betrog. Der Kerl im blauen Haus am Ende der Straße hatte ein abgeschlossenes Zimmer im Keller, das er mit niemandem teilte. Sogar die Kinder in der Gegend hatten ihre kleinen Geheimnisse – gestohlene Süßigkeiten, flüsternde Bündnisse auf Spielplätzen. Es ging nicht darum, ob jemand etwas verbarg. Es ging darum, wie tief man graben musste, um es zu finden.
Er zog sich seinen Hoodie über den Kopf und ließ die Glastür hinter sich zufallen. Der Raum dahinter war spärlich möbliert, aber gemütlich. Keine unnötigen Accessoires. Ein Sofa, ein Couchtisch, ein Regal mit Büchern, von denen er die Hälfte nie gelesen hatte. In der Ecke ein Plattenspieler, der seit Monaten staubte. Er mochte das Chaos draußen, nicht drinnen. Drinnen war sein Rückzugsort, sein Labor. Hier wurden die Fäden gesponnen.
Er schnappte sich sein Handy und scrollte durch die Nachrichten. Nichts Interessantes. Nur die üblichen oberflächlichen Gespräche, die Leute führten, wenn sie zu höflich oder zu feige waren, um zu sagen, was sie wirklich dachten. „Ich kann heute nicht, stressige Woche.“„Oh, ich hab an dich gedacht!“ Bullshit. Niemand dachte wirklich an jemanden, außer es brachte ihnen einen Vorteil. Menschen waren egoistische, kleine Kreaturen. Aber genau das machte sie so interessant.
Ein Geräusch riss ihn aus seinen Gedanken. Ein Klopfen. Leise, fast zögerlich. Er legte das Handy weg und ging zur Tür. Durch den Spion sah er ihn. Den Neuen. Steif, mit einem Ausdruck, der zwischen nervös und freundlich schwankte. Es war fast süß. Fast.
Er öffnete die Tür einen Spalt und lehnte sich lässig gegen den Rahmen. „Was gibt’s?“ Seine Stimme klang rau, die Spuren von Nikotin und Langeweile unverkennbar.
„Hey, äh... ich bin der Neue. Dachte, ich stelle mich mal vor.“ Der Typ hielt eine Flasche Wein hoch, wie eine Art Opfergabe. „Für gute Nachbarschaft, oder so.“
Er ließ sich Zeit, musterte den Typen, als wäre er ein lästiger Staubfleck auf seiner perfekten kleinen Welt. Schließlich öffnete er die Tür ganz und lehnte sich zurück. „Komm rein. Aber wenn der Wein scheiße ist, fliegst du raus.“ Der Neue lachte nervös, trat ein und setzte sich auf das Sofa, das plötzlich wie ein Thron wirkte, den er nicht verdiente.
„Also, wie heißt du?“ fragte er, obwohl er die Antwort schon kannte. Der Neue sagte es trotzdem, mit diesem naiven Lächeln, das ihn fast aggressiv machte. Aber das war okay. Naivität hielt nie lange. Und er würde dafür sorgen, dass sie in dieser Straße keinen Platz hatte.
Kapitel 2: Der Wein schmeckt nach Lügen
Der Wein war billiger, als das Etikett versprach. Ein Fruchtbombe aus dem Supermarkt, die nach überreifen Beeren und einer Spur von Enttäuschung schmeckte. Er nahm einen großen Schluck, lehnte sich zurück und beobachtete den Neuen. Der Typ saß auf der Couch, so gerade, als hätte er ein Lineal verschluckt. Die Hände fest um sein Glas geklammert, ein schiefes Lächeln, das sagen sollte: „Ich bin nett, ehrlich!“ Aber ehrlich war niemand. Nett auch nicht.
„Also, was treibt dich her?“ fragte er beiläufig, obwohl die Frage schärfer war, als sie klang. Die meisten Menschen verplapperten sich, wenn sie glaubten, dass man nur halb hinhörte. Der Neue zuckte mit den Schultern, eine Geste, die zu locker wirken sollte, aber genau das Gegenteil verriet.
