Hinters Licht - Åsa Avdic - E-Book

Hinters Licht E-Book

Åsa Avdic

0,0
18,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

»Noch immer kein Zeichen von dir. Nicht mal ein klitzekleines. Langsam werde ich nervös.« Die begabte Mathematikerin Ruth Doran hat ihren Traum von einer wissenschaftlichen Karriere bereits aufgegeben, als sie im Frühsommer 1919 auf eine Anzeige stößt, die ihr Leben verändern wird: Der Spiritist Thomas Bradford will mit Experimenten beweisen, dass man mit Verstorbenen Kontakt aufnehmen kann, und sucht eine Assistentin. Eigentlich ist Ruth weit davon entfernt, an Geister zu glauben, doch die wissenschaftliche Herangehensweise reizt sie, und sie spürt vom ersten Augenblick an eine Seelenverwandtschaft zu ihrem neuen Vorgesetzen. Die beiden stürzen sich in ihre Studien und verlieben sich heftig ineinander. Ruth fühlt sich wie neugeboren, noch nie zuvor hat sie so intensiv gelebt.  Doch ein schwerer Schicksalsschlag ändert für Thomas alles: Seine Forschung wird zur Obsession, er entwickelt immer extremere Methoden, bis er eines Tages in tot seiner Wohnung aufgefunden wird. Ist er wirklich bis zum Äußersten gegangen, um den ultimativen Beweis zu erbringen?  Nur ihrem Tagebuch kann die sonst so kontrollierte und rationale Ruth ihre komplizierten Gefühle anvertrauen. Und dann bleibt ihr nichts mehr übrig, als auf eine Nachricht von Thomas zu warten. Genau so, wie sie es vereinbart hatten ... 

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 324

Veröffentlichungsjahr: 2025

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Ähnliche


Åsa Avdic

Hinters Licht

Roman

Aus dem Schwedischen von Stefanie Werner

Die Originalausgabe erschien 2023 unter dem Titel

Ett Liv Till bei Albert Bonniers Förlag, Stockholm.

Wir bedanken uns sehr herzlich bei dem Swedish Arts Council für die Übersetzungsförderung für dieses Buch.

 

Deutsche Erstausgabe

© der deutschsprachigen Ausgabe

2025 Arche Literatur Verlag,

ein Imprint der Atrium Verlag AG, Zürich

Copyright © Åsa Avdic 2023

Published by agreement with Paloma Agency

Alle Rechte vorbehalten

 

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

 

Alle Rechte vorbehalten. Der Verlag untersagt ohne ausdrückliche schriftliche Zustimmung die Nutzung dieses Werkes im Sinne des §44b UrhG für das Text- und Data-Mining.

 

ISBN978-3-03790-158-8

 

www.arche-verlag.com

www.facebook.com/ArcheVerlag

www.instagram.com/arche_verlag

Every love story is a ghost story.

David Foster Wallace

Für Emil.

Bis dass der Tod uns scheidet

und so weiter.

Anmerkung der Autorin

Sollten Sie in diesem Roman Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen entdecken, so ist das keineswegs Zufall, denn ein paar Figuren haben tatsächlich gelebt, und manche Ereignisse sind historisch belegt. Allerdings hat sich die Autorin beim Umgang mit biografischem und historischem Stoff eine fast haarsträubende Freiheit genommen: Sie hat nämlich jede Menge hinzugedichtet und schämt sich deswegen kein bisschen.

 

Zu ihrer Entschuldigung möchte die Autorin anmerken, dass es sich hierbei schließlich um einen Roman handelt und sein Inhalt nicht weniger Gewicht hat, nur weil vieles frei erfunden ist.

Teil 1Das Erwachen

5. Februar 1921

Ruths Tagebuch, Tag 0

Fünf Stunden sind nun vergangen, ich weiß, ich sollte mir noch keine Sorgen machen, aber langsam frage ich mich, warum habe ich noch nichts von dir gehört?

 

Dabei komme ich mir blöd vor, warum schreibe ich das? Deine Stimme schwirrt noch durch meinen Kopf, du hast es mir ja klipp und klar gesagt: Es kann ein Weilchen dauern, du hast keine Ahnung, auf welchen Zeitraum man sich einstellen muss. Aber du hast mir versprochen, dich wirklich zu beeilen und dich gleich bei mir zu melden, wenn du am Ziel bist. Und ich habe dir mein Wort gegeben, geduldig zu sein, und das Versprechen will ich auch halten. Ich hatte nur nicht damit gerechnet, dass dieses Warten so dermaßen schwer ist.

 

Jetzt gehe ich schlafen.

1920, ein Jahr zuvor

Ruths Tagebuch

Heute habe ich mir ein Kleid mit unzählig vielen Knöpfen gekauft. Ich konnte nicht widerstehen, obwohl es sündhaft teuer war, denn ich musste mir immerzu vorstellen, wie du es aufknöpfen würdest. Ganz langsam, Knopf für Knopf, du, mit deinen großen Händen. Das kann ich zwar in dieses Tagebuch schreiben, aber sagen kann ich es dir nicht, das wäre ungehörig, und ich weiß nicht, wie du reagieren würdest, wenn du meine Gedanken lesen könntest. Wärst du verlegen und würdest mir aus dem Weg gehen, oder könnte auch genau das Gegenteil passieren? Dieser Gedanke jagt mir fast noch mehr Angst ein. Aber ich muss pausenlos daran denken, ich sitze nur noch da, das Kleid auf dem Schoß, und streichele über die Knopfleiste. Ich stelle mir vor, meine Hände wären deine.

 

Die Tage vergehen nur sehr langsam. Ich kann es kaum erwarten, bis wir uns wiedersehen, und ich hoffe, man merkt es mir nicht an.

