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Sie passierten eine Deutschland-Fahne, und dann - Annette hatte grundsätzlich nichts gegen eine Deutschland-Fahne, immerhin trug auch sie ein Wappen auf der Uniform - dann passierten sie die nächste Fahne, und dann noch drei weitere, die als Wimpel in die - wirklich grässlichen Blumenkübel - am Eingang gesteckt waren. Und als wäre das noch nicht genug, hing über der Tür der hässlichste aller Rauschgoldengel.
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Seitenzahl: 175
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Hochverrat in Overath
Der Overath-Krimi Band I
R. B. Brown
R. B. Brown
c/o AutorenServices.de
Birkenallee 24
36037 Fulda
1. Auflage 2025 Alle Rechte vorbehalten.
Covergestaltung: © R. B. Brown
Erstellung: epubli – ein Service der neopubli GmbH,
Köpenicker Straße 154a, 10997 Berlin Kontaktadresse nach EU-Produktsicherheitsverordnung:
Witwen sind auch Wählerinnen
Gudrun Meier rannte um ihr Leben.
Die Frau des Bürgermeisters hatte sich immer bemüht, nützlich für ihre Gemeinde, nützlich für ihren Mann zu sein. Als „Frau Bürgermeister“ hatte sie gar keine Wahl gehabt. Emanzipatorische Erwägungen?
Fehlanzeige.
Bis vor Kurzem hatte sie sich wenigstens immer in dem Gedanken gewiegt, dass sie doch eine wichtige, eine bedeutende Rolle hatte. Natürlich wäre es schön gewesen, wenn unter den E-Mails, die sie schrieb, nicht der Name ihres Mannes, sondern ihrer stünde. Auch hätte sie es gerne gesehen, dass sie bei der Amtsvereidigung diejenige gewesen wäre, die die Hand zum Schwur hob, nachdem sie schon den Wahlkampf geleitet hatte.
Es hätte Gudrun („Gundi“) Meier auch gefallen, wenn in einer der vielen Ratssitzungen ein Wort des Dankes gefallen wäre, wenn sie an die Anwesenden (hauptsächlich Männer, hauptsächlich im gehobeneren Alter) Kaffee verteilte („Schwarz liebe Gudrun, nur schwarz, kein Zucker, keine Milch“) und Schnittchen dazulegte („Keine Gurke für mich, aber das wissen Sie ja, Frau Bürgermeister!“).
Die Frau des Bürgermeisters hätte ihre Ideen zum Entwicklungsplan der Grundsteuer und die zur Sanierung des schon etwas in die Jahre gekommenen Schwimmbades auch gerne selbst vorgetragen. Aber sie lächelte auch stolz, wenn ihr Mann mit etwas geschwurbelten Worten die von ihr geschriebenen Sätze zur Nachhaltigkeit des Haushaltsplans vorlas. Immerhin. Solange er nur nicht anfing zu salbadern. Gudrun wusste, die Ratsmitglieder hassten es, wenn jemand salbaderte. Nur bei sich selbst machten sie eine Ausnahme.
Nun, Gudrun wusste, dass ihre Leistungen nicht so gewürdigt wurden, wie sie es verdient hätte. Aber sie hatte Einfluss – wenn auch nur indirekt – und sie war auf jedem Kaffeekränzchen entlang von Agger und Sülz willkommen. Selbst zu dem Fünf-Uhr-Frühstück oben auf dem Dorf beim Pfarrer ließ sie sich sehen – natürlich immer mit frisch gebackenem Brot und etwas Kuchen. Die Witwen, die es zu trösten galt, mochten Süßes.
Gudrun Meier war nicht unzufrieden. Sie wusste, sie war wichtig. Witwen waren auch Wählerinnen. Texte mussten von irgendwem geschrieben werden. Ihr Mann war ohne sie aufgeschmissen. Der Rat hätte keinen Kurs ohne ihren Mann und keine Konzentration ohne ihren Kaffee. Doch es gab noch etwas – etwas weitaus Wichtigeres: Gudrun hütete ein Geheimnis. Und dieses Geheimnis würde sie hüten, solange es nötig war. Aber schöner wäre es wirklich, wenn sie am Leben bliebe.
