Hoffnungen - Claudia Raute - E-Book

Hoffnungen E-Book

Claudia Raute

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Beschreibung

Ein unerfüllter Kinderwunsch, eine kriselnde Beziehung. Unerwartet begegnet Dr. Manchester dem an Leukämie erkrankten Jeffrey. Zufall oder Schicksal?

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Buchbeschreibung:

Ein unerfüllter Kinderwunsch,

eine kriselnde Beziehung.

Unerwartet begegnet Dr. Manchester

dem an Leukämie erkrankten Jeffrey.

Zufall oder Schicksal?

Über den Autor:

Die Autorin lebt mit ihrem Ehemann und den mittlerweile erwachsenen Kindern in der

Nähe von Kassel.

Seit der Grundschule schreibt sie Geschichten und Erzählungen.

Ihr Debütroman fand seinen Anfang in einer Zeit der Unwägbarkeiten und wurde jetzt, zwanzig Jahre später, vollendet.

George Manchester saß in seinem Büro und trank eine Tasse Kaffee, als Polly Blanket, Oberschwester auf seiner Station, ins Zimmer stürzte.

„Dr. Manchester… Sie müssen in die Notaufnahme!

Ihre Frau wurde gerade eingeliefert… sie hatte eine Fehlgeburt!“

Der Doktor warf seine Lesebrille auf den Tisch und sprang vom Stuhl auf. Er registrierte nicht, dass die Hälfte seines Kaffees auf den Schreibtisch schwappte.

Während er durch den Flur rannte, schienen sich die Menschen wie in Zeitlupe um ihn zu bewegen. Er bemerkte, dass er angesprochen wurde, aber die Worte drangen nicht zu ihm durch.

Seine Gedanken überschlugen sich und gleichzeitig war er nicht in der Lage, sie zu fokussieren. Zu oft war er in den letzten Jahren in einer Situation wie dieser gewesen, in dem nicht enden wollenden Alptraum dieser immer wiederkehrenden Fehlgeburten, die sie heimsuchten.

Seit zehn Jahren trieben sie in diesem Strudel aus Freude über eine eingetretene Schwangerschaft und Trauer und Verzweiflung aufgrund des Verlustes des Ungeborenen.

George musste nicht nachzählen, um zu wissen dass sie, mit dem heutigen Tag, bereits sechs Kinder verloren hatten – sechs kleine Leben, denen sie Liebe hätten schenken wollen.

Automatisiert stieg er in den Fahrstuhl zum Erdgeschoss, wo sich die zentrale Notaufnahme befand.

Er fand Suzanne in einem der Schockräume, wo sie ihn, in Tränen aufgelöst, erwartete.

Mit einem schnellen Rundumblick, und ohne es bewusst zu steuern, stellte er fest, dass sie bereits eine Kanüle hatte und Schmerzmittel über eine Infusion in ihre Vene liefen.

Aus den Flecken auf der Unterlage und am Boden war zu interpretieren, dass sie wieder viel Blut verloren hatte.

„Hey, Darling.“ Er versuchte den mitleidigen Blick der Krankenschwester, die sich am Monitor zu schaffen machte, zu ignorieren, und richtete seine Aufmerksamkeit auf Suzanne, die Frau, die er liebte und die ihn brauchte.

„Wir haben es wieder verloren, George…“ Sie sah, mit tränenverschleiertem Blick, zu ihm nach oben.

Er nickte. „Ja, ich weiß. Es tut mir leid…“ Dr. Manchester drehte sich zu der Schwester um, die mittlerweile etwas abseits stand und mit betroffener Miene die Szenerie beobachtete.

„Braucht sie eine Bluttransfusion?“ Die junge Frau mit dem Namen Becky auf dem Schild am Kittel, schüttelte den Kopf. „Nein, Dr. Manchester, Dr. Konrad, meint, es wäre alles soweit unter Kontrolle und Ihre Frau kann in Kürze hoch auf die Station.“

George nickte, küsste Suzanne auf die Stirn und hielt ihre Hand, unfähig tröstende Worte zu finden, die er ihr hätte sagen können.

Nachdem Dr. Manchester seine Frau auf die Gynäkologie begleitet hatte, wo sie ihr Zimmer für die nächsten Tage bezog, war er zu seinem Arbeitsplatz, der Onkologie, zurückgekehrt.

Nachdem er die Station betreten hatte, lief er wie paralysiert den Gang entlang, vorbei am Labor und Patientenzimmern. Der morgendliche Trubel trug sich um ihn herum zu, ohne dass irgendjemand seine Anwesenheit wahrnahm. Am Ende des Flures blieb er am Fenster stehen und ihm wurde klar, dass er, in Gedanken versunken, an seinem Büro vorbeigelaufen war, ohne es, wie geplant, zu betreten. Er schüttelte den Kopf, als könnte er dadurch wieder Klarheit erlangen und ließ sich auf einen der Stühle vor dem Fenster fallen. Einfach zur Tagesordnung überzugehen, dafür war er viel zu ausgelaugt und erschöpft. George beugte sich nach vorne und berührte mit den Fingern eine der bunten Kugeln am Weihnachtsbaum neben ihm, um sie hin und her baumeln zu lassen.

Als sie vor knapp drei Monaten erfahren hatten, dass Suzanne wieder schwanger war, hatten sie an ein Geschenk geglaubt – ihr ganz persönliches Weihnachtsgeschenk.

Schon nach der letzten Fehlgeburt war klar, dass eine weitere Schwangerschaft nicht mehr in Frage kommt, da Suzannes Körper bei jedem Abort extremer reagierte und die Folgen mittlerweile unabsehbar waren. Trotzdem war die Freude groß gewesen, ungeplant diese eine, letzte Chance gewährt zu bekommen – und die Hoffnung riesig, dass jetzt endlich, nach so viel Leid, doch alles gut werden könnte.

Und nun saß er hier… kurz vor Weihnachten… und nichts war gut. Diese letzte Möglichkeit, wie alle anderen zuvor, gescheitert. Die Gewissheit, den Wunsch nach einem Kind endgültig begraben zu müssen, sackte nur langsam zu ihm durch. Wie er Suzanne dazu bringen sollte, diese unabänderliche Tatsache zu akzeptieren, war ihm noch nicht klar.

Ihr fiel es bedeutend schwerer, sich in ein Leben ohne Kinder zu ergeben, als ihm. Denn trotz ihrer gesundheitlichen Probleme und dem Fakt, dass sie mittlerweile mit 41 und 50 Jahren schlicht zu alt waren, klammerte sie sich an das Bedürfnis, Mutter zu werden.

„Doktor?“ Dr. Manchester schreckte hoch.

Der fünfjährige Phil Brownsen stand vor ihm und sah ihn mit großen Augen an.

„Was gibt es?“ „Kommt der Weihnachtsmann nächste Woche hierher?“

Der Doktor lachte. „Kannst du dich an ein Weihnachten erinnern, wo er nicht gekommen wäre?

Na sicher kommt er.“

Der Junge nickte zufrieden. „Okay. Meinst du es ist zu spät ihm zu sagen, dass ich mir einen Monstertruck wünsche?“

„Das glaube ich nicht. Ich werde ihm sofort einen Brief schreiben. Wenn ich mich beeile, ist er sicher rechtzeitig da.“

„Schickst du den zum Nordpol?“

Dr. Manchester strich dem Jungen über den kahlen Kopf.