„Neuanfang, weißt du? Ruhiger Ort, nette Leute. Nach der Stadt dachte ich, es wird Zeit, mal runterzukommen.“ Er grinste, als wäre das eine Antwort, die alles erklärte. Aber die Worte klangen hohl, ein Echo ohne Ursprung. Neuanfang, dachte er. Das war immer der Code für irgendwas, das man hinter sich lassen wollte. Pleite? Scheidung? Schulden? Vielleicht ein kleiner Skandal, der nie ganz die Titelseiten erreicht hatte. Leute wie der Neue kamen immer mit Gepäck. Die Frage war nur, wie schwer es war.
„Die Stadt also. Wo denn genau?“ Er trank einen weiteren Schluck, ließ den Wein in seinem Mund rollen, als wäre er ein Sommelier. Der Neue zögerte. Zehn zu eins, er lügt gleich, dachte er.
„Ach, Hamburg.“ Die Antwort kam zu schnell, die Augen zuckten kurz zur Seite. Klar. Hamburg. Der Klassiker, wenn man so tun wollte, als hätte man was drauf. Großstadt, aber nicht zu groß. „Aber ich war auch viel unterwegs. Hab so ’nen Job, weißt du. Flexibel.“
Er grinste. „Flexibel? Klingt fancy. Was machst du?“
Die Frage ließ den Neuen fast zusammenzucken. Für einen kurzen Moment war da diese Unsicherheit in seinen Augen. Perfekt. „Marketing. Online-Marketing, genauer gesagt. Ich arbeite viel von zuhause aus.“ Er sah sich in dem kleinen Raum um, als würde er hoffen, dass das Thema jetzt wechselte.
Aber so leicht machte er es ihm nicht. „Homeoffice also. Praktisch. Da kannste den ganzen Tag in Jogginghose rumlaufen, oder?“ Er lachte, ein raues, kurzes Geräusch, das irgendwo zwischen Spott und Ernst lag.
„Ja, genau. So in etwa.“ Der Neue lachte mit, aber es klang gezwungen. Er spielte das Spiel, aber schlecht. Seine Hände zitterten leicht, als er das Glas wieder absetzte. Nervosität. Angst? Vielleicht. Aber Angst wovor?
Er lehnte sich vor, legte die Ellenbogen auf die Knie und starrte ihn an. Lange genug, dass es unangenehm wurde. „Du bist nervös. Irgendwas stimmt nicht, oder?“ Die Worte kamen wie ein Schuss, direkt und ohne Vorwarnung.
„Was? Nein, Quatsch. Alles gut.“ Der Neue lachte wieder, aber diesmal klang es, als hätte jemand auf eine leere Dose getreten. „Ich bin nur nicht so gut im Smalltalk, weißt du?“
„Das hier ist kein Smalltalk.“ Seine Stimme war ruhig, fast gefährlich ruhig. Er ließ den Satz in der Luft hängen, während er einen weiteren Schluck nahm. Der Neue wich seinem Blick aus, starrte auf das Regal hinter ihm, als würde ihn der verstaubte Plattenspieler plötzlich brennend interessieren.
Es war zu einfach. Der Kerl war wie ein offenes Buch, das darauf wartete, dass jemand die Seiten las. Aber nicht jetzt. Jetzt war nicht der Moment, ihn auseinanderzunehmen. Dafür war es noch zu früh. Er brauchte Zeit, um herauszufinden, was genau der Neue hier suchte.
„Also, wie findest du die Nachbarschaft bisher?“ Er lehnte sich wieder zurück, täuschte Desinteresse vor. Der Neue entspannte sich ein wenig, nahm sein Glas und trank hastig. Der Wein ließ seine Wangen leicht erröten.
