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Hannah ist ein echtes Inselkind, doch vor ein paar Jahren ist sie von Föhr nach Berlin gezogen, wo sie beruflich und privat ihr Glück gefunden hat. Zumindest dachte sie das – bis eine jüngere Kollegin an ihrer Stelle befördert wird und ihr Freund sie betrügt. Tief gekränkt reist Hannah auf ihre idyllische Heimatinsel, um den Kopf wieder freizubekommen. Ohnehin muss sie sich auf Föhr dringend um die Hochzeit ihrer Schwester Stine kümmern. Doch nur wenige Tage nach Hannahs Ankunft verlässt Stines Verlobter plötzlich die Insel. Und Stine trifft sich heimlich mit einem Freund aus der Schulzeit. Was für ein Chaos! Gelingt es Hannah, die für Mittsommer geplante Hochzeit zu retten? Und was ist mit dem charmanten Sänger Tom, der ihr dabei ständig in die Quere kommt?
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Seitenzahl: 616
Veröffentlichungsjahr: 2025
Hannah ist ein echtes Inselkind, doch vor ein paar Jahren ist sie von Föhr nach Berlin gezogen, wo sie beruflich und privat ihr Glück gefunden hat. Zumindest dachte sie das – bis eine jüngere Kollegin an ihrer Stelle befördert wird und ihr Freund sie betrügt. Tief gekränkt reist Hannah auf ihre idyllische Heimatinsel, um den Kopf wieder freizubekommen. Ohnehin muss sie sich auf Föhr dringend um die Hochzeit ihrer Schwester Stine kümmern. Doch nur wenige Tage nach Hannahs Ankunft verlässt Stines Verlobter plötzlich die Insel. Und Stine trifft sich heimlich mit einem Freund aus der Schulzeit. Was für ein Chaos! Gelingt es Hannah, die für Mittsommer geplante Hochzeit zu retten? Und was ist mit dem charmanten Sänger Tom, der ihr dabei ständig in die Quere kommt?
Weitere Informationen zu Melanie Petersen
sowie zu lieferbaren Titeln der Autorin
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Melanie Petersen
Roman
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Originalausgabe März 2025
Copyright © 2023 by Melanie Petersen
Copyright © der deutschen Originalausgabe 2025
by Wilhelm Goldmann Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
(Vorstehende Angaben sind zugleich Pflichtinformationen nach GPSR)
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Michael Gaeb
Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München
Umschlagmotive: Westend61 / Getty Images
imageBROKER / Siegfried Kuttig / Getty Images
© FinePic®, München
Karte und Illustrationen: © Melanie Petersen
Redaktion: Susanne Bartel
BH · Herstellung: ik
Satz: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 978-3-641-31544-3V001
www.goldmann-verlag.de
Für Brian.
One love. One life.
Wie Träume liegen die Inseln
Im Nebel auf dem Meer.
Theodor Storm, »Meeresstrand«
Hannah setzte den Blinker ihres MINI Coopers. Mit einem schnellen Blick über die Schulter wechselte sie von der mittleren auf die linke Spur. Sie war viel zu spät dran. Ziemlich knapp quetschte sie sich zwischen einen Smart und einen Mercedes-Kombi. Der Fahrer des Smarts hupte empört. Einmal. Zweimal. Das dritte Hupen hörte gar nicht mehr auf. Es klang richtig wütend.
»’tschuldige!« Hannah ließ das Fenster neben sich herunterfahren, streckte den linken Arm raus und winkte in seine Richtung. »Musste leider sein. Heute kann ich wirklich nicht zu spät kommen!«, rief sie ihm im Beschleunigen noch zu, obwohl sie wusste, dass er diesen Satz nicht mehr hören würde. Dann lenkte sie den Wagen auf die majestätische Goldelse am Großen Stern zu, die in der Morgensonne glitzerte. Hannah schaute in den Rückspiegel und registrierte erleichtert, dass der hupende Smart-Fahrer sich in Richtung Schöneberg einfädelte. Sie atmete durch und drehte das Radio, das mit ihrem Telefon verbunden war, etwas lauter. Im Auto streamte sie immer »Mein Inselradio Föhr«, um sich ganz viel Nordsee-Feeling von der Küste nach Berlin zu holen.
Die Sprecherin war gerade mit den Nachrichten fertig geworden und begann jetzt mit dem Wetterbericht. »Auf den nordfriesischen Inseln erwarten wir diese Woche Sonne, Sonne, Sonne! Bitte immer schön eincremen. Es ist zwar erst Mitte Mai, aber auf Föhr werden schon Temperaturen um die fünfundzwanzig Grad erwartet …«
Und dann erklangen die ersten Takte von »Walking on sunshine«: »I used to think maybe you loved me, now baby I’m suuure …«
Der schnelle Gute-Laune-Song riss Hannah sofort mit. Während ihre Finger im Takt auf das Lenkrad klopften, warf sie einen kurzen Blick auf die Uhr im Armaturenbrett. Erst 9:36 Uhr. Sie lag inzwischen ganz gut in der Zeit. Eigentlich bestand überhaupt kein Grund mehr, mit Tempo fünfundsechzig durch die Stadt zu kacheln. Hannah drosselte das Tempo auf Richtgeschwindigkeit. Dann drehte sie das Radio auf fast maximale Lautstärke, lehnte sich im Sitz zurück und sang laut mit: »I’m walking on sunshine, woooah …«
Als das Lied zu Ende war und aus den Lautsprechern die ersten schmissigen Takte von Herbert Grönemeyers »Mambo« erklangen, wanderten Hannahs Gedanken zu Frederik. Sein Musikgeschmack war dermaßen spezifisch, dass sie niemals zusammen in ihrem Wagen sitzen, mit ihren Schultern im Takt zucken und diesen Grönemeyer-Song mitgrölen würden. Das war einfach undenkbar. Eingängige Pop-Hits fand Frederik maximal uncool.
Hannah wählte über die Freisprechanlage mal wieder seine Nummer. Aber: nichts. Sie landete sofort auf seiner Mailbox. Das war wirklich merkwürdig.
Seit Tagen hatte sie Frederik nicht erreicht. Vorgestern hatte er ihr kurz geschrieben, dass er wahnsinnig viel zu tun hätte. Das hatte Hannah natürlich verstanden und beschlossen, ihn nicht zusätzlich zu stressen. Wenige Sekunden später hatte sie allerdings gesehen, dass Frederik gerade zwei Artikel der Washington Post retweetet hatte.
Sie hatte es also direkt noch einmal bei ihm versucht, aber er war wieder nicht erreichbar gewesen. Weshalb nahm Frederik nicht ab? Das ergab einfach keinen Sinn! Hannah hatte es in den letzten Monaten genau beobachtet: Frederik legte sein Handy wirklich nur zum Duschen aus der Hand. Selbst nachts lag das Telefon immer griffbereit auf seinem Nachttisch. Dass er plötzlich beschlossen hatte, sich digital zu »entgiften«, war wohl eher ausgeschlossen.
Dabei hätte Hannah ihn wahnsinnig gern gesprochen. Schon allein, um mit ihm über diese offene Position auf Mallorca zu reden. War er wirklich einverstanden damit, dass Hannah ihre Beförderung, die Ralf heute verkünden würde, annahm und eine Weile in die Zweigstelle auf die Baleareninsel wechselte? Es sah nämlich einfach alles danach aus, dass Hannah schon in ein paar Tagen ihre Koffer packen durfte.
»Das musst du machen!«, hatte Frederik zwar spontan gerufen, als sie vor zwei Wochen abends zusammen auf dem Sofa saßen und Hannah ihm davon erzählte, aber irgendwie war sie sich trotzdem nicht sicher. Setzten sie nicht ihre Beziehung aufs Spiel, wenn Hannah zweieinhalb Flugstunden von Frederik wegzog?
»Ach was!« Frederik hatte begeistert den Kopf geschüttelt. »Ab sofort treffen wir uns immer da, wo die Wetter-App gerade das bessere Wetter voraussagt«, hatte er vorgeschlagen.
Das hatte sich also eigentlich ganz so angehört, als wäre es für Frederik vollkommen in Ordnung, wenn sie Berlin für ein, zwei Jahre den Rücken kehrte. Aber bis ins letzte Detail durchgesprochen, was genau das für ihre gemeinsame Zukunft bedeutete, hatten sie es eben noch nicht. Mit dem Wührt-Deal hatte Hannah einfach nicht die Zeit und Ruhe dafür gehabt.
Der Deal hatte sie über Monate auf Trab gehalten. Netterweise hatte sie das sogar Frederik zu verdanken. Er hatte Hannah mit den Wührt-Schwestern zusammengebracht. Indra und Ariane Wührt kannte Frederik noch aus Koblenz, wo er mit ihnen an einer Eliteuni studiert und parallel dazu die ersten Start-ups gegründet hatte. Als die Wührt-Schwestern, die wie Frederik den Firmensitz ihrer Unternehmen irgendwann nach Berlin verlagert hatten, mal wieder nach einem neuen Büro für ihre mittlerweile zweihundert Mitarbeiter suchten, hatte Frederik Hannah den Kontakt vermittelt. Nur wenige arbeitsintensive Wochen später hatte Hannah tatsächlich zwei Grundstücke am Maybachufer an Ariane und Indra verkauft.
Mit dem Wührt-Deal war sie offiziell in die Riege der absoluten Topmaklerinnen im Hause »Nüssler & Nüssler« aufgestiegen.
Hannah bog in die Schlüterstraße ein, wo sie nach ein paar Metern noch einmal einen Blick auf die Uhr warf. Noch siebzehn Minuten bis zum Meeting. Das schaffte sie … locker!
