Hohes Tier - Nadja Quint - E-Book
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Hohes Tier E-Book

Nadja Quint

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Beschreibung

Razzia auf Rügen: Das Gesundheitsamt rückt aus zum Alterssitz von Hansjoachim Segert, Bundeslandwirtschaftsminister a.D., der laut eines Nachbarn unzählige Katzen hortet. Vor Ort erwartet die Beamten eine böse Überraschung – der wunderliche Ex-Politiker versteckt nicht nur Katzen in seinem Haus, sondern auch eine Frauenleiche. Selbstmord, ergibt die Obduktion. Lilo Gondorf, patente Pensionswirtin mit Polizeivergangenheit, wittert jedoch mehr. Auf eigene Faust heuert sie im örtlichen Tierheim an – und stößt auf eine mafiöse Verbindung, die Hundewelpen aus Polen nach Deutschland schmuggelt ...

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Zum Buch

Ex-Polizistin Lilo Gondorf vermietet in Groß Zicker Ferienbungalows – und das mit großem Erfolg. Seit Jahren bekommt ihre Pension von der Kurverwaltung Rügen die Höchstwertung: fünf Seesterne. Doch auch das Ermitteln hat Lilo nicht verlernt. Als es auf dem Alterssitz von Hansjoachim Segert, Bundeslandwirtschaftsminister a.D., zu einer Razzia kommt, entdecken die Behörden dort nicht nur unzählige Katzen, sondern auch eine Frauenleiche. Selbstmord, ergibt die Obduktion. Lilo Gondorf wittert jedoch mehr. Auf eigene Faust heuert sie im örtlichen Tierheim an – und stößt auf eine mafiöse Verbindung, die Hundewelpen aus Polen nach Deutschland schmuggelt …

Zur Autorin

NADJA QUINT wurde 1959 in Ostwestfalen geboren und ist im Hauptberuf Fachärztin für psychosomatische Medizin – ihre Kinder schämen sich noch heute dafür, wenn sie den Beruf der Mutter irgendwo angeben müssen. Dabei hilft ihr das Wissen um die Psyche des Menschen ganz ungemein, wenn sie sich ihrer liebsten Nebentätigkeit widmet: Kriminalromane schreiben. Nach mehreren historischen Krimis hat sie nun mit der Krimireihe um Lilo Gondorf, die ermittelnde Pensionswirtin aus Rügen, einen Grund gefunden, ganz oft auf die beliebte Ferieninsel zu reisen – natürlich ausschließlich zu Recherchezwecken.

NADJA QUINT

HOHES TIER

Ein Fall für Lilo Gondorf

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

1. Auflage

Originalausgabe Mai 2017

btb Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Copyright © 2017 by Nadja Quint

Umschlaggestaltung: semper smile, München

Umschlagmotiv: © Shutterstock/RedDaxLuma; Madlen; TheWorst; Wuttikai; Alexeysun; Picsfive

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

cb · Herstellung: sc

ISBN 978-3-641-20936-0V001www.btb-verlag.de

www.facebook.com/btbverlag

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Unmenschen gibt es, aber keine Untiere.

Karl Julius Weber (1767–1832)

Das Katzenhaus

An einem Dienstagmorgen im April stand Amtsärztin Annette Bäumler vor ihrem Haus und spürte ein Grummeln im Bauch. Nein, etwas Falsches gegessen hatte sie nicht – das Gefühl war eher seelischer Natur. Und mit Fragen der Gemütslage kannte sie sich aus: Seit drei Jahren leitete sie den Sozialpsychiatrischen Dienst der Insel Rügen. Sie wusste, wie sie mit schwer depressiven Patienten umgehen musste, mit Drogenabhängigen oder tobenden Wahnkranken. Doch all die Berufserfahrung nutzte ihr heute wenig. Ein besonderer Einsatz stand bevor, noch dazu bei einem Prominenten. Das Ordnungsamt würde dabei sein, außerdem Veterinäramt, Tierschutz und Polizei. Ganz großer Auflauf. Annette hätte sich gern vor dem Termin gedrückt. Doch sie war nun mal zuständig.

Damit das Unbehagen nicht überhandnahm, lenkte Annette ihre Aufmerksamkeit auf den Vorgarten. Dort wuchsen Tulpen – ihre Lieblingsblumen. Sie dachte an den letzten Herbst und ihren Besuch im Gartenmarkt der Inselhauptstadt Bergen. Welche neuen Sorten gab es? Welche vertrugen am besten das Rüganer Klima? Welche öffneten trotz Halbschatten schon früh ihre Kelche? Nach gründlicher Beratung hatte Annette fünf Dutzend Zwiebeln erworben und in die Erde gesetzt. Nun erntete sie den