„Ganz okay. Ruhig, nette Leute. Hab schon ein paar Nachbarn getroffen. Alle echt freundlich.“
„Freundlich?“ Er zog eine Augenbraue hoch. „Du meinst wahrscheinlich neugierig. Die haben alle ihre Nasen überall drin. Glaub mir, die wollen nicht nett sein. Die wollen nur wissen, ob du ’n Freak bist.“
Der Neue lachte, diesmal etwas echter. „Und? Was denkst du? Bin ich ein Freak?“
Er grinste. „Noch nicht. Aber ich behalte dich im Auge.“
Die Worte hingen in der Luft, während der Neue kurz die Stirn runzelte, sich dann aber wieder entspannte. Ein gutes Zeichen. Leute, die zu schnell locker wurden, unterschätzten einen. Und das war immer der erste Fehler.
Nach einer Weile stand der Neue auf, bedankte sich für den „netten Abend“ und versprach, irgendwann mal einen besseren Wein mitzubringen. Er nickte nur, lehnte lässig im Türrahmen, bis der Typ die Treppe runter war.
Kaum war die Tür zu, ging er zum Fenster und schaute hinaus. Der Neue ging die Straße entlang, etwas zu hastig, die Hände tief in den Taschen vergraben. „Neuanfang“, murmelte er und schnippte die Reste seiner Zigarette in den Aschenbecher. Der Typ hatte was zu verbergen. Er spürte es. Und das würde ihn wachhalten.
Die Straße lag wieder still da. Aber in seinem Kopf begann es zu rauschen. Es war das vertraute Knistern, das immer kam, wenn es spannend wurde. Der Neue wusste es noch nicht, aber er war jetzt Teil des Spiels. Und Spiele, die er spielte, hatten nie ein Happy End.
Kapitel 3: Der erste Schatten
Die Nacht war still. Zu still. Es war diese Art von Stille, die unter die Haut kroch, wie eine kalte, klebrige Schicht, die alles erdrückte. Er saß im Sessel, die Füße lässig auf dem Couchtisch, die Gedanken irgendwo zwischen dem billigen Wein, der jetzt endgültig im Abfluss gelandet war, und dem Neuen, der sich sicher in seinem Ikea-Paradies zusammengerollt hatte. Die Straßenlaterne vor seinem Fenster flackerte, ein nerviges Stottern von Licht, das immer wieder Schatten über die Wände warf.
Irgendwas lag in der Luft. Das war keine Paranoia, sondern Erfahrung. Die Art von Erfahrung, die man sammelte, wenn man jahrelang zwischen den Zeilen der Menschen lebte, in den winzigen Rissen ihrer Fassaden. Er zündete sich eine Zigarette an und zog tief, ließ den Rauch in seiner Lunge brennen, bevor er ihn langsam in den Raum entließ. Es beruhigte ihn. Fast.
Dann hörte er es. Ein Schrei. Kurz, aber durchdringend. Aus einer Kehle, die nicht geübt war, solche Laute von sich zu geben. Es war ein Schrei, der schnitt. Die Art, die man nicht mehr vergisst. Er stand sofort auf, das Herz plötzlich schneller, nicht vor Angst, sondern vor Neugier. Die Zigarette fiel aus seinen Fingern, landete auf dem Boden, wo sie langsam ausging.
Er ging zum Fenster, die Füße leise auf dem kalten Parkett. Die Straße war dunkel, nur das Flackern der Laterne und das ferne Leuchten der Lichter in ein paar Wohnzimmerfenstern. Aber nichts bewegte sich. Keine panischen Schritte, keine weiteren Schreie. Es war, als hätte die Dunkelheit alles verschluckt.
Dann sah er es. Ein Schatten, der sich am Ende der Straße bewegte, zu schnell, um ihn richtig zu erkennen. Groß, schlank, wie ein Schemen, der sich in den Nischen der Nacht verlor. Sein Atem wurde flach, die Augen suchten die Straße ab, aber der Schatten war weg. Zurück blieb nur die Kälte, die plötzlich durch das offene Fenster kroch.