Seit dem Wührt-Deal war Hannah sich sicher: Sie würde den spannenden Job in der »Nüssler & Nüssler«-Zweigstelle auf Mallorca bestimmt bekommen und dort ab sofort ihren Chef Ralf in seinem Office unterstützen.
Und wenn sie die zwei fordernden Jahre bei Ralf auf der Insel überstand, dann würde sie sich irgendwo in Europa einen eigenen Standort für eine »Nüssler & Nüssler«-Filiale aussuchen und leiten dürfen. So wie Esther, ihre Vorgängerin, die jetzt nach Madrid zog. Madrid!
Das war also das Ziel. Auch wenn Esther inzwischen so viel arbeitete, dass sie nachts nur noch vier Stunden schlief. Das hatte sie Hannah gegenüber letztes Jahr auf dem »Nüssler & Nüssler«-Sommerfest nach ihrem vierten Martini ausgeplaudert. Aber das würde Hannah schon überstehen. Sie wüsste ja, wofür sie die horrormäßigen Augenringe, mit denen Esther sich in die morgendlichen Statuscalls einwählte, in Kauf nehmen würde: Insgeheim träumte Hannah von einer Dependance in der Bretagne oder auf den Schären in Schweden. Oder in Schottland – dort würde es Frederik, der ja nur dorthin reiste, wo er morgens um halb sechs joggen gehen konnte, ohne Angst haben zu müssen, sicher auch gefallen.
Im Schritttempo schlich sie durch die Schlüterstraße. Hier muss doch jetzt irgendwo, bitte, bitte, ein Parkplatz sein …
Während sie wendete, um die Straße ein weiteres Mal abzufahren, dachte sie daran, was bis zu ihrem Abflug nach Mallorca noch zu tun war. Neben allem anderen stand in fünfeinhalb Wochen die Hochzeit ihrer Schwester Stine an, und dafür musste sie noch ein paar letzte Punkte klären, für die sie als Trauzeugin zuständig war. Marten hatte Stine vor einem Dreivierteljahr einen Antrag gemacht. Seither war Hannah in die Planungen für die Hochzeit eingespannt. Allein bei dem Gedanken daran, Stine heute Nachmittag beichten zu müssen, dass sie in wenigen Tagen auf die Balearen zog, rutschte Hannah das Herz in die Hose. Stine würde so enttäuscht sein!
Und das zu Recht: Die To-do-Liste für die Hochzeit, die Stine und Hannah gemeinsam erstellt hatten, war immer noch nicht komplett erledigt. Hannah konnte nicht fassen, wie viel Zeit (und Nerven) allein der »Blumenschmuck für die Tische« gefressen hatte. Wie die dreißig Sträußchen denn nun aussehen sollten, hatten sie immer noch nicht final mit der überambitionierten Floristin aus Flensburg abgestimmt. Die schaltete seit zwei Tagen einfach auf Durchzug!
Immerhin hatte der Wahnsinn mit den Blumen Stine den Punkt »Hochzeitsband« fast vergessen lassen. Sie erkundigte sich endlich nicht mehr täglich bei Hannah, ob sie die Cover-Band Something Blue erreicht hatte. Bin an ihnen dran …, hatte Hannah immer wieder geschrieben und drei Daumen-hoch-Emojis direkt hinterhergeschickt. Sie hatte gehofft, dass das reichen würde. Hatte es aber nicht.
Als Stine sich damit nicht zufriedengab und immer wieder nachhakte, hatte Hannah leider irgendwann mit »Sieht gut aus!« geantwortet. Nach diesen magischen drei Worten hatten Stines Rückfragen zur Band genialerweise sofort aufgehört. Sie ging also felsenfest davon aus, dass Hannah Something Blue gebucht hatte. Was leider überhaupt nicht der Fall war. Hannah seufzte. Sie musste sich wirklich dringend um die Band kümmern, auf die Stine sich eingeschossen hatte, wenn sie auf der Hochzeit am Ende nicht ganz ohne … Stopp! Hannah verbot sich den Gedanken. Jetzt war wirklich nicht die Zeit, um in Panik zu verfallen. Jetzt musste sie sich auf den anstehenden Termin und ihre Beförderung konzentrieren.
Wenige Meter vor sich erspähte Hannah einen alten Audi, der ein kleines Stück zurücksetzte und anschließend vorwärts aus einer Parklücke stieß. So ein Glück! Erleichterung flutete Hannahs Körper. Sie hatte einen Parkplatz. Erst jetzt bemerkte sie, dass sie schon die ganze Autofahrt lang ihre Schultern hochzog.
Sie parkte ein, schnappte sich die Ledertasche, in der sie ihren Laptop mit sich herumtrug, vom Beifahrersitz und schloss ab.
Beim Überqueren der Straße zog sie ihre Schultern zur Entspannung noch ein paarmal rauf und ließ sie wieder fallen. Das tat gut. Vor dem Bürogebäude blieb sie kurz auf dem Bürgersteig stehen. Sie nahm sich die Zeit und blinzelte noch einmal in den königsblauen Himmel, der heute vollkommen wolkenlos war. Die Sonne schien ihr warm ins Gesicht. Ach, Frühling in Berlin! Den würde sie auf Mallorca wahrscheinlich schon ein wenig vermissen.
»Und? Schon aufgeregt?«, fragte ihr Kollege Alexis, als Hannah das Büro betrat, das sie sich mit ihm teilte.
»Geht so«, spielte Hannah die schlaflose Nacht und vier Outfitwechsel am Morgen herunter.
Alexis zog amüsiert seine linke Augenbraue hoch. »Na komm, erzähl mir nichts, ich kenn dich doch.« Er lächelte.
»Also gut«, gab Hannah zu, während sie ihren Schreibtischstuhl zurückschob und sich aufs Sitzpolster fallen ließ. »Ich bin total fertig. Dass ich den Job wirklich habe, glaube ich erst, wenn ich’s von Ralf persönlich höre.« Ihr Chef war manchmal unberechenbar.
»Was ja«, Alexis warf einen kurzen Blick auf den Monitor von seinem Computer, »in ein paar Minuten der Fall sein wird.«
»O Gott, wahrscheinlich sterbe ich vorher noch vor Aufregung.« Hannah seufzte tief und ließ ihren Rechner hochfahren.
»Komm, Miesewetter, jetzt freu dich halt mal«, sagte Alexis, der aus ihrem Nachnamen Kiesewetter schon vor Jahren den Spitznamen Miesewetter gemacht hatte. Er verwendete ihn immer dann, wenn Hannah schlechte Laune hatte. Oder wenn er sie ein wenig hochnehmen wollte. Er beugte sich über den Schreibtisch und dämpfte seine Stimme, damit ihre junge Kollegin Nicole im Büro gegenüber ihn nicht hören konnte. »Ist doch alles so gut wie in trockenen Tüchern«, sagte er mit einem Zwinkern.
»Sicher, dass du nicht selbst nach Mallorca willst?«, wollte Hannah wissen, obwohl sie Alexis gefühlt schon tausendmal danach gefragt hatte. »Zu Ralf ins Büro?«
»Gott bewahre, bloß nicht!«, rief Alexis übertrieben entsetzt. »Ich bin doch nicht lebensmüde! Ralf ist mir viel zu stressig. Und fürs Mittelmeer habe ich auch den ganz falschen Hauttyp. Von der brutzelnden Sonne auf Mallorca bekomme ich doch schon nach drei Minuten Sonnenbrand. Und auf Falten und Hautkrebs bin ich auch nicht unbedingt scharf.« Lächelnd rieb er sich über sein komplett faltenfreies Gesicht.
Hannah grinste. »Du hast eindeutig zu viele Hautärzte im Freundeskreis.«
»Und Stefan würde ich eh nicht aus Berlin rauskriegen«, fuhr Alexis fort. »Dem geht’s hier viel zu gut.« Hannahs Kollege war seit zwei Jahren mit Stefan verheiratet. Beide hingen sehr an Berlin. »Also, der Job ist deiner, meine Liebe. Mach dir um mich bitte keine Gedanken.«
Bevor Hannah etwas erwidern konnte, meldeten ihre Rechner mit einem melodischen Piepsen, dass es Zeit für den morgendlichen Call war und die ersten Teilnehmer aus Frankfurt, München, London, Zürich und allen weiteren Zweigstellen von »Nüssler & Nüssler« sich schon einwählten.
Hannah öffnete das Programm, mit dem sie sich immer zusammenschalteten, und klickte auf »Beitreten«.
Im nächsten Moment dröhnte ihnen aus dem Monitor auch schon Ralfs tiefes, heute nur minimal affektiertes »Hooola!« entgegen. Er trug ein Poloshirt in einem verwaschenen Lavendelfarbton und strahlte ihnen von der Terrasse seiner Finca bei Pollença ein strahlend weißes Jürgen-Klopp-Lächeln entgegen.
»Guten Morgen, Ralf«, sagte Alexis mit der umwerfenden Nonchalance, die er sich extra für Kunden und ihren Chef aufbewahrte. »Wie ist die Hitze heute auf der Insel?«
»Hammerhart, mein Lieber«, sagte Ralf. »So hammerhart wie meine Aufschläge auf dem Tennisplatz heute früh.« Sein Lachen schepperte ein wenig elektronisch und verzerrt. »Aber lasst uns doch gleich loslegen«, fuhr er fort. »Ich hab nicht viel Zeit.« Er warf einen kurzen Blick auf die klotzige Herrenuhr an seinem Handgelenk. »Ich würde sagen, wir ziehen unser Morgenmeeting heute mal straff durch. Eigentlich wollte ich auch nur eine Personalie bekanntgeben. Also …«
Hannah hielt die Luft an. Ihre Handflächen waren vor Aufregung schweißnass, und dabei hatte ihr Chef noch gar nichts gesagt.
