Hochland - Steinar Bragi - E-Book

Hochland E-Book

Steinar Bragi

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Beschreibung

»Sie hatten das Gefühl, dass jemand draußen auf sie wartete, in der Dunkelheit ihre Namen flüsterte ...«

Zwei junge Paare aus Reykjavík machen mit ihrem Jeep einen Ausflug in die raue Bergwelt des isländischen Hochlands. Dichter Nebel zieht auf, sie kommen vom Weg ab und müssen die Nacht in einem Haus mitten in der Einöde verbringen. Ihr Amüsement über das ungeplante Abenteuer verwandelt sich schon bald in Unbehagen, denn ihre Gastgeber, ein verschrobenes altes Paar, benehmen sich sehr merkwürdig: Warum verbarrikadieren sie das Haus bei Einbruch der Dunkelheit wie eine Festung? Und wieso haben sie so wenig Interesse daran, ihren Gästen zu helfen?

Ein verstörender Pageturner vor der einzigartigen Kulisse des isländischen Hochlands.

  • »Ein faszinierendes Buch voller Schrecken« Kristof Magnusson
  • »Gänsehautgarantie« (B5 aktuell, Neues vom Buchmarkt, Sabine Zaplin)

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Seitenzahl: 379

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Zum Buch

Zwei junge Paare aus Reykjavík machen mit ihrem Jeep einen Ausflug in die raue, menschenfeindliche Bergwelt des Hochlands. Dichter Nebel zieht auf, sie kommen vom Weg ab und rammen ein Haus, das in der Einöde plötzlich wie aus dem Nichts vor ihnen aufragt. Notgedrungen müssen sie die Nacht dort verbringen. Ihr Amüsement über das ungeplante Abenteuer verwandelt sich schon bald in Unbehagen, denn ihre Gastgeber, ein verschrobenes altes Paar, benehmen sich sehr merkwürdig: Warum verbarrikadieren sie das Haus bei Einbruch der Dunkelheit wie eine Festung? Was lauert dort draußen? Und wieso haben sie so wenig Interesse daran, ihren Gästen zu helfen? Zunehmend panisch geraten die jungen Städter miteinander in Streit, und ihre Versuche, den Weg zurück in die Zivilisation zu finden, werden immer verzweifelter. Gibt es ein Entrinnen?

Ein verstörender Pageturner vor der einzigartigen Kulisse des isländischen Hochlands.

Zum Autor

Steinar Bragi,1975 geboren, gilt als neues nordisches Thrillertalent. Sein Roman »Frauen« (2010) war für den Literaturpreis des Nordischen Rats nominiert und brachte dem isländischen Autor den internationalen Durchbruch. Sein Thriller »Hochland« wurde von der Kritik hochgelobt und mit den Horrorgeschichten Stephen Kings verglichen. Das Buch erscheint in zwanzig Ländern.

Thriller

Aus dem Isländischen von Tina Flecken

Deutsche Verlags-Anstalt

Hrafn–1 | Flora Islands

Die Natur war vollkommen still. Die Schatten am Horizont wurden dunkler und zeichneten sich scharf vor dem Himmel ab, bevor sie mit der Nacht verschmolzen.

Sie schwiegen alle vier. Nur aus dem Radio drang undeutliches leises Gemurmel. Vigdís las auf dem Rücksitz in einem Buch, Anna war gerade von einem Nickerchen aufgewacht und öffnete eine Flasche Bier. Zwischen ihnen lag Annas Hund, ein isländischer Hütehund, den sie seit ein paar Monaten besaß.

»Lasst uns was spielen«, durchbrach Anna die Stille. »Ich sehe was, was du nicht siehst – eine Sache im Auto oder draußen, auf der Straße oder im Sand …«

»Hey, das hab ich schon ewig nicht mehr gespielt«, fiel Egill ihr ins Wort, mit kindisch freudiger Stimme nach dem dritten Bier und dem zehnten Schluck aus dem Flachmann.

»Spannend«, spottete Hrafn. Er musterte Anna im Rückspiegel, ihre dunkle Silhouette und das schwache Glänzen ihrer Augen. »Was meinst du mit ›Sache‹? Wenn ich das Gewissen oder das Blut deines Mannes nehme, gilt das auch?«

»Wie krank«, entgegnete sie belustigt. Egill schaute aus dem Fenster, und Hrafn kam es so vor, als blicke er in den Seitenspiegel, zu Vigdís, die hinter ihm saß. »Nein, Blut nicht. Alles, was man nicht sehen kann, ist verboten.«

»Wovon sprecht ihr?«, fragte Vigdís und klappte Die FloraIslands zu, in die sie vertieft gewesen war. Anna erklärte ihr das Spiel und sagte, sie werde anfangen.

»Na, dann los!«, sagte Egill, und das Spiel begann. Hrafn löste den Blick nicht von der Schotterpiste, die immer schwerer zu erkennen war, je dunkler es wurde. Die Abende waren nicht mehr so hell, nachts wurde es schon für ein paar Stunden dunkel, und der Winter drang in seine Gedanken, türmte sich am Horizont auf wie ein Wellenbrecher und verstärkte die Unruhe, die ihn in den vergangenen Tagen ergriffen hatte. Seit der Mittagszeit hatte er den starken Drang, so schnell wie möglich zurück in die Stadt zu fahren.

»Die Augen des Fahrers?«, riet Vigdís, während der Jeep weiter an den Leitpfosten vorbeiglitt, die in der Dunkelheit aufleuchteten. Hrafn kurbelte die Scheibe herunter, steckte den Kopf aus dem Fenster und sah, dass der Himmel voller Wolken war, aber sie befanden sich ja auch im Hochland.

»Glaubst du, du findest es in den Wolken?«, fragte Anna hinter ihm lachend.

»Ihr müsst mir helfen, Jungs«, sagte Vigdís. »Mir fällt nichts mehr ein.«

»Ein Leitpfosten?«, schlug Hrafn vor und kurbelte die Fensterscheibe wieder hoch. Anna verneinte. Der Polarwinter, dachte er. War das eine Sache? Zumindest waren seine Spuren überall zu sehen, vom Frost zersprungene Felsbrocken, nichts Grünes, keine Farben, keine Flora. Nur Sand, Geröll, unterschiedliche Nuancen von Schwarz und Grau.

Schon bald sanken die Wolken bis auf die Erde hinunter, und sie fuhren in den Nebel. Das Licht der Autoscheinwerfer schnitt zwei Kegel in den Nebel, sodass er weiß wurde, an den Seiten über dem schwarzen vulkanischen Sand blieb er dunkelgrau. Die Sicht reichte nur noch zehn oder zwanzig Meter weit, und Hrafns Augen fingen schnell an zu brennen, weil er die ganze Zeit in die Dunkelheit starrte. Er hätte nichts gegen eine kleine Pause gehabt, aber Egill war zu betrunken zum Fahren, und den Frauen traute er das ohnehin nicht zu, nicht in bewohnten Gegenden und schon gar nicht hier auf den Sandflächen.