 

Als ich heute Nacht aufgewacht bin, hat dein Gesicht vor meinen Augen getanzt. Ganz und gar eigenartig war das. Ich bin plötzlich hochgeschreckt, dachte, jemand hätte deinen Namen gerufen. Dann habe ich im Dunkeln dagelegen und an dich gedacht. Ich sehe dich nicht im Ganzen, in meiner Erinnerung bist du wie ein zersprungener Spiegel, lauter Einzelteile. Ganz deutlich kann ich die Schatten unter deinen Augen sehen, deine Schläfe, deine Kieferpartie, deren Kontur mit den Jahren ein wenig gelitten hat unter dem süßen Leben, dem guten Essen und dem süffigen Wein. Als wir uns zuletzt begegnet sind, warst du unrasiert, allerdings hast du dir keinen richtigen Bart stehen lassen, sondern warst stoppelig wie ein Hafenarbeiter. Ich sehe sie vor mir, die grauen Härchen in deinem Bart, deinen leicht schiefen Zahn, links von den Schneidezähnen. All diese Details, wie in einem Kaleidoskop, nur verkehrt herum. Mitten in der Nacht hast du mich aufgeweckt, dabei warst du selbst gar nicht da. Ich weiß nicht, was das bedeuten soll. Hast du das mit Absicht getan?

 

Ich frage mich, ob du mit deiner Frau genauso redest wie mit mir. Dass andere Menschen solche Gespräche führen wie wir beide, kann ich mir nicht vorstellen. Mit dir zu sprechen ist wie mit dir zu tanzen, ich fühle mich wie eine Ballerina, und wir bewegen uns so bezaubernd, so elegant und virtuos, dass allen, die uns zuschauen, der Atem stockt. Vielleicht liegt das auch nur an dir, du sprichst wohl mit allen Menschen so. Vielleicht ist das auch der Grund, warum dich jeder sofort sympathisch findet. Aber ich glaube, es ist nicht nur das. Ich glaube, irgendwas passiert da zwischen uns. Zumindest möchte ich das glauben.

 

In Gedanken sehe ich euch vor mir. Wie ihr in eurem Haus beieinandersitzt und sie dich fragt, was es Neues gibt. Was antwortest du? Erzählst du von mir? Eher nicht, genauso wenig, wie ich von dir spreche. Ich bin eine Kollegin, mehr nicht. Ich weiß, ihr seid schon lange verheiratet, ihr wart noch jung, wie die meisten. Genau wie ich und Mr. Doran. Zumindest ich war damals noch jung. Ich war so unerfahren und blauäugig und wusste nicht, wie so was sein kann. Das war vielleicht mein Glück. Jedenfalls habe ich dieses Bild vor Augen: du, auf deinem Lieblingsstuhl im Salon, wie du Zeitung liest und Pfeife rauchst, und sie, in ihrem Sessel vor dem Kamin. Die gefeierte Schauspielerin mit ihrem Professorenmann. Euer feines Haus, im Queen-Anne-Stil, eure kleine Tochter, die auf dem Boden hockt und spielt. Hat die Kleine deine Augen? Diese Augen, wie ein Blick ins Mittelmeer an einem frühen Morgen? Ich war noch nie am Mittelmeer, aber genau so stelle ich es mir vor, eine unendliche Weite aus Grün und Blau und Licht. In meiner Vorstellung macht ihr einen glücklichen Eindruck, ihr seid ein harmonisches Paar. Aber ich denke mir, dass sie diejenige ist, die redet, während du schweigst. Wahrscheinlich will ich mich mit diesem Gedanken aber nur selber schützen.

 

Deine Frau. In unseren Gesichtern kann man einige Ähnlichkeiten ausmachen, abgesehen davon sind wir vollkommen verschieden. Sie hat etwas Pfauenhaftes, möchte ich fast sagen, doch ich will nicht gemein sein. Sie ist in jeder Hinsicht mehr als ich, ihre ausladenden Gesten – alles an ihr ist mehr. Ich frage mich, was das zu bedeuten hat. Dich werde ich niemals danach fragen.

 

Ich sehne mich so sehr danach, endlich wieder mit dir zu reden. Geht es dir auch so? Wie gern wüsste ich, ob du auch ständig an mich denken musst. Ich schäme mich ein bisschen, weil ich pausenlos an dich denke. Tanzt mein Gesicht auch vor deinen Augen? Verändert sich dann dein Blick? Und wie erklärst du es deiner Frau, wenn sie nachfragt? Oder fragt ihr euch so was gar nicht? Klingen unsere Gespräche in dir nach, gehst du sie auch Satz für Satz immer wieder durch? Huscht dann ein Lächeln über dein Gesicht? In letzter Zeit habe ich so viel gelächelt, dabei ist mir eigentlich zum Heulen zumute. Ich hatte ja keine Ahnung, wie sich das anfühlt. Mit Mr. Doran habe ich so was nie erlebt.

1919

Thomas Bradford ist ein großer Mann. In einer Menschenansammlung fällt er auf. Nicht, dass er so viel größer wäre als andere, doch in der Landschaft eines Salons ist er eine Art Hausberg. Wenn er sich mit anderen unterhält, bemerkt man ihn, egal, wo im Raum man sich befindet. Das liegt nicht allein an seiner Körpergröße, sondern auch an seiner Unbeholfenheit, das fällt auf. Obwohl er groß und stark ist, hat er etwas Welpenhaftes an sich, als würde er es selbst gar nicht glauben können, dass er schon erwachsen ist, dabei geht er bereits auf die vierzig zu. Man fühlt sich an eine Deutsche Dogge erinnert, die einem auf den Schoß springen will, obwohl sie viel zu groß dafür ist. Sieht man ihn mitten im Raum stehen, in seinem gedeckten Anzug mit Krawatte, die Brille auf der Nase, hat man sofort ein Bild vor sich, wie er als Fünfzehnjähriger ausgesehen haben mag, damals noch etwas schlaksiger und lässiger, mit dunklen Haaren, die ihm ins Gesicht fielen. Thomas Bradford wird langsam alt und grau, doch seine Augen sind offen und neugierig, als sei er allzeit bereit, die Welt im Sturm zu erobern.

 

Später, da ist Ruth schon Thomas’ Assistentin, erinnert sie sich, dass sie sich schon mal über den Weg gelaufen sind. Sie verkehrten beide in denselben gesellschaftlichen Kreisen, kamen aber nie direkt miteinander in Kontakt. Vor Jahren wurden sie einander einmal vorgestellt. Ruth weiß nur noch, dass sie bei ihm keinerlei Eindruck hinterlassen hat.

