Hitzewelle - Fabienne Maris - E-Book

Hitzewelle E-Book

Fabienne Maris

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Beschreibung

Es ist Samstag, und samstags geht Jonathan im Supermarkt einkaufen. So wie er von Montag bis Freitag zur Arbeit geht. Bei einer Umfrage zu sozialem Verhalten konnte er drei Kontakte nennen. Dass ihn jetzt aber die Kassiererin auf seinen heutigen Geburtstag aufmerksam machen muss, gibt ihm zu denken. Nur – die Hitze lähmt seit Wochen, und nun fällt noch der Strom aus. In Jonathans Kühlschrank macht sich fauliger Geruch breit, draußen erliegt das Leben. Als es auch bei der Wasserversorgung Probleme zu geben scheint, entfaltet die Hitzewelle ihre magische Dynamik: Jonathan trinkt Sherry mit den Nachbarn, die Begegnung an Kasse 18 fängt an, ihn näher anzugehen, und auf seinem Balkon geschieht ein kleines Wunder. Lakonisch und mit feinem Humor erzählt Fabienne Maris von einer unerwarteten Verwandlung, die ganz im Stillen losbricht, langsam Fahrt aufnimmt und dank eines ungewollten Rauschs in eine wahre Ausschweifung mündet. Ein ebenso überraschendes wie zauberhaftes Debüt.

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Fabienne Maris

Hitzewelle

Roman

atlantis

Für meine Großmutter,

die mir eine zweite Heimat ist.

1

Am wohlsten war es Jonathan, wenn der Himmel grau war. Kein tiefhängendes, dunkles Grau, sondern eher diese helle, milchige Farblosigkeit, die so oft über dem Vorort hing. Damit konnte er gut umgehen. Ein strahlend blauer Himmel hingegen war ihm unangenehm. Er spürte dann, dass er diesem Blau niemals gerecht werden konnte.

Dieser heiße Samstag im Juni war so ein stechend blauer Tag. Jonathan ging in den Supermarkt, um seine Wochenendeinkäufe zu machen. Im Supermarkt war es wie immer kühl. Die Klimaanlage lief auf Hochtouren. Jonathan legte Spaghetti, Reibkäse, ein Dreierpack Thon-Dosen und einige Tomaten in den Einkaufskorb; fürs Frühstück Instantkaffee, UHT-Milch, Butter und Marmelade. Die Fruchtsorte spielte ihm dabei keine Rolle. Alkohol trank er keinen.

Als er alles zusammen hatte, ging er zur Kasse Nummer 18. Auf dem Namensschild der Kassiererin stand »Laura«. Ihr Alter war schwer zu schätzen. Sie hatte volles braunes Haar, einzelne Strähnen waren ergraut.

»Sammeln Sie Treuepunkte?«, fragte sie gleichmütig.

»Ja.« Jonathan reichte ihr seine Treuekarte.

Die Kassiererin nahm sie entgegen und scannte sie ein. Ihre Fingernägel waren knallrot lackiert.

»Sie haben ja heute Geburtstag«, sagte sie plötzlich. Jonathan schaute sie erstaunt an.

Sie las nun von ihrem Bildschirm ab: »Die Supermarktkette schenkt Ihnen für jedes Lebensjahr einen extra Treuepunkt. In Ihrem Fall sind das 35. Damit haben Sie Anrecht auf eine vergünstigte Teflon-Bratpfanne oder auf eine Sechser-Packung Biergläser.« Sie schaute auf und sah Jonathan fragend an. Er musste bestürzt aussehen, denn nun lächelte sie leicht amüsiert.

»Was ist, hätten Sie sich etwas anderes zum Geburtstag gewünscht?«

Jonathan überlegte kurz. Tatsächlich: Er hatte zum ersten Mal in seinem Leben seinen Geburtstag vergessen. Er zwang sich, sich auf die Vor- und Nachteile einer Teflon-Bratpfanne zu konzentrieren. Doch Pfannen hatte er schon. Auch mit den Biergläsern wusste er nichts anzufangen. Er räusperte sich.

»Kann ich mir die Punkte auch für einen Ventilator anrechnen lassen?«

Sie tippte etwas in ihren Bildschirm ein. »Im Moment haben wir keine mehr an Lager«, sagte sie dann. »Aber am Freitag gibt es eine neue Lieferung. Kommen Sie gleich am Freitag wieder, die sind schnell weg.«

Jonathan nickte. Im Kartenlesegerät blinkte jetzt die Summe auf. Während er den Code eingab, begutachtete die Kassiererin ihre Maniküre. Zum Abschied wünschte sie ihm ein schönes Wochenende und reichte ihm die Quittung. Auf dem rotlackierten Fingernagel ihres Daumens war ein winzig kleiner Skorpion aufgemalt. Er leuchtete golden.