Er hielt den Wagen an, um zu pinkeln und kurz Luft zu schnappen, und blickte in den Nebel, der schnell dichter wurde und sich kalt und feucht auf sein Gesicht legte. Keiner von ihnen hatte auch nur die geringste Erfahrung mit Hochlandtrips oder wusste, was man machen musste, wenn das Auto nicht mehr ansprang. Vigdís hatte das bei der Planung der Reise angesprochen, aber Egill und er hatten sie mit ein paar unverbindlichen Floskeln beruhigt. Das GPS war zwar angeschlossen, doch kurz nachdem sie vom Askja-Vulkan weitergefahren waren, hatte es plötzlich nicht mehr funktioniert – vielleicht hätte es sich wieder aktivieren lassen, aber keiner von ihnen kannte sich richtig mit dem Gerät aus.

Er überlegte, wie lange ein Mensch alleine da draußen in der Sandwüste überleben würde. Im Sommer ein paar Tage, mit Zugang zu Wasser und einem Schutz vor dem Wind, aber im Winter wohl nur ein paar Stunden, vielleicht sogar Minuten; die Angst davor, verloren zu sein, presste das Blut in die Haut und kühlte den Körper aus, man verlor die Orientierung, die Anstrengung war zu groß, und man geriet in Panik.

Er stieg wieder ins Auto und fuhr weiter. Die Leitpfosten leuchteten wie die Augen von Tiefseefischen fahl im Nebel auf. Aus dem Augenwinkel sah er, wie Egill sich eine Zigarette anzündete und die Flasche erneut zum Mund führte. Er hörte ihn lachen. Die anderen spielten immer noch, und schlagartig wurde ihm klar, wie absurd das alles war, zu viert über die Sandflächen nördlich des Vatnajökull-Gletschers zu gleiten, bei Dunkelheit und Nebel, beinahe als gäbe es nichts Selbstverständlicheres; dabei mexikanisches Bier zu trinken, leicht bekleidet in der Wärme, die sie mit den Drehschaltern am Armaturenbrett regulierten, Musik in den Ohren; reglos durch die Landschaft getragen zu werden, ohne das Knirschen und Knacken zu hören, wenn die Reifen den Schotter zermahlten, sich um nichts Sorgen zu machen, nicht wirklich – jedenfalls nicht um die Reise, sondern um ganz andere Dinge, ihre Beziehungen, etwas, das jemand gesagt oder getan hatte, kürzlich, gestern oder vor zwanzig Jahren, ihre Kontostände, während sie die Natur draußen an sich vorbeiziehen sahen …

Er kam wieder zu sich, versuchte sich auf die Piste zu konzentrieren, wusste aber sofort, dass etwas verändert war. Nach ein paar Minuten schwenkte er erst in die eine Richtung, dann in die andere, bremste und hielt schließlich an.

»Was ist los?«, fragte Egill.

»Seht ihr noch Leitpfosten?« Hrafn versuchte sich zu erinnern, wann er zuletzt einen gesehen hatte. Der Abstand zwischen ihnen war irgendwann immer größer geworden, und der Nebel hatte sie rasch verschluckt.

»Scheiße«, fluchte Egill, richtete sich auf seinem Platz auf und spähte aus dem Fenster. Anna erschien zwischen den Vordersitzen und fragte, ob sie sich verfahren hätten.

»Wär doch cool«, fügte sie hinzu. »Im Nebel verirrt, wie im Märchen.«

»Wann haben wir den letzten Leitpfosten gesehen?«, fragte Hrafn und fixierte Vigdís im Spiegel. Sie hob eine Augenbraue.

»Keine Ahnung«, antwortete sie. »Ich hab mich auf das Spiel konzentriert.«

Hrafn schaute wieder nach vorne ins Scheinwerferlicht, in die weißen Nebelschleier, trat aufs Gaspedal und fuhr langsam wieder los.

»Sag bloß, du hast die Piste verloren!«, stichelte Egill.

»Die finden wir schon wieder«, meinte Anna und quetschte sich zwischen den Sitzen nach vorne. Sie roch so stark nach Alkohol, dass einem fast schwindlig wurde. Es konnte noch nicht lange her sein, dass sie von der Piste abgekommen waren. Hrafn hatte das dumpfe Gefühl, sich etwas zu weit links gehalten zu haben, was bedeutete, dass die Piste rechts von ihnen lag.

Er bog nach rechts und versuchte, die Richtung zu halten. Als Vigdís fragte, was er da mache, erklärte er es ihr. »Dann können wir nur hoffen, dass die Piste nicht auch eine Rechtskurve macht«, sagte sie, und Anna kicherte.

Hrafn fuhr weiter nach rechts, bis er glaubte, so weit gefahren zu sein, dass die Piste nicht auf der rechten Seite liegen konnte. Außerdem war er wahrscheinlich so scharf abgebogen, dass sie im Kreis fuhren, in einem verhältnismäßig kleinen Kreis, und vielleicht sogar schon mehrmals. Die anderen hatten zu viel getrunken, um es zu bemerken, oder es war ihnen egal.

Er hielt wieder an, schaltete das Radio aus, um sich besser konzentrieren zu können, und holte den Kompass aus dem Handschuhfach.

»Na endlich«, nuschelte Egill. »So kriegen wir das hin!«

Hrafn nahm den Kompass, legte ihn auf seinen Schoß und fuhr weiter Richtung Osten.

»Wozu machst du das?«, fragte Anna.

»Damit ich nicht im Kreis fahre«, antwortete er und blickte abwechselnd auf den Kompass und die vor ihnen liegende Sandfläche.

»Fahren wir denn in die richtige Richtung?«, fragte Vigdís.

»Die Piste, auf der wir waren, verlief von Norden nach Süden«, erklärte er. »Ich bin mir sicher, dass wir von ihr nicht nach links abgekommen sind. Was bedeutet, dass wir uns westlich von ihr befinden, und jetzt fahren wir nach Osten, um wieder auf sie zu treffen. Einverstanden?«

Vigdís hob wieder die Augenbrauen, und er hatte den Eindruck, dass sie genervt war.

»Klingt gut«, sagte sie. »Es sei denn, wir überqueren die Piste, ohne es zu merken, zwischen den Leitpfosten …«

»Da müssen wir eben aufpassen. Wer auf der rechten Seite sitzt, schaut nach rechts, und die anderen nach links.« Das vertraute Gefühl der Verzweiflung, der Klaustrophobie war zurückgekehrt. Er kurbelte die Fensterscheibe runter und sah, wie der Nebel immer dichter wurde, roch den Alkohol immer intensiver.

»Wie konntest du nur die Scheißpiste verlieren?«, hörte er Egill neben sich jammern und konnte ihn nicht länger ignorieren.

»Du bist genauso daran schuld! Du sitzt doch direkt neben mir und schaust aus demselben verdammten Fenster!«

»Aber ich fahre ja wohl nicht, oder?«

»Mensch, Jungs«, sagte Vigdís und berührte Hrafn an der Schulter, »jetzt kommt mal wieder runter und atmet tief durch. Das wird schon wieder, vielleicht sogar schneller, als wir denken.«

Sie verstummten. Der Hund hatte sich aufgesetzt, winselte ab und an leise, und durch das offene Fenster hörte man den Sand unter den Rädern knirschen. Hrafn spähte auf seiner Seite in die Dunkelheit, ohne etwas zu erkennen. Nachdem er zehn Minuten nach Osten gefahren war, wusste er nicht mehr, was er machen sollte. Er dachte an seine erste Reaktion und überlegte, ob er vielleicht doch nicht lange genug nach Westen gefahren war. Dann schaute er auf den Kompass, um sich zu vergewissern, dass die Richtung noch stimmte. Wenn sie die beibehielten, mussten sie am Ende wieder auf die Piste treffen.