Es war eine Soiree, und er kam zu spät. Seine Kleidung war auffällig leger, die Krawatte gelockert, als wolle er es sich schon bequem machen. Er begrüßte die Gastgeberin höflich, und die stellte ihm Ruth vor, beide gaben sich die Hand, doch sein Blick streifte sie nur flüchtig und wanderte weiter zu den anderen Gästen, als sei sie nur einer von vielen Bäumen im Wald. Aber sie erinnert sich noch genau, denn bei dieser Gelegenheit erfuhr sie, wer er war. »Das ist Thomas Bradford, er ist Wissenschaftler. Spiritist.«

 

Jetzt läuft Thomas Bradford die Straße entlang. Es ist dunkel und regnet, und gerade eben erst ist er ausgelacht worden. So fühlt sich das also an, denkt er bei sich. So fühlt es sich also an, erniedrigt zu werden. Das ist Thomas Bradford noch nie passiert. Als er jung war, hat ihn vielleicht das eine oder andere Mädchen höflich abgewiesen, war nicht so an ihm interessiert, wie er es gehofft hatte, doch erniedrigt hatte ihn keine. Dieses Gefühl ist übermächtig. Thomas Bradford ist kein Mann, der das Risiko liebt, oder, besser gesagt, er war es nicht. Aber bislang hat man ihn auch nicht gedemütigt. Er zieht den Mantel enger um den Leib. Die Scheinwerfer von Automobilen und Kutschen, die vorbeikommen, spiegeln sich in den Regenpfützen der Straße. Der Asphalt sieht aus wie ein unruhiger See, und es ist, als könne Thomas Bradford übers Wasser laufen. Eigentlich sollte er erbost sein, doch stattdessen fühlt er sich sonderbar aufgekratzt. Morgen, nimmt er sich vor, morgen setze ich die Anzeige in die Zeitung. Denen werd ich es zeigen.

 

Bevor Ruth auf Thomas’ Anzeige antworten und sich ihr Leben schlagartig ändern wird, hört sie noch einmal jemanden von ihm reden. Vielleicht wird erst da ihr Interesse an ihm ernsthaft geweckt, vielleicht nimmt sie deswegen überhaupt Notiz von seiner Annonce und schreibt zurück. Im Nachhinein ist es immer leicht, ein Muster zu erkennen, selbst da, wo es eigentlich keins gibt. Na ja, was heißt schon, es gibt keins, es kommt eben darauf an, was man glauben will; glauben wir doch einfach, es hat sollen sein, dass Ruth und Thomas sich begegnen.

Bei einer Sitzung im Institut ist er ausgelacht worden. Kürzlich waren ihm für seine spiritistischen Forschungen umfangreiche finanzielle Mittel zur Verfügung gestellt worden, woraufhin er im Kreise der Kollegenschaft seine neusten Ideen präsentierte. Ruth hört davon am nächsten Tag, als sie abends bei Evelyn und ihrem Mann zum Abendessen eingeladen ist, inzwischen eine feste Gewohnheit. Ruth hat das Ehepaar Grimes vor langer Zeit kennengelernt, als Mr. Doran noch lebte. Mr. Grimes, Evelyns Gatte, und Ruths verstorbener Mann, waren zusammen an der Universität, aber während Mr. Doran nach dem Examen abging und seine erworbenen Fähigkeiten und Kenntnisse bis zu seinem Tode im Familienunternehmen einbrachte, konnte Mr. Grimes, der von Haus aus sehr vermögend war, am Institut bleiben und weitere Forschungen betreiben. Genau wie Thomas Bradford.

Und Mr. Grimes erzählt davon, dass sie Thomas Bradford ausgelacht haben. Genau dieses Wort nimmt er in den Mund: Ausgelacht. Später, als Ruth sich daran erinnert, findet sie es brutal. »Seine Ideen sind nun mal völlig wahnsinnig, da muss er sich nicht wundern, wenn er ausgelacht wird«, ist Mr. Grimes’ Kommentar, während er sein Schweinekotelett in Stücke zerlegt, und dann fügt er hinzu: »Eigentlich ist es schade um den Kerl, Talent hat er ja. Er müsste einfach nur das Forschungsgebiet wechseln, mehr nicht. Am Donnerstag werde ich ihm das mal vorschlagen, da sind wir zum Mittagessen verabredet.« Und dann wechselt Mr. Grimes das Thema.

 

Zu diesem Zeitpunkt weiß natürlich noch keiner von ihnen, dass Thomas Bradford sein Forschungsgebiet mitnichten wechseln wird, egal, wie viele Mittagessen er sich einverleibt, und dass Ruth in die ganze Geschichte verwickelt werden wird und dass keiner von ihnen das Ende vom Lied je erraten hätte, und hätten sie hundert Versuche gehabt.

6. Februar 1921

Ruths Tagebuch, Tag 1

Noch immer kein Zeichen von dir. Zum Laboratorium bin ich heute durch den Park gegangen. Es war kalt und die Luft frisch und klar. Kaum hatte ich den Schlüssel ins Türschloss gesteckt, stand schon die Frau des Hausmeisters hinter mir. Sie war wütend, weil die Lampe die ganze Nacht lang geflackert und, wie sie meinte, »den teuren Strom verbraucht« hat. Sie fragte nach dir persönlich, offensichtlich wollte sie diese technische und somit Männern vorbehaltene Angelegenheit nicht mit einer Frau besprechen. Du kannst dir bestimmt vorstellen, dass ich wegen der flackernden Lampe aufgemerkt habe. Ich habe die Dame gefragt, wie lange das schon so geht, und bekam nur »seit gestern oder vorgestern« zur Antwort, woraus ich leider keine eindeutigen Schlüsse ziehen konnte.