„Logisch, da wohnt er doch, oder?“

„Ja.“ Phil nickte eifrig. „Da wohnt er. Wenn ich meinen Truck habe, darfst du auch mal mit ihm spielen, Doktor.“

Er sah dem Jungen nach, der hinausrannte.

George Manchester wusste, das nächste Weihnachtsfest würde Phil wieder zuhause verbringen. Das erste seit zwei Jahren.

Er hatte eine akute Leukämie erfolgreich überstanden und war nur noch zur Beobachtung hier.

Seine blonden Haare wuchsen bereits wieder.

Zu Weihnachten lud das Krankenhaus die nahen Verwandten der Patienten ein, um allen ein schönes Fest zu ermöglichen.

Auf jeder Station gab es einen Weihnachtsbaum, einen Weihnachtsmann und Geschenke.

Man sang Lieder, sagte Gedichte auf und unterhielt sich mit Menschen, die Verständnis für die eigenen, ähnlichen Probleme zeigten.

Seit einigen Jahren feierten Dr. Manchester und seine Frau ebenfalls den Heiligen Abend im Krankenhaus.

Um sich nützlich zu machen, die Feierlichkeit zu spüren und in die leuchtenden Augen der Kinder zu blicken.

Um Menschen lachend und glücklich zu sehen, für die sonst Schmerzen, Angst, Verzweiflung und Ohnmacht an der Tagesordnung waren.

Es war früher Nachmittag, als Dr. Manchester das Zimmer seiner Frau betrat. Nach etwas Büroarbeit und einem Spaziergang im Krankenhauspark fühlte er sich besser und reif seine Liebste zu trösten.

Suzanne hatte versucht, zu schlafen, doch es war ihr nicht gelungen.

Sie lag wach und schaute ihren Mann an.

„Hallo, George.“ „Hey.“ Er trat an ihr Bett und griff nach ihrer Hand.

„Wie geht es dir?“ „Ich bin okay, nur noch ein wenig kraftlos. Hast du gesehen, was es geworden wäre? Hat Dr. Konrad mit dir darüber gesprochen?

Ein Mädchen?“

Dr. Manchester seufzte. „Wieso fragst du mich das, Suzanne? Warum quälst du dich selber mit diesen Details? Es war unser Baby, und wir haben es verloren.“ Er schluckte hart, um stark zu bleiben und keine Träne zu vergießen.

„Ich würde es gerne wissen, George. Wie du sagst, es war unser Kind. Ich möchte darum trauern und es hilft mir, sein Geschlecht zu kennen. Bitte ...“ Sie sah ihn drängend an.

„Ein Junge. Es war ein Junge.“

Sie lächelte und drückte seine Hand.

„Du hast dir so sehr einen gewünscht.“

Tränen traten in seine Augen, während er nickte.

„Es tut mir leid.“

Suzanne Manchester richtete sich auf.

„Das nächste Mal ... das nächste Mal klappt es bestimmt.“

Ihr Mann schüttelte den Kopf. „Es gibt kein weiteres Mal, Darling. Darüber waren wir uns einig. Es wäre zu gefährlich.“

„Aber ...“ Sie sah ihn verständnislos an.

„Bitte, mach es nicht noch schlimmer. Es ist so schon schwer genug. Wir sind zu alt und für dich ist eine weitere Schwangerschaft zu gefährlich. Es ist für uns beide an der Zeit, das zu akzeptieren.“

In dieser Nacht blieb Dr. Manchester im Krankenhaus.

Er verbrachte die meiste Zeit bei seiner Ehefrau, der man starke Beruhigungsmittel verabreicht hatte.

Die Fehlgeburten nahmen sie körperlich und psychisch sehr mit.

Die ersten hatte sie verhältnismäßig passabel verkraftet, später hatte ihr Mann einen Psychiater konsultiert, der sie wegen ihrer schrecklichen Alpträume behandelte.

Bei der dritten Schwangerschaft hatte es sie besonders hart getroffen.

Sie waren voller Hoffnung und hatten bereits die ersten Babysachen gekauft, als Suzanne von einem Tag auf den anderen Blutungen bekommen hatte und das Baby im fünften Monat durch eine Sturzgeburt verlor.

Suzanne hatte den Fötus gesehen und monatelang das Bild dieses toten Kindes vor sich gehabt, bis sie wieder schwanger war.

Es war mittlerweile medizinisch geklärt, warum bei Suzanne das Risiko ein Baby zu verlieren erhöht war und sie unter Umständen nicht in der Lage es so lange auszutragen, bis es lebensfähig war.

Man hatte eine Chromosomenveränderung bei ihr festgestellt, die ursächlich dafür war, und Auswirkungen auf den Embryo haben konnte.

Diese Diagnose führte nicht zwangsläufig zu einer Fehlgeburt, jedoch war das Wiederholungsrisiko dafür deutlich erhöht.

George hatte auch über die Möglichkeit einer Adoption nachgedacht.

Er wusste aber um die langen Wartezeiten.

Bis es so weit kommen würde, wäre er wahrscheinlich bereits sechzig Jahre alt.

Seiner Ansicht nach zu alt, um noch Nachwuchs aufzuziehen.

Und wer wusste schon, ob sie ein fremdes Kind lieben könnten wie ein eigenes.

Sie hatten so viele Babys verloren ... ihm war klar, dass er dieses Leben nicht mehr wollte.

Er hatte Angst vor der Hoffnung.

Als George das nächste Mal nach seiner Frau schaute, saß Suzanne aufrecht im Bett und sah ihren Mann an.

„Ich habe darüber nachgedacht, und ich finde, wir sollten es nochmal versuchen. Ein letztes Mal.

Vielleicht wird dann alles gut?“ Dr. Manchester zog sich einen Stuhl neben das Bett und schüttelte den Kopf. „Du wirst mich nicht überzeugen, Darling.

Schon diese Schwangerschaft hätte nicht sein sollen und war gefährlich.

Ich bin nicht gewillt, dich zu verlieren, dich diesem Wunsch nach einem Kind zu opfern ... das ist es nicht wert. Wir können auch zu zweit glücklich werden, okay?“

Suzanne schüttelte den Kopf. „Nein. Es ist nicht okay.

Ich wünsche mir ein Baby, so lange ich denken kann.

Und du auch, das weiß ich! Jedes Mal, wenn ich eine Frau mit einem Kind sehe, fühle ich mich leer.

Als würde irgendetwas fehlen. Wir sind keine komplette Familie!“

George küsste sie auf die Stirn. „Blödsinn, das sind wir. Du und ich, wir haben uns, unsere Liebe.

Und eines Tages werden wir darüber hinweg kommen.

Ich verspreche es dir.“

Er küsste sie innig und hielt sie lange in den Armen, bis sie eingeschlafen war.

Taylor-Ann Lewis spielte mit ihrer Barbie-Puppe, ihrem liebsten Spielzeug.

Heute zog sie ihr ein wunderschönes weißes Kleid mit rosa Schleifchen an, denn ihre Eltern kamen sie an diesem Tag besuchen.

Taylor-Ann lag auf der Station von Dr. Manchester, im L.A.-Medical Center, und ihre Eltern waren gezwungen aus Phoenix anzureisen, wenn sie ihre Tochter sehen wollten.

Taylor-Ann war erst sechs.

Vor einem Jahr hatten die Ärzte bei ihr Lymphosarkome entdeckt. Eine sehr aggressive Form des Krebses.

Dr. Manchester betrat ihr Zimmer mit einer Tüte Süßigkeiten.