»Gibt es hier eigentlich Felsschluchten oder Spalten?«, fragte Anna. »Willst du dich nicht anschnallen, Egill?«

»Oder Treibsand«, ergänzte Vigdís.

»Puh, in dem wir versinken, meinst du?«

»Ja, wie im Moor. Hier wurden schon Pferde aus dem Mittelalter gefunden, die waren im Schlamm gut erhalten. Und Menschen.«

»Ein Jeep wäre da bestimmt ein Glücksfall. Mit vier Insassen, einem Hund, Handys, SMS und Zahnfüllungen. Für zukünftige archäologische Forschungen über das einundzwanzigste Jahrhundert!« Sie lachten.

Keine Spur von den Leitpfosten oder der Piste. Anstatt umzudrehen und den anderen den Grund dafür erklären zu müssen, fuhr Hrafn weiter nach Osten. Natürlich wäre es besser gewesen, anzuhalten und zu warten, bis es in ein paar Stunden hell wurde oder der Nebel sich lichtete, aber das wäre unglaublich lächerlich, falls die Piste nur ein paar Meter von ihnen entfernt war. Er fuhr weiter, wollte nicht zu früh aufgeben, hatte vielleicht einfach kein Zeitgefühl mehr, versank in seinen Gedanken, oder vielleicht war ihm auch alles egal. Vielleicht war ihnen allen alles egal, sie starrten schweigend in den Nebel, der an den Seiten grau war und in der Mitte aufleuchtete, sodass Hrafn meinte, in ein blendend weißes Loch zu fahren, einen Tunnel, der immer tiefer und tiefer wurde.

Irgendwann sah er im Nebel ein Licht, schwach und gelb. Automatisch fuhr er darauf zu, die Hände ums Lenkrad gekrallt. Die Dunkelheit um sie herum war in Bewegung, und er murmelte leise vor sich hin, blinzelte in das Licht, das plötzlich verschwand, etwas raste aus dem Nebel auf sie zu und prallte gegen den Wagen.

2 | Auf allen vieren

Die Windschutzscheibe zerbrach, Risse zogen sich über die gesamte Fläche, eine weiße Blase blähte sich auf und verschluckte seinen Kopf. In der Blase schwammen Fische aus Licht, ganze Schwärme kleiner Fische mit stechend roten Augen, die ihm etwas tun wollten. Er wurde wieder aus der Blase gespuckt, sah, wie Egill auf seiner Seite gegen die Scheibe prallte, wie etwas Rotes über sein Gesicht lief und er mit einem Grinsen aus dem Sitz katapultiert wurde.

Jetzt gibt es doch Blut, dachte Hrafn und spürte, wie das Auto kippte und auf den Stoßdämpfern wippte, dann wurde alles still. Er holte tief Luft, blinzelte und hatte Schmerzen im Brustkorb, der vom Sicherheitsgurt eingeschnitten wurde. Die Luftblase war verschwunden. Grauer Rauch, der nach Öl schmeckte, füllte den Wagen, und weiße Teilchen flogen durch die Luft. Er tastete sein Gesicht nach Glassplittern ab, fand aber keine, schnallte sich ab, fiel aus dem Wagen und spürte die frische Luft in seine Lungen strömen.

Er beugte sich über den Rücksitz und half Vigdís aus dem Auto. Sie sagte, sie sei unverletzt. Anna schrie Egill an, der schräg über dem Fahrersitz hing. Das Fenster auf seiner Seite war zerbrochen.

Vor dem Auto war die Nacht noch dunkler, als recke sich ein Felsen in den Himmel und rage über ihnen auf, düster und still. Hrafn überlegte, wann die Sonne aufgehen würde, ob sie es über den Rand dieses schwarzen Monstrums schaffen würde, zog Egill aus dem Auto und legte ihn der Länge nach in den Sand. Der Hund lief jaulend um sie herum.

Vigdís hockte sich neben Egill und rief Hrafn zu, er solle den Verbandskasten aus dem Kofferraum holen. Weiter oben an dem Felsen gingen Lichter an, erst eins, dann zwei.

»Er ist nur bewusstlos«, hörte er Vigdís sagen und reichte ihr eine Flasche mit Desinfektionsmittel, die er im Verbandskasten gefunden hatte. Anna hielt Egills Kopf, während Vigdís ihm eine Mullbinde um die Stirn band und den Blutfluss stoppte.

Die Autoscheinwerfer waren zersplittert und erloschen. Der Rauch im Wagen hatte sich aufgelöst, es dampfte jedoch aus der eingedellten Motorhaube. Hrafn kniete sich neben den Vorderreifen – den, der nicht in der Schwärze versunken war – und hörte ein leises, rhythmisches Zischeln wie von einem Tier, das unter das Auto gekrochen war, um sich zu verstecken.

Der Nebel in seinem Kopf lichtete sich allmählich. Er sah die Umrisse eines Hauses, eines schwarzen Hauses im schwarzen Sand, gegen das sie gefahren waren. Er bewegte seine tauben, unsicheren Beine und sah einen Lichtstrahl über den Sand huschen. Der Hund bellte. Jemand kam um die Hausecke und leuchtete sie mit einer Taschenlampe an.

»Wer ist da?«, fragte eine Frauenstimme aus dem Dunkeln. Vigdís antwortete, sie bräuchten Hilfe, das Licht schwenkte auf Egills blutendes Gesicht, und in der Dunkelheit tauchte eine zweite Taschenlampe auf. Die Frauenstimme gab einen Klagelaut von sich, und Hrafn erkannte im Licht die Silhouette einer Frau, krummer Rücken, zerzaustes Haar, und hinter ihr einen hageren alten Mann, der genauso grinste wie Egill, als er gegen die Scheibe geknallt war.

»Ins Haus«, sagte jemand.

»Ins Haus«, wiederholte die Alte, trieb sie zur Eile an, schwenkte die Taschenlampe und zischte dem alten Mann etwas zu. Anna weinte. Hrafn packte Egill unter den Armen, und Vigdís hob seine Beine an. Gemeinsam trugen sie ihn um die Ecke, eine steile Steintreppe hinauf und ins Haus.

Die Alte wies sie ins Wohnzimmer, wo sie Egill auf den Fußboden legten. Er kam zu sich, murmelte etwas Unzusammenhängendes und lächelte, ohne die Augen aufzuschlagen. Anna rief seinen Namen.

Vigdís erschien ganz nah an Hrafns Gesicht, fast so, als hätte die Welt keine Tiefe, und fragte, ob es ihm gut gehe.

»Ich glaub schon, nur ein bisschen durcheinander«, sagte er, und sie umarmten sich. Über Vigdís' Schulter sah er die Alte durch einen Raum schlurfen, der aussah wie eine Küche.

»Und du?« Vigdís entgegnete, ihr gehe es auch gut, löste sich von ihm und sagte, sie wolle zum Auto, den Verbandskasten und den Whisky holen, um Egill aufzupeppen.