 

Als ich dann im Laboratorium stand, überkam mich plötzlich eine schreckliche Hoffnungslosigkeit. Deine Abwesenheit war überall spürbar. Und gleichzeitig war alles andere so unerträglich normal, ohne dich. Die Rundkolben, die Wachsrollen, die großen Batterien, der Wassertank, die Glocken, hübsch in Reih und Glied, die großen Pflanzen mit ihren Luftwurzeln. Als ich an ihnen vorbeiging, geschah es schon wieder: Vor meinen Augen richteten sie sich fast vollständig auf und streckten ihre grünen Finger nach mir aus, als wollten sie mich ganz sanft trösten. Ich habe dir versprochen, stark zu sein, und das Versprechen will ich halten. Koste es, was es wolle.

 

Der Tag verging wie im Nebel. Ich habe versucht, mich normal zu verhalten und alles genau wie sonst zu erledigen. Eine Zeit lang habe ich die Zahlensender abgehört, konnte dann aber nicht mehr still sitzen und musste mir eine andere Beschäftigung suchen. Also machte ich mich an die Transkription, das wiederum wühlte mich zu sehr auf. Denn als ich die Rolle in den Phonografen gelegt und Stift und Notizblock zur Hand genommen hatte, erklang aus dem Trichter deine Stimme. Obwohl die Tonqualität miserabel war, erfüllte sie das Laboratorium, als wärst du wirklich da. Ich habe versucht, deine Beobachtungen niederzuschreiben, aber ich schaffte es nicht, ich saß bloß da und lauschte deiner Stimme, die von deinen Forschungen, von unseren Forschungen erzählte. Es ist so schön, dass du von »unseren Forschungen« sprichst. Mir bedeutet das sehr viel, auch wenn ich nicht glaube, dass das Institut meinen Namen auf den Forschungsbericht drucken wird. Du würdest dich nie mit fremden Federn schmücken, das weiß ich genau – Gerechtigkeit ist dir viel zu wichtig und du willst, dass ich für meine Arbeit auch die entsprechende Anerkennung erhalte – aber mir ist natürlich klar, dass du hier der Wissenschaftler bist. Professor Thomas Bradford hat die Mittel für seine Forschungen erhalten, nicht Ruth Doran. Du tust, was du kannst, um das auszugleichen, und jetzt kann ich es ja sagen: Als du den Mietvertrag fürs Laboratorium unterschrieben und meinen Namen neben deinem ergänzt hast, hat es mich glücklich gemacht und gleichzeitig wurde mir flau. Glücklich, weil du dieses große Vertrauen in mich setzt, und flau, weil ich in dem Moment begriffen habe, dass du inzwischen auch damit rechnest, dass es vielleicht doch nicht so leicht wird, nach deinem Experiment zurückzukommen, wovon du anfangs noch ausgegangen warst.

 

Als die Dunkelheit hereinbrach, habe ich es aufgegeben. Um deine Pflanzen musst du dir keine Sorgen machen, ich habe sie nicht vergessen. So wie du habe ich die Erde abgetastet und dann mit der Gießkanne hier und da Wasser nachgegossen. Ich meinte sie trinken zu hören, mit gierigen, großen Schlucken, sie haben das Wasser regelrecht aufgesogen. Sie sind inzwischen so riesig, dass ich mir in ihrer Nähe klein vorkomme, und sie alle blühen – bis auf Eurydike. Ich weiß, du willst nicht, dass wir sie stutzen, du denkst, wir könnten sie verschrecken, wenn wir ihnen wehtun, denn sie sollen uns doch vertrauen. Du merkst vermutlich, dass ich das etwas übertrieben finde, aber das ist deine Entscheidung. So breiten sich die Pflanzen jetzt ungeniert aus, ihre langen, serpentinenartigen Triebe kringeln sich nach oben und nach unten und zur Seite. Ich stand eine Weile still mit geschlossenen Augen vor ihnen, ruhig atmend, und habe deinen Namen geflüstert, immer und immer wieder. Aber nichts geschah. Dann habe ich das Licht gelöscht und bin heimgegangen.

1920

An dem Tag, als die Pflanzen ins Laboratorium einziehen, ist Ruth bereits vor Ort. Unverhofft stehen Thomas und Bradley mit einem Karren voll riesiger, wild wuchernder Gewächse vor dem Eingang. Mit Mühe schleppt Bradley das erste herein. Es scheint, als hätte es eine Seele, wie es mit seinen langen Trieben nach Licht und Luft greift. Da zieht etwas Lebendiges ein, denkt auch Ruth.

»Wir müssen ihnen Namen geben!«, ruft Thomas voller Begeisterung schon in der Tür, während er Bradley hilft, das nächste Ungetüm hereinzutragen, alles in allem sind es fünf Stück.

»Wo wollen wir sie hinstellen?«, ruft Ruth zurück.

»Wo es am hellsten ist! Schauen Sie mal nach, auf welchem Tisch genügend Platz ist!«

Ruth eilt zum Abstellraum im hinteren Teil des Labors, wo sich Möbel stapeln. Bevor der geräumige Backsteinbau Thomas’ und Ruths Laboratorium wurde, wurde er für kirchliche Veranstaltungen genutzt, doch nach und nach waren Stühle und Bänke in den Abstellraum gewandert, um Kolben, Gasbrennern und Batterien Platz zu machen.

Ganz in der Ecke, hinter ein paar Polstersesseln, entdeckt Ruth einen ausklappbaren Holztisch, der groß genug für alle Pflanzenkübel sein müsste. Bradley hilft ihr, den Tisch zu tragen. Pflanzen brauchen Licht, das weiß auch Ruth, also schiebt sie ihn mitten in den Raum, damit sie dort von allen Seiten Licht bekommen. Nachdem sie endlich alle fünf Gewächse auf dem Tisch platziert haben, stehen sie staunend davor. Es sind wirklich außergewöhnliche Exemplare, vielleicht stammen sie aus dem Dschungel, sie sind riesig und ineinanderverschlungen und haben eigenartige Luftwurzeln. Nur eine trägt eine prächtige blaue Blüte, sie verströmt einen schweren, süßen Duft.

»Selandria egyptica«, erklärt Thomas und schüttet etwas Erde auf. »Die habe ich von den Kollegen im Botanischen Garten bekommen. Stellen Sie sich vor, die wollten sie wegwerfen! Ich musste nicht mal was zahlen, die waren heilfroh, sie loszuwerden.« Thomas klingt entrüstet, als hätten die Botaniker kein Herz und würden kleine Kinder aussetzen.