»Wie ihr wisst, wird es für die offene Stelle an meiner Seite eine weibliche Neubesetzung geben«, begann Ralf, »und die Person, die ich im Auge habe, ist … Achtung, kleiner Trommelwirbel …« Er lachte über seine Bemerkung am lautesten. »Also, the winner is«, in seiner Stimme lag eine Dramatik, als würde er einen Bambi verleihen, »Niiiiicooole!«
Bitte was? Hannah sah, wie ihr Lächeln auf dem Monitor gefror, während ihr innerlich längst der Kiefer heruntergeklappt war. Nicole? Ralf hatte sich doch versprochen, oder nicht?
»Herzlichen Glückwunsch, liebe Nicole. Du wirst Esthers Stelle mit sofortiger Wirkung übernehmen. Esther und ich waren uns gleich einig, dass der Job für dich mit deinem unermüdlichen Arbeitseinsatz am geeignetsten ist.«
Welcher unermüdliche Arbeitseinsatz denn? Hannah traute ihren Ohren nicht. Nicole war erst vor ein paar Monaten mit dem Studium fertig geworden. Sie war gut und lernte schnell, aber sie war auch ziemlich oft krank und machte meistens schön überpünktlich Feierabend (»Bitte entschuldigt, aber ich muss zum Spanischkurs/CrossFit/zur Eröffnung der Margarita-Bar eines Freundes/eine Jeans umtauschen, die nicht sitzt …«). Außerdem brauchte man für eine Senior-Position im Haupthaus von »Nüssler & Nüssler« normalerweise mindestens fünf bis acht Jahre Berufserfahrung, und die hatte Nicole beim besten Willen nicht. Hier konnte doch nur ein Missverständnis vorliegen!
»Na, das ist ja mal eine«, Alexis zögerte kurz und klang schon deutlich weniger nonchalant, »echte Überraschung, Ralf.«
»Ich weiß, ich weiß«, winkte ihr Chef ab. »Immer für eine Überraschung gut, euer Boss, was?« Wieder sein schepperndes Lachen. »Aber wisst ihr, ich dachte mir, wir sind doch eine erfolgreiche Firma. Und wer noch erfolgreicher werden will, muss manchmal ungewöhnliche Entscheidungen treffen. – Nicole, du bist noch nicht so lange dabei, das ist ja allen bekannt. Aber du bist intelligent, engagiert und lernst schnell dazu. Ich habe keine Zweifel, dass du dich hier auf Mallorca innerhalb weniger Wochen bestens akklimatisieren und einarbeiten wirst.«
Nicoles Wangen glühten knallrot. Bescheiden lächelte sie in die Kamera. »Danke für diese großartige Chance, Ralf. Ich weiß gar nicht, was ich … also, was ich sagen soll.«
»Das musst du auch nicht«, winkte Ralf ab. »Pack lieber deine Koffer! Ich erwarte dich am Montagmorgen um halb neun bei mir im Büro.« Er lehnte sich in seinem Gartenstuhl zurück und trommelte mit beiden Zeigefingern ungeduldig auf die Tischplatte. »Und ihr, Alexis und Hannah, ihr haltet in Berlin die Stellung, okay? Immer schön an allem dranbleiben. Hannah, der Deal mit den Wührt-Schwestern war eine Topleistung. Spitzenumsatz im April! Damit hast du bewiesen, dass deine Kontakte in Berlin einen echten Unterschied für die Firma machen. In der Hauptstadt bist du genau am richtigen Ort. Eine echte Geheimwaffe, was?« Er lachte noch einmal. »Gut, Leute, jetzt muss ich aber wirklich looos.« Das Fensterchen, in dem Ralf gerade noch zu sehen gewesen war, verschwand auf dem Monitor. Die übrigen Kolleginnen und Kollegen, die stumm geschaltet zugehört hatten, verabschiedeten sich jetzt freundlich winkend, und auch Hannah verließ den Call. Erst jetzt bemerkte sie den Kloß in ihrem Hals, der immer weiter anschwoll.
»Das war ja mal eine echte Überraschung«, sagte Alexis nachdenklich und mehr zu sich selbst. »Tut mir wirklich leid für dich, meine Liebe. Alles in Ordnung mit dir?« Er schaute besorgt zu Hannah rüber.
»Nee, nichts ist in Ordnung. Überhaupt nichts.« Sie stützte ihren Kopf in die Hände und starrte auf die Tischplatte. Nachdenken. Sie musste jetzt nachdenken. Was genau hatte sie in den letzten Wochen falsch gemacht? Der Deal mit den Wührt-Schwestern war reibungslos durchgegangen, und für ein weiteres Objekt in Schöneberg hatte sie ebenfalls schon zwei heiße Interessenten an der Angel. Das wusste Ralf auch. Also, an ihrer Leistung konnte es nicht liegen.
Hannah hob den Kopf, aber bevor sie die Katastrophe mit Alexis besprechen konnte, erschien Nicole im Türrahmen.
»Oh Mann, Hannah. Das wäre eigentlich dein Job gewesen. Es tut mir sooo leid!« Nicoles Blick war sorgenvoll. Sie sah ehrlich geschockt und peinlich berührt aus. So kannte Hannah sie gar nicht.
Sie riss sich zusammen und winkte sofort ab. »Ach was! Ist ja nicht deine Schuld«, sagte sie zur jüngeren Kollegin. »Mach dir meinetwegen bitte keine Gedanken, klappt bestimmt beim nächsten Mal.« Hannah musste zugeben, dass die Sätze wenig überzeugend rübergekommen waren. Ihre Stimme hatte ganz belegt geklungen.
Nicole sah aus, als würde sie gleich weinen. Das darf sie auf keinen Fall tun, dachte Hannah alarmiert. Sonst heule ich doch direkt mit! Sie schob ihren Stuhl zurück und sprang auf. »Komm mal her, Nicole.« Sie ging um den Tisch herum und umarmte die Kollegin. »Herzlichen Glückwunsch, meine Liebe! Das wird eine grandiose Zeit auf der Insel. Genieße sie!« Und das meinte sie auch so. Hannah verstand zwar nicht, wie Ralf zu dieser Entscheidung gekommen war, aber das konnte sie Nicole ja nicht vorwerfen.
»Glückwünsche auch von mir«, sagte Alexis etwas hölzern und drückte sie ebenfalls.
»Danke, das ist lieb«, sagte Nicole. »Ich muss das erst mal verdauen und ein paar Anrufe machen, ja? Ist wirklich alles okay, Hannah?«
»Klar. Du, ganz ehrlich? Ich find’s eigentlich ganz gut, dass ich in Berlin bleibe«, log sie. »Meine Schwester heiratet doch nächsten Monat. Mallorca hätte jetzt gerade eh nicht so gut gepasst.« Sie zwang sich zu einem Lächeln, und die jüngere Kollegin nickte erleichtert, bevor sie mit einem letzten entschuldigenden Blick wieder in ihrem Büro verschwand.
»Siehst du«, flüsterte Hannah Alexis zu, als Nicole die Tür geschlossen hatte. »Ich wusste doch, dass man Ralf nicht trauen kann.« Sie konnte immer noch nicht ganz glauben, was gerade geschehen war. Sosehr sie sich für Nicole auch freute: War Ralf jetzt eigentlich komplett abgedreht? Wo hatte er diese Entscheidung getroffen? Auf seinem Tennisplatz? Bei zweiundvierzig Grad in der prallen Sonne und völlig dehydriert?
»Also, ich verstehe das alles ebenso wenig wie du«, sagte Alexis etwas erschöpft. Er wirkte nachdenklich. »Sag mal, was hältst du davon, wenn wir zwei«, er warf einen Blick auf seine digitale Fitnessuhr, »also, wenn wir aus aktuellem Anlass unsere Mittagspause heute mal auf halb elf vorziehen? Wollen wir zum Italiener um die Ecke? Ich glaube, der hat schon vormittags auf.«
Hannah verzog das Gesicht. »Tut mir leid, aber ich kann jetzt nichts essen. Wirklich nicht.« Nicht nach dem Schock.
»Ich auch nicht«, sagte Alexis mit einem mitfühlenden Lächeln. »Aber ich brauche einen Drink. Und so, wie du gerade ausschaust, du auch.« Bevor Hannah weiter protes-tieren konnte, schob er sie schon aus dem Zimmer und am Empfang vorbei hinaus auf die Straße.
»Also, abgesprochen war mit Ralf eigentlich etwas anderes«, sagte Alexis, als sie bei ihrem Stammitaliener an einem Zweiertisch saßen. Vor ihnen standen zwei Gläser Weißwein, und Alexis tunkte ein Stück Ciabatta in etwas Olivenöl, das er kurz zuvor auf einen kleinen Teller gekippt hatte.
»Mmpf«, machte Hannah. »Ich verstehe einfach nicht, weshalb er sich für Nicole entschieden hat.« Sie runzelte die Stirn. »Ich meine … mal ganz ehrlich, die hat doch erst seit einem halben Jahr ihren Bachelor in der Tasche.« Sie nahm sich eine Olive aus einem kleinen Schälchen. »Weshalb hat Ralf denn nicht Dilek aus dem Münchener Büro befördert? Die hat doch in Laim diese Wahnsinnsfläche verkauft. Oder Basti aus Frankfurt? Mr Monsterprofitabel. Ich kapier’s einfach nicht.«
Alexis schüttelte betreten den Kopf. »Nachdem Nicole bei deinem Wührt-Deal eingestiegen ist, hat sich der Umsatz einfach mal verdoppelt«, sagte er. »Wahrscheinlich Anfängerglück.«
Hannah zuckte seufzend mit den Schultern. »Damit könntest du recht haben.« Sosehr sie Nicole auch mochte: Jetzt bereute sie es, dass sie die jüngere Kollegin zu den geschäftlichen Mittagessen mit Indra und Ariane Wührt mitgenommen hatte. Sie hatte gedacht, Nicole würde bei diesen Terminen etwas über gute Kundenbeziehungen lernen. Darüber, wie man einen freundschaftlich-professionellen Kontakt zu potenziellen Käuferinnen aufbaute. Aber das hatte Nicole nicht von Hannah lernen müssen! Im Gegenteil. Nicole war ein echtes Verkaufstalent. Mit ihrer natürlichen, unaufdringlichen Art verstand sie sich von Sekunde eins an hervorragend mit beiden Schwestern. Gleich beim ersten Lunch stellte sich heraus, dass Nicole ein Jahr lang dasselbe Internat unweit von Brighton besucht hatte, auf das Indra und Ariane ein paar Jahre zuvor gegangen waren. Ab dem Zeitpunkt tauschten die drei ununterbrochen Insiderwitze über frühere Lehrerinnen und Lehrer aus, die Hannah natürlich nicht kannte.