Kurz darauf erklang Lärm, und als Hrafn in die Diele trat, stritten sich Vigdís und die Alte. Die Alte versperrte die Haustür und wollte Vigdís nicht rauslassen.

»Ich muss was aus dem Auto holen«, insistierte Vigdís.

»Wollen Sie uns einsperren?«, fragte Hrafn. »Was machen Sie denn da?« Die Alte antwortete nicht, schüttelte den Kopf und schaute sie mit weit aufgerissenen, flehenden Augen an.

»Nicht aufregen«, sagte Vigdís und nahm Hrafns Hand. »Sie sind aufgewühlt, Sie und Ihr Mann, das verstehe ich gut. Wir sind mitten in der Nacht gegen Ihr Haus gefahren, haben einen großen Wirbel verursacht, und das ist alles etwas zu viel für Sie …«

»Machen Sie die Tür auf!«, sagte Hrafn und merkte, dass er kurz davor war, laut loszulachen. Hier lag etwas in der Luft, eine merkwürdige Aggressivität, deren Herkunft und Ursache er nicht kannte.

»Wir bleiben jetzt alle ganz ruhig«, beschwichtigte Vigdís, und Hrafn sah zu seiner Verwunderung, dass sie ihn anschaute und nicht die Alte.

Dann war er auf einmal wieder im Wohnzimmer. Anna beugte sich über Egill, redete leise auf ihn ein und blickte ihn unverwandt an wie ein verliebter Teenager. Abstoßend – kranke Leute, dachte Hrafn. Irgendwo im Haus hörte er ein Hämmern.

Vigdís kam ins Wohnzimmer, zerrte den Hund hinter sich her, der offensichtlich wieder rauswollte, und gab Anna eine Plastiktüte mit einer Decke und einer Flasche Whisky. Anna breitete die Decke über Egill, der die Augen aufgeschlagen hatte, goss Whisky in den Schraubverschluss und hielt ihn an seine Lippen.

Hrafn hatte plötzlich große Lust, auch einen Schluck aus der Flasche zu trinken, doch da stieß Egill plötzlich einen Schrei aus, zeigte in seine Richtung und rief wütend: »Das hast du extra gemacht! Aber du hast den Luftballon vergessen!«, und weiteres unzusammenhängendes Zeug, Schwachsinn, den Hrafn ignorierte. Anna beugte sich über Egill und verhinderte so, dass die Männer sich in die Augen schauen konnten.

Vigdís kam wieder zurück und fragte: »Geht’s dir gut? Du bist ein bisschen blass.«

Er nickte. »Ja. Das war ein Unfall, ein unglücklicher Unfall.« Er zündete sich eine Zigarette an, inhalierte den Rauch tief und sah zu, wie Anna Egill mehr Whisky einflößte und dann selbst aus dem Schraubverschluss trank. »Aber es ist natürlich seltsam, total absurd, in diesem Haus zu landen, im Wohnzimmer.« Da fiel ihm sein Handy ein, er zog es aus der Tasche seines Hemdes und checkte die Verbindung.

»Hast du Empfang?«, fragte Vigdís. Er schüttelte den Kopf, und etwas sagte ihm, dass das, was man Empfang nannte, keine Rolle mehr spielte, von jetzt an nicht mehr – es gehörte zu seinem früheren Leben, zu den Sorgen aus einer anderen Existenz. Er verstand seine eigenen Gedanken nicht, spürte, wie sie unter dem Einfluss des Nikotins immer wilder herumwirbelten, und wollte sich hinsetzen und ausruhen. Er ließ sich aufs Sofa fallen, hörte den Hund irgendwo im Haus winseln.

Vigdís brachte ihm ein Glas Wasser, und er trank es in großen Schlucken leer, sah ihr nach in die Küche, wo sie sich mit der alten Frau unterhielt. Er ließ den Blick durchs Wohnzimmer schweifen, das braune Linoleum auf dem Fußboden und die rote Decke, die über Egill gebreitet war. Im Zimmer befand sich ein Regal mit Büchern, und an der Wand hing ein gerahmtes Foto. Auf dem Couchtisch stand eine Schale aus gefärbtem Glas, rot, grün und blau in einem Muster, das er nicht einordnen konnte.

Sie waren hier keine Gäste, dachte er im selben Augenblick, als die Asche von seiner Zigarette auf den Teppich fiel. Die Alte wollte sie so schnell wie möglich wieder loswerden, obwohl sie sie so gewissenhaft eingeschlossen hatte. Sie waren nicht willkommen.

Er brauchte einen Aschenbecher, ging aus dem Wohnzimmer und sah, dass ein Riegel vor die Haustür geschoben worden war.

»Man hat uns angeboten, hier zu übernachten«, sagte Vigdís, als er in der Küchentür stehen blieb. Die Frauen saßen am Tisch. »Wir schlafen eine Nacht hier, damit Egill sich erholen kann. Außerdem brauchen wir Tageslicht, um den Jeep zu inspizieren.«

»Das ist nett von Ihnen«, sagte Hrafn und lächelte der Alten zu. Er stellte sich ihr vor, und sie nuschelte eine Entgegnung, die wie »Ása« klang. Er fragte, ob das eine Abkürzung für einen längeren Namen sei, doch sie antwortete nicht. Der alte Mann war nirgends zu sehen. »Ich verspreche Ihnen, dass wir nicht lange bleiben, Ása«, sagte er. »Selbstverständlich werden wir so schnell wie möglich weiterfahren, um Ihnen nicht zur Last zu fallen.«

»Sie sind willkommen«, sagte Ása mit ältlicher, schriller Stimme. Ihm fiel es schwer, ihr Alter zu schätzen. Ihr Gesicht war faltig und ledrig, die Haare schwarz mit ein paar grauen Strähnen und zu einem einfachen Pferdeschwanz gebunden. Sie sah aus wie um die sechzig, aber in ihren Augen lag eine Wachheit, eine Durchtriebenheit, die zu einer wesentlich jüngeren Person gepasst hätte. »Heute Nacht schlafen Sie hier«, fuhr sie fort und nickte, als wolle sie das sich selbst gegenüber bekräftigen. »Das ist für alle das Beste. Ist ja auch die einzige Möglichkeit. Ich zeige Ihnen die Zimmer, und morgen ist alles gut, und Sie fahren weiter.«

»Das ist bestimmt unangenehm für Sie«, sagte Vigdís, »so unerwartet Gäste zu bekommen. Sie haben sich doch bestimmt erschrocken?«

»Kann schon sein«, sagte Ása und erhob sich vom Tisch. »Hat ganz schön laut geknallt.« Sie hatte einen Ausschlag in den Augenwinkeln, eine geschwollene Röte, die sich an der Nase entlang bis zu den Mundwinkeln zog.

Die Zimmer, die ihnen zugewiesen wurden, befanden sich im ersten Stock und lagen sich am Ende eines langen Flurs gegenüber. Hrafn und Vigdís holten auf Ásas Anweisung hin eine Matratze aus dem Schrank und legten sie in ihr Zimmer, das bis auf einen kleinen Tisch mit einer Öllampe leer war. In Annas und Egills Zimmer gab es einen Stuhl, einen Tisch und ein Doppelbett für den Verletzten.