»Wir müssen ihnen Namen geben«, sagt Thomas erneut und wischt seine schmutzigen Hände an der Hose ab. »Die hier soll Penelope heißen und die daneben Iphigenie.« Dann zeigt er auf die beiden Pflanzen, die ganz links stehen. »Ruth, helfen Sie mir, fällt Ihnen etwas ein?«

Ruth denkt kurz nach. »Cordelia«, sagt sie schließlich, »und Desdemona.«

»Oh, Shakespeare.« Bewundernd grinst Thomas sie an. »Schöne Idee. Jetzt fehlt uns nur noch eine.« Er meint das Gewächs mit der prallen Knospe. Thomas geht hinüber und streicht so zärtlich über die dünnen Blättchen, dass in Ruth fast etwas wie Eifersucht erwacht.

»Eurydike«, sagt Ruth.

Thomas dreht sich zu ihr um, und Ruth denkt, dass seine Augen derart strahlen, als brenne eine Kerze in seinem Kopf.

»Eurydike«, wiederholt er langsam, »ausgezeichnet.«

Das sagt er so seltsam, dass Ruth ein Schauder über den Rücken läuft. Vor lauter Unbehagen muss sie sich schütteln, und dann fragt sie Thomas, was er mit den Pflanzen vorhabe. Und Thomas erzählt es ihr. Doch dazu kommen wir später.

 

Ruth geht davon aus, dass sie sich künftig um die Pflanzen kümmern soll, weil Thomas das Interesse an ihnen bestimmt schnell verlieren oder es als unmännlich empfinden wird, sich mit Topfpflanzen zu beschäftigen. Doch zu ihrem Erstaunen wird Ruth häufig beobachten, wie Thomas vor dem Tisch steht und vertrocknete Blätter entfernt, die Feuchtigkeit der Erde überprüft oder sich ganz allgemein vergewissert, dass es seinen Pflanzen auch gut geht. Sie hört sogar, wie er leise mit ihnen spricht. Thomas hat irgendwo gelesen, dass Blumen es mögen, wenn man mit ihnen redet, sie sollen sogar in der Lage sein, Stimmen zu unterscheiden. Manchmal meint Ruth, die Pflanzen sprechen auf seine Stimme an. Wenn Thomas das Laboratorium betritt, richten sie sich nach ihm aus, recken und strecken sich, wie Katzen. Wobei Ruth sich nicht vollkommen sicher ist. Reagieren die Pflanzen so heftig auf Thomas’ Anwesenheit oder ist sie das nicht vielleicht selbst?

6. Februar 1921

Ruths Tagebuch, Tag 1

Am späten Abend. Ich starrte immer noch auf die Kerze, als Mary zu mir ins Zimmer kam: »Was tust du da?«

Ihre Stimme klang kritisch. Dich hat sie ja noch nie leiden können. Wie ein Racheengel stand sie da, in ihrem weißen Nachthemd, die Miene finster, über den Schultern das lange, blonde Haar. Mir blieb fast die Luft weg, so wunderschön war sie. Kaum zu glauben, dass sie meine Tochter ist, doch noch kann ich Spuren des molligen Kleinkinds in ihrem Gesicht finden, dessen erste unsichere Schritte jetzt mehr als zehn Jahre zurückliegen, die unverkennbaren, für ihr helles Gesicht auffällig dunklen Augenbrauen, noch genauso geschwungen wie damals, als sie ein kleines Baby war. Es verschafft mir eine heimliche Freude, dass ich ihr Kindergesicht immer noch sehen kann, als stände da etwas in einer geheimen Sprache, die nur ich entschlüsseln kann. Für die jungen Männer ist es unsichtbar, die sich mit hungrig-verträumten Blicken auf der Straße nach ihr umdrehen, genau wie für dich, der nur auf ihre skeptische Zornesfalte blickt, wenn sie dich mit der Verachtung einer Erwachsenen ansieht. Seit geraumer Zeit trifft dieser Blick auch mich. Sie findet, dass ich mich lächerlich mache. Womöglich hat sie damit recht.

»Nichts Besonderes, ich sitze nur hier und denke nach. Gehst du jetzt schlafen? Dann vergiss nicht, die Petroleumlampe auszumachen!« Eigentlich ist es ein Jammer, dass ich sie immer maßregeln muss, wenn ich mit ihr rede, ich kann es einfach nicht lassen. Ob alle Mütter so sind? War deine Mutter genauso? Mary gab keine Antwort, sie sah mich nur abschätzig an.

»Du weißt schon, dass er dich niemals heiraten wird«, sagte sie schließlich. Das war keine Frage, das war eine Feststellung. Noch bevor ich darauf reagieren konnte, drehte sie sich um. »Gute Nacht«, sagte sie, während die Tür wie ein sich schließender Mund ins Schloss fiel und ihr letztes Wort abschnitt.

Jetzt sitze ich immer noch hier, schreibe und schaue zum Kerzenlicht. Die Flamme bewegt sich kaum, sie brennt still blau und gelb. So sehr starre ich ins Licht, dass mir die Augen tränen. Jetzt sind schon mehr als vierundzwanzig Stunden verstrichen, und ich habe immer noch nichts von dir gehört.

 

Wo bist du nur, mein Liebster? Wo bist du?

1919

Thomas Bradford sitzt in seinem Büro und schreibt einen kleinen Text. Er weiß, wenn er das jetzt zu Ende bringt, gibt es kein Zurück, und manche Leute wird er verärgern. Im schlimmsten Fall könnte er das Laboratorium verlieren, doch das hält er für unwahrscheinlich. Immerhin hat er seine Kontakte und geht davon aus, dass sie Nachsicht mit ihm haben werden. Für sie ist er schließlich ein bunter Hund, somit kann er sich das eine oder andere herausnehmen und genießt eine gewisse Narrenfreiheit. Sie haben ihn als Exzentriker abgestempelt und ihm auf die Art Spielraum verschafft, und genau den gedenkt Thomas Bradford jetzt zu nutzen.