Nach diesem Treffen hatte der Deal deutlich an Fahrt aufgenommen: Die Wührt-Schwestern wollten nun plötzlich auch noch das Nachbargrundstück am Maybachufer erwerben, auf dem ein mit Brettern vernagelter ehemaliger Discounter stand, den man erst einmal für eine aberwitzige Summe abreißen musste. Die Verkaufssumme stieg durch das zweite Grundstück in schier astronomische Höhen, sodass Ralf nach dem Abschluss begeistert einflog und dem Berliner Büro einige Flaschen Schampus spendierte. Hannah konnte es kaum fassen: Es hatte offenbar schon gereicht, dass Nicole leicht gebräunt in einem Outfit, das selbst an kühlen Berliner Frühlingstagen einen Hauch von Ibiza verbreitete, und mit ihren teuren, bunt geflochtenen Strandarmbändern am Restauranttisch saß und freundlich in die Runde scherzte. Nicole war intelligent, und wenn sie lachte, ging sie glatt als eine jüngere Schwester von Claudia Schiffer durch. Eins musste Hannah neidlos anerkennen: Nicole hatte ein echtes Talent dafür, mit Leuten ins Gespräch zu kommen, die anspruchsvoll, schnell gelangweilt und etwas speziell im Umgang waren.
»Alles okay?«, fragte Alexis, als Hannah nichts mehr sagte.
»Nee«, erwiderte sie gepresst. »Gar nichts ist okay. Das ist doch alles so was von …« Sie brach ab. Ihr fehlten einfach die Worte. Sie griff sich eine dünne Papierserviette und riss sie in kleine Stücke.
»Schau, es ist doch nur ein Job«, versuchte Alexis, sie zu trösten. Er sammelte die Papierfetzen ein, die Hannah auf dem Tisch verteilt hatte. »Ehrlich gesagt bin ich persönlich ganz froh, dass du mir hier in Berlin noch etwas erhalten bleibst.«
»Aber ungerecht ist es trotzdem!«, fuhr sie auf. »Und das weißt du auch! Verdammt!« Hannah wollte sich noch eine Olive nehmen, aber das kleine Tonschälchen stand viel zu weit am Tischrand. Es fiel auf den gefliesten Boden, als sie danach griff. Am Nebentisch verstummten die zwei Männer in Businesshemden, die gerade noch an einem Laptop an einer Präsentation gearbeitet hatten. Plötzlich war es deutlich stiller im Restaurant.
Alexis starrte auf die zerbrochene Schale und die Oliven, die direkt neben seinen Loafers gelandet waren. Hannah atmete tief durch. Abhaken. Sie musste das Thema jetzt abhaken. Nicole hatte den Job bekommen. Das hatte Ralf nun mal so entschieden, und daran ließ sich nichts mehr ändern. Sie musste jetzt nach vorn schauen, was vermutlicher einfacher klang, als es war. Aber vor ihr lag ja auch noch Stines Inselhochzeit. Langweilig würde es Hannah also in den nächsten Wochen ganz sicher nicht werden. Außerdem freute sie sich schon auf ein paar freie Tage auf Föhr. Erleichtert stellte sie fest, dass sie sich bei dem Gedanken an die Nordsee tatsächlich sofort etwas besser fühlte.
Aus den Augenwinkeln sah sie, dass der Keller mit Kehrblech und Handfeger auf sie zueilte.
»Ist nicht schlimm«, versicherte er ihr. »Ich bringe Ihnen gleich neue.« Er nickte mit dem Kopf in Richtung der Oliven, die inmitten der Scherben lagen.
»Tut mir wirklich leid«, sagte Hannah zerknirscht und nahm sich vor, dem Kellner gleich unbedingt ein gutes Trinkgeld zu geben.
Der Kellner ging, und Hannah spürte plötzlich, wie sie eine bleierne Müdigkeit überfiel. Sie dachte an die anstrengenden Monate, in denen sie sich so unter Druck gesetzt hatte, um sich für Esthers Nachfolge in die perfekte Stellung zu bringen. An die Vertragsverhandlungen mit den Wührt-Schwestern, die oft bis spät in die Nacht gedauert hatten. Die wenige Zeit, die ihr geblieben war, um mit Stine deren Hochzeit zu planen … Bei dem Gedanken daran, wie oft sie ihre Schwester am Telefon abgewimmelt hatte, weil sie noch arbeiten musste, wurde Hannah ganz schlecht. Dass sie ihren Job wieder und wieder über die Hochzeit gestellt hatte, war Stine gegenüber wirklich nicht in Ordnung gewesen. Ihre Schwester hatte eigentlich eine bessere Trauzeugin verdient als sie. Eine, die nicht alles immer nur nebenher und möglichst schnell »wegerledigte«.
Dass der Dauerstress bei »Nüssler & Nüssler« jetzt auch noch vollkommen umsonst gewesen sein sollte, darüber durfte Hannah nicht einmal nachdenken.
Sie verschränkte ihre Arme auf dem Tisch und legte ihre Stirn darauf. In ihrem Kopf drehte sich alles. War das die Aufregung? Oder nur der Weißwein, der ihr jetzt in den Kopf stieg? Sie spürte Alexis’ Hand an ihrem Ellenbogen.
»Hey, das ist doch nicht das Ende der Welt.« Er drückte kurz ihren Oberarm, und Hannah gab ein nicht zu deutendes Geräusch von sich, den Kopf weiter auf ihren Armen. »Willst du dir nicht für den Rest des Tages freinehmen?«, fragte er, als sie kaum reagierte.
Hannah hob ihr Gesicht. »Keine schlechte Idee«, sagte sie. Ihre Stimme klang matt. Am liebsten würde sie sich jetzt irgendwo hinlegen und die nächsten zweihundert Jahre durchschlafen.
»Nimm dir doch ruhig gleich ein paar Tage frei«, sagte Alexis. »Du hast ja noch ohne Ende Resturlaub. Den musst du eh langsam mal abbauen.«
»Nee, geht schon. Ich muss mich nur kurz berappeln.« Sie zwang sich zu einem Lächeln, das vermutlich vollkommen gequält aussah.
»Sicher?«, fragte Alexis skeptisch. Seine digitale Uhr piepste leise. Er warf einen kurzen Blick auf das Display, stand auf und schob dann hektisch seinen Stuhl zurück. »Entschuldige, aber ich muss mal eben telefonieren. Denk doch noch kurz über meinen Vorschlag nach. Bin gleich zurück.« Er zwinkerte ihr aufmunternd zu, dann ging er mit dem Telefon in der Hand zwischen den Tischen entlang zur Tür, die ins Freie führte.
Hannah starrte auf ihre Unterarme, die diesen Frühling noch kaum Sonne abbekommen hatten. Sie waren erschreckend weiß. Je länger sie über Alexis’ Vorschlag nachdachte, desto verlockender klang er. Außerdem konnte sie sich in diesem Augenblick nichts weniger vorstellen, als sofort wieder im Büro zum Tagesgeschäft überzugehen.
Sie hatte tatsächlich noch zwanzig Tage Resturlaub übrig. Im letzten Jahr hatte Hannah diese Tage nicht nehmen können, weil auf Alexis’ und ihrem Schreibtisch einfach zu viele unabgeschlossene Projekte lagen. Außerdem hatte sie Ralf unbedingt zeigen wollen, dass sie »Nüssler & Nüssler« in wichtigen Phasen nicht hängen ließ, sodass zu den zwanzig Urlaubstagen vom letzten Jahr in diesem Frühling noch unzählige weitere Überstunden dazugekommen waren.
Sie überlegte, was sie mit ein paar freien Wochen so spontan anfangen könnte. Mit Frederik wegfahren? Keine Chance! Der hatte so kurzfristig sowieso keine Zeit. In Berlin bleiben und den Urlaub einfach mal nutzen, um ihre Wohnung aufzuräumen? Keine schlechte Idee. Die Wohnung hatte es dringend nötig, aber die Gefahr, dass sie zwischendurch immer wieder an ihren Rechner schlich und die »Nüssler & Nüssler«-Mails las, war viel zu groß. Sie kannte sich doch. Erholen würde sie sich so ganz bestimmt nicht. Und wenn sie ein paar Tage nach Föhr fuhr? Sie könnte ihre Eltern besuchen, die nicht jünger wurden und sich immer riesig freuten, sie zu sehen, und Stine vor Ort bei den Hochzeitsvorbereitungen helfen. Dann könnten sie die letzten offenen Planungspunkte sicher abhaken. Und tagsüber könnte sie bei Ebbe mit Ida nach Wattwürmern buddeln. Hannah hatte ihrer kleinen Nichte in Berlin neue Gummistiefel gekauft und wollte sie schon seit Wochen zur Post bringen. Das wäre dann nicht mehr nötig, Hannah könnte sie einfach auf die Insel mitnehmen.