„Hey, meine Kleine.“

Sie sah ihn ernst an. „Hallo, Dr. George.“

Er setzte sich auf ihr Bett. „Alles in Ordnung?“

„Nein.“ Sie schüttelte den Kopf.

„Der Weihnachtsmann kommt dieses Jahr nicht zu mir.“ Dr. Manchester sah sie erstaunt an.

„Wie kommst du denn darauf?“ „Er hat es mir letzte Nacht gesagt.“

„War er hier? Du hast von ihm geträumt, was?“

„Nein, habe ich nicht. Er war da, und er hat erzählt, Weihnachten werde ich nicht mehr hier sein.“

Dr. Manchester war klar, dass Taylor-Ann nur noch eine Lebenserwartung von ca. sechs Monaten hatte.

Er hatte in den letzten Tagen häufiger darüber nachgedacht, sie in ein Krankenhaus in Phoenix verlegen zu lassen, doch er konnte sich nicht daran erinnern, in ihrer Gegenwart davon gesprochen zu haben.

„Egal, wo du Weihnachten bist, meine Kleine, der Weihnachtsmann bringt dir sicher viele Geschenke.“ „Ganz bestimmt?“ Er nickte. „Klar.“

Sarah Hopkins sah ihren Schwager zögernd an.

„Ich will Suzanne helfen, das steht außer Frage, aber ich habe eine eigene Familie und in vier Tagen ist Weihnachten!“

Dr. Manchester nickte. „Mein Blick wandert jeden Tag auf dem Kalender. Ich weiß, was in vier Tagen ist.

Ich verlange ja nicht, dass du über die Feiertage bei uns bleibst.

Ich habe Angst, dass Suzanne gleich alleine ist, wenn sie nachhause kommt.

Du weißt, dass sie depressiv wird, nach ... nachdem sie ein Kind verloren hat. Ich bitte dich, bleib die nächsten zwei Tage bei ihr, wenn es dir möglich ist. Ich bin nicht in der Lage mich im Moment so intensiv um sie zu kümmern, wie ich mir das wünsche.“

Sarah Hopkins verschränkte, mit zornrotem Gesicht, die Arme vor der Brust. „Du hast dich nie genügend um sie gekümmert! Ich habe ihr damals abgeraten, einen Arzt zu heiraten.

Sie sind launisch, egoistisch, haben keine Zeit für ihre Familien und halten sich für Gott persönlich.

Ich werde trotzdem kommen und Suzanne im Haushalt helfen. Sie ist meine Schwester, und Blut ist dicker als Wasser.“ George Manchester grinste kläglich. „Wie nett von dir, Sarah.“

Dr. Manchester holte die graue Reisetasche aus dem Schrank und legte sie auf das Bett seiner Frau.

Er warf ihre paar Kleidungsstücke und das Waschzeug achtlos hinein.

Suzanne saß auf einem Stuhl und grinste ihn an.

„Vielleicht hätte ich das lieber machen sollen.“

Er sah auf und legte die Stirn in Falten.

„Nicht ordentlich genug, Darling?“

Sie erhob sich, schritt auf ihn zu und griff nach seinen Händen. „Ich liebe dich.“

„Ich liebe dich auch.“ „George.“

Sie sah ihn an. “Ja?” „Danke, dass du Sarah gefragt hast, ob sie zu uns kommt. Mir ist klar, dass dich das eine gehörige Portion Überwindung gekostet hat.“

„Na ja.“ Er lächelte.

„Ich hätte mich ja gerne selber gekümmert, aber du weißt ja: Ärzte sind egoistisch. Sie haben keine Zeit für ein Familienleben.“

Suzanne sah ihn mitleidig an. „Es tut mir leid, dass sie dich wieder beleidigt hat.“

„Das ist okay. Sie hat ja schon irgendwo recht. Die Klinik spannt mich in den nächsten Tagen sehr ein.

Wir haben ein paar Neuzugänge auf der Station, und für die ist es kurz vor Weihnachten echt schwer.“ Sie nickte.

„Es kommen wieder ruhigere Zeiten.“

Suzanne Manchester drehte sich auf die andere Seite und versuchte mit der Hand das Gesicht ihres Mannes zu finden, um ihn zu küssen.

Sie liebte es, George schlafend zu sehen.

Seine ruhige Atmung gab ihr das Gefühl von Geborgenheit und Vertrauen. Sie gab ihm einen Kuss auf die Nasenspitze.

Sofort öffnete er die Augen. „Wieso schläfst du nicht, Darling?“ Er richtete sich auf.

Sie legte sich in seine Arme.

„War das im Krankenhaus dein letztes Wort?“ „Was meinst du?“ Er sah sie fragend an.

„Das mit dem Baby.“ „Man bekommt im Leben nicht alles, was man sich wünscht. Es bleibt dir nichts anderes übrig, als das zu akzeptieren.

Leg dich schlafen. Es ist bereits zwei Uhr. In ein paar Stunden ist die Nacht vorbei.“

George wurde von einem Klingeln geweckt. Sein Blick fiel auf den Wecker, doch der war still. Er zeigte drei Uhr dreißig, zu früh, um Alarm zu schlagen. Das Geräusch kam vom Telefon und müde nahm er das Gespräch an.

„Dr. Manchester, sind Sie es?“ Eine aufgeregte Frauenstimme sprach aus dem Hörer.

„Ja, was gibt es?“ „Hier ist Schwester Angela.

Dr. Burton hat mir aufgetragen, Sie anzurufen.

Taylor-Ann Lewis liegt im Sterben.“

George Manchesters Herz klopfte hart in seiner Brust.

„Hat er die Eltern angerufen?“

„Ja. Sie brauchen zwei bis drei Stunden, um hierher zu kommen. Dr. Burton meint, sie sind nicht rechtzeitig da.“

Dr. Manchester griff nach seiner Hose.

„Ich bin unterwegs.“

Taylor-Ann Lewis lag nach wie vor in ihrem Zimmer, wo ihr künstlicher Weihnachtsbaum stand und ihre Teddys auf und neben dem Bett lagen.

Sie war blass und ihr Gesicht in dieser Nacht schrecklich eingefallen.

Doch sie war wach, und sie sah Dr. Manchester entgegen, als er ihr Zimmer betrat.

„Hallo, Kleines.“ Er setzte sich an ihr Bett.

„Hey, Dr. George. Warum bist du nicht zuhause und schläfst?“

Er schluckte. „Ich wollte bei dir sein.“

Ihre zarte Stimme klang in dieser Nacht noch schwächer und sie lächelte.

„Ich werde sterben, nicht?“ Er nickte.

„Mum und Dad ...“ „Sie sind schon unterwegs, aber es wird noch eine Weile dauern, bis sie da sind.“

„Das ist nicht schlimm, Dr. George.

Sie weinen dann wieder, und das macht mich traurig.

Ich möchte das nicht.“

Einen Moment herrschte absolute Stille in dem Zimmer. Der Arzt und seine Patientin sahen sich schweigend an. Es war keine traurige Atmosphäre, sie hatte eher etwas Harmonisches, Friedliches.

Es war schummrig in dem Raum.

Das Nachtlicht brannte, und die Lichterkette an dem Weihnachtsbaum, und beides schaffte gerade soviel Licht, wie nötig war, um sein Gegenüber zu sehen.

Taylor-Anns Stimme durchbrach die Stille.