Sie, Gudrun Meier, sie würde sie alle beschützen – die Stadt, ihren Mann, das Bürgermeisteramt. Und dann würden sie alle erkennen, wie nützlich und wichtig und wertvoll sie war. Gut. Ihr Mann vielleicht nicht. Er würde sicher anderes erkennen. Aber auch das würde sie hinbekommen. Sie würde alles hinbekommen!
Gudrun meinte die Verfolger an ihren Fersen spüren zu können. Sie hörte Geräusche – sehr nah, und sie wusste: Man hatte sie fast erreicht.
Bevor Gudrun Meier starb, würde sie etwas anderes tun:
Die Frau des Bürgermeisters würde kämpfen. Sie würde stehen bleiben, sich umdrehen; sie würde sich dem Gefecht stellen.
Heldenhaft sein, Gudrun, heldenhaft sein, sagte sie sich.
Die Äste knackten, Zweige peitschten ihr ins Gesicht; ihr Fuß blieb im Schlamm fast stecken, und Morast drang durch ihren weißen Fitnessschuh. Sehr ärgerlich, der Schuh war noch fast neu.
Ein Drehen ihres Kopfes, ein lauschendes Ohr, beides sagte Gudrun, dass sie immer noch verfolgt wurde.
Ein Schauer ließ ihre Dauerwelle erzittern, als ihr klar wurde, dass sie es wahrscheinlich nicht schaffen würde.
Eine Woche zuvor - Probleme.
Kommissar Knopper hatte ein Problem.
Dieses Problem bestand nicht darin, dass sein Chef ihn gerade angerufen und mitgeteilt hatte, dass sein Urlaub (Knoppers, nicht der seines Chefs) ausfallen musste. Das Problem des Kommissars bestand auch nicht darin, dass seine Frau wütend sein würde. Und dass sie die Scheidungspapiere wahrscheinlich schon irgendwo in der Sockenschublade bunkerte. (Zumindest drohte sie regelmäßig damit, so wie neulich, als Knopper spontan abends hatte arbeiten müssen, als sie Besuch von ihren Nachbarn bekamen. Den unsäglichen.)
Nein, das Problem des Kommissars waren weder seine aufgebrachte Frau noch der nervtötende Polizeiintendant.
Es war sein aufgebrauchter Vorrat an Würstchen.
***
„Würstchen?“ Der Mann in Regalreihe Drei sah ihn an, als sei er gestört. Oder verwirrt. Oder beides. „Würstchen?“, wiederholte er; immer noch diesen Blick aufgesetzt, als hätte Knopper ihn nach Katzenfutter für seinen Hund gefragt.
Knopper seufzte. „Sie sind neu hier, oder?“
Der Mann starrte ihn nur über seinem „Wir haben ein Herz für Lebensmittel“ an. Eine lange Pause entstand, in der Knopper nicht umhinkonnte, zu denken, dass die graue Brille für das blasse Gesicht seines Gegenübers unpassend war.
Knopper war kein Mann der Äußerlichkeiten. Er wusste selbst, dass er – wenn er denn einmal attraktiv gewesen war – heute nicht klassisch „gut“ aussah. Mit seinem etwas zu ausgeprägtem Bauch, dem kunstvoll gezwirbelten Schnurrbart (er bildete sich ein, er hätte etwas Preußisches), und mit den braunen Lederschuhen, hatte er mehr von einem Schreibtisch-Polizisten, als ihm lieb war. Aber der erste Eindruck täuschte.
Knopper sah den Mann scharf an. Fast hätte er seinen Dienstausweis gezogen und dem Mann vor die dicken Gläser gehalten. Knoppers Magen knurrte. „Die Würstchen?!“
„R-Regal Zwei – aber es sind nur noch zwei Gläser da, meine ich“, stotterte der junge Mann.