Während die Frauen Egill die Treppe hinaufhalfen, wartete Hrafn in der Küche. Der Schwindel ließ endlich nach. Als Ása sagte, es gebe auf dem Hof einen Jeep, mit dem sie am nächsten Tag in bewohnte Gegenden fahren könnten, falls ihrer nicht mehr anspringe, wurde er ruhiger. Alles würde gut werden.

Ása gab ihnen Decken und Kissen, entzündete die Lampe in Hrafns und Vigdís’ Zimmer, und Anna durfte Tryggur, ihren Hund, in der Nacht bei sich haben. Dann sagte die Alte, sie sei unten in der Küche, falls sie noch etwas bräuchten.

Hrafn legte sich auf die Matratze auf dem Boden, zündete sich eine Zigarette an und starrte an die Decke. Die Matratze roch modrig, aber die Lampe warf ein warmes Licht an die Wände. Draußen im Flur diskutierten Anna und Vigdís darüber, ob es für Egill nach der Ohnmacht gefährlich sein könne zu schlafen und warum die Haustür wohl so sorgfältig abgeschlossen worden sei.

»Vier Schlösser, als würde sie damit rechnen …«, setzte Anna an und senkte dann die Stimme. Hrafn schloss die Augen und hörte Vigdís ins Zimmer kommen. Sie ging über den knarrenden Holzboden und legte sich neben ihn auf die Matratze, umarmte ihn und vergrub ihren Kopf in seiner Halsbeuge. Er drückte die Zigarette in einem Schraubverschluss aus und drehte sich zu ihr.

»Du darfst ruhig was trinken, wenn du willst«, sagte er.

»Ich weiß, aber ich hab keine Lust, ich bin zu müde«, entgegnete sie nach einer kurzen Pause. »Natürlich weiß ich, dass ich das darf. Würdest du gerne?« Er schüttelte den Kopf. Bei näherer Betrachtung war es seltsam, dass die Alte sie nicht nach der Vorgeschichte des Unfalls gefragt oder ihnen etwas zu essen, Kaffee, Kekse oder Butterbrote angeboten hatte. Wo war nur die gute alte Gastfreundschaft auf dem Land geblieben? Andererseits hatte man sie zum Übernachten eingeladen, aber die Alte führte bestimmt irgendwas im Schilde, das konnte er an ihren Augen ablesen. Sie verheimlichte ihnen etwas, wollte sie nicht beherbergen, fühlte sich aber dazu verpflichtet.

Er öffnete den Mund, um mit Vigdís darüber zu reden, ließ es dann aber doch bleiben. Sie zog ihre Kleider aus, breitete die Decke über sie und schmiegte sich an ihn. Sie küssten sich, er sagte, er liebe sie, aber sie entgegnete nichts. Sie stöhnte, und obwohl er es nicht vorgehabt hatte, zog er seine Hose aus und drang in sie ein. Nach einer Weile drehte sie sich auf den Bauch, und er kniete sich hinter sie und stützte sich am Fensterrahmen ab.

Dabei fiel sein Blick aus dem Fenster, und er sah, dass der Nebel verschwunden war. Ab und zu drang der Mond durch die Wolken und warf sein fahles Licht auf die Sandflächen. Am Horizont erhob sich der Gletscher aus der Ebene, schwer, reglos und weiß wie ein Foto, das noch nicht ganz entwickelt war.

Sie bewegten sich schneller, Vigdís stöhnte unter ihm auf, und als er kam, sah er draußen auf dem Sand etwas vorbeihuschen: einen Menschen, der humpelnd und gebückt vom Haus fortlief, strauchelte und dann auf allen vieren blitzschnell in der Dunkelheit verschwand.

Er legte sich auf dem Rücken auf die Matratze, das Zimmer drehte sich vor seinen Augen, und sein Herz raste. Auf allen vieren, dachte er und war kurz darauf eingeschlafen.

3 | Der Kadaver

Als er aufwachte, war er alleine im Zimmer. Er blieb noch einen Moment liegen, versuchte, die nächtlichen Ereignisse zu sortieren, an die er sich nur noch verschwommen erinnerte – wie so häufig zu der Zeit, als er noch getrunken hatte.

Unten in der Küche saß Vigdís und studierte eine Karte. Auf dem Tisch standen Aufschnitt und Brot und ein paar schmutzige Teller. Vigdís sagte, alle seien wach und hätten schon gefrühstückt.

»Egill und Anna machen einen Spaziergang und schauen sich ein bisschen um … Der Jeep ist kaputt.«

»Wer sagt das? Egill?«

»Schau ihn dir selbst an.«

Hrafn verließ das Haus, stieg die Treppe hinunter, die länger war, als er sie in Erinnerung hatte, und ging um die Hausecke zu der Stelle, wo der Jeep stand. Auf der Beifahrerseite verschwand die Motorhaube in der Wand, und beide Vorderreifen waren platt. Wahrscheinlich konnten sie froh sein, dass die Wand nicht über ihnen eingestürzt war. Hrafn reckte sich in den Wagen, drehte den Zündschlüssel und versuchte, den Motor zu starten, aber nichts geschah. Die Windschutzscheibe und das Fenster auf der Beifahrerseite waren zerbrochen; der eine Airbag hing schlaff aus dem Lenkrad und der andere über dem Handschuhfach. Auf Egills Sitz klebte getrocknetes Blut.

Der Motor schwamm in Öl, das auch auf den Sand unter dem Auto getropft war. Die Schlafsäcke, das Zelt und die Angelausrüstung befanden sich noch an ihrem Platz auf dem Dachgepäckträger.

Er ging wieder ins Haus, setzte sich an den Tisch und schmierte sich eine Scheibe Brot mit Käse.

»Ása will uns einen Jeep leihen«, sagte Vigdís. »Von hier soll es eine Piste nach Norden zum Askjagebiet geben.«

»Dann weißt du also, wo wir sind?« Er nickte in Richtung der Karte, und sie bejahte.

»So ungefähr … Sie waren eben beide hier. Der Alte scheint schwer an Alzheimer erkrankt zu sein. Was glaubst du, was sie machen?«

»Keine Ahnung, Bauern nehme ich an.« Aus irgendeinem Grund musste er an den Ausschlag im Gesicht der Frau denken. Jemand hatte ihm mal erzählt, die Leute auf dem Land sähen älter aus, weil ihre Haut von Sonne, Frost und Regen gegerbt sei.