„Wie ist das Sterben, Doktor George?“

„Das weiß ich nicht, Taylor-Ann.“

„Und wie glaubst du, ist es?“

„Na ja.“ Dr. Manchester schloss die Augen.

„Ich stelle mir ein leuchtendes Licht vor, auf das man zugeht.

Es zieht einen förmlich dorthin, glaube ich. Und darin sieht man viele Menschen. Fremde, aber auch bekannte Gesichter, Oma und Opa, den netten Nachbarn, der schon gestorben ist oder Freunde. Sie alle erwarten dein Kommen. Sie strecken ihre Hände aus, um dich zu empfangen, und führen dich in eine bessere Welt, wo es keine Schmerzen und Traurigkeit mehr gibt, nur Freude und Glück. Wo du spielen und toben kannst, so viel du möchtest.“

Taylor-Ann hatte die Augen ebenfalls geschlossen und lächelte.

„Das hört sich schön an. Ich hab keine Angst. Sagst du das Mum und Dad?

Dass ich keine Angst habe?“

„Ja, natürlich. Sie werden stolz auf dich sein.“

Der Griff ihrer Hand ließ nach, und Dr.

Manchester war sich nicht sicher, ob Taylor-Ann den letzten Satz gehört hatte.

Sie war friedlich lächelnd in diese andere Welt gezogen, von der er erzählt hatte.

Eine Träne kullerte über die Wange des Arztes, während er sie zum letzten Mal auf die Stirn küsste.

„Dr. Manchester?“ Eine Stimme riss ihn jäh aus seinen Gedanken.

„Ja.“ Flüsterte er, als wolle er den Schlaf dieses Mädchens nicht stören.

„Ich wasche sie und packe ihre Sachen für die Eltern zusammen.“ Schwester Angela sah ihn erwartungsvoll an.

„Nein, danke. Darum kümmere ich mich selber. Sie können gehen.“

Erneut griff er Taylor-Anns Hand.

„Fröhliche Weihnachten, mein Mädchen. Du hast es geschafft. Ich weiß, du möchtest nicht mehr zurück.

Du hast hier so viel durchgemacht: Die Chemotherapie, die Schmerzen, die ewig langen Krankenhausaufenthalte.

Trotzdem hast du nie aufgegeben und nicht einmal der Tod hat dir Angst gemacht. Ich habe gedacht, wir feiern Weihnachten zusammen hier. Ich hätte versucht, es unvergessen für dich zu machen. Aber ich weiß, es wäre kein Vergleich gewesen zu dem Ort, wo du jetzt bist. Machs gut, Taylor-Ann. Und wenn du da oben lachst, denk mal an mich.“

Dr. Manchester holte die kleine Sporttasche aus dem Schrank und räumte ihren Nachttisch aus.

Er stieß auf ein paar Bilder, Fotos vom Kindergarten, Teddys und Puppenkleider.

Nur ihre geliebte Barbiepuppe vermisste er, und er suchte überall im Zimmer nach ihr.

Schließlich kam ihm der rettende Einfall.

Taylor-Ann hatte sie wahrscheinlich mit ins Bett genommen. Sie hatte leidenschaftlich gerne mit dieser Puppe gespielt, ihr jeden Tag andere Kleidung angezogen.

Dr. Manchester trat ans Bett und zog langsam die Decke zur Seite. Er schluckte.

Da lag die Puppe.

Ihr langes, blondes Haar war sorgfältig gekämmt, und sie trug ein schwarzes Kleid.

Dr. Burton trommelte mit den Fingern auf die Platte seines Schreibtisches. Ihm gegenüber saßen Taylor-Anns Eltern.

Mrs. Lewis war in Tränen aufgelöst. Ihr Mann starrte stumm vor sich hin und erweckte den Eindruck verbittert zu sein.

Dr. Burton seufzte. „Der Chefarzt kommt gleich. Es kann nicht mehr lange dauern.“

Als Dr. Manchester den Raum betrat, atmete sein Kollege hörbar auf und machte seinem Chef erleichtert Platz.

„Guten Morgen, Mr. und Mrs. Lewis. Dr. Burton hat Sie sicher aufgeklärt. Mein herzliches Beileid.“

Mr. Lewis stürzte auf. „Wie konnte das passieren, Doktor?“ „Wie das passieren konnte, fragen Sie? Ihre Tochter war krebskrank, Mr. Lewis.

Sie haben doch gewusst, dass keine Hoffnung mehr bestand.“ Mr. Lewis ballte seine Fäuste.

„Sie wissen, was ich meine. Wieso haben Sie sie nicht bis zu unserem Erscheinen am Leben erhalten?“

Der Doktor fuhr sich durch die grauen Haare.

„Mr. Lewis, ihre Tochter ist friedlich eingeschlafen.

Sie war glücklich. Es war weder aus ärztlichen, noch aus ethischen Gründen zu verantworten, sie wieder zurückzuholen.

Es wäre ihr gegenüber nicht fair gewesen.“

„Fair? Was heißt das schon? Wir sind so rasch es ging hier her gefahren, weil wir unsere Tochter nochmal sehen wollten, Doktor! Sie war erst sechs! Sie war noch so jung.

Sie hatte ihr ganzes Leben noch vor sich. Das ist nicht fair!“

Dr. Manchester erhob sich und legte seine Hände auf Mr. Lewis Schultern.

„Ich hätte Ihnen gerne ermöglicht, mit ihr zu sprechen. Es ist aber ausgeschlossen, den Zeitpunkt des Todes exakt vorhersagen. Und in den meisten Fällen ist das gut so, glauben Sie mir.

Bevor Sie zu ihrer Kleinen gehen ... Taylor-Ann mir aufgetragen hat, Ihnen zu sagen, dass sie keine Angst hatte. Ich hab sie wissen lassen, dass Sie sehr stolz auf sie sind. Und das dürfen Sie auch sein. Taylor-Ann war ein außergewöhnliches Mädchen. Sie haben sie zu einem besonderen Menschen erzogen. Und das geht niemals verloren. Das bleibt Ihnen, bei allem Verlust.“

Mr. Lewis nickte unter Tränen, unfähig irgendetwas zu sagen.

„Die Schwester hat sie gewaschen und sie hübsch angezogen. Dr. Burton, begleiten Sie die beiden bitte zu ihrem Kind.“

Als Doktor Manchester später auf dem Weg zur Kantine war, stolperte er im Flur fast über eine der Lernschwestern, Marcy Higgins.

Sie kauerte auf dem Boden vor dem Labor und war in Tränen aufgelöst.

Er kniete sich vor sie hin und mit sanftem Druck gegen ihr Kinn drückte er ihren Kopf nach oben, damit dass sie ihn ansah.

„Was ist los, Marcy? Geht es Ihnen nicht gut?“ Sie schniefte. „Ja ... ich meine ... nein. Es ist wegen Taylor-Ann. Ich ... ich schaffe das nicht. Ich kann hier nicht mehr arbeiten.“

„Es war das erste Mal, dass Sie den Tod eines Patienten miterlebt haben?“ Sie nickte. „Ich war vorher in der gynäkologischen Station. Mir war ja klar, dass es hier anders sein würde.

Ich dachte, das zu schaffen, aber ich schlafe keine Nacht mehr richtig und das mit Taylor-Ann ... das ist mir zu viel. Das überfordert mich.

Ich hab gestern Morgen noch mit ihr gespielt, wir hatten Spaß und jetzt ... ist sie tot.“

Dr. Manchester fasste ihre Hände und zog sie nach oben.