 

Jonathan packte den Einkauf in seinen blauen Rucksack und trat in die gleißende Sonne. Dort blieb er kurz stehen und schaute auf den Parkplatz. Dass sein Leben weitgehend ereignislos verlief, war ihm nicht entgangen. Aber dass er seinen Geburtstag vergaß, war neu. Das grelle Sonnenlicht schmerzte in den Augen. Jonathan überquerte den Parkplatz und ging durch einen kleinen Park. Danach bog er rechts in eine Nebenstraße ein. Er kam an einer Apotheke vorbei, an einer Halal-Metzgerei und an einem Tattoo-Studio. An der Bushaltestelle blieb er stehen.

Für jemanden, der im Vorort lebte, war es eher ungewöhnlich, dass er kein Auto hatte. Der Bus fuhr nur alle zwanzig Minuten, und auch das nur an Wochentagen. Am Wochenende musste man sich bis zu einer halben Stunde gedulden. Deshalb nahmen nur alte Leute den Bus oder Leute, die sich kein Auto leisten konnten.

Jonathan konnte zwar Autofahren. Zumindest hatte er mit achtzehn den Führerschein gemacht. Aber auch das Autofahren war etwas, das er im Verlauf der vergangenen Jahre irgendwann aufgegeben hatte. Wann genau, konnte er nicht mit Bestimmtheit sagen.

Der nächste Bus würde erst in fünfzehn Minuten kommen. Jonathan überlegte kurz, zu Fuß nach Hause zu gehen; dann entschied er sich dagegen und setzte sich an der Haltestelle auf eine Bank.

Er schaute an sich herunter. Er trug Turnschuhe, Jeans und ein weißes T-Shirt. Die Schuhe sahen inzwischen mehr gelb als weiß aus, aber die Jeans und das T-Shirt waren frisch gewaschen. Und im Gesicht trug er eine randlose, viereckige Brille. Die Haare waren kurz geschnitten, den Bart rasierte er jeden Morgen sauber ab. Möglich, dass er dadurch jünger aussah. Es fiel ihm schwer, seine Wirkung auf andere einzuschätzen.

Es war heiß. Die vielen Blockbauten warfen die Sonne zurück. Am Horizont verschmolz die Straße mit der Luft.

Als der Bus schließlich kam, hatte sich eine kleine Menschentraube angesammelt. Jonathan stieg ein und setzte sich ans Fenster. Sein Blick fiel auf einen kleinen Parkplatz hinter der Bushaltestelle. Dort war früher der Vorplatz zur Quartierkirche gewesen. Da die Kirche irgendwann nicht mehr genutzt wurde, hatte man den Vorplatz in einen Parkplatz umfunktioniert. Ob die Kirche noch stand, konnte Jonathan vom Busfenster aus nicht sehen. Der Bus fuhr los.

2

Als Jonathan nach Hause kam, war es bereits fünf Uhr. Seine Abende gestaltete er immer gleich, egal welcher Tag es war. Als erstes kochte er etwas. Anschließend aß er am Küchentisch. Er las dabei ein wenig in der Gratiszeitung, die im Vorort verteilt wurde, oder er scrollte sich auf seinem Handy durch die Newsseiten. Dann wusch er das Geschirr ab.

Nach dem Essen schaltete er im Wohnzimmer den riesigen Flachbildschirmfernseher ein und sah sich die Abendnachrichten an. Die schaute er von Anfang bis Ende. Danach folgte oft eine Diskussionssendung oder ein Dokumentarfilm. Ab und zu schaute Jonathan auch eine Serie. Wenn darin erotische Szenen vorkamen, wechselte er den Kanal. Er war kein Voyeur und wollte sich nicht wie einer fühlen. Um halb elf ging er ins Bad und nahm eine Dusche. Schließlich legte er seine Kleider für den nächsten Tag bereit. Wenn er noch nicht müde war, las er ein Buch.

Samstags machte er im Supermarkt seine Einkäufe, wusch Wäsche und ging manchmal ins Fitnesscenter. Allerdings lag es bereits Monate zurück, seitdem er das letzte Mal dagewesen war.