»Ich hab mich nicht getraut zu fragen.« Vigdís schüttelte den Kopf. »Aber es kommt mir seltsam vor, hier auf dem Sander Landwirtschaft zu betreiben, oder?«

Er goss sich aus der Kanne, die auf dem Tisch stand, Kaffee ein. »Haben wir schon nachgesehen, ob sie ein Telefon haben?«

»Danach hab ich schon gefragt. Sie meinte, sie hätten eine Störung in der Leitung.«

»Eine Störung!« Er fluchte. »Wie weit ist es eigentlich bis zu einer richtigen Straße?«

»Keine Ahnung … Kommt drauf an, wie weit wir uns gestern verfahren haben. Das ist mir nicht ganz klar. Wir sind gegen zwei am Mývatn aufgebrochen, waren dann zwei Stunden unterwegs, haben zwei Stunden Fresspause gemacht und sind anschließend drei oder vier Stunden nach Süden gefahren, vermute ich.«

»Ich glaube, eher vier. Und davon ungefähr eine Stunde abseits der Piste. Wir haben den Abzweig zur Askja, den wir nach Osten nehmen wollten, gar nicht gefunden. Müssten wir dann nicht eine oder zwei Stunden südlich von ihm sein? Dann müssten wir den Gletscher sehen können.«

»Ich hab Ása die Karte gezeigt. Sie scheint sich nicht ganz sicher über den Standort zu sein, weder über ihren noch über unseren.« Vigdís grinste. »Oder sie hat noch nie eine Karte gesehen, so wirkte sie zumindest.«

Hrafn schob den Teller weg, nahm den Kaffee mit zum Fenster und zündete sich eine Zigarette an. Die Vorzüge des Landlebens: Die Leute rauchten immer noch drinnen, hatten keine Angst davor, dass die Wände in ein paar Jahrzehnten gelb würden. Er hatte an dem Tag nach ihrer Abreise wieder angefangen zu rauchen und sofort jeden einzelnen Tag bereut, den er ohne Zigarette verbracht hatte.

Draußen war der Himmel klar. Er spürte, wie sich die betäubende Wirkung des Nikotins in seinem Körper ausbreitete. Die Küche lag auf derselben Hausseite wie das Schlafzimmer, trotzdem konnte er den Gletscher nirgendwo entdecken.

Egill und Anna kamen auf den Hof, der Hund schnüffelte um sie herum. Hrafn ging raus auf die Treppe und grüßte sie. Sie lachten weiter über etwas, über das sie anscheinend gerade gesprochen hatten.

»Was ist denn so witzig?«, fragte Hrafn. »Hab ich was verpasst?«

»Wir werden erwartet«, sagte Anna. »In der Scheune.«

»Das Auto ist bereit«, ergänzte Egill. »Und da steht eine 600-Liter-Tonne mit Sprit, den die Frau für den Alten abzapft.«

Anna eilte ins Haus, um aufs Klo zu gehen und zu packen, und die beiden Männer blieben draußen stehen. Egill hatte immer noch die Mullbinde um den Kopf.

»Geht’s dir gut?«, fragte Hrafn, setzte sich auf die Treppe und zündete sich noch eine Zigarette an.

»Nur ein bisschen Kopfschmerzen … Entschuldige, wie ich mich gestern benommen habe. Anna meinte, ich hätte dich angeschrien. Ich weiß nicht, wie das passieren konnte, vielleicht die Mischung aus dem Schlag gegen den Kopf und den paar Bier … Ich hätte mich anschnallen sollen, Anna hatte mich ja darum gebeten, meinte sie. Ich weiß, dass du ein guter Fahrer bist, es war natürlich neblig, und die Sicht war schlecht …«

»Ist schon gut. Vergiss es einfach.« Sie gaben sich die Hand, was scherzhaft gemeint war, vermutete Hrafn, sich aber irgendwie peinlich anfühlte, halbherzig und albern.

Dann gingen sie zum Jeep, und Hrafn packte ein paar Kleider und Zigaretten in einen Rucksack. Anschließend kniete er sich neben das Loch in der Wand, konnte aber im Haus wegen der Dunkelheit nichts erkennen. Er setzte sich in den Wagen und schaltete das GPS ein, versuchte es zu aktivieren, aber wie beim letzten Mal konnte er nur eine Karte der Reykjavíker Innenstadt aufrufen.

Egill holte seine Sachen aus dem Kofferraum und beugte sich dann mit einer Bierflasche in der Hand durch das zerbrochene Fenster in den Wagen.

»Und, wie sieht’s aus, was machst du da?«

»Dieses blöde GPS checken. Ich hab’s schon hundertmal versucht, genau nach Anleitung, hab alles gemacht, was man machen soll. Dem Gerät nach befinden wir uns beim Stadtbummel auf dem Austurvöllur.«

»Genauso fühlt es sich auch an.« Egill hob die Bierflasche und zeigte damit auf das Haus. »Vor dem Hotel Borg.«

»Säufst du schon wieder?« Hrafn hätte ihn gerne auf das Blut auf dem Sitz und dem Armaturenbrett hingewiesen, das Egill nicht zu bemerken schien oder einfach ignorierte, widerstand aber der Versuchung und stieg wieder aus dem Auto.

»Wir müssen uns jetzt alle anstrengen und dafür sorgen, dass das Gepäck leichter wird«, sagte Egill grinsend.

Die Frauen standen abfahrbereit auf dem Hof. Sie setzten ihre Rucksäcke auf und marschierten los zu den Außengebäuden, die ein paar Hundert Meter weiter westlich lagen, einem Schuppen aus Holz und Wellblech, von dem die Farbe abblätterte, und einem Gebäude, das vermutlich die Scheune war.

Es war windstill, ausgezeichnete Sicht, und Hrafn wunderte sich immer noch, warum der Gletscher nicht zu sehen war. Es konnte doch keinen so großen Unterschied machen, ob man sich eine Etage höher befand.

»Ob sie Kühe oder Schafe haben?«

»Ich hab hier jedenfalls kein einziges Tier gesehen«, sagte Egill. »Aber irgendwas müssen sie doch mit dem Heu machen. Sie fressen es ja wohl kaum selbst.«

»Ställe stehen doch normalerweise den Sommer über leer, oder? Sind Schafe im Sommer nicht draußen, damit sie Fett ansetzen?«

»Wenn hier irgendwo Gras wäre. Nee, hier oben gibt es garantiert keine Wiesen. Sie müssten das Heu von anderen Bauern kaufen, oder?«

»Ihr habt doch echt keine Ahnung von gar nichts«, sagte Anna mit dieser launigen Impulsivität, von der Hrafn sofort gewusst hatte, dass sie im Lauf der Reise entweder unerträglich oder durchaus charmant werden würde. Er hatte nie verstanden, was diese Person antrieb oder wer sie überhaupt war. Sie schien voller Gegensätze zu sein; wenn man sie kennenlernte, wirkte sie nett, geradezu naiv, und total emotionsgesteuert. Doch wenn sie meinte, dass man sie wegen ihrer Unkompliziertheit nicht ernst nahm oder nicht genug respektierte, konnte sie scharfzüngig und so aggressiv und unnahbar werden, dass sie nicht mehr wiederzuerkennen war.

»Was ist das da hinten?« Vigdís zeigte auf etwas. Sie machten einen Schlenker und erreichten nach ein paar Minuten einen Laternenpfahl, der aus dem Sand ragte.

»Ein Laternenpfahl! Auf dem Hof gibt’s kein funktionierendes Telefon, aber einen Laternenpfahl«, sagte Anna lachend. Der Pfahl stand einfach da, mitten im Sand, ragte kerzengerade in die Höhe und bog sich vornüber, ohne irgendeinen erkennbaren Zweck.

Sie umringten den Pfahl und blickten nach oben. Das Licht war ausgeschaltet.