„Wie alt sind Sie, Marcy? Siebzehn?“ Sie nickte.

„Wie gelingt Ihnen das, Doktor? Berührt Sie so etwas nicht? Ich hab gelesen, dass Ärzte mit der Zeit abstumpfen, was das betrifft. Werde ich das auch später sein? So, dass mir das nichts mehr ausmacht?“

George Manchester sah die junge Frau ernst an.

„Für mich ist es eine Beleidigung, zu sagen, ich wäre abgestumpft. Ich finde, das ist fast das Schlimmste, was man von einem Arzt, oder einer Krankenschwester behaupten kann. Ich bin nicht abgestumpft, Marcy, ich habe gelernt, mit dem, was mir hier begegnet klar zu kommen. Das heißt nicht, dass mich diese vielen Schicksale hier nicht berühren, im Gegenteil. Ich versuche sie nicht zu meinem werden zu lassen.

Ich fühle und leide mit den Patienten, ich bin traurig, wenn wir – wenn sie ihren Kampf verlieren, aber ich weiß, dass das alles zum Leben gehört, auch wenn es unfair erscheint.

Es ist ein langer Weg, dorthin zu kommen, und Sie stehen erst am Anfang dieses Weges.

Beim Verlassen des Krankenhauses bin ich kein Arzt mehr, ich bin nur noch jemand, der von der Arbeit nachhause kommt, zu seinen eigenen unscheinbaren Problemen. Der Wechsel von der gynäkologischen auf die onkologische Station ist mit Sicherheit kein unproblematischer und glücklicher. Geben Sie sich Zeit das, was Sie hier leisten, als Job zu betrachten und alles was hier passiert nicht zu nah an sich heranzulassen.

Wenn Sie feststellen, dass es hier nicht für Sie funktioniert, dann finden wir einen anderen Weg.

Niemand sollte daran seelisch zerbrechen. Eins müssen Sie sich merken, egal, auf welcher Station Sie sind,

oder wo Sie nach der Ausbildung landen:

Hinter jeder Krankengeschichte steht ein Mensch, und den dürfen Sie, solange Sie hier sind, nie aus den Augen verlieren.“

Marcy Higgins nickte. „Sonst wäre ich abgestumpft, verstanden. Aber ich habe keine Ahnung, ob ich es schaffe, das umzusetzen.“

„Dafür bin ich ja da. Um Ihnen dabei zu helfen. Das gehört ebenso zu meinem Job.“

Fügte er mit einem Augenzwinkern hinzu.

Es war ein Tag vor Heiligabend, als Sarah Hopkins, Suzannes Schwester, wieder nachhause fuhr, um Weihnachten im Kreise ihrer Familie zu verbringen.

George Manchester drückte ihr einen Kuss auf die Wange.

„Danke für deine Hilfe, Sarah. Ich werde mich revanchieren. Grüße Peter und die Kinder von mir.“

Seine Schwägerin grinste. „Das werde ich. Und du pass mir auf meine Lieblingsschwester auf. Sie ist psychisch angeknackst und labil.“

Er nickte. „Fröhliche Weihnachten.“ „Ja.“

Sie stieg ins Auto. „Auch für dich.“

George Manchester schleppte den mannshohen Weihnachtsbaum in sein Wohnzimmer.

„Okay, Darling. Lass uns anfangen zu schmücken.“

Er holte den Christbaumschmuck aus dem Schrank und kniete sich neben seine Frau auf den Boden.

Er hatte erst zwei Kugeln auf gehangen, da klingelte das Telefon.

„Soll ich rangehen?“ Suzanne legte den Strohengel aus der Hand.

„Lass mal, ich gehe.“ Ihr Mann erhob sich seufzend und griff nach dem Telefonhörer.

„Hallo?“ „Dr. Manchester, hier ist Dr. Snyder. Wir müssen bei Mr. Allison eine Notoperation vornehmen.

Es ist dringend.

Er hat innere Blutungen. Mit großer Wahrscheinlichkeit ist ein Geschwür aufgeplatzt.

Kann ich mit Ihnen rechnen?“

Dr. Manchester sah zu seiner Frau hinüber.

„Ich denke schon. Ja, ich werde kommen.“

Als er aufgelegt hatte, kam Suzanne auf ihn zu.

„Du musst weg?“ Es war eine Feststellung.

„Ich befürchte ja. Wie wär’s, kommst du mit, und verbringst den Heiligen Abend im Krankenhaus? Du brauchst dich um nichts zu kümmern und hast Gesellschaft.“ Er sah sie erwartungsvoll an.

„Lieber nicht. Ich habe Bedenken, dass mit das noch mehr deprimiert.“ Sie lächelte verkniffen.

„Es ist wegen der Kinder, oder?“

Suzanne Manchester nickte. „Ja.“

„Na, okay.“ George griff nach ihrer Hand. „Ich werde mich beeilen, versprochen. Du kannst ja derweil den Baum anfangen zu schmücken.“

Er gab ihr einen Kuss, holte seinen Mantel und eilte nach draußen.

Als Dr. Manchester in den Operationssaal kam, war alles vorbereitet.

„Hallo, George.“ Dr. Wilkings kam auf ihn zu.

„Ich habe bei Allison bereits die Narkose eingeleitet.

Wir wollten gerade ohne dich anfangen.“

George Manchester nickte. „Entschuldige.

Es war mir nicht wohl dabei, Suzanne daheim zurückzulassen.“

Sein Kollege und Freund Dr. Wilkings prüfte die Vitalzeichen des Patienten.

„Hatte Suzanne keine Lust mit hier her kommen? Auf der Station ist wieder mächtig was los.“

„Nein. Es bedrückt sie jedes Mal, wenn sie die Kinder sieht. Beginnen wir?“

Wilkings nickte. „Ja, sicher. Fangen wir an.“

Mrs. Allison wanderte den Gang vor dem Operationssaal auf und ab, bis Dr. Manchester nach dreieinhalb Stunden hinaustrat und auf sie zuging.

„Wie geht es meinem Mann?“ Sie sprang auf.

„Er kommt durch.“ Antwortete der Arzt erschöpft mit einem Lächeln.

„Gott sei Dank.“ Sie atmete auf und packte ihn gleichzeitig am Arm.

„Die Schwester hat von einem Herzstillstand gesprochen.“

„Ja.“ Dr. Manchester zögerte.

„Wir hätten ihn beinahe verloren. Es ist noch mal gut gegangen. Sie brauchen sich keine Sorgen mehr zu machen.“

Sie nickte. „Das war der furchtbarste Heilige Abend meines ganzen Lebens. Ich hatte solche Angst.“

„Das kann ich mir vorstellen. Fahren Sie nachhause, Mrs. Allison. Es gibt nichts, was Sie hier tun könnten, und ihre Kinder warten sicher auf die Bescherung.“

„Eher nicht.“

Sie sah auf die Uhr an der Wand. „Um diese Zeit liegen sie im Bett.“

George half ihr in die Jacke. „Heute nicht. Schließlich war das Christkind bisher nicht da.“ „Ja.“ Sie lachte.

„Das stimmt.

Fröhliche Weihnachten, Dr. Manchester.“

„Ihnen auch.“ Antwortete er und lief zügig in sein Büro, um sich umzuziehen.

„Bist du in Ordnung, George?“ James Wilkings stand in der Tür zum Büro seines Kollegen.

Dr. Manchester klappte die Schranktüre zu.