Er will sich auch gar nicht erst »umhören« und sich Rat bei den Kollegen holen, denn dann könnte ihm die eine oder andere Antwort nicht passen. Deshalb wird er seine geniale Idee vom Vorabend sofort in die Tat umsetzen: Er wird sich einen Verbündeten suchen, und zwar mittels einer Zeitungsanzeige. Jetzt sitzt er an seinem Schreibtisch und verfasst den Text dafür, und wahrscheinlich wird er Bradley bitten, die Anzeige in Auftrag zu geben, oder er ruft direkt bei der Zeitung an, damit sie schon morgen im Blatt steht. Oder noch besser, in der Sonntagsausgabe, denn da haben die Menschen Zeit und lesen die Zeitung ausführlich, selbst die Inserate. Aber eigentlich will er gar nicht so lange warten, am liebsten sähe er seine Anzeige gleich in der nächsten Ausgabe.

Wenn es nach Bradley ginge, würde er das Blatt Papier in jedem Fall eigenhändig in die Redaktion tragen, so viel steht fest, denn der Junge hat Angst vor dem Telefon. Zudem trifft er auf dem Weg vielleicht andere Laufburschen und drückt sich eine Weile an der Straßenecke herum, um den neuesten Klatsch und Tratsch aufzuschnappen. Was für Thomas nicht unbedingt von Nachteil ist, Bradley ist eine brauchbare Informationsquelle, obwohl er vom Wesen her eher verschwiegen ist. Oder besser gesagt, er ist zu intelligent, als einfach draufloszuquasseln. Er hat längst begriffen, dass Thomas ihm ab und an einen Extrapenny zusteckt, damit er ein bisschen was erzählt, deshalb macht der Junge den Mund von allein nicht mehr auf. Ein Lächeln huscht über Thomas’ Gesicht. Der Junge hat Eigenarten, die er von sich selbst nur allzu gut kennt, so eine charmante Schlitzohrigkeit, die andere durchaus verärgern kann, wenn sie ihm nicht wohlgesonnen sind. Thomas Bradford sind glücklicherweise die meisten Menschen wohlgesonnen. Er ist groß und freundlich. Sein Blick ist offen und zugewandt, und es fällt ihm überhaupt nicht schwer, mit jedem ins Gespräch zu kommen, egal, ob sein Gegenüber attraktiv oder hässlich ist, wichtig oder unbedeutend.

Genau das ist Thomas Bradfords Geheimwaffe, auch wenn ihm das selbst nicht bewusst ist, er ist einfach zu allen Leuten nett. Das macht immer einen guten Eindruck, sogar bei denjenigen, die es gewohnt sind, mit übertriebenem Respekt behandelt zu werden. Sie betrachten ihn als ebenbürtig, auch wenn er etwas von einem Sonderling hat, das verschafft ihm viel Handlungsfreiheit. Nicht jeder könnte sich beispielsweise als Spiritist outen, ohne gleichzeitig sein Ansehen in der akademischen Welt zu verlieren.

Nicht, dass man den Spiritismus hinterfragen würde. Es gibt viele, sogar im Elfenbeinturm der akademischen Welt, die sich immer für die neuesten Gerüchte über die Geisterwelt interessieren, die wissen wollen, wie sie unser Alltagsleben beeinflusst und welche Möglichkeiten es gibt, mit den Toten zu kommunizieren. Ganz besonders seit dem Krieg, der so viele junge Männer auf französischen Lehmäckern verschwinden ließ, in einem Kampf, dessen Sinn sie nie begriffen haben, und seit so viele Angehörige verzweifelt nach einem Weg suchen, ihre Liebsten noch einmal zu sprechen, wenigstens ein einziges, letztes Mal. Auch wenn die meisten nicht so weit gehen würden, sich Spiritisten zu nennen, so weiß Thomas Bradford doch, dass in weiten Teilen der Bevölkerung ein geradezu fieberhafter Wunsch vorhanden ist, seine Grundlagenforschung möge endlich den Durchbruch bringen.

Der letzte amerikanische Soldat, der an der Westfront sein Leben ließ, war Henry Gunther aus Baltimore. Sein Versuch, am 11. November 1918 um 10.59 Uhr zu Fuß ein deutsches Panzerfahrzeug zu stürmen, um so den nächsten Dienstgrad zu erlangen, scheiterte, weil ihn eine Kugel in die Brust traf. Als er tödlich getroffen in den Dreck fiel, war es 11.00 Uhr und der Krieg zu Ende. Henry Gunthers Verlobte, Annie Smith, wird sich in den darauffolgenden Jahren finanziell ruinieren, indem sie ein Medium nach dem anderen aufsucht, die ihr alle auf verschiedene Weise einreden wollen, dass ihr Verlobter Kontakt zu ihr sucht und sie mit ihm kommunizieren kann, wenn sie noch ein paar Dollar auf den Tisch legt. Ihre verzweifelte Suche nach dem Geist des gefallenen Verlobten wird in parodistischen Glossen in der Zeitung verbraten, und so erfährt auch Thomas Bradford von der unseligen Geschichte. Ihn überkommt die kalte Wut, wenn er an Ms. Smith denkt, die nun nicht nur den Mann fürs Leben, sondern auch noch ihren finanziellen Grundstock zum Leben verloren hat. Es gibt viele Scharlatane, die aus der Not der Menschen Profit schlagen, deshalb betrachtet Thomas Bradford seine Forschung als so unglaublich wichtig.

Genau wie der prominenteste Befürworter von sowohl Vernunft als auch Spiritismus, Sir Arthur Conan Doyle, hält Thomas Bradford sich für offen, aber auch für kritisch. Er ist Spiritist, aber gleichzeitig Wissenschaftler. Die meisten Kollegen in der Wissenschaftsgemeinde finden seine doppelte Betitelung interessant, hat sie doch etwas Entwaffnendes. Manche halten sie vermutlich auch für lächerlich und zweifelhaft, doch das sind die Ausnahmen, sie finden wenig Gehör. Das glaubt er zumindest. Demnächst wird sich herausstellen, ob er richtig liegt, denn er geht davon aus, dass seine Anzeige einige Aufmerksamkeit erregen wird. Er liest den Text noch einmal durch, dann ruft er Bradley. Komme, was wolle, denkt Thomas Bradford und spürt sein Herz höherschlagen. Er ist ein Mann, der aufs Barometer blickt und dann gespannt auf das Unwetter wartet.