Und abends könnte Hannah mit ihren Eltern Christa und Ulli zusammen ein Glas Wein trinken. Oder mit Stine in den Sonnenuntergang blinzeln und im Strandkorb die letzten To-dos für die Hochzeit durchgehen. Die Idee, mal wieder nach Föhr zu fahren, war auf jeden Fall ziemlich verlockend.
Schon seit ein paar Wochen spürte Hannah jedes Mal, wenn sie sich Fotos von ihrer Familie in Nordfriesland ansah, ein merkwürdiges Ziehen in der Brust. Die Bilder von den glücklichen, sonnigen Frühlingstagen an den langen Föhrer Stränden. Stine im Restaurant »Wal«, grinsend, mit Ida in den Armen und Marten neben sich. Alle drei auf der Wyker Seglerbrücke mit Sturmfrisuren, die Haare in alle Himmelsrichtungen abstehend.
Vor ihrem geistigen Auge sah Hannah Christa und Ulli, wie sie im kleinen Rosengarten hinter ihrem Ladengeschäft in Wyk in einer kostbaren freien Minute eine schnelle Tasse Kaffee in der Sonne tranken und sich dabei gegenseitig fotografierten, um »auch mal was zum Familienchat beizusteuern«. Hannah musste lächeln, als sie an die rührend schiefen Schnappschüsse dachte, die ihre Eltern immer umständlich hochluden und die oft zweimal kurz nacheinander in ihrem Nachrichtenfenster aufploppten.
Hannah zog das Telefon aus ihrer Tasche und scrollte ein wenig durch die Fotos. Nach diesem blöden Morgen im Büro mit der Enttäuschung über Nicoles Beförderung machte sie das Bild von der glücklich strahlenden Familie, das Stine zuletzt geschickt hatte, nur noch trauriger. Sie gönnte ihrer Schwester diese große Liebe mit Marten von ganzem Herzen. Wirklich, das war es nicht! Trotzdem hatte ihr das Bild einen kleinen Stich versetzt. Das rotwangige, sonnenbeschienene Glück im Strandkorb war genau das, was Hannah sich insgeheim auch für sich wünschte.
Wie gern säße sie selbst mit einem kleinen Sohn oder einer kleinen Tochter wie Ida auf einer Picknickdecke am Strand. Wie gern hätte sie einen Mann an ihrer Seite, der seinen Arm um ihre Schultern legte und genauso glücklich in die Kamera strahlte, wie Marten es auf Stines Fotos immer tat.
Frederik war das komplette Gegenteil von Marten. Es ging schon damit los, dass er Selfies hasste. So sehr hasste, dass er niemals freiwillig eins von Hannah und sich machte. Und wenn er sich schon mit seinen teuren Designerhosen auf eine Picknickdecke setzen und das Risiko eingehen würde, dass der Stoff an den Knien auch nur einen Hauch ausbeulen könnte, dann sollte doch bitte wenigstens das Setting drum herum stimmen. Der Strandkorb musste also mindestens auf Sylt stehen. Oder auf Hiddensee. Oder, noch besser, in den Hamptons.
Hannah kam sich in Frederiks Schickimicki-Umfeld leider noch immer etwas deplatziert vor. Das war einfach nicht ihre Welt. Zwar bewegte sie sich als Maklerin aus beruflichen Gründen oft genug in Kreisen, in denen die fein operierten Näschen gern mal ein paar Zentimeter höher getragen wurden, aber in Gegenwart dieser Näschen fühlte sie sich immer unwohl. Im Herzen war sie ein Inselmädchen geblieben. Sie brauchte nicht viel, um glücklich zu sein. Einen Tag am Meer und ein paar Sonnenstrahlen. Selbst wenn die Sonnenstrahlen fehlten, machte das nichts. Hauptsache, Meer.
Alexis’ Telefonat schien zu dauern. Hannah ruckelte ihren Stuhl zurück und ging zu den Toiletten. Als sie sich im Spiegel über dem Waschbecken erblickte, machte sie vor Schreck einen Schritt zurück. Wie sah sie denn aus?! Sie hatte dunkle Ringe unter den Augen und wirkte so müde, als hätte sie in den letzten zwei Wochen keine Sekunde geschlafen. Noch dazu war die Mascara unter ihre Augen gelaufen.
Hannah riss eine Handvoll Klopapier von einer Rolle, befeuchtete das Papier und wischte die krümelige dunkle Schicht unter ihren Augen weg. So sah sie schon wieder etwas besser aus. Dann ließ sie aus dem Hahn einige Sekunden lang kühles Wasser über ihre Handgelenke laufen und fühlte sich gleich frischer, viel weniger matschig. Weshalb war sie nur so erschöpft? Hatte Alexis recht? Konnte sie es sich erlauben, einfach mal ein paar Tage freizunehmen? Super würde Ralf das bestimmt nicht finden. Der hatte es am liebsten, wenn alle im Büro waren. All hands on deck.
Den Satz brachte er so oft, dass Hannah und ihre Kollegen an Ralfs letztem Geburtstag achtundzwanzig dunkelgrüne Basecaps bestellt hatten, die mit dem Spruch bedruckt waren. Die Caps hatten sie sich morgens im Videocall alle gleichzeitig auf den Kopf gesetzt. Und zwar exakt in dem Moment, in dem Ralfs Haushälterin ihm seine eigene Cap in einem Geschenkkarton überreichte, den sie per Overnight-Express zu seiner Finca geschickt hatten. Es gelang ihnen selten, Ralf zu überraschen. Noch seltener schafften sie es, dass er so zufrieden in die Kamera grinste, wie er es an diesem Morgen getan hatte.
Hannah trocknete sich die Hände ab und ging zurück ins Restaurant.
Sie hatte noch nicht auf ihrem Stuhl Platz genommen, als Alexis sich ebenfalls wieder setzte und das Telefon auf den Tisch legte.
»Das sieht aber gut aus«, sagte er, als der Kellner zwei Teller mit dampfenden frischen Spaghetti vor sie hinstellte.
»Frag mich nicht, weshalb, aber jetzt bin ich doch ganz schön hungrig«, sagte Hannah. Für eine kurze Weile saßen sie sich schweigend gegenüber und aßen.
»Sag mal, hast du über meine Idee mit dem Urlaub nachgedacht?«, fragte Alexis schließlich mit vollem Mund.
»Hab ich.« Hannah schob mit ihrer Gabel ein Blättchen Basilikum an den Tellerrand und seufzte. Dann griff sie zu ihrem Glas und trank den letzten Schluck Weißwein. So verlockend die Idee auch war, nach Föhr abzudüsen, sie konnte ihr volles E-Mail-Postfach einfach nicht ignorieren. Alexis und sie hatten zu viel zu tun. »Der Vorschlag ist lieb von dir«, sagte sie, als sie ihr Glas wieder abstellte und mit ihrer Gabel in ein Spaghettihäufchen mit Schinkenwürfeln auf ihrem Teller piekte. »Aber ab morgen bin ich wieder die Alte«, fügte sie hinzu. »Du kannst dich voll auf mich verlassen.« Dass sie sich so erschöpft und niedergeschlagen fühlte wie lange nicht mehr, wollte sie vor Alexis nicht zugeben. Nachdem sie die Nudeln runtergeschluckt hatte, schob sie ihre Gabel mit einem Zwinkern in den letzten Rest Spaghetti Bolognese auf Alexis’ Teller.
»Hey! Den Happs hatte ich mir extra aufgespart!«, beschwerte Alexis sich lachend. Blitzschnell versuchte er, mit seiner Gabel noch ein paar Spaghetti zu ergattern, aber Hannah schob sich alles sofort in den Mund. Alexis grinste. »Danke, Miesewetterchen. Wie nett von dir. Sooo, und jetzt …« Er legte die Gabel weg und schaute auf seine Fitnessuhr. »Noch einen Espresso und dann los?«
Hannah nickte und warf ihre Serviette neben den leer gegessenen Teller. Während Alexis den Kellner zu ihnen an den Tisch winkte, warf sie noch einmal einen Blick auf ihr Telefon, aber Frederik hatte sich immer noch nicht gemeldet. Wo steckte der nur? Sie konnte kaum erwarten, ihm von ihrem fürchterlichen Tag zu berichten.
Die Sonne schien warm auf Stines Füße. Sie zog das kleine Sonnenverdeck des Strandkorbs über sich heraus, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und ließ die Beine baumeln.
»Wie wär’s denn mit Lachsschnittchen, ihr zwei?«, fragte Marten. Er saß neben Stines Beinen im Sand und schob sich mit dem Ärmel seines dunkelblauen Pullis die hellbraunen Strähnen aus der Stirn, die der Wind ihm wieder und wieder ins Gesicht pustete. Neben ihm spielte Ida. Sie trug immer noch das Pyjamaoberteil mit den schlafenden Schäfchen von letzter Nacht. Dazu eine rosa Schirmmütze, die mit kleinen Erdbeeren bedruckt war. Vom Strandkorb aus beobachtete Stine seit über einer halben Stunde amüsiert, wie Marten Ida dabei half, einen Burggraben für ihre Sandburg zu buddeln.
»Igitt. Lachs …« Ida zog die Nase kraus. Ihre braun gebrannten Beine in maisgelben Shorts gruben sich in den feinen Sand, während sie schnaufend weiterbuddelte.
»Oder erst mal ein Stück Baguette mit Schnittlauchfrischkäse, mein Liebling?« Marten hockte sich vor den Picknickkorb und zog ein Baguette und einen kleinen Tontopf hervor, den er Ida unter die Nase hielt. »Riech mal. Haben wir heute Morgen erst reinbekommen.«
Ida schnupperte skeptisch am Tonfässchen. Dann nickte sie. »Ja, bitte!«
»Kommt sofort«, sagte Marten in dem tiefen Tonfall, in dem er seinen Gästen im »Wal« bestätigte, dass er das leere Pilsglas, das sie hochhielten, durchaus registriert hatte.