»Ob er wohl funktioniert?«, fragte Vigdís. »Ist das vielleicht das Licht, das wir gestern gesehen haben, bevor wir gegen das Haus gefahren sind?«

»Er steht zu weit weg«, meinte Hrafn. »Und warum sollten sie ihn abends einschalten?«

»Vielleicht steht er nur da, damit Hunde was zum Anpinkeln haben«, schlug Anna vor, und im selben Moment rannte der Hund zu dem Pfahl, hob das Hinterbein und ließ einen Urinstrahl dagegenprasseln. Sie prusteten los, der Hund bellte und schaute sich verdutzt um, bis Egill ihn zurechtwies.

»Nee, wir könnten weiter vom Weg abgekommen sein, als wir dachten«, sagte Hrafn nach kurzem Schweigen. »Ich erinnere mich an einen anderen Laternenpfahl, der auch an einem entlegenen Ort stand – in Narnia. Als die Kinder aus dem Schrank kletterten, sammelten sie sich um einen Laternenpfahl im Schnee …«

»Die waren auch zu viert«, ergänzte Vigdís. »Zwei Mädchen und zwei Jungen.«

Anna war ein Stück weitergegangen und rief ihnen zu, sie sollten kommen. Sie stand neben einem Kadaver, der im Sand lag. Blutige Fleischstriemen hingen an dicken, kräftigen Knochen, blaugrüne Eingeweide quollen aus dem Bauch, und hellbraunes Fell lag um den Kadaver verteilt. Aus dem Kopf ragte ein kurzes Horn.

»Ekelhaft«, stieß Anna aus und rührte sich nicht.

»Ein Rentier«, sagte Hrafn und hatte den Eindruck, dass der Kadaver noch nicht besonders alt war, wahrscheinlich von letzter Nacht. Die Augen waren noch da, und er stank noch nicht. Hrafn kniete sich neben das Tier und sah, dass es noch ziemlich viel Fleisch auf den Knochen hatte. Einige Knochen waren zerkratzt, hatten Bissspuren. Er berührte den Rumpf, der kalt war, und suchte Brust und Schultern nach Einschüssen ab, fand aber keine. Als er jünger gewesen war und in Suðurnes gewohnt hatte, hatte er Hunderte von Möwen, ein paar Gänse und ab und zu einen Schwan geschossen. Aber er war noch nie in die Nähe eines Rentiers gekommen.

»Es ist zerfetzt worden«, sagte Vigdís. »Es ist bestimmt gestorben, und ein Fuchs hat seine Witterung aufgenommen. Es wurde doch nicht von Füchsen getötet, oder?«

»Es scheint nicht erschossen worden zu sein«, entgegnete Hrafn, stand auf und schaute sich um. »Hast du jemanden weglaufen sehen?«, fragte er Anna, doch sie schüttelte den Kopf.

»Jemanden, das klingt, als meinst du einen Menschen …«

»Etwas, meine ich.« Er lächelte. »Vielleicht haben wir ein Tier aufgescheucht, das hier gerade am Fressen war … Trotzdem seltsam, dass das Rentier so nah zum Hof gekommen ist, um zu sterben, falls es wirklich von alleine gestorben ist.«

Sie gingen weiter.

VIGDÍS – 4 | Kleines Lämmchen

Durch die geöffnete Scheunentür sah man Heuballen in Plastikfolie aufgestapelt, grüne und weiße. Auf dem Platz davor stand ein alter Willys Jeep, von dem der Lack abblätterte. Die Alte kniete in einem schmutzigen Overall neben einem der Reifen und schob ein Werkzeug unter den Wagen. Offenbar kümmerte sie sich auf dem Hof nicht nur um den Haushalt.

Blauer Qualm wirbelte aus dem Auspuff, und Vigdís hatte den Eindruck, dass das Auto vor lauter Anstrengung, nicht abzusaufen, schaukelte. Das war zweifellos mal ein guter Wagen gewesen, aber jetzt hatte er überall rostige Stellen und sogar Löcher, Moos an den Fensterrahmen, einen zerbrochenen Frontscheinwerfer und so abgefahrene Reifen, dass an einigen Stellen schon die Drähte durchschienen.

Direkt neben der Tür stand ein großer grauer Metallkanister mit einem Vorhängeschloss vor dem Auslaufhahn, der nach Benzin roch. Der Sprit, von dem Anna und Egill gesprochen hatten.

Die Alte richtete sich auf, und Hrafn fragte, ob sie und ihr Mann oft über den Sander führen.

»Mit den Jahren immer seltener«, antwortete sie.

»Jedenfalls vielen Dank, dass Sie uns den Jeep leihen«, sagte Egill laut. »Das sind hier natürlich keine normalen Entfernungen, man muss bestimmt früh aufstehen, um am selben Tag noch irgendwo anzukommen …«

»Haben Sie Schafe?«, fiel Anna ihm ins Wort und ermahnte ihn unauffällig.

Ása bejahte. »Kühe und Schafe«, sagte sie und starrte in den Sand. »Blöde Viecher, diese Schafe, dumm und stumpfsinnig.«

»Ich kannte mal einen Mann, der im Hochland aufgewachsen war«, erzählte Anna. »Sein Vater war Landvermesser, er wartete Stromtrassen und setzte Zäune instand, Zäune gegen die Verbreitung von Schafkrankheiten, glaube ich. Ich denke, es gibt viele Sorten von Bauern. Wohnen Sie schon lange hier?«

»Allerdings, ziemlich lange«, antwortete Ása und nickte, ohne aufzuschauen.

»Wir haben den Laternenpfahl gesehen. Nicht weit davon liegt ein Kadaver. Von einem Rentier, jedenfalls glauben wir, dass es ein Rentier ist.« Ása entgegnete nichts, ging am Auto entlang, öffnete die Motorhaube und beugte sich über den Motor.

»Ist ja ganz normal«, sagte Egill lachend. »Ein totes Rentier direkt am Hof!« Anna zischte ihn an und zog ihn zur anderen Seite des Wagens. Vigdís konnte hören, wie sie ihn beschwor, nichts mehr zu trinken, sie habe Angst und könne es nicht ertragen, wenn er schon mittags lallte und benebelt sei. Kurz darauf stürmte er in die Scheune. Wahrscheinlich würden sie fürs Erste nicht mehr miteinander reden, was allerdings nicht viel zu bedeuten hatte. Sie stritten sich schnell, versöhnten sich aber genauso schnell wieder, was meistens so ablief, dass Anna sich wie ein kleines, hilfloses Mädchen benahm – was sie nicht war – und Egill bei irgendeiner Lappalie um Hilfe bat, etwa eine Dose oder Flasche zu öffnen, und ehe man sich versah, küssten sie sich.

Auf gewisse Weise bewunderte Vigdís diese Spielchen und fühlte sich dabei wie eine geschlechtslose und unterkühlte ältere Frau, denn Anna wandte diese Masche bei beiden Männern an, es war ein spielerisches Flirten – was die Männer so stolz machte, dass sie ihr aus der Hand fraßen, ohne es zu merken. Die Kurzausgabe davon war, einen Sekundenbruchteil schneller als sonst mit den Augen zu klimpern und eine fast unsichtbare Schnute zu ziehen. Offenbar war das alles zu Annas zweiter Natur geworden, und Vigdís hätte mehr davon gehabt, es nachzuahmen, als es zu kritisieren, aber es ging ihr auf die Nerven, dass Hrafn Anna schon seit Beginn der Reise so unverfroren mit seiner Männlichkeit umgarnte, seinem Wohlwollen und seinem Beschützerinstinkt, und dass er das noch nicht einmal bemerkte.