 

Ach Thomas, wenn du nur wüsstest, welches Unwetter sich zusammenbraut. Du hättest dich längst in Sicherheit gebracht.

7. Februar 1921

Ruths Tagebuch, Tag 2

Heute stand euer Butler vor der Tür. Natürlich hat sie ihn hergeschickt, sie wollte nicht selbst ins Laboratorium kommen, und das kann ich verstehen. Sie will mich nicht sehen. Das trifft sich gut, das will ich nämlich auch nicht. Es ist gar nicht so lange her, da hast du mich mal gefragt, ob es sich zwischen uns vielleicht etwas entspannen könnte, wenn ich sie besser kennenlernen würde, und ich habe dir ehrlich geantwortet, dass ich mich lieber in einen Käfig voller Giftschlangen legen würde, als Zeit mit deiner Frau zu verbringen, aber für dich würde ich selbst das tun. Es schien so, als hättest du nicht ganz begriffen, was ich da gesagt habe, vielleicht hast du es als Scherz aufgefasst, weil meine Antwort ein bisschen flapsig klang. Doch das war beileibe kein Scherz. Es ist erschreckend, was ich für dich alles tun würde.

 

Nun gut, dein Butler John hat also angeklopft und ist hereingekommen, und du kannst dir vorstellen, dass ihm nicht ganz wohl in seiner Haut war. »Mrs. Bradford lässt fragen, ob Mr. Bradford sich hier aufhält?«

Ich ging all unsere Gespräche im Kopf noch einmal durch und gab dann genau die Antworten, die wir uns zurechtgelegt hatten: dass du nicht hier seist, ich aber gern etwas ausrichten könne. Als er sich damit nicht zufriedengeben wollte und weiter quengelte, wurde ich eine Spur harscher: »Nun ja, ich bin weder Mr. Bradfords Haushälterin noch seine Ehefrau, ich bin nur seine Laborassistentin. Deshalb kann er kommen und gehen, wann ihm beliebt, und ich habe auch keinen Überblick über seinen Terminkalender. Mich interessiert Mr. Bradford nur insoweit, als dass er unsere Forschungsprojekte leitet, und das tut er tadellos.«

Ich hatte gehofft, unser Gespräch wäre damit beendet, doch John ist ein Dickschädel, er wollte wissen, wann ich dich zuletzt im Laboratorium gesehen hätte. Es war offensichtlich, dass er mir nicht glaubte, als ich wahrheitsgetreu antwortete, dass ich über deine Schritte nicht Buch führe. Da wurde er ziemlich unverschämt: »Na gut, aber falls Ihr werter Herr Vorgesetzter auftauchen sollte, so können Sie ihm einen schönen Gruß von seiner Frau ausrichten – von seiner rechtmäßig angetrauten Ehefrau, falls er sich noch an sie erinnern kann, – denn sie würde gern ein ernstes Wörtchen mit ihm reden. Also schicken Sie ihn nach Hause, sobald er hier aufkreuzt.«

Ich habe so getan, als wüsste ich nicht, worauf er hinauswollte, habe noch einmal wiederholt, dass ich keinerlei Einfluss auf dich habe, und habe dich auch ganz beiläufig einen »freien Mann« genannt. Und darauf ist er sofort angesprungen. »Genau das ist er eben nicht. Er hat schließlich schon eine Ehefrau. Das sollten Sie, Mrs. Doran, sich vielleicht in Erinnerung rufen.« Dann habe ich fieberhaft nach einer passenden Replik gesucht, doch leider fiel mir auf Anhieb nichts ein, und da fragte er weiter, ob ich eine Idee hätte, wo er nach dir suchen könnte. Ich habe ihm den Herrenklub genannt, und damit gab er sich zufrieden. Dann ist er endlich gegangen. Wie du einen so unfreundlichen Menschen in deiner Nähe ertragen kannst, will mir nicht in den Kopf, aber vielleicht ist er ja nur mir gegenüber so grantig? Ich hoffe, mein Verhalten war richtig. Von deiner Wohnung scheint er nichts zu wissen.

 

Am späten Abend. Es hat mir wehgetan, dass du deinen Ehering nicht ablegen wolltest. Ich kann es nachvollziehen, du hast argumentiert, du willst sie nicht so erniedrigen, alles sei doch schon schlimm genug. Ich habe gesagt, ich könne das verstehen, und das war die Wahrheit. Es wäre verdächtig gewesen, so ohne Ring am Finger, und es gab schließlich schon genug Anlass für Gerüchte, die langen Abende im Laboratorium, das Unglück, das über deine Familie hereingebrochen war. Die Leute zerrissen sich das Maul, das konnte man verstehen. Ich natürlich auch. Aber irgendwie auch nicht.

Dein Ring wurde ein schwarzer Anker, der mich langsam, aber beharrlich in die Tiefe zog, und manchmal kam es mir so vor, als gäbe es keinen Meeresboden, auf dem ich aufkommen konnte. Ich sank einfach tiefer und tiefer. Ich habe dich nie darum gebeten, deinen Ring abzunehmen, das habe ich einfach nicht fertiggebracht. Was hättest du auch sagen sollen, ich kannte deine Einstellung ja bereits. Deinen Ehering hast du als »reine Formalität« bezeichnet, als du gemerkt hast, wie ich ihn an deinem Finger betastet habe. Und das war ja auch nicht falsch, in vielerlei Hinsicht gehörtest du ja schon mir. Ich habe versucht, mir einzureden, sie könnte ja den einen Finger haben, wenn ich dafür den Rest von dir bekam. Aber so einfach war es dann doch nicht. Immer, wenn du meinen Körper gestreichelt hast, habe ich das Metall gespürt, als würde es mich in die Haut ritzen. Sie hatte dich mit ihrem Ehering gebrandmarkt, was hieß, dass du mir nicht gehören konntest, dir auch nicht, sondern nur ihr, und ich konnte mir einreden, was ich wollte, dein Ehering war nie bedeutungslos. Und mir ging immer wieder die Frage durch den Kopf, wie du wohl stehst zur Liebe, wenn dir so etwas egal war.