„Ja, alles okay. Wie ist Mr. Allisons Zustand?“ „Gut.“

Wilkings betrat das Zimmer. „Er ist stabil. Du hast hervorragende Arbeit geleistet, George. Ich hätte nicht gedacht, dass er durchkommt. Es war knapp.“

„Stimmt. Aber es ist ja Gott sei Dank gut gegangen.“

Dr. Manchester griff nach seiner Jacke.

„Wie wär’s, hast du Lust auf einen Drink?“

Dr. Wilkings sah ihn fragend an. „Ich lade dich ein.“

George schüttelte den Kopf. „Danke. Das ist nett gemeint. Allerdings bin ich ziemlich kaputt und muss nachhause zu Suzanne. Ich habe ein ungutes Gefühl in der Magengegend. Ich habe sie zu lange allein gelassen.“

„Okay. Das verstehe ich. Dann ein andermal. Nimm dir ein Taxi, George. Nicht das noch etwas passiert.“

„Das ist eine gute Idee. Ich fühl mich echt lausig.

Machs gut.“

James Wilkings klopfte seinem Freund auf die Schulter. „Schönen Abend. Und grüße Suzanne von mir.“

Suzanne Manchester hatte den Brief zu Ende geschrieben.

Sie schloss den Füllfederhalter und legte ihn ordentlich auf den Schreibtisch zurück.

Dann lief sie in aller Ruhe zum Medizinschrank im Badezimmer, um die Schlaftabletten zu holen.

Sie griff nach zwei vollen und einer halbvollen Röhre, schloss den Schrank wieder und ging ins Wohnzimmer zurück, wo der inzwischen fertig geschmückte Weihnachtsbaum stand.

George Manchester rutschte auf der Rückbank des Taxis hin und her.

Um diese Zeit war die Mainstreet im Normalfall frei.

Schließlich war es Heiligabend und nach zweiundzwanzig Uhr.

Den Nachrichten im Radio zur Folge war ein Betrunkener in einen Lastzug gefahren und die ganze Straße für den Verkehr gesperrt.

Dr. Manchester spürte Angst in sich aufsteigen.

„Tut mir leid, ich kann daran nichts ändern. Wir müssen warten, bis die die Mainstreet wieder frei geben.“ Sagte der Taxifahrer mit einem Schulterblick zu seinem Fahrgast.

Nach einer halben Stunde hatte Dr. Manchester genug.

„Hier. Stimmt so. Ich laufe den Rest des Weges nachhause.“ Er bezahlte den Fahrer und stieg aus dem Taxi.

George Manchester suchte seinen Haustürschlüssel und warf einen Blick auf die Armbanduhr. Es war kurz vor elf.

Nervös kramte er in seiner Manteltasche nach dem Schlüssel.

Dabei fiel ihm ein, dass er ihn wahrscheinlich in der Hektik auf seinem Schreibtisch vergessen hatte.

Seufzend drückte er den Klingelknopf.

Als niemand öffnete, sah er nach oben.

Er sah deutlich, dass die Kerzen des Weihnachtsbaumes brannten.

Wo war Suzanne?

George Manchester betete zu Gott, dass nichts passiert sein möge, während er die Straße entlang rannte, um zum Haus seiner Haushälterin zu kommen, die zwei Blocks weiter wohnte.

Er hoffte, dass sie, wie geplant, gestern vom Urlaub zurückgekehrt war.

„Guten Abend, Mrs. Martins.“ Die grauhaarige, ältere Dame sah den Doktor erstaunt an.

„Nanu, Dr. Manchester. Was wollen Sie um diese Zeit denn hier?“

George Manchester schnappte keuchend nach Luft.

„Ich ... ich brauch ihren Zweitschlüssel für unsere Haustür. Hab ... hab meinen in der Klinik liegen lassen.“ Mrs. Martins griff ans Schlüsselbrett.

„Wo ist denn Mrs. Manchester?“

„Normalerweise sollte sie daheim sein. Aber mir hat niemand geöffnet. Ich mache mir Sorgen.“

Mrs. Martins drückte ihm den Schlüssel in die Hand.

„Es wird bestimmt nichts passiert sein. Vielleicht ist sie eingeschlafen.“

„Ja, ich hoffe es.“

Dr. Manchester schloss eilig die Haustür auf und lief, ohne seinen Mantel abzulegen, die Treppe nach oben ins Schlafzimmer.

„Suzanne, bist du hier?“ Er knipste das Licht an, entdeckte seine Frau aber nirgendwo.

Über den Flur rannte er zum Wohnzimmer, wo der Weihnachtsbaum brannte.

Auf der Couch lag Mrs. Manchester.

„Bist du okay, Darling?“ Er kam auf sie zu, setzte sich neben sie und küsste sie auf die Stirn.

Sie reagierte nicht. „Suzanne?“ Panisch tätschelte er ihre Wangen. Aus dem Augenwinkel sah er die leeren Tablettenröhrchen und vollkommen automatisiert fing er an zu funktionieren.

Er überprüfte ihre Atmung und ihren Herzschlag, während er zum Telefon griff, und die 911 wählte.

„Hier ist Dr. Manchester. Ich brauche einen Krankenwagen und Notarzt in der Kennedy Street achtunddreißig.

Ich habe hier eine einundvierzigjährige Frau, Gewicht ca. 70 kg, sie hat zwischen einhundert und zweihundert Milligramm Lorazepam eingenommen.

Atmung ist flach, Atemfrequenz bei sieben, Herzfrequenz vierzig. Sie soll ins L.A. Medical Center gebracht werden, dort bin ich Arzt.“

Während des Gesprächs brachte George Manchester Suzanne in die stabile Seitenlage und beobachtete ihre Atmung, um im Notfall eingreifen zu können.

Es kam ihm wie eine Ewigkeit vor, bis die Sanitäter und der Arzt eintrafen.

In Wirklichkeit handelte es sich nur um ein paar Minuten.

Während sie ihren Job erledigten, saß Dr. Manchester nach wie vor auf der Couch, ohne in der Lage zu sein, einen klaren Gedanken zu fassen.

Ein paar Minuten später stand er auf, um sich ein Glas Wasser zu holen. Als er am Schreibtisch vorbei kam, sah er den Brief. Er erkannte die Handschrift seiner Frau, und er bemerkte ein Stechen in seiner Brust.

Mit zitternden Händen griff er nach dem Blatt Papier und versucht sich auf die Buchstaben zu konzentrieren, die vor seinen Augen verschwammen.

Lieber George,

wenn du diese Zeilen liest, werde ich hoffentlich nicht mehr hier sein.

Auf dieser Welt hier macht mich nichts glücklich.

Es ist Weihnachten, und ich kann die Jahre nicht zählen, in denen ich mir gewünscht habe, am nächsten Heiligen Abend ein Baby in meinen Armen zu halten.

Es war mir nicht vergönnt. Ich habe es satt, diese Hoffnung in mir zu tragen. Du hast gesagt, wir müssen darüber hinwegkommen. Das geht nicht.

Ich habe es wirklich versucht, aber dazu bin ich nicht in der Lage. Für mich ist dieses Leben ohne Sinn.

Du musst nicht weinen, dich trifft daran keine Schuld.

Du bist ein verständnisvoller Mann, ich bin sicher, nach einer Weile wirst du meine Entscheidung nachvollziehen können. Verstehen, dass ich diesen Weg gehen muss. Ich bin dankbar für die Jahre mit dir. Es war, trotz allem, eine wunderbare Zeit, die wir miteinander hatten.