Knopper konnte rennen, wenn es um seine heißgeliebten Würstchen ging.
Die Stadt an Agger und Sülz
„Wir müssen uns um etwas kümmern.“ Der Polizeichef sah ihn bedeutungsvoll an. So, als hätte Knopper Schwierigkeiten damit, zu verstehen, dass „Wir müssen uns um etwas kümmern“ bedeutete: „Kümmern SIE sich darum.“
Knopper stellte das Glas Würstchen, dass er noch hatte ergattern können (dafür hatte es einen kurzen Streit mit einer älteren Dame, vorgetragene Argumente von beiden Seiten und schließlich wirklich das Zeigen seiner Dienstmarke gebraucht). „Schießen Sie los, Chefchen.“
„Chefchen“ – Basel Burckhardt, hob die Augenbrauen. Basel war eigentlich nur deshalb Chef der kleinen Polizeistation in Overath geworden, weil er geglaubt hatte, hier seine Ruhe vor den bösen Buben zu haben. Er hatte eine Auszeit von der Hektik Bergisch Gladbachs gebraucht, und Overath war ihm da als erstbeste Location ins Auge gefallen. Zwischen viel Grün und ein paar Autobahnen („Top-Anbindung an Köln!“, wie jede Stellenbeschreibung und jede Wohnungsanzeige pries, wobei die Stau-Apps allerdings etwas ganz anderes sagten) lag das kleine Städtchen – oder besser die friedliche Flächengemeinde Overath.
Erst vor kurzer Zeit hatte man einen Werbespruch (oder war es ein Motto?) ins Leben gerufen, der lautete: „Overath, die Stadt an Agger und Sülz“. Basel hatte sich gefragt, ob das wirklich so lobenswert war. – Hatte noch nie jemand von der Schwermetallbelastung der Sülz gehört? War es wirklich so zum Jubeln, sich gleich zwei Flüsse auf die Website schreiben zu können? Na, auf jeden Fall klang es fulminanter. Und Basel, der Flüsse und Fulminantes mochte – aber nicht zu fulminant – hatte sich entschieden, sich nach Overath versetzen zu lassen.
Auf seinem alten Revier hatten ihm alle einen Vogel gezeigt – wer wechselte denn schon nach Overath?! Wenn man schon den beinahe verräterischen Akt beging, das Terrain zu wechseln, dann doch nach Köln. – Ja, „ich gehe nach Köln“ oder besser noch „mich zieht’s nach Köln“ (als wäre es nicht das Geld oder die Verkehrsanbindung oder die Clubs oder gleich alles zusammen) klang doch deutlich besser, als zu sagen: „Ich bin jetzt in Overath.“ – „Overath – wo?“
Nun, auf jeden Fall befand Basel sich jetzt an genau diesem Ort, in einer kleinen, etwas staubigen Polizeiwache mit grünkarierten Vorhängen und einem Futon für die Perserkatze „Prinzessin“, und während er noch so darüber sinnierte, wie und warum er hier gelandet war, und seinen Morgen-Kaffee mit einem würstchensüchtigen Kommissar und einer Katze namens Prinzessin teilte, erreichte ihn ein Anruf, der ihn anscheinend in höchste Alarmbereitschaft versetzen sollte.
Zumindest weckte er in ihm den Impuls, seinen Untergebenen in höchste Alarmbereitschaft zu versetzen. Der ihn schon wieder Chefchen genannt hatte. Basel knirschte mit den Zähnen. Dann lächelte er und sagte: „Wie ich schon sagte, Knopper, wir haben ein Problem.“ Er deutete zu dem Stuhl seinem eigenen gegenüber – normalerweise reserviert für potenzielle Besucher, heute ein geeigneter Ort, um eine sehr wichtige Aufgabe zu delegieren.