Tryggur fing wieder an zu bellen. Am Horizont sahen sie eine Bewegung, zwei rotbraune Punkte, die näher kamen und kurz vor der Scheune anhielten.

»Füchse! ?«, rief Vigdís und konnte ihre Verwunderung nicht verbergen. Anna packte Tryggur, zog eine Leine aus ihrem Rucksack und befestigte sie an seinem Halsband. Die Füchse blieben still sitzen und beobachteten sie, ihr Fell glänzte in der Sonne, ihre Schwänze waren lang und puschelig, und ihre Ohren standen gerade nach oben. Vigdís meinte zu erkennen, dass sie immer wieder die Zähne bleckten und knurrten, war sich aber nicht sicher.

»Was ist das denn? Kommen die so nah?«, fragte Hrafn die Alte. Sie schien überhaupt nicht erstaunt zu sein, die Füchse zu sehen. »Fressen ein paar Meter vom Hof entfernt ein totes Tier und kommen dann her? Haben Sie sie schon mal gesehen? Wie ist das Rentier gestorben?«

»Füttern Sie die Füchse?«, fragte Vigdís, doch die Alte antwortete nicht. Schweigend musterten sie die Füchse, bis Egill pfeifend aus der Scheune kam und eine Bierdose aufmachte, aus der es spritzte. Die Füchse reagierten sofort und huschten über die Sandfläche. Egill und Anna fingen wieder an zu streiten, und Vigdís wollte sich ein Stück von den anderen entfernen, um zu pinkeln, bevor sie losfuhren. Sie ging um die Ecke der Scheune und sah, dass ein weiteres Gebäude, flacher und länger, daran angebaut war. Der Stall. Vor dem Stall standen ein rostiger Traktor und ein Anhänger voller Sand.

In der Mitte des Gebäudes war eine offene Tür, und trotz des Geruchs, den Vigdís in Gedanken als Landgeruch abstempelte, trat sie ein. Ihre Augen gewöhnten sich an die Dunkelheit, und sie konnte eine Reihe leerer Boxen erkennen. Der Boden war voller Mist, wahrscheinlich Kuhfladen, und aus der Tiefe des Stalls hörte man ein Muhen. Der Mist war glatt und weich, fast wie ein Teppich, und darunter schienen an einigen Stellen Holzbohlen durch.

Sie tastete sich weiter in den Stall hinein und entdeckte zu ihrer Verwunderung in einer der Boxen eine Toilette. Das Porzellan war glänzend weiß und die Klobrille einigermaßen sauber. Vigdís spähte in die Kloschüssel und sah, dass kein Wasser darin war, sondern die Öffnung direkt zu dem eingetrockneten Mist führte, der den Boden bedeckte. Da macht ein bisschen Urin auch nichts aus, dachte sie und spürte Aufregung in sich hochsteigen. Sie wäre schnell fertig, die Toilette stand im Schatten, und so machte man das wahrscheinlich auf dem Land, wenn man mal musste.

Rasch zog sie die Hose runter, stützte sich an der Zwischenwand ab und setzte sich auf die Klobrille, pinkelte mit leisem Zischen auf den Boden und sah im selben Moment die Silhouette eines Menschen ganz in der Nähe, halb verborgen im Schatten. Sie hielt ein, sprang auf und zog die Hose hoch. An der Wand stand der alte Mann und schaute sie lächelnd an.

»Hallo«, sagte sie, und im selben Augenblick ging eine Tür auf, die wohl in die Scheune führte. Die Alte stand im Türrahmen und fragte barsch, was sie da drinnen zu suchen habe.

»Ich musste mal«, sagte Vigdís entschuldigend. Die Alte kam zu ihr, und der Mann folgte ihr auf den Fersen. Er war schmächtig und zittrig, lächelte viel, schien aber nicht sprechen zu können. Er hatte Tränensäcke unter den Augen, die so schwer herunterhingen, dass die rosafarbene, glänzende Haut unter den Augäpfeln aufblitzte, so als würden ihm die Augen aus dem Kopf fallen, wenn er sich etwas zu weit vorbeugte.

»Hat er Sie belästigt?«, fragte die Alte. Der Mann trat dicht an die Frauen heran und glotzte Vigdís an. »Er ist krank und manchmal verwirrt. Bitte nehmen Sie das nicht zu ernst. Wir haben nicht oft Gäste.«

»Nein, natürlich nicht. Alles ist gut«, entgegnete Vigdís und versuchte den Mann zu ignorieren, ohne unhöflich zu sein. Die Alte war ziemlich groß, schien es sich aber angewöhnt zu haben, gebeugt zu gehen; ihr Rücken war krumm und bucklig. »Kommen hier denn nie Touristen vorbei?«

Die Alte schüttelte den Kopf. »Nicht sehr oft. Im Frühjahr und im Herbst bekommen wir Vorräte und Heu für die Tiere. Die Medikamente für ihn …«, sie nickte zu dem Alten, »… werden mit einem kleinen Flugzeug gebracht … Aber das ist für mich kein Besuch, wenn die Leute nicht bleiben.« Sie gab ein Geräusch von sich, das an eine schlecht geölte Tür erinnerte, die sich langsam öffnet.

Vigdís nahm eine Bewegung wahr und schaute im selben Moment nach unten, als der Alte seine Hand fest auf ihren Bauch legte, kurz oberhalb des Schritts. »Pfui«, stieß sie hervor und wich ihm aus, während die Alte herbeistürzte, die Hand des Alten wegriss und leise auf ihn einredete.

Sie bat Vigdís um Entschuldigung. »Sie brauchen keine Angst zu haben. Er wollte Sie nur begrüßen«, sagte sie. Der Alte streckte wieder die Hand aus, und Vigdís lachte verlegen, nahm dann seine Hand und schüttelte sie. Die Handfläche des Mannes fühlte sich rau an, unter den Fingernägeln waren Trauerränder, und sein Handschlag war fest und unangenehm. Vigdís nannte ihren Namen, und der Alte starrte sie an und versuchte offenbar, etwas zu sagen. Vor lauter Anstrengung legte sich seine Stirn in Falten, und er ließ ihre Hand nicht los.

»Was hat er gesagt?«

»Er möchte Ihnen etwas vorsingen«, erklärte die Alte. Der Mann straffte den Rücken, sein Gesicht wurde ganz friedlich, und er sang mit heller, kindlicher Stimme: »Kleines Lämmchen, Lämmchen mein, Fett sollst du ansetzen fein. Gib dir schön viel Mühe, dann kommst du in die Brühe.«

Er verstummte, ohne den Blick von Vigdís abzuwenden, und lächelte. In seinen Augen lag eine Distanz, jedoch keine sanfte wie bei anderen alten Menschen, die sie kannte, sondern eine hinterlistige. Sie zog ihre Hand zurück, hätte sie fast weggerissen, doch im selben Augenblick verlor der Mann das Interesse an ihr und ging weg.

5 | Der Garten