Ich wünsche mir, dass du irgendwann eine Frau findest, die dich glücklich macht.

Die dir den Sohn schenkt, von dem du geträumt hast, und den ich dir nicht in der Lage war zu geben. Ich liebe dich. Ich habe dich geliebt, seit wir uns zum ersten Mal gesehen haben.

Ich wünsche dir alles Glück dieser Welt.

In Liebe, Suzanne

Eine Träne fiel auf das Papier, aber George Manchester registrierte es nicht mehr.

Stattdessen spürte er Übelkeit in sich aufkommen.

Mit zitternden Händen legte er den Brief auf den Schreibtisch zurück, bevor ihm schwarz vor den Augen wurde, und er umkippte.

Als er die Augen aufschlug, befand er sich in einem Krankenzimmer, und James Wilkings stand an seinem Bett.

„Na, da bist du ja wieder. Mensch, mein Lieber, was machst du denn für Sachen?“

George Manchester versuchte, sich aufzurichten, und bemerkte den Tropf, an dem er hing.

„Was ist passiert?“ „Man hat mich angerufen und mir gesagt, du wärst zuhause umgekippt. Du hattest einen klassischen Kreislaufkollaps.“

Dr. Manchester versuchte, sich zu erinnern.

Langsam kam sein Gedächtnis zurück.

„Suzanne ... wo ist Suzanne?“ Dr. Wilkings griff die Hand seines Freundes und drückte sie fest.

„Dr. Watkins sagt, sie ist über den Berg.

Sie haben ihr den Magen ausgepumpt und führen eine Antidottherapie durch.

Die Tatsache, dass du zur rechten Zeit am richtigen Ort warst, und korrekt gehandelt hast, hat ihr das Leben gerettet. Ein Glück, dass du Arzt bist.“

Sein Gegenüber schluckte. „Es war knapp, oder?“

James Wilkings nickte.

„Das war es. Aber das Wichtigste ist, dass wir es – dass sie es geschafft hat. Es wird alles wieder gut, George.“

Dr. Manchester holte tief Luft. Er konnte sich nicht mehr erinnern, wie oft er einem Angehörigen diesen Satz gesagt hatte.

Es selber zu durchleben war grauenvoller als in seinen kühnsten Vorstellungen.

Er hatte keine Ahnung, wie er mit diesem Zustand umgehen sollte, wie sein und Suzannes Leben weitergehen würde, und er weinte haltlos.

„Sie wollte sterben, James!“ „Ja, ich weiß.“

Sein Freund nickte.

„Ich hätte sie niemals alleine lassen dürfen.

Mir hätte klar sein müssen, dass so was passieren kann.“

„Es nützt nichts, dich mit Vorwürfen zu überhäufen, George.

Du hast einen verantwortungsvollen Beruf, und du bist ein guter Arzt.“

Dr. Manchester seufzte „Und ein miserabler Ehemann.

Suzanne gegenüber war ich verantwortungslos. Wieso habe ich sie am Weihnachtsabend alleine lassen. Ich wusste, dass sie depressiv ist. Sie hat sich, so lange ich denken kann, danach gesehnt, Mutter zu werden.

Tausende Frauen bringen ihre Babys jedes Jahr um, bevor sie das Licht der Welt erblicken, weil es nicht in ihre Lebensvorstellung passt, und jemand, der sich nichts Schöneres vorstellen kann, hat keine Chance.

Ich könnte schreien, James. Das Leben ist unglaublich ungerecht.“

„Das stimmt. Und ich wünschte, euch irgendwie helfen zu können.“

George Manchester setzte seine Beine auf den Boden.

„Fürs Erste könntest du mich von diesem Ding befreien.“ Er zeigte auf den Tropf.

„Ich will zu Suzanne.“

Dr. Wilkings drückte ihn liebevoll, aber energisch wieder ins Bett zurück.

„Vergiss es, mein Freund. Du hattest einen Kreislaufkollaps und dein EKG hat mir nicht gefallen.

Heute Nacht gehst du nirgendwo hin.“

George Manchester Wangen färbten sich rot.

„Du spinnst ja! Ich befreie mich selber von der Kanüle.“ James Wilkings hielt die Hände seines Freundes fest und schob den Tropf beiseite.

„Du verstehst da was falsch, George. Ich bin hier der Arzt, und du bist mein Patient. Du bleibst zur Beobachtung hier.“

Dr. Manchester versuchte sich aus dem Griff befreien, aber nachdem er soeben ruckartig aufgestanden war, spielte sein Kreislauf wieder verrückt. Er sank in das Kissen.

„Dir scheint dieses Spielchen ja Spaß zu machen.“

„Zu einer anderen Zeit, an einem anderen Ort, ja.

Im Moment bist einzig und allein du und deine Gesundheit für mich maßgeblich. Suzanne schläft.

Und sobald sie aufwacht, braucht sie dich – in passablem Zustand.

Es nützt ihr gar nichts, wenn du uns hier einen Herzinfarkt bekommst, oder was denkst du?“

George Manchester schluckte. „Es ist ernsthaft nicht so harmlos?“ „Wir haben dich sicher nicht hierbehalten, weil wir zu viele Betten übrig hatten.

Der Notarzt hat angegeben, dass du kurzzeitig bradykard1 warst. Du solltest in der nächsten Zeit kürzer treten.“

„Versprichst du mir, dass ich zu ihr darf, wenn sie aufwacht?“ Dr. Wilkings nickte.

„Ich verspreche es.“

Als George Manchester Suzannes Zimmer betrat, schlief sie. Er öffnete die Vorhänge und blinzelte, während die ersten Sonnenstrahlen den Raum durchfluteten.

Es war ein schöner Tag.

In der Nacht hatte es geschneit, und er beobachtete in Gedanken versunken, wie sich die ersten Sonnenstrahlen auf der dünnen Schneedecke spiegelten.

Er stand nach wie vor am Fenster, als seine Frau die Augen öffnete.

„George…“ Er drehte sich um und kam an ihr Bett.

Sie blinzelte ein paar Tränen weg. „Wieso bin ich noch am Leben?“

Dr. Manchester ergriff ihre Hand. „Weil ich dich brauche, Darling. Du darfst mich nicht einfach zurücklassen. Was soll ich denn ohne dich machen?“

Sie fing an zu weinen. „Ich will, dass du glücklich wirst, George. Du hast verdient, mit einer Frau zusammen zu sein, die in der Lage ist, dir einen Sohn schenken.“

In seinen Augen standen ebenfalls Tränen.

Er küsste sie und flüsterte „Ich wäre nie glücklicher ohne dich.

Wir werden unser Leben in den Griff, bekommen, ich verspreche es dir.

Wir lernen, damit umzugehen, wie wir das viele Male zuvor geschafft haben. Es braucht ein wenig Zeit, aber gemeinsam gelingt uns das.

Rede mit mir, Suzanne. Bitte teile mir mit, wenn du Angst hast, dich einsam fühlst, oder kein Land mehr siehst, zusammen schaffen wir das, okay?“

Sie schluckte und griff nach seinem Taschentuch.

„Ich bin mir nicht, ob ich das kann, George.“

„Wir können es gemeinsam.“

Sie lächelte und Tränen kullerten ihre Wangen hinunter. Suzanne war bestrebt ihm zu glauben, mit jeder Faser ihres Herzens. Sie fühlte sich mit ihm so eng verbunden in diesem Moment – und gleichzeitig war das Gefühl des Alleinseins übermächtig.