Knopper (Vorname selbst nach einem Jahr unbekannt, aber warum die Mühe machen, in die Akte zu schauen?) setzte sich.
„Also, worum geht es, Chefchen?“ Der Kommissar grinste ihn an. „Die nächsten Kuh-Schubser? Oder wieder die, die Heuballen klauen? – Oder warten Sie, warten Sie – es ist die Schule, die will, dass wir mal wieder Verkehrskontrollen machen!“
Basel rieb sich die Stirn. „Nein. Wir haben die ganze letzte Woche und die davor geblitzt und Knöllchen verteilt. Wir würden wahrscheinlich mit Klagen rechnen müssen, wenn wir jetzt noch eine Woche dranhängen.“
Der Kommissar zuckte mit den Schultern. „Es ist eine Dreißigerzone. Wer da fünfzig fährt…“
Basel nickte, dann sagte er: „Es ist etwas anderes. Etwas Brisanteres.“ Er räusperte sich. So ganz hatte er auch noch nicht verstanden, was der Bürgermeister von ihm gewollt hatte. Er hatte etwas von „Bedrohung der gesamten Stadtsicherheit“ geredet. Und: „Wir müssen sofort handeln.“ Als Basel vorsichtig nachgefragt hatte, was genau die Bedrohung sei, hatte der Bürgermeister etwas rumgedruckst und war schließlich damit rausgerückt.
Basel sparte sich jetzt die unnötig umständlichen Worte des Mannes, von dem er im Übrigen nicht die geringste Idee, hatte, wie dieser an das Amt gekommen war, und sagte: „Der Bürgermeister hat gerade einen Herausforderer für die anstehenden Bürgermeisterwahlen bekommen.“
„Ach. Okay. … – Echt?!“ Der Kommissar sah Basel ungläubig an. Anders als Basel kam Knopper aus Overath und kannte so jeden und jede. Im Grunde war dieser Mann eine Art Urgestein. Inmitten all der anderen Urgesteine. Ein Stein unter Steinen. Basel verlor sich wieder in seinen Gedanken. Sinnierend sah er aus dem Fenster in die Ferne, wo sich der Kirchturm der Walburga-Kirche zwischen Bäumen und Gebäuden gen Himmel reckte. Basel seufzte. Da war sie. Die Friedlichkeit, die er sich gewünscht hatte.
„Chefchen? Chefchen? – Chef!“
Basel schreckte auf.
„Ein Herausforderer?“ Knopper sah ihn ungläubig an.
Basel seufzte. „Ja.“ Er schüttelte den Kopf. „Bedrohung der Sicherheit der Stadt. So ein Unsinn.“
„Naja. So ganz unrecht hat der Bürgermeister nicht, das ist immer schon schwierig gewesen hier“, Knopper zwirbelte seinen Schnurrbart.
Hatte Basel schon erwähnt, dass sein Kommissar in Overath geboren und aufgewachsen war? Sogar zur Schule gegangen war er hier – „dieselben grauen Betonwände, und dasselbe flaschengrün, wie zu meiner Zeit“, hatte er einmal gesagt – einen stolzen Unterton in der Stimme – als sie wegen eines Einbruchs zum örtlichen Gymnasium gerufen worden waren. Dass die Treppengeländer retro-orange waren, und die Farbe und der Putz abblätterten, tangierte den Kommissar nur peripher. „War schon immer so.“
Ein echtes Urgestein also.
„Kümmern Sie sich darum“, Basel stand auf. „Und nehmen Sie ihre Kollegin mit.“
Der Kommissar sah sich um, als würde Basel die Polizistin Schneider im Aktenschrank verstecken. „Wo ist sie eigentlich?“
„Ihr Auto ist kaputt. Sie musste den Trecker nehmen.“
Absurd genug. In Bergisch Gladbach würde ein Trecker auf der Straße mit einer Polizistin hinter dem Lenkrad – ohne Blaulicht, versteht sich – ziemliches Aufsehen erregen.