Der Sonntag war der längste Tag. Jonathan hatte sich angewöhnt, am Sonntagmorgen im kleinen Lebensmittelgeschäft im Block vis-à-vis Brot zu kaufen sowie die Sonntagszeitung.

Am Nachmittag machte er oft einen kurzen Spaziergang durchs Quartier. Es kam auch vor, dass er seinen Großvater besuchte.

An diesem Samstagabend kochte Jonathan Spaghetti. Nach dem Essen schaltete er den Fernseher ein. In den Abendnachrichten ging es um die anhaltende Hitzewelle. Es wurden Obstbauern interviewt, die sich um ihre Aprikosenkulturen sorgten. Aprikosen stellten bei zu großer Hitze offenbar die Photosynthese ein. Dann kam ein Agronom zu Wort. Es sei nicht nur besonders heiß für die Jahreszeit, sondern auch überdurchschnittlich trocken. Tatsächlich hatte es bereits seit vier Wochen nicht mehr geregnet.

Es folgte eine Diskussionssendung über das neuste Buch von Michel Houellebecq. Die Podiumsgäste fielen einander andauernd ins Wort. Jonathan wechselte auf den Dokfilm-Kanal und sah sich zwei Dokumentationen an. Dann ging er ins Bad.

Dort schaute er in den Spiegel. Seltsam, dachte er. Er war jetzt 35. Aber er hatte seit einigen Jahren das Gefühl, nicht mehr richtig zu altern. Keine Falte, kein graues Haar war zu sehen. Nichts.

Er musste an die Kassiererin denken.

Dann wusch er sich und ging schlafen.

3

In dieser Nacht fiel der Strom aus. Jonathan bemerkte es erst am nächsten Morgen, als er den Kühlschrank öffnete und das Wasser sah, das aus dem Tiefkühlfach getreten war. In letzter Zeit kam es immer wieder zu Stromausfällen. Begonnen hatte es im Norden des Landes, seit einiger Zeit war auch sein Vorort betroffen. Die Medien hatten bisher noch nicht darüber berichtet.

Jonathan setzte Wasser auf, um sich einen Kaffee zu machen. In der Küche war es jetzt angenehm kühl, die Sonne war noch nicht über die nahe Gebirgskette getreten. Das Küchenfenster stand weit offen. Doch in dem Moment, da sich die Sonne zeigte, war die Hitze zurück. Auf Jonathans Haut bildeten sich sofort überall kleine Schweißperlen.

Er verließ die Wohnung und ging in das kleine Lebensmittelgeschäft. Als er eintrat, bediente der Verkäufer gerade seine Nachbarin. Die beiden drehten sich kurz zu ihm um und nickten ihm zu. Die Nachbarin hieß Amanda Lopez und wohnte in der Wohnung unter Jonathan. Seit er denken konnte, hatte sie schwarz gefärbte Haare und schminkte ihre Lippen violett. An diesem Tag trug sie ein T-Shirt mit der Aufschrift Material Girl. Der silberne Pailletten-Schriftzug zog sich über eine üppige Busenlandschaft.

»Hatten Sie gestern Nacht auch keinen Strom mehr?«, fragte Amanda Lopez.

»Ja. Wenn das so weitergeht, gibt es nächstes Jahr einen richtigen Babyboom.« Der Verkäufer grinste. Er trug ein ausgewaschenes T-Shirt und eine Jeans, über dem Hosenbund wölbte sich sein Bauch.

»Da haben Sie vielleicht Recht!«, sagte die Nachbarin lebhaft. Der Gedanke schien ihr zu gefallen. »Aber haben sie in den Morgennachrichten etwas dazu gesagt?«

»Keine Ahnung. Ich höre schon lange keine Nachrichten mehr.« Der Verkäufer war Mitte fünfzig und nicht so schnell aus der Ruhe zu bringen.

Dann kam Jonathan an die Reihe. Der Verkäufer legte ihm wie jeden Sonntag ein tunesisches Brot und die Zeitung auf den Tresen. Es war wie ein kleines Ritual. Jonathan und die Nachbarin verließen den Laden gleichzeitig und gingen zum Wohnblock zurück.