Er schnappte sich seinen Hoodie und ging raus. Die Luft war feucht, und der Asphalt roch nach Regen, obwohl es seit Stunden nicht mehr geregnet hatte. Die Nachbarschaft war still, die Häuser wie schlafende Tiere, die sich nicht rührten. Aber er wusste, dass etwas nicht stimmte.
Am Ende der Straße, wo die Laternen nicht mehr hinreichten, fand er es. Erst sah er nur die Umrisse, eine seltsame Form, die nicht in diese ordentliche Vorstadtstraße passte. Er trat näher, langsam, jeder Schritt ein Echo in der stillen Nacht. Dann blieb er stehen.
Es war eine Frau. Mitte dreißig, schätzte er, ihr Körper halb in den Schatten eines parkenden Autos gehüllt. Das Gesicht war blass, die Augen weit aufgerissen, der Mund leicht geöffnet, als hätte sie bis zum letzten Moment versucht zu atmen. Ihr Hals war verdreht, unnatürlich, wie eine Marionette, die jemand grob zur Seite geworfen hatte. Auf dem Asphalt unter ihr war eine dunkle Pfütze, die langsam in die Ritzen des Straßenbelags sickerte.
„Scheiße,“ murmelte er, mehr zu sich selbst als zu jemand anderem. Er kannte sie. Nicht gut, aber genug. Sie wohnte zwei Häuser weiter, eine von diesen Frauen, die immer mit perfekt gemachten Haaren und teuren Handtaschen unterwegs waren. Typ Vorstadtprinzessin, die vorgab, alles im Griff zu haben. Aber jetzt lag sie da, und nichts an ihr schrie mehr nach Kontrolle.
Er zog sein Handy aus der Tasche, wollte die Polizei rufen. Dann hielt er inne. Was sollte er sagen? Dass er zufällig hier war? Dass er den Schrei gehört hatte und aus Neugier nachsehen wollte? Die Bullen waren nicht dumm. Ein alleinstehender Typ in einer ruhigen Nachbarschaft, bekannt dafür, zu viel zu wissen – das würde Fragen aufwerfen. Fragen, auf die er keine Lust hatte.
Er steckte das Handy wieder ein, zog sich die Kapuze tiefer ins Gesicht und ging zurück. Seine Schritte waren schnell, aber nicht hektisch. Hektik machte misstrauisch. Das wusste er. Die Zigarette in seiner Hosentasche fühlte sich schwer an, wie ein Fremdkörper. Sein Herz schlug schneller, aber nicht aus Angst. Es war die Aufregung, die ihn trieb. Das Gefühl, dass etwas Großes begann.
Zurück in seiner Wohnung zog er die Glastür zu, ließ sich in den Sessel fallen und zündete sich die Zigarette an. Der Rauch füllte seine Lungen, beruhigte ihn ein wenig, aber nicht genug. Die Frau war tot. Keine Frage. Aber was ihn beschäftigte, war nicht der Mord an sich. Es war die Frage: Wer?
Das war kein Zufall. Nicht in dieser Straße. Nicht jetzt, wo der Neue eingezogen war. Der Schatten, den er gesehen hatte – er war sicher, dass er nicht der Einzige war, der beobachtete. Irgendjemand spielte hier ein Spiel, und er wollte wissen, wer die Regeln machte.
Er zog an der Zigarette, ließ den Rauch in die Dunkelheit vor ihm entweichen. „Willkommen in der Nachbarschaft,“ murmelte er, das Grinsen auf seinen Lippen schärfer als je zuvor. Es war keine Angst, die er fühlte. Es war Vorfreude.