„Oho. Dann wird sie aber ziemliches Aufsehen erregen“, Knopper grinste.
Basel starrte ihn an. Dann sagte er bedacht: „Am besten, Sie gehen ihr ein Stück entgegen. Und dann schauen Sie mal im Rathaus vorbei.“
Knopper grinste immer noch und schüttelte den Kopf, als er seine Cord-Jacke (braun) und seinen Hut nahm (auch braun). „Ein Herausforderer für den Bürgermeister! Unglaublich.“
Basel sah ihm hinterher. Manchmal fragte er sich, ob das mit Overath so eine gute Idee gewesen war. Vielleicht hätte er sich doch besser nach Lohmar versetzen lassen sollen.
Ein Satz
„Schon das Neueste gehört?!“, war wohl der Satz, der in Overath innerhalb dieser vierundzwanzig Stunden am häufigsten fiel.
Die Aufregung in dem Städtchen war groß, als herauskam, dass sich jemand zur Bürgermeisterwahl hatte aufstellen lassen. Die Kunden im Supermarkt, die Damen und Herren von der Kasse; die Metzgereifachverkäuferinnen, die Friseure; ja, sogar die Lehrer im Lehrerzimmer – sie alle unterhielten sich, mal mehr, mal weniger überrascht, und mal mehr mal weniger empört, über die Neuigkeit. Hätte man einen Blick in die Holzzuschnitt-Abteilung des jüngst neueröffneten Baumarkts geworfen, dann wären das Flüstern und Wispern, das sich vom Kreischen der Sägen und den fallenden Holzspänen erstaunlich gut abhob, dort genauso zu hören gewesen, wie in der Buchhandlung, wo sich die Buchstabenhungrigen plötzlich überraschend verbal austauschten.
Annette Schneider, neunundzwanzig, geboren auf einem Bauernhof irgendwo zwischen Overath Stadtmitte und Steinenbrück, konnte nicht umhin, zu bemerken, dass es doch erstaunliche Dinge waren, die auf dem Land Aufregung hervorriefen. – Waren es Feuer („Das war ein Großbrand. Ein echter Großbrand! – Mein erster echter Großbrand!“), Verspätung der Regionalbahn („Die RB25 mal wieder“) oder irgendwelche Filme, die am örtlichen Gymnasium gedreht wurden („Heldt mein Name – Kommissar Heldt.“). Von den Scheunenpartys auf den Dörfern gar nicht zu sprechen.
Aber auch die Tatsache, dass die geschätzte und sonst stets so gut gelaunte Polizistin Schneider kürzlich einen Schicksalsschlag erlitten hatte, hatte für viel Gesprächsstoff gesorgt. Nicht nur die älteren Damen im Supermarkt ließen sie plötzlich am Kassenband vor – nein, auch Kuno, ihr Friseur, hatte Annette plötzlich Strähnchen verpassen und mit ihr über seinen kürzlich verstorbenen Hund „Knäul“ reden wollen.
Annette hatte nicht über Knäul reden wollen.
Im Grunde hatte Annette in den letzten Monaten nur ungern mit irgendwem reden wollen – ein Grund mehr, warum sie froh war, einen Bauernhof zu besitzen.
Hatte sie in jungen Jahren noch rebelliert und sich gegen die Übernahme von Kühen, Katzen und Kohlpflanzen gewehrt, war sie mittlerweile Eigentümerin von mehreren Dutzend weiteren Tieren – darunter eine zahnlose Ziege, Hunde und Hühner und außerdem eine ganze Herde von Schafen, die Annette öfter als ihr lieb war eine ganze Nacht mit MÄH! MÄH! wachhielten. Schafe waren in der Hinsicht unerbittlich.
Aber Annette war glücklich.
Oder zumindest war sie es gewesen.