»Ich sage dir, mein Junge, die berichten absichtlich nicht darüber.« Sie standen jetzt vor dem Hauseingang. Wenn die Nachbarin sprach, atmete sie hörbar. »Das ist jetzt das vierte Mal innerhalb von zwei Wochen, dass der Strom ausfällt. Im ganzen Bezirk. Und in den Nachrichten? Nichts. Als wäre nichts geschehen.« Amanda Lopez schloss die Eingangstür auf, drehte sich zu Jonathan um und hielt die Tür mit dem Rücken offen, damit sie nicht wieder ins Schloss fiel. Jonathan war vor seiner Nachbarin stehen geblieben. Sie fuhr fort: »Klar, die Stadt ist nicht betroffen. Und wenn doch, würde es keine fünf Minuten dauern, bis die Generatoren angehen. Mein Sohn sagt das, er hat ab und zu Aufträge in der Stadt. Wenn du mich fragst, versuchen die den Ball flach zu halten. Stell dir vor, der ganze Bezirk ohne Strom …! Da höre ich die Bombe ticken, das sag ich dir, mein Junge. Wir werden ja sehen«, schloss sie ihren Sermon, griff nach dem Einkaufs-Caddy, hielt Jonathan die Tür auf, nickte ihm zum Abschied vielsagend zu und schritt dann energisch in den Hausflur. Dort verschwand sie im Lift.

Nun trat auch Jonathan ins Gebäude. Er nahm wie immer die Treppe. Ein bisschen Sport musste sein.

 

Seine Wohnung lag im dritten Stock links. Aufgewachsen war er auf der rechten Seite, einen Stock weiter oben. Nach dem frühen Tod seiner Mutter hatte er die Familienwohnung verkauft und mit dem Erlös die kleinere erstanden. Bevor er einzog, ließ er Bad und Küche renovieren. An eine Klimaanlage hatte er damals nicht gedacht. Dann gab er seine Mietwohnung in der Stadt auf und zog zurück in den Block seiner Kindheit.

Über ihm lebte eine alte Frau, Anne Berger. Sie war in etwa gleich alt wie sein Großvater. Er hatte sie seit Monaten nicht mehr gesehen. Dafür hörte er durch die dünnen Wände jeden Abend ihren laut aufgedrehten Fernseher und ab und zu den Staubsauger.

Gegenüber wohnte ein pensionierter Junggeselle mit seinem Hund. Der Hund hieß Reagan und war eine kleine, struppige Straßenmischung. Am Wochenende kreuzte Jonathan die beiden manchmal. Der Nachbar trug zu jeder Jahreszeit eine blickdichte Sonnenbrille. Jonathan hatte den Verdacht, dass der Mann ab und zu etwas zu tief ins Glas schaute. Er nickte Jonathan jeweils stumm zu.

Im Erdgeschoss links lebte ein altes Ehepaar. Die Fenster standen fast immer offen. Wenn der Alte Jonathan vorbeigehen sah, holte er jedes Mal zuerst röchelnd Luft und rief dann: »Na, junger Mann!« Und wenn er in Redelaune war, fragte er: »Und, noch immer keine Frau?« Er hatte Jonathan einmal vorgeschlagen, ihn mit seiner Nichte bekannt zu machen. Sie sei Zahnärztin, noch keine 40, und an einer Aufenthaltsbewilligung interessiert.

All diese Nachbarn kannten ihn, seit er auf der Welt war. Mehr als ein, zwei Sätze wechselte er aber selten mit ihnen. Die anderen Blockbewohner kannte er nicht. Es wohnten noch zwei Familien im Haus – doch außer den Kinderwagen im Treppenhaus und den Babys, die ab und zu schrien, bekam Jonathan nichts von ihnen mit. Aus der rechten Erdgeschosswohnung hatte er einmal einen jungen Blonden kommen sehen. Vielleicht ein Student.

4

Als Jonathan zurück war, goss er sich einen weiteren Kaffee auf und strich Butter auf das frischgekaufte Brot. Dann nahm er die Sonntagszeitung und las sie Seite für Seite aufmerksam durch. Zuletzt löste er das Kreuzworträtsel. Er war mittlerweile ziemlich gut darin und brauchte im Schnitt weniger als zehn Minuten dafür. Auch jetzt wieder. Er hatte alle Wörter herausgefunden – bis auf ein letztes mit fünf Buchstaben. Der dritte Buchstabe war ein »i«, und die Beschreibung lautete: »Wendepunkt zur Heilung oder zum Tod.« Jonathan dachte eine Zeit lang nach. Als ihm die Antwort nicht einfiel, legte er die Zeitung zur Seite. Am nächsten Sonntag würde er in den Lösungen nachschauen. Dann nahm er ein kleines Büchlein hervor, das ausschließlich aus Kreuzworträtseln bestand. Damit verbrachte er weitere zwei Stunden.