Kapitel 4: Kein Platz für Zufälle
Am nächsten Morgen war die Straße ein ganz anderes Biest. Die Ruhe war weg. Stattdessen schwirrten Stimmen durch die Luft, laut und aufdringlich, wie lästige Fliegen. Blaulicht blendete durch die Fenster, flackerte über die Wände seiner Wohnung. Er stand in der Küche, die Hände um eine Tasse mit lauwarmem Kaffee geklammert, der mit Hafermilch gestreckt war. Nicht, dass er auf diesen Hipster-Kram stand, aber normale Milch konnte er sich abschminken. Histamin-Intoleranz, oder wie der Arzt es vor einem Jahr in einem genervten Tonfall genannt hatte: „Ihr Körper mag keine Milchprodukte, Deal damit.“
Er hasste es, dass er sich daran halten musste. Es passte nicht zu ihm, so ein Weichei-Scheiß. Aber die Alternative – sich zu fühlen, als würde ihm jemand die Luft aus den Lungen pressen – war noch beschissener. Also Hafermilch. Schmeckte eh nach Pappe, aber er war zu müde, um sich zu beschweren.
Draußen wurde es lauter. Er trat ans Fenster, die Tasse noch immer in der Hand, und zog die Gardine ein Stück zur Seite. Zwei Streifenwagen standen in der Einfahrt der Nachbarin, deren Leiche er letzte Nacht gefunden hatte. Ein Absperrband flatterte im Wind, und ein paar Polizisten redeten hektisch miteinander. Sie waren nervös, das konnte er aus dieser Entfernung sehen. Das passte zu der Art Mord, die er gesehen hatte. Das hier war kein Herzinfarkt auf der Couch. Das war eine Szene, die Leute nachts wachhielt.
Er sah den Neuen. Der Typ stand draußen, an einen Laternenpfahl gelehnt, und versuchte, unauffällig auszusehen. Aber er war zu angespannt, die Schultern zu hochgezogen, die Hände tief in den Taschen seines grauen Hoodies vergraben. Interessant, dachte er. Warum musste jemand, der erst seit ein paar Tagen hier wohnte, so tun, als wäre er unsichtbar?
Er zog sich die Kapuze über den Kopf, schnappte sich seine Zigarette vom Küchentisch und trat auf den Balkon. Der kalte Wind biss ihm ins Gesicht, aber das störte ihn nicht. Er lehnte sich über das Geländer, ließ die Zigarette zwischen seinen Fingern rot glühen und ließ den Rauch über die Straße treiben. Von hier oben konnte er alles sehen. Jeden. Aber niemand sah ihn.
Unten redeten zwei Polizisten mit einer Frau, die einen abgetragenen Morgenmantel trug und mit einer Mischung aus Schock und Aufregung gestikulierte. Wahrscheinlich die Art Nachbarin, die immer wusste, wer wann seinen Müll rausbrachte und ob die Tonne richtig sortiert war. Die Art, die Leute wie ihn hassten. Er ließ den Blick weiterwandern. Der Neue war verschwunden. Wo bist du hin, Kollege?
Die Zigarette war fast runtergebrannt, als er ein Klopfen an der Tür hörte. Er erstarrte kurz, warf den Stummel über das Geländer und trat zurück in die Wohnung. Seine Hände waren ruhig, als er die Tür öffnete. Zwei Polizisten standen davor, einer groß und muskulös, der andere kleiner und älter, mit einem Gesicht, das wie aus Granit gehauen war.
„Morgen“, sagte der Große, während der andere ihn nur stumm musterte. „Wir gehen in der Nachbarschaft rum, sprechen mit den Anwohnern. Haben Sie letzte Nacht was Auffälliges gehört?“
Er lehnte sich an den Türrahmen, die Hände lässig in den Taschen seines Hoodies. „Auffälliges? Nein. Ich war den Großteil der Nacht hier. Hatte noch ein Glas Wein, bisschen Musik, das Übliche. Warum?“
Der Große zog ein Notizbuch aus der Tasche und blätterte es auf. „Eine Ihrer Nachbarinnen ist letzte Nacht verstorben. Wir prüfen alle Möglichkeiten. Haben Sie jemanden gesehen, der sich ungewöhnlich verhalten hat?“
Er schüttelte den Kopf. „Die meisten hier sind langweilig wie ein regnerischer Sonntag. Ungewöhnlich verhalten? Nicht wirklich. Aber hey, ich halt die Augen offen.“
Der kleine Polizist trat einen Schritt nach vorne, die Augen kalt und durchdringend. „Wann haben Sie die Nachbarin zuletzt gesehen?“
Er hob eine Augenbraue, als hätte die Frage ihn beleidigt. „Keine Ahnung. Vielleicht vorgestern? Wir sind keine besten Freunde, wissen Sie?“
Der Große notierte etwas und nickte. „Danke für Ihre Zeit. Falls Ihnen noch was einfällt, melden Sie sich bitte.“
Die beiden drehten sich um, und er schloss die Tür, bevor sie den Flur erreicht hatten. Sein Herz schlug schneller, aber es war nicht die Angst. Es war der Kick, der ihn jetzt schon süchtig machte. Die wussten nichts. Noch nicht.