Jetzt wusste Annette nur, dass sie alle anderen glücklich machte, wenn sie den Blinker setzte, und endlich, endlich! von der Straße abbog. Sie nahm den Kreisverkehr schnittig und parkte dann auf dem etwas holprig geteerten Parkplatz der Polizeiwache. Als sie die Straße verließ, wagte es niemand, zu hupen. Ein böser Blick in den Rückspiegel reichte aus, damit die Schlange der Autofahrer, die mittlerweile bis Heiligenhaus reichte, nicht einmal WAGTE, zu überholen. Auch nicht die auf der freien Nebenspur.
Möglicherweise, nur möglicherweise, lag das aber auch an dem Banner, das Annette an der Traktorkabine befestigt hatte.
Was dort stand?
E I N S A T Z !
Ein Satz. Einsatz. – Das konnte alles bedeuten. Am liebsten gefiel Annette die Deutung, es gehe darum, Einsatz zu zeigen. – Warum nicht darauf hinweisen, dass aktiv sein keine Frage, sondern die Antwort war?
Egal. Für Annette stand jedenfalls fest, dass sie sich, nur weil ihr rüstiger BMW beschlossen hatte, seniorenheimreif zu simulieren, nicht anhupen lassen würde.
Die Polizistin zog den Schlüssel aus dem Zündschloss vom Traktor – der übrigens passend blitzblau zu ihrer Uniform war. Die fitte junge Frau war noch nicht ganz abgestiegen, als ihr der Kollege Knopper entgegengeschnauft kam.
Kommissar Knopper – dem Sport ab- und den Freuden des Lebens – allen voran seinen heißgeliebten Würstchen – zugeneigt, war ein guter Polizist, aber sicher keiner, den man so leicht zum Rennen bringen konnte. Und gerade war er fast am Rennen. Annette sprang den letzten Meter nach unten und ging dem Kommissar entgegen, gespannt zu erfahren, wer oder was den Kommissar dazu brachte, ein solches Tempo einzulegen. Normalerweise kannte sie ihn nur so, wenn es um wirklich Wichtiges ging. „Hallo Knopper!“
„Kollegin!“
„Kollege?!“, grüßte sie ihn zurück. Eine Lok ist nichts gegen ihn, dachte sie und musste unwillkürlich lächeln.
Schnaufend blieb er vor ihr stehen. Er brauchte ein paar Sekunden, um wieder zu Atem zu kommen, und Annette nutzte die Gelegenheit, sich mental darauf vorzubereiten, in den Streifenwagen zu springen oder eine Flächenfahndung auszuschreiben oder – Knopper bekam wieder Luft und öffnete den Mund.
Die Satzkombination, die in Overath innerhalb von vierundzwanzig Stunden am häufigsten fiel?
„Schon das Neueste gehört?! Das ist doch unglaublich!“
Frühstück ist wichtig!
„Ich kann immer noch nicht sehen, was daran so unglaublich ist“, die Kollegin Schneider schüttelte den Kopf. Ihre kurzen geflochtenen blonden Zöpfe flogen hin und her. Knopper starrte sie an. „Kollegin!“
„Kollege?!“
Einen Moment zögerte er, dann sagte er: „Sie sehen müde aus. Haben Sie gefrühstückt?“
Verdutzt sah sie ihn an. Sie blinzelte. Dann sah sie wieder nach vorne; die Hände fest am Lenker. Knopper hatte Mitleid mit ihr. Die Kollegin Schneider mochte politikverdrossen sein, doch sie hatte es ja auch nicht leicht. Sie hatte eine Vielzahl von Tieren, die ihr die Haare vom Kopp fraßen; einen kaputten Wagen, und er war sich ziemlich sicher, dass sie noch nicht gefrühstückt hatte. Trotzdem sagte sie jetzt: „Es geht schon, danke. Frühstück wird überschätzt.“
„Sie müssen wirklich besser auf sich achtgeben“, Knopper nickte bekräftigend. „Frühstück ist wichtig.“
„Ich hatte anderes im Kopf.“
„Ich weiß. Ich weiß. Sie haben viel, mit dem Sie fertig werden müssen.“ Die Kollegin zuckte mit den Schultern. Waren das Tränen, die Knopper in ihren Augenwinkeln glänzen sah?