 

Am späteren Nachmittag beschloss er, einen kurzen Spaziergang durchs Quartier zu machen. Zum Fernsehen war es jetzt noch zu früh. Wenn er schon nachmittags damit begann, wurde sein Körper bis zum Abend steif, und später würde er stundenlang wachliegen.

Es war heiß. Die Straßen waren leer. Die Luft stand still. Jonathan drehte eine Runde um ein paar Häuserblocks, bis er die Hitze nicht mehr aushielt. Er ging in seine Wohnung zurück.

Dort öffnete er alle Fenster, um Durchzug zu schaffen. Dann setzte er Wasser fürs Abendessen auf.

Als er sein Handy hervorzog, stellte er überrascht fest, dass eine Textnachricht eingegangen war. Die Nummer kannte er nicht. Er las:

Guten Tag. In den kommenden fünf Tagen führt das Gesundheitsministerium erneut eine Umfrage zur sozialen Vernetzung durch. Wir werden in dieser Zeitspanne versuchen, Sie zwischen 17 und 19 Uhr auf dieser Nummer telefonisch zu erreichen. Für Ihre Kooperation danken wir Ihnen im Voraus.

Jonathan wusste Bescheid. Er hatte bereits einmal an dieser Umfrage teilgenommen. Das Ministerium ging offenbar davon aus, dass die Menschen regelmäßigen Kontakt zu anderen Menschen pflegen mussten, um psychisch gesund zu bleiben. Er legte das Handy zur Seite, gab Salz ins kochende Wasser und dann die Spaghetti.

Nach den Abendnachrichten schaute er eine Dokumentation über Hors-Sol-Tomaten. Die Journalistin wollte wissen, warum die Tomaten das ganze Jahr hindurch die exakt selbe Farbe und den exakt selben Geschmack hätten, im Sommer wie im Winter. »Das ist durchaus unsere Absicht«, erklärte der Sprecher einer großen Supermarktkette. Die Konsumenten sollten jeden Tag im Jahr genau wissen, was sie geschmacklich erwarte. Danach schaute Jonathan eine Sondersendung über das Wetter. Es ging darum, ob die andauernde Hitze für einen sicheren Betrieb der AKW ein Problem darstellte. Vor allem die alten Anlagen gaben offenbar Anlass zur Sorge.

 

Als er an diesem Abend schlafen ging, ließ er ausnahmsweise das Fenster offen, was er wegen des Straßenlärms sonst nie tat. Doch Abkühlung war kaum zu spüren. Alle fünf Minuten brauste ein Auto vorbei. Aus jedem zweiten dröhnte Musik. Vom Block gegenüber drangen die Stimmen junger Männer herauf, die beim Lebensmittelhändler Bier kauften. Ein Hund bellte. Ein Baby weinte. Jonathan war von Lärm und Hitze wie gelähmt. Es war nicht auszuhalten. Er brauchte dringend einen Ventilator.

5

Am nächsten Tag ging er wieder arbeiten. Zur Arbeit trug er braune Lederschuhe und eine Anzugjacke aus leichtem Stoff, Jeans und T-Shirt waren dieselben wie sonst.

Jonathan arbeitete im Gemeindearchiv. Im Gebäude war es angenehm kühl – fast so angenehm wie im Supermarkt. Da es bereits in den vergangenen Sommern sehr heiß geworden war, hatte die Vorortsverwaltung eine moderne Klimaanlage installieren lassen.

Miriam, seine Arbeitskollegin, war schon da, als er ins Büro trat. Zum Gruß schaute sie kurz hinter dem Bildschirm hervor. Sie klickte sich wie jeden Morgen durch die Schlagzeilen der Onlineportale. Ab und zu nahm sie einen Schluck aus ihrer HALTDURCH,ESISTBALDFREITAG!-Tasse.

»Wusstest du, dass die menschliche Leistung bei Hitze abnimmt?«, fragte sie Jonathan sogleich. »Bis 28 Grad läuft alles normal. Ab 30 Grad kann der Mensch nur noch 78 Prozent seiner üblichen Leistung erbringen, und ab 32 Grad nur noch 64.«

»Na, dann geben wir mal volle 64 Prozent«, sagte Jonathan freundlich.

Miriam und er waren gut eingespielt. Sie hatten die Aufgabe, die alten Archivbestände zu digitalisieren. Strenggenommen war Jonathan Miriams Vorgesetzter. Im Alltag spielte das aber keine Rolle. Einmal im Monat musste er an einer Sitzung der Vorortsverwaltung teilnehmen; davon abgesehen teilten sie die Arbeit gleichmäßig untereinander auf.