Er ging zurück in die Küche, goss sich den Rest des kalten Kaffees in den Ausguss und starrte auf die Straße. Die Polizisten arbeiteten langsam, redeten mit jedem Haus, einer nach dem anderen. Er hatte Zeit. Genug Zeit, um herauszufinden, was hier wirklich abging.
Der Neue war immer noch nirgends zu sehen. Aber das würde nicht lange so bleiben. Er hatte das Gefühl, dass dieser Typ ein Geheimnis hatte. Und er liebte nichts mehr, als ein Geheimnis zu knacken.
Kapitel 5: Jäger und Gejagte
Der Tag zog sich wie alter Kaugummi, zäh und ungenießbar. Die Straße war voll von Uniformen, Nachbarn, die mit verschwörerischen Mienen in Gruppen standen, und dem dumpfen Summen von Gerüchten, die sich schneller verbreiteten als ein Waldbrand. Er saß auf seinem Balkon, die dritte Zigarette des Tages zwischen den Fingern, und beobachtete, wie das Chaos sich langsam setzte. Es war wie ein Theaterstück, in dem jeder Nachbar seinen Part spielte – die besorgte Mutter, der überfreundliche alte Mann, der gerne einen Moment zu lange an den Polizisten kleben blieb. Aber kein Schauspieler war spannender als der Neue.
Er hatte ihn wiedergefunden. Nicht vor seiner Wohnung, sondern weiter unten in der Straße, wo er mit einem dieser unscheinbaren Typen redete, die man sofort wieder vergisst. Der Typ trug einen Anzug, zu glatt gebügelt für diese Nachbarschaft. Ein Versicherungsheini? Ein Anwalt? Der Typ hatte die Haltung eines Mannes, der dachte, er hätte immer die Kontrolle. Der Neue sah nervös aus, die Hände tief in den Taschen, der Blick überall, nur nicht auf seinem Gesprächspartner. Was auch immer da lief, es war kein lockeres Geplauder.
„Wer zum Teufel bist du, Kollege?“ murmelte er und zog an seiner Zigarette, während er den Neuen weiter beobachtete.
Die Tür hinter ihm ging auf, und er drehte sich nicht mal um. Es konnte nur eine Person sein: Nina. Sie wohnte ein Stockwerk unter ihm, eine von denen, die man nicht ignorieren konnte, selbst wenn man wollte. Knallroter Lippenstift, schwarze Lederjacke, und eine Stimme, die immer so klang, als hätte sie gerade jemanden beleidigt. Sie trat neben ihn, griff in ihre Tasche und zog eine Zigarette heraus.
„Hast du gehört?“ fragte sie und zündete sich ihre Kippe an, ohne auf eine Antwort zu warten. „Die Alte von drüben ist tot. Hat jemand letzte Nacht abgemurkst. Die Bullen rennen hier rum wie auf Speed.“
„Hab ich mitbekommen“, sagte er beiläufig und ließ den Rauch durch die Nase entweichen. Nina war eine, die alles wusste. Die Art von Nachbarin, die nicht nur hörte, was die Leute sagten, sondern auch verstand, was sie nicht sagten. Wenn jemand wusste, was los war, dann sie.