Nein, wohl eher nicht. Die Polizistin war niemand, der einfach anfing zu weinen. Schon gar nicht auf einem Einsatz. Und trotzdem. Sie musste völlig unterzuckert sein. Kein Frühstück!
Knopper zwirbelte sich den Bart.
Knopper seufzte.
Und dann tat er das einzig Richtige. „Da. Nehmen Sie.“
„Verzeihung?“ Sie sah immer noch nach Vorne auf die Straße – vermutlich war das auch besser so – die Leute verhielten sich an den Übergängen der Hauptstraße immer so, als ob sie die Könige der Straße wären.
„Nehmen Sie“, wiederholte Knopper.
Knopper neigte dazu, Sprichwörter umzuformulieren – sein Lieblings-Knopper-Spruch lautete: A Würstle a day keeps the Bestatter away.
***
Sie bogen auf den Parkplatz des Rathauses ein.
Fast erwartete Annette, dass Horden von Bürgern den Eingang belagerten – die Lokalpresse die Türen blockierte, und irgendwer zur Freude der Allgemeinheit einen Grill und ein, zwei Kästen Bier aufgebaut hatte. Zumindest hätte sich Annette nicht gewundert, nach all dem Drama, das sie heute schon mitbekommen hatte. Zwei Bürger hatten tatsächlich, noch während sie im Auto saßen auf der Wache angerufen – dann hatte ihr Chef wohlweislich die Weiterleitung an ihre Diensttelefone aktiviert. Der Dialog mit der dritten Anruferin gestaltete sich dann so:
Annette (am Steuer, die Freisprechanlage eingeschaltet): „Polizei Overath, Schneider am Apparat, was kann ich für Sie tun?“
Anruferin: „Das ist nicht rechtmäßig, oder? Ich meine, das ist doch sicher verboten.“
Annette: „Was genau? Womit kann Ihnen helfen? Was ist Ihr Notfall?“
Anruferin: „Notfall, hah! Genau das ist es!“
Annette: „Ich verstehe nicht. Haben Sie ein Problem? Können Sie es beschreiben?“
Anruferin: „Ich verstehe das ja auch nicht!“
Annette (blickt hilfesuchend zu Knopper): „Ist irgendwer verletzt? Oder eine Ruhestörung? Vielleicht ein Nachbar? Ist jemand bei Ihnen? Können wir Ihnen IRGENDWIE helfen?“
Anruferin: „Ja, also. Ich sitze hier schon den ganzen Vormittag mit der Renate zusammen, und gleich kommt auch noch die Susu – Warten Sie kurz – ja, Renate, ja, ich habe die Polizei am Apparat. Es ist die liebe Annette. Ja, genau. Die blonde. – Wie viele blonde Polizistinnen haben wir denn in Overath?! – Entschuldigung, Fräulein Schneider, ich bin gleich wieder voll da. – Renate, du weißt doch, die Annette Schneider mit dem Bauernhof, die, die letztes Jahr – [es klingelt] ah, da ist ja die Susu! Renate Liebes, gehst du kurz? Du weißt doch, die Susanne wird immer so nervös, wenn sie denkt, es macht ihr keiner auf. So, Fräulein Schneider, was kann ich für Sie tun?“
Annette: „Ich – bitte? Ihr Problem!“
Anruferin: „Wie, das ist mein Problem?!“
Annette: „Schildern. Sie. Bitte. Ihr. Problem!“
Anruferin: „Achso, ja. Es geht um die – Moment, ich hab es retchertschiert. Renate, wie geht das nochmal mit diesen Webseiten? – Aha, ja, also es geht um die Rechtmäßigkeit dieser ganzen Wahlsache.“
Annette: „Wahlsache?“
Anruferin: „Die Wahlen? Die Bürgermeisterwahlen?“