»Und für dich?«, fragte er Stine. Sein Lächeln zu ihr in den Strandkorb hinauf war warm und glücklich, und sie lächelte zurück.
»Ich nehme mir gleich selbst was, danke.« Sie lehnte sich im Strandkorb zurück und schaute aufs Meer. »Himmel, ist das schön hier! Ich liebe den Nieblumer Strand.« Der Wind schob die drei winzigen Wölkchen vor ihnen über den kornblumenblauen Horizont Richtung Amrum.
»Ist eine echt schöne Ecke der Insel«, bestätigte Marten. »Ich weiß gar nicht, warum wir nie hier unten sind.« Er holte ein Messer aus dem Picknickkorb, um aus dem hellgrauen Tonfässchen eine dicke Schicht Frischkäse auf Idas Baguettestück zu streichen.
»Na, wahrscheinlich weil wir hier so viele schöne Strände haben«, sagte Stine. Meistens fuhren sie an den Südstrand in Wyk, nach Utersum zu den Kitesurfern oder an den Strand in Bredland, der nur einen Steinwurf von Tante Ellas Haus entfernt lag.
Marten reichte Ida ein kleines Stück Baguette. »So, Königliche Hoheit. Einmal Frischkäsebaguette für Euch. Und wenn Eure Majestät das essen, habe ich eventuell auch Nachtisch dabei.«
»Kuchen?«, fragte Ida interessiert.
»Könnte sein«, erwiderte Marten lächelnd.
Ida ließ sofort ihre Schaufel fallen und schnappte sich das Baguette.
Stine schmunzelte. Ein Windzug fuhr ihrer Tochter durch die blonden Strähnen. Mit dem Baguette in der Hand sah sie aus wie eine kleine Französin. Zum Glück aß sie so gut wie alles. Was andere Belange anging, hatte Ida einen kleinen Dickschädel. Sie war eigensinnig wie eine Seeräuberbraut.
»Mmmh, lecker!«, sagte Ida mit vollem Mund.
»Mal sehen, was wir noch so dabeihaben.« Marten wühlte sich jetzt durch die Kühlbox, die er in den Schatten des benachbarten Strandkorbs gestellt hatte.
Stine freute sich, dass Marten sich heute Nachmittag spontan freigenommen hatte. Am Hafen fand ein kleines Foodfestival statt, deshalb würde es im »Wal« abends vermutlich etwas ruhiger zugehen und er musste nicht so viel vorbereiten.
Sie schaute Marten über die Schulter. In der proppenvollen Kühlbox waren Räucherlachs, Paprika, Gurke, hauchdünn geschnittener Rosmarinschinken, Büffelmozzarella, Cocktailtomaten, Melone, Erdbeeren, eine eiskalte Flasche Crémant, naturtrüber Apfelsaft für Ida, drei Stücke Butterkuchen, bestreut mit hauchdünnen Mandelblättchen …
»Wer soll denn das bitte alles essen?«, fragte Stine lachend. »Damit könnten wir ja ein ganzes Piratenschiff durchfüttern.«
Marten schob sich beleidigt eine Cocktailtomate in den Mund. »Ich hatte eben Hunger.«
»Du hast immer Hunger, mein Seemann.« Sie beugte sich zu ihm hinunter und drückte ihm einen Kuss in den Nacken. Seine Haut roch herrlich warm und vertraut.
Marten zog den Rest des knusprigen Baguettes vom Inselbäcker aus dem Picknickkorb und schwang es kurz über seinem Kopf. »Im Zweifel muss ich euch ja verteidigen können, gegen Piraten und so.« Lachend riss er ein Stück ab, stippte es in den Frischkäse und kaute dann genüsslich.
Ida riss die Augen auf. »Gegen Piraten?«
»Keine echten«, beruhigte Marten sie.
»Gegen Piraten, die gerade Fasching feiern?«, fragte Ida.
»Ja, vielleicht«, lachte Stine. »Auf jeden Fall gegen harmlose Piraten.«
Ida steckte sich das letzte Stück Baguette in den Mund. »Noch meeehr, bitte!«
»Aber selbstverständlich.« Marten griff sofort nach dem Tonfässchen und dem Brotmesser.
Auch Stine ließ sich jetzt von Marten ein Stück bestrichenes Baguette geben. Der Käse schmeckte frisch und cremig, der Schnittlauch verlieh ihm einen Hauch Schärfe. Sie schloss die Augen. »Mmmh …«
Marten hatte die Köstlichkeiten aus dem Fischrestaurant seiner Eltern mitgebracht, in das er nach dem Studium eingestiegen war. Der »Wal« war vom Gourmet-Magazin Der Schneebesen erst letzten Monat zum drittbesten Fischrestaurant Deutschlands gekürt worden. Seit die Ausgabe erschienen war, nahmen die Reservierungen kein Ende, und der »Wal« war bis weit in den August hinein ausgebucht. Die Gäste kamen von überallher. Aus Deutschland, Österreich, der Schweiz. Aus Dänemark und Polen. Trotzdem hielten Marten und seine Eltern Frauke und Hinnerk immer einige Tische für das lokale Stammpublikum frei. Sie wollten Gäste der ersten Stunde, die schon seit über zwanzig Jahren während ihres Föhr-Urlaubs im »Wal« aßen, nicht plötzlich aufgrund eines Zeitschriftenartikels wegschicken.
»Sag mal, hast du vielleicht an Becher gedacht?«, fragte Marten in dem Moment. Er holte die Flasche Crémant aus der Kühltasche und machte sich daran, sie zu öffnen.
»Hab ich!«, sagte Stine und griff in den Netzbeutel, in dem Idas Sandspielzeug gewesen war. »Tante Ellas Haus ist mit allem ausgestattet. Sogar mit Picknickbechern.« Sie zog drei bunte Kunststoffbecher mit passenden Deckeln hervor, in denen jeweils ein wiederverwendbarer Strohhalm steckte.
»Wow!« Marten lachte laut auf, als er die Becher sah, stellte sich neben den Strandkorb und richtete den Flaschenhals vom Crémant gen Meer. »Wie gefällt’s euch denn eigentlich im Haus deiner Tante? Fühlt ihr euch wohl?« Er deutete mit der Flasche kurz in Richtung Bredland, wo das reetgedeckte Strandhaus von Tante Ella stand.
»Ob wir uns wohlfühlen?«, fragte Stine entgeistert. Sie zog die Sandalen aus und schob ihre Zehenspitzen in den warmen, pudrigen Sand. »Und wie! Das Haus ist der absolute Traum. Vom Garten aus sind wir in wenigen Schritten unten am Strand, der morgens und abends menschenleer ist. Also, ganz ehrlich«, Stine zwinkerte Marten zu, »wenn es nach Ida und mir ginge, könntet ihr euch mit den Renovierungsarbeiten ruhig noch ein wenig Zeit lassen.«
Marten, Stine und Ida waren vor ein paar Wochen überraschend aus ihrer Dreizimmerwohnung in Wyk rausgeflogen. Der Besitzer hatte Eigenbedarf angemeldet. Seit sie die Wohnung verlassen hatten, renovierten Marten und sein Vater mit Hochdruck das alte Fischerhaus in Nieblum, das Marten vor zwei Jahren von seiner Oma Frida geerbt hatte und in das er mit Stine und Ida eigentlich erst im kommenden Jahr hatte einziehen wollen. Ganz in Ruhe, mit viel Vorlauf.
Dieses Jahr: Hochzeit. Nächstes Jahr: Umzug ins eigene Haus.
Das war der Plan gewesen. Aber dann hatte ihn die Eigenbedarfskündigung in Wyk einfach torpediert. Von heute auf morgen hatten Stine und ihre kleine Familie kein Dach mehr über dem Kopf gehabt. Zum Glück sprang Tanta Ella ein. »Das geht doch so nicht«, sagte sie aufgebracht am Telefon zu Stine. »Die können euch doch nicht einfach auf die Straße setzen! Ihr zieht jetzt erst mal in mein Haus ein, und damit basta. Ich bin doch froh, wenn mal jemand nach dem Rechten schaut.« Ella war Stines Tante väterlicherseits. Die meiste Zeit wohnte sie in Hamburg und kam seit der Scheidung von Onkel Horst leider nur noch selten nach Föhr. Im Haus gab es einfach zu viele Erinnerungen an Horst. An dreißig glückliche gemeinsame Sommer, die Horst gegen eine neue Liebe getauscht hatte.
Stine nahm das Angebot nach kurzem Zögern erleichtert an. Womit sie aber überhaupt nicht rechnete: Marten zog nach ihrem Blitzrauswurf aus der Wyker Wohnung nicht in Ellas Strandhaus mit ein.
»Es ist einfach viel praktischer, wenn ich so lange bei meinen Eltern lebe, bis Papa und ich das Haus von Oma und Opa renoviert haben. Und schneller geht es auch«, sagte Marten und hatte damit wahrscheinlich auch recht. Das alte Fischerhaus seiner Großeltern lag am Rand von Nieblum. Wenn er morgens nach dem Frühstück bei seinen Eltern die hintere Gartenpforte öffnete, war er zu Fuß in einer halben Minute auf der Baustelle.
Immerhin übernachtete er manchmal bei Stine und Ida. Und mittwochs legte das Team aus dem »Wal« einen wohlverdienten Ruhetag ein, sodass Marten morgens auf der Baustelle helfen und nachmittags etwas mit Stine und Ida unternehmen konnte.