„Was denkst du? War’s der Ehemann? Oder vielleicht der Typ, mit dem sie manchmal zu spät nach Hause kam?“ Sie grinste, ein schiefes Ding, das mehr Spott als Freude war.
„Könnte sein“, sagte er, obwohl er wusste, dass es unwahrscheinlich war. Der Mord war zu... präzise. Keine Eifersucht, keine Hitze des Moments. Das hier war geplant, wie eine Schachpartie, in der jeder Zug vorher festgelegt war. „Hast du den Neuen gesehen?“
Nina hob eine Augenbraue, warf ihm einen Seitenblick zu. „Klar. Der Typ ist weird. Hat mich gestern gefragt, wo der nächste Supermarkt ist, als ob er nicht einfach Google fragen könnte. Wer fragt heutzutage noch Leute nach sowas?“
Er grinste. „Vielleicht wollte er reden.“
„Mit mir?“ Nina lachte, ein trockenes, raues Geräusch. „So verzweifelt kann er gar nicht sein.“
Sie schwiegen für einen Moment, sahen beide auf die Straße hinunter, wo die Polizisten gerade mit der besorgten Mutter redeten. Eine Frau Mitte 30, ständig mit einem Kinderwagen unterwegs, auch wenn das Kind darin meistens schlief. Sie hatte diesen panischen Blick, den Menschen bekamen, wenn ihre geordnete kleine Welt einen Riss bekam.
„Weißt du, was komisch ist?“ fragte Nina plötzlich. „Die Alte, die jetzt tot ist, war gestern noch im Café bei der Hauptstraße. Hab sie mit jemandem gesehen. So einem Typen mit dunkler Lederjacke. Sie haben nicht geredet, aber er saß da und hat sie angestarrt. Die ganze Zeit. Als ob er auf etwas wartete.“
Das war neu. Er sah sie an, sein Interesse geweckt. „Was für ein Typ?“
„Keine Ahnung. Groß, breitschultrig, dunkle Haare. Sieht aus wie der Bösewicht in einem Actionfilm, weißt du?“ Sie nahm einen letzten Zug und warf die Zigarette über die Balkonbrüstung. „Aber er war nicht von hier. Den hätte ich erkannt.“
„Vielleicht ein Ex? Oder jemand von der Arbeit?“
„Vielleicht“, sagte Nina, ihre Stimme unsicher. „Aber wenn du mich fragst, hatte der Typ was vor. Und jetzt ist sie tot.“
Er dachte darüber nach, während Nina zurück in ihre Wohnung ging, die Tür mit einem knappen „Ciao“ hinter sich zuziehend. Ein fremder Mann, der die Tote am Tag vor ihrem Mord beobachtet hatte. Das passte irgendwie ins Bild. Aber es erklärte nichts über den Neuen und warum er heute so nervös war.
Später an diesem Tag, als die Polizisten sich endlich verzogen hatten und die Nachbarschaft langsam zur Normalität zurückkehrte, klingelte es an seiner Tür. Er öffnete, und da stand sie. Marie, die Frau mit dem Kinderwagen. Sie sah noch panischer aus als am Morgen, die Hände fest um den Griff des Kinderwagens geklammert, auch wenn das Ding leer war.
„Kann ich kurz reinkommen?“ fragte sie, ihre Stimme leise und zittrig.
Er zögerte. Marie war nicht die Sorte Nachbarin, die einfach so bei jemandem klingelte. Sie war die stille, höfliche Art, die immer einen Schritt Abstand hielt. Was auch immer sie wollte, es musste wichtig sein. Er trat zur Seite und ließ sie eintreten.
„Was gibt’s?“ fragte er, während sie sich nervös umsah, als erwartete sie, dass jemand ihr gefolgt war.
„Ich weiß nicht, wem ich das sonst sagen soll“, flüsterte sie. „Aber ich glaube, ich habe gestern Nacht jemanden gesehen. Jemanden, der nicht hierhergehört.“
„Jemanden? Wen?“