 

Und jetzt sitze ich hier und starre auf deinen Ring. Am Ende hast du ihn ja doch vom Finger gestreift. Hast mich gebeten, ihn aufzuheben, um ihn im Notfall, sollte ich Geld brauchen, zu veräußern. Als du fortgegangen bist, warst du frei, und jetzt warte ich sehnlichst darauf, dass du dich als freier Mann bei mir meldest und so zu mir zurückkehrst.

1921

All sich all jenes zuträgt, wohnt Ruth in einer Stadt, die nicht im eigentlichen Sinne eine Großstadt ist, wie wir sie uns vorstellen. Sie gehört zwar zu den größten Städten des Landes, das schon. Aber gleichzeitig trifft es das nicht ganz. Die Stadt ist wie ein Kind, das unbedingt erwachsen sein will, dem die Kleider allerdings viel zu groß sind. Sicher, in der Stadt gibt es bereits elektrische Straßenbeleuchtung und Straßenbahnen und einige Exemplare des Ford Modell T. Aber in weiten Teilen des Stadtgebiets ist es noch stockdunkel in der Nacht. Das moderne Leben ploppt hier und da auf, und vor gar nicht allzu langer Zeit geschah es, dass eine der prominenten, adeligen Damen die Gesellschaft verblüffte, indem sie ihr Privathaus nicht nur komplett mit elektrischem Licht, sondern auch mit fließend Wasser ausstattete. Sie ließ sogar eine Leitung installieren, die das Regenwasser direkt vom Dach in den Wasserhahn der Küche beförderte, nur zum Spülen der Kristallgläser. Die meisten Einwohner müssen ihr Wasser jedoch nach wie vor aus Brunnen in der Nachbarschaft oder vom eigenen Hof holen. Noch immer hält der Eiswagen vor der Tür, falls man Lebensmittel zum Kühlen hat. In jedem Haus ein elektrischer Kühlschrank: Das wird erst die Zukunft bringen.

Das Frauenwahlrecht ist eine neumodische Erfindung, und bis Frauen wie Ruth alles in allem die gleichen Rechte wie die Männer erhalten, fließt noch viel Wasser den Berg hinab. Was Schwarze Menschen angeht, ist es nicht besser, gut fünfzig Jahre ist es her, dass die Sklaverei im Land abgeschafft wurde, doch in vielen Bereichen des Lebens sind die alten Vorurteile und Klassenunterschiede noch quicklebendig. Ruths Stadt ist nicht London, auch nicht Paris, und noch viel weniger New York mit seinen Wolkenkratzern. Es ist eine Stadt, die schrecklich gern groß wäre, doch nachts im Bett vor Wachstumsschmerz weint.

 

Wenn Ruth durch die Stadt spaziert, fragt sie sich, ob sie es ist, die sich verändert hat, oder die Stadt. Als sie noch jung war und gerade erst zugezogen, fand sie die Stadt furchtbar unnahbar. Sie machte ihr Angst und schloss sie aus, egal, wie stark Ruth anklopfte, die Tür öffnete sich nie. Wenn sie Thomas Bradford erzählen hört, mit welcher Leichtigkeit er in jungen Jahren die Stadt für sich einnahm, wie er sich ins gesellschaftliche Leben stürzte, in die obersten Kreise der Honoratioren und des Bildungsbürgertums vordrang, fragt Ruth sich, ob es vielleicht gar nicht die Stadt war, die sich verschloss, sondern vielmehr sie? Er hat offenbar nie in seiner Kammer gelegen und vor Einsamkeit Tränen vergossen, nie an einem Samstagabend im Bett gelegen und an die Zimmerdecke gestarrt und sich gefragt, was all die anderen gerade erlebten, all die Fremden, denen es so leichtfiel, ihr Leben zu leben, denn er gehörte ja zu denen. Diese Vorstellung ärgert sie ein wenig, macht sie neidisch, aber auch ein bisschen traurig. Nie wird er sie verstehen, und doch fühlt sie sich ihm näher als irgendeinem anderen Menschen je zuvor.

 

Thomas Bradford würde nie aus Einsamkeit heiraten. So wie sie, als sie jung war.

Viel früher, 1903

Frederick Doran ist eigentlich ein Bekannter ihres Vaters, der nach ihrem Umzug in die Stadt ein Auge auf Ruth haben sollte. Doch in den ersten Monaten ihres Studiums scheint er das vergessen zu haben, bis er sich eines Tages ganz überraschend bei ihr meldet. Erst später kann sie sich das so erklären, dass bis dahin eine angemessene Trauerzeit verstrichen war, Mr. Doran war nämlich zwischenzeitlich Witwer geworden.

Mr. Doran ist freundlich, wenn auch ein wenig zerstreut. Er lädt Ruth zum Essen zu sich in den Klub ein und stellt Fragen zu ihrem Studium, ohne sich ernsthaft für die Antworten zu interessieren. Er erkundigt sich nach ihrem Leben, so wie man Kinder nach ihrem Tag in der Schule fragt. Keine ihrer Äußerungen scheint größeren Eindruck auf ihn zu machen, er nickt nur und verdrückt nebenbei sein Steak. Ruth weiß nicht recht, warum er sie überhaupt zum Essen eingeladen hat, doch versteht sie es als eine Art Freundschaftsdienst ihrem Vater gegenüber.

Es überrascht sie nicht übermäßig, als Mr. Doran sich erneut bei ihr meldet, gerechnet hatte sie damit allerdings nicht. Ihre sonntäglichen Mittagessen werden daraufhin zur Gewohnheit. Sie besuchen immer dasselbe Restaurant, nämlich jenes in Mr. Dorans Klub, und Mr. Doran überspringt stets die Frage, was sie gern essen möchte, er bestellt einfach für sie mit. Jedes Mal erkundigt er sich, wie es ihr geht und ob das Studium Fortschritte macht, doch so gut wie nie erzählt er etwas von sich.