»Manchmal bin ich schon etwas neidisch auf euch«, gab Marten jetzt lachend zu. »Der Meerblick von Tante Ellas Terrasse ist schon fantastisch.«
»Ja, aber man muss erst mal die nötigen Millionen haben, um sich eine solche Lage leisten zu können«, sagte Stine.
Marten stieß einen leisen Pfiff aus.
»Im Haus deiner Großeltern in Nieblum werden wir es auch richtig schön haben«, sagte Stine. Sie stand auf und schlang ihre Arme um Marten. »Auch ohne Meerblick.«
»Das werden wir, meine Süße.« Marten küsste Stine aufs Haar.
Einen Moment lang hielten sie sich umschlungen und sahen schweigend dabei zu, wie Ida im Sand spielte.
»Und wenn du jetzt doch noch bei uns einziehst?«, fragte Stine schließlich. Diese Frage hatte sie Marten schon häufiger gestellt. »Wir haben Platz genug. Unter dem Dach sind sogar noch drei Zimmer frei.«
»Das würde ich ja sofort tun«, sagte Marten und legte seine Stirn in Falten. »Aber dann dauert es bis weit in den Herbst hinein, bis Oma Fridas Haus bereit zum Einzug ist. Das geht doch nicht.«
»Stimmt wahrscheinlich«, sagte Stine bedauernd. Dennoch, die paar Wochen, die Marten, sie und Ida getrennt lebten, kamen ihr jetzt schon wahnsinnig lang vor.
Marten stellte die Crémantflasche wieder ab, kniete sich vor Ida und wischte ihr lachend einen weißen Frischkäsestreifen von der Nasenspitze. Er zog sein Telefon aus der Hosentasche. »Ihr zwei seid einfach zu süß, das müssen wir unbedingt festhalten! Alle mal kurz in den Strandkorb, bitte!« Er hob Ida hoch und ließ sich mit ihr auf die gepolsterte Sitzbank fallen. Stine rutschte dicht an ihn heran.
»Und jetzt alle zusammen: Käääsekuuuchen!« Marten hielt das Telefon eine Armeslänge von sich entfernt.
»Käääsekuuuchen!«, riefen Ida, Stine und Marten wie aus einem Mund.
Als er zwei-, dreimal ausgelöst hatte, wurde es Ida zu langweilig. Sie kletterte von Martens Schoß und setzte sich wieder in den Sand.
»Glaubt mir, ich kann es kaum erwarten, wieder jeden Morgen mit dir zusammen in einem Bett aufzuwachen«, sagte Marten lächelnd zu Stine.
Sie strich ihm über den Arm, sie wusste ja, dass die Trennung nicht für ewig war. Aber sie vermisste ihn, und Ida vermisste Marten auch. »Sag mal, wolltest du nicht gerade den Crémant öffnen? Ich würd’ jetzt jedenfalls ein Gläschen nehmen.«
»Ein Becherchen, meinst du wohl.« Marten deutete mit dem Kopf auf die drei Kunststoffbecher. Nachdem er das Telefon in die hintere Tasche seiner Shorts gesteckt hatte, entkorkte er endlich geübt den Crémant; der Korken rutschte mit einem leisen »Plopp!« aus dem Flaschenhals.
»Wir können es jedenfalls auch kaum erwarten, mit dir zusammen in das frisch renovierte Haus zu ziehen«, sagte Stine. Sie steckte zwei Deckel in den Netzbeutel zurück und reichte Marten einen roten und einen blauen Trinkbecher. Der Schaumwein perlte zartgolden aus der Flasche. »Und den Crémant trinken wir jetzt mit dem Strohhalm?«, witzelte sie.
Marten verzog entsetzt das Gesicht. »Bloß nicht!« In dem dritten, noch unbenutzten Becher mischte er noch schnell etwas Apfelsaft mit stillem Wasser. Dann drückte er den Deckel wieder drauf und reichte den Becher Ida, die begeistert am Strohhalm saugte.
»Ist aber doch irgendwie auch romantisch, dass wir uns vor der Hochzeit wieder ein wenig vermissen, oder?«, fragte Stine Marten.
Sie prosteten sich zu, stießen auch mit Ida an und nippten schließlich an ihren Bechern. »Dass wir uns vermissen, findest du romantisch?«, fragte Marten plötzlich, als er seinen Becher auf den winzigen, ausklappbaren Tisch im Strandkorb stellte. Er machte ein Gesicht, als hätte er gerade in eine Fischsemmel gebissen, die nicht mehr ganz frisch war. »Romantisch finde ich das überhaupt nicht. Das ist einfach nur furchtbar! Ohne meine Mädels bin ich nur ein halber Seemann.«
»Stimmt, Papa«, sagte Ida trocken.
Marten drückte ihr einen Kuss auf die Wange, woraufhin Stines Herz wie immer einen Hüpfer machte. Wie unglaublich liebevoll Marten doch mit Ida umging.
»Wir vermissen dich auch ganz doll«, sagte Ida jetzt mit ernstem Gesicht zu Marten und schmiegte ihre Wange an seine Brust.
Er streckte die Arme in den Himmel. »Wenigstens eine, die mir mal sagt, wie lieb sie mich hat!«, jubelte er.
»Ach komm, so war meine Bemerkung doch gar nicht gemeint. Ich vermisse dich selbstverständlich auch, mein halber Seemann.« Stine ließ sich zu ihnen in den Sand gleiten und drückte Marten schnell einen Kuss auf den Mund. »Außerdem freu ich mich schon wahnsinnig auf unsere Hochzeit.«
»Und ich erst«, sagte Marten. Stine wollte sich wieder in den Strandkorb setzen, aber er zog sie noch einmal fest zu sich heran. Er küsste sie erneut, diesmal deutlich leidenschaftlicher.
Seine Zunge tastete nach ihrer, und Stine spürte, wie sich ein aufgeregtes Kribbeln in ihrem ganzen Körper ausbreitete. Seit über vier Jahren war sie mit Marten zusammen, und seine Küsse waren immer noch so unglaublich heiß, dass Stine sich nur schwer von ihm lösen konnte. Wenn wir heute ohne Ida hier wären, dachte Stine, dann hätten Marten und ich vielleicht mal kurz unbeobachtet in den Dünen verschwinden können, wo wir …
»Wie schön du heute bist«, unterbrach Marten nach dem Kuss ihre Gedanken. Er schaute ihr tief in die Augen, bevor er ihr ins Ohr raunte: »Der Mann, der dich mal heiratet, kann sich glücklich schätzen.«
Stine war so gerührt, dass es ihr kurz die Sprache verschlug. »Genau dasselbe könnte man über die Frau sagen, die dich mal heiratet«, sagte sie dann, bevor Ida ihre Turtelei unterbrach.
»Schauuut mal, wie tief mein Burggraben schon ist!« Ihre Tochter zeigte mit einer roten Schaufel auf ihr Meisterwerk.
»Ganz toll, mein Schatz!«, riefen Marten und Stine gleichzeitig, und Stine war ganz beeindruckt.
In diesem Moment war Stine so glücklich, dass sie sich wünschte, es gäbe irgendwo eine Pausetaste, die sie drücken könnte. Dieser Moment sollte bitte niemals vergehen.
Plötzlich klingelte es.
»Entschuldigt bitte.« Marten zog sein Telefon aus den dunkelgrünen Shorts und schaute irritiert aufs Display, wo der Name »Pam« aufleuchtete. »Was will Pam denn heute schon? Wir drehen doch erst morgen.« Er stand auf. »Bin gleich wieder da, okay? Esst bitte unbedingt alles auf!«, rief er ihnen im Weggehen zu.
»Hi, Pam! Was gibt’s?«, hörte Stine ihn noch sagen, während er barfuß über den Strand aufs Wasser zuging. Dann blies der Wind so stark, dass seine Stimme fortgetragen wurde.
Marten hatte ihr vor zwei Wochen erzählt, dass seine gute Freundin Pam ihn beruflich kontaktiert hatte. Sie war Moderatorin beim NDR und wollte den »Wal« in ihrer Sendung »Das is(s)t der Norden« vorstellen.
»Noch mehr PR brauchen wir nicht«, muffelte Marten damals. »Die Gäste rennen uns nach dem Schneebesen-Artikel eh schon die Bude ein. Außerdem fehlen mir ein zweiter Koch und ein weiterer Kellner. Bis sich daran nichts geändert hat, können wir auf einen zusätzlichen Ansturm gut und gern verzichten.«
Stine sah das ganz anders. »Man muss die Werbemühle immer schön am Laufen halten«, hatte ihre frühere Chefin Frau Ratz immer gesagt.
»Wart’s ab! Wenn erst mal ein paar Influencer auf euch aufmerksam werden, wird der ›Wal‹ noch zum Promi-Restaurant«, sagte Stine vor zwei Wochen nach dem Anruf von Pam. Die Moderatorin hatte über hunderttausend Follower auf Instagram, die bestimmt auch ihre Sendung sahen.
»Bloß nicht«, stöhnte Marten auf. »Das ist so ungefähr das Letzte, was ich will. Gäste, die nur in den ›Wal‹ kommen, um ein Selfie mit uns zu machen. Vergiss es! Die werfe ich sofort wieder raus.«
»Ich sag nur: Hashtag DerheißeTypausdemWal«, scherzte Stine trocken.
Marten verzog das Gesicht. »Horror.«
»Ach, komm schon. Kann doch nicht schaden, wenn ein paar Influencer Fotos von dir und euren Gerichten posten«, versuchte sie, ihn umzustimmen. Sie sah die jungen Frauen schon vor sich, die darauf anspringen würden: stark geschminkt, in schwer angesagten superweiten Jeans, mit champagnerfarbenen Smartphones an langen Handyketten. Bei der Vorstellung, dass die Hipstermädels im »Wal« grüppchenweise vor Marten an der Bar herumstanden und dann wahrscheinlich nichts weiter bestellten als eine kalorienreduzierte Brause und einen »Salat ohne alles«, musste Stine laut auflachen. Sie hatte die Vorstellung besser für sich behalten.
Sie reichte Ida gerade ein Stückchen Melone aus der Kühlbox und strich ihrer Tochter übers Haar, als Marten mit dem Telefon in der Hand zu ihnen zurückkam.
»Ich muss leider gleich los«, sagte er geschäftig. »Pam und ihre Leute sind schon auf der Fähre. Der Filmcrew ist ein Drehtermin auf Amrum weggebrochen, der für heute angesetzt war. Sie fragt, ob ich heute schon mit ihrem Team den Drehablauf durchsprechen kann. Und vielleicht machen sie auch schon Aufnahmen im ›Wal‹.« Er seufzte.
»Na, dann mal flugs ab in die Maske mit dir, was?«, sagte Stine.
»Ich will auch eine Maske!«, rief Ida sofort. »Wie im Fasching.«
»Wir basteln dir eine, wenn wir gleich zu Hause sind, Idachen«, sagte Stine. »Ich würde sagen, wir packen dann zusammen, oder?« Als Marten nichts erwiderte, drehte sie sich zu ihm um. Überrascht sah sie, dass er mit zusammengekniffenen Augen und nach vorn gebeugtem Oberkörper auf seinem Telefon herumwischte. Er wirkte angespannt.
»Hey …« Stine stand auf, schlang ihre Arme um Marten und zog ihn noch einmal ganz nah zu sich heran. Sie küsste ihn. »Viel Erfolg, mein TV-Sternchen. Du wirst ganz großartig sein.«
»Meinst du?«, fragte er unsicher. »Nicht, dass ich mich komplett zum Vollpfosten mache.«
»Wirst du nicht! Glaub mir, das wird super.« Stine zwinkerte ihm aufmunternd zu.
»Für dich, Papa.« Ida stupste Marten am Knie an, und er bückte sich zu ihr runter, sodass Ida ihm mit ihren sandpanierten Händchen eine wunderschöne weiße Herzmuschel geben konnte.
»Bringt die etwa Glück?«, fragte Marten.
Ida nickte.
»Danke, mein kleiner Rabauke«, sagte er gerührt, drückte Ida einen dicken Schmatzer auf die Wange und ließ die Muschel in die Brusttasche seines Hemds fallen. »Damit kann beim Dreh ja gar nichts mehr schiefgehen.«
Ida nickte zufrieden. »Die kann zaubern«, bestätigte sie.
»Wart’s ab, mit dem Glücksbringer geben sie dir demnächst noch deine eigene Sendung«, raunte Stine Marten zu.
»Bloß nicht!« Marten griff geschockt an seine Hemdtasche, die sich über der Muschel leicht wölbte. »Der Dreh reicht mir fürs Erste«, sagte er nervös lachend. Dann betrachtete er das Spielzeug, das Ida in einem Radius von über zehn Metern um den Strandkorb herum verteilt hatte.
»Ich helfe euch noch einpacken, ja?«, sagte er. Er wollte gerade nach einem Sandförmchen greifen, als das Handy schon wieder klingelte. »Pam noch mal«, sagte er, nachdem er einen Blick aufs Display geworfen hatte. Er zuckte mit den Schultern und ging erneut ein paar Schritte weg, um sie mit dem Telefonat nicht zu stören.
Ein Schatten legte sich auf den Strandkorb. Stine schaute in den Himmel hinauf. Über ihnen hatten sich ein paar dicke, vom Festland kommende Wolken vor die Sonne geschoben. Sie fröstelte etwas. Marten telefonierte, während Stine und Ida das Sandspielzeug zusammensammelten, in den Netzbeutel steckten und auch die Leckereien, das Besteck und die Trinkbecher in Korb und Kühltasche verstauten.
Als Marten endlich auflegte, hatte sich seine Stirn wieder in Falten gelegt. »Ihnen ist gerade aufgefallen, dass sie ihr Mietauto erst für morgen ab sechzehn Uhr gebucht haben.«
»Und jetzt …«, fragte Stine.
»… hat mich Pam gebeten, mal schnell unter meinen Freunden herumzufragen, ob jemand sein Auto heute und morgen zufällig nicht braucht. Ein Caddy oder ein VW-Bus wäre ihnen natürlich am liebsten.« Er rollte mit den Augen und massierte sich gestresst die Schläfen.
»Sie können meinen alten Golf haben«, bot Stine an.
»Danke, das ist lieb. Aber ihr braucht deinen Wagen doch selbst, da draußen bei deiner Tante. Ohne Auto ist man in Bredland aufgeschmissen. Außerdem würde Pams Crew eh nicht in den Fünfsitzer passen. Sie sind einfach zu viele. Ich fürchte, ich muss mir etwas anderes überlegen.« Er griff nach dem Picknickkorb. »Danke fürs Zusammenpacken, ihr Lieben. Wollen wir?«
»Ich bin als Erste beim Auto!«, rief Ida. Sie schnappte sich den Netzbeutel mit dem Spielzeug und rannte voraus. Mit Körben und Taschen in beiden Händen stapften Stine und Marten durch den Sand hinter ihr her.
Stine beobachtete Marten. Er schwieg. Wahrscheinlich überlegte er, wie er das Autoproblem für Pam lösen konnte. Ihr Besuch hielt Marten ganz schön auf Trab. Für seine alte Freundin hatte er sogar ihr gemeinsames Picknick abgebrochen, und dabei war Pam noch nicht mal auf der Insel.
Vier Tage nach Nicoles Beförderung hatte sich Frederik endlich zurückgemeldet, und sie waren für heute Abend verabredet. Kurz vor 19 Uhr schloss Hannah ihr Rad an eine Straßenlaterne vor seinem Haus. Sie hatte das Büro schon wieder mit klopfenden Kopfschmerzen verlassen und sich vor ihrem Aufbruch eine Paracetamol aus ihrer Schreibtischschublade eingeschmissen. Jetzt konnte sie klarer denken und stellte erleichtert fest, dass sie sich auch etwas besser fühlte. Vor der Tür zupfte sie die Falten ihrer zartblauen Lieblingsbluse ein wenig zurecht.
Hannah klingelte und hörte wenige Sekunden später auch schon den Türsummer schnarren, woraufhin sie die schwere alte Holztür aufdrückte. Sie trat in einen sanierten Hausflur, dessen Wände mit Jugendstilfliesen gekachelt waren.
Seit Montag hatte sie Frederik noch zweimal angerufen. Nach dem frühen Mittagessen mit Alexis. Und gestern. Beide Male war die Leitung frei gewesen, aber Frederik hatte nicht abgenommen. Heute Morgen hatte er schließlich eine SMS geschrieben.
Sorry, hatte irre viel zu tun. Zeit für einen Drink? Heute Abend bei mir?
Das klang schon wieder mehr nach dem alten Frederik. Nüchtern und zweckmäßig. Und irgendwie so, als wäre er überhaupt nicht lange abgetaucht gewesen. Während ihrer Beziehung hatte er sich immer mal wieder für ein paar Tage von ihr zurückgezogen. Und hinterher war er dann stets wieder voll da gewesen. Lieb und aufmerksam. Ganz der Alte. Hannah hatte die ab und an auftretende Funkstille nur ein einziges Mal vorsichtig thematisiert, worauf Frederik etwas angefressen reagiert hatte. Er schulde ihr ja wohl keine Rechenschaft über jede seiner Stunden, hatte er gesagt und mit den Augen gerollt. Sie dürfe nicht so klammern. Seither fragte sie nicht mehr. Das wirkte nur unsicher. Und natürlich auch genau so, wie sie am wenigsten rüberkommen wollte: nämlich klammernd und bedürftig.
Hannah hatte Frederiks Nachricht heute Morgen dreimal gelesen. Anschließend hatte sie extra vierzig Minuten lang gewartet, bis sie ihm mit einem knappen Bin um 7 da antwortete.
Die gesamten vierzig Minuten lang hatte sie überlegt, ob sie es fertigbringen würde, so lässig zu sein und ihm für heute Abend einfach abzusagen. Nur, um ihm zu zeigen, dass sie auch ohne ihn ein Leben hatte und so kurzfristig nicht verfügbar war. Aber spielte man diese komischen Spielchen noch mit jemandem, mit dem man schon eine Weile zusammen war? Selbstverständlich nicht. Außerdem wollte sie Frederik ja wiedersehen und ihm alles erzählen, was in den letzten Tagen im Büro passiert war.
Im verspiegelten Fahrstuhl drückte Hannah den obersten der fünf runden vergoldeten Knöpfe. Die schweren Türen schoben sich zusammen, und der Fahrstuhl setzte sich in Bewegung. Er passierte fast geräuschlos die Etagen.
Sie stieg aus. Die Tür, die in Frederiks Dachgeschosswohnung führte, stand schon einen Spalt weit offen. Hannah schlüpfte hindurch und zog sie hinter sich zu. Von Frederik war nichts zu sehen.
»Hallo?« Sie stand allein im Eingangsbereich. Auch nach anderthalb Jahren war sie immer noch beeindruckt, wenn sie eintrat. Das oberste Geschoss war voll verglast, alle Seitenfenster reichten vom Boden bis an die Decke. Frederiks Wohnung war ein geräumiges, lichtdurchflutetes Glashaus, das die Architekten auf diesen ehrwürdigen Altbau draufgesetzt hatten. Wie ein i-Tüpfelchen oder ein Sahnehäubchen auf einen Kuchen. Eine Wohnung ganz nah an den Wolken, wie Hannah sie so ähnlich zuvor nur in schweren Bildbänden über New York oder Paris gesehen hatte.
»Hallo!«, rief sie noch mal ins Apartment hinein.