Drei Tage später hatte sich Dr. Manchester das Einverständnis geholt, wieder arbeiten zu können.

Sein Arzt, Dr. Brown, war eher der Ansicht, er hätte sich das Okay abgerungen und die eindringliche Bitte von ihm, es nicht zu übertreiben, hatte George Manchester bereits wieder vergessen, als er am Getränkeautomaten ankam.

Er beschäftigte sich mit der Frage, ob er lieber Tee oder Kaffee trinken mochte, als Michael Lawner, Leiter des Saint Elisabeth Heimes für schwererziehbare Kinder, seinen Weg kreuzte.

„Hey, George. Da bist du ja. Ich habe schon befürchtet, mir einen anderen Arzt suchen zu müssen.“

„Hallo, Mike. Wir haben uns ja ewig nicht mehr gesehen. Hast du ein medizinisches Problem?“

George Manchester versetzte dem Getränkeautomaten den üblichen Schlag und wartete auf den Becher mit Kaffee.

Michael Lawner grinste. „Ja. Ich war mit einem Bewohner meines Heimes unten in der Kardiologie.

Die haben mich zu dir geschickt.

Ein Dr. Burton hätte den Jungen untersucht, aber wenn ich schon den Chefarzt kenne ...“

Dr. Manchester trank einen Schluck Kaffee.

„Verdammt! Wieso ist der immer so heiß!“

Er hielt sich den Mund. „Entschuldige. Was hat er denn für Symptome?“

„Na ja, er ist uns dreimal in Ohnmacht gefallen in den letzten Wochen. Er klagt über Schwindelanfälle und Schwäche. Ich vermute, er versucht, sich vor seiner bevorstehenden Entlassung zu drücken. Das habe ich bereits einige Male erlebt. Die Jungs haben Angst, auf eigenen Füssen zu stehen.“

Mr. Lawner grinste wissend.

„Ich werde ihn mir ansehen. Wo ist er?“

„Die Schwester hat ihn in dein Untersuchungszimmer gebracht.“

George sah sofort, dass der Junge nicht gesund war.

Sein Gesicht wirkte eingefallen und leichenblass.

Der Doktor streckte ihm die Hand entgegen. „Hallo, ich bin Dr. Manchester. Ich werde mir mal ansehen, was dir fehlt. Wie alt bist du denn?“ Der Junge erwiderte den Handschlag seines Gegenübers nicht.

„Siebzehn. Und wie alt sind Sie?“

„Knapp älter. Zieh bitte dein T-Shirt hoch und lege dich auf die Liege. Hat dir die Schwester Blut abgenommen?“

„Ja. Bereits vor einer Stunde. Solange warte ich hier nämlich schon.“

Dr. Manchester seufzte und tauschte einen verstohlenen Blick mit Michael Lawner.

Er fuhr mit den Fingern über die Arme seines Patienten. „Woher hast du die blauen Flecken?“ Der Junge zuckte die Schultern „Keine Ahnung.“

Dr. Manchester sah zu der Krankenschwester hinüber.

„Janet, besorgen Sie mir bitte die vorläufigen Blutergebnisse.“ Sie nickte.

„Ich rufe gleich im Labor an.“

„Seit wann hast du diese Schwindelanfälle?“

George Manchester prüfte die Reflexe.

„Zwei oder drei Monate. Schwer zu sagen. Mir hat ja keiner geglaubt.“

Die Augen des Jungen wanderten vorwurfsvoll zu Mr.

Lawner, der einen grimmigen Blick zurückwarf.

„Wer dich kennt, glaubt dir gar nichts. Du bist mit allen Wassern gewaschen!“

„Klar, und die blauen Flecken hab ich mir zugefügt!“

„Zuzutrauen wär’s dir!“

George Manchester sah seinen alten Freund direkt an.

„Ich glaube, es reicht. Ihr könnt diese Unterhaltung später weiterführen. Hier ist nicht der richtige Ort.“

Es klopfte an der Tür, und Schwester Janet Meyers betrat das Zimmer.

„Die Blutwerte, Dr. Manchester.“

„Danke.“ George überflog das Blatt. Sein Interesse beschränkte sich ausschließlich auf ein paar Ergebnisse.

Dann seufzte er. „Wie war dein Name, mein Junge?“

„Jeffrey. Jeffrey Thompson.“ Die Stimme seines Patienten war mit einem Mal kleinlaut.

„Nun, Jeffrey. Dein Blut ist nicht in Ordnung.

Du hast eine sehr ernste Erkrankung. Sie heißt Leukämie. Hast du davon schon mal gehört?“

Sein Patient fing an zu zittern. „Krebs. Das ist Krebs.“

Dr. Manchester nickte. „Man nennt es Blutkrebs, ja.

Das sieht man zum Beispiel an der Anzahl der weißen Blutkörperchen in deinem Blut.

Die ist extrem erhöht.“

„Gibt es eine Chance auf Heilung?“

Michael Lawner sah geschockt aus.

„Sicher. Genaueres werden wir im Laufe der Zeit feststellen. Jeffrey, wir behalten dich hier und führen in den nächsten Tagen ein paar Tests durch. Danach wissen wir mehr. Schwester Janet, bringen Sie den Jungen bitte in Zimmer 205. Mike, wir zwei müssen reden. Und Jeffrey ...“ Er sah ihm in die Augen.

„Ich komme nachher zu dir.“

Als Jeffrey mit der Schwester den Raum verlassen hatte, wandte sich Dr. Manchester seinem alten Schulfreund zu.

„Es tut mir leid, Mike.“

Mr. Lawner nickte und knetete seine Hände.

„Oh Gott, George. Wenn ich das geahnt hätte, ich hätte ihn mit Sicherheit eher einem Arzt vorgestellt.“

„Hinterher ist man oft schlauer. Du musst die Eltern benachrichtigen.“ „Jeffrey hat keine Eltern mehr. Sie sind bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Die letzten vier Jahre war er bei mir im Heim. Er hatte ein paar Autos geknackt und die verschiedensten Sachen geklaut. Ein echter Fall von unbelehrbar. Meinst du, er hat eine Chance, wieder gesund zu werden?“

„Es ist zu früh, das zu sagen. Es sieht, nachdem was ich bisher gesehen habe, danach aus, als wäre die Krankheit bereits weiter fortgeschritten.

Endgültig wissen wir das erst, wenn die Tests abgeschlossen sind. Wir starten morgen damit.“

„Hallo, Jeffrey.“ Dr. Manchester kam auf das Bett seines Patienten zu, der seinen Kopf in die andere Richtung gedreht hatte und zum Fenster hinaus starrte.

„Du redest nicht mit jedem, was? Ich würde gerne wissen, ob du irgendwelche Fragen hast, zu dem, was ich dir vorhin gesagt habe.“

Der Junge reagierte nicht.

„Wie du meinst. Gleich morgen früh wirst du zur Untersuchung abgeholt. Wir sehen uns dann vormittags bei der Visite.“

Der Arzt verließ das Zimmer, ohne sich noch einmal umzudrehen.

Mrs. Allison lief auf dem Gang vor dem Büro Dr.

Manchesters auf und ab. In der einen Hand hielt sie einen prächtigen Blumenstrauß, in der anderen eine Schachtel Pralinen.

Sie lächelte, als er sie hinein rief.

„Guten Tag, Mrs. Allison. Was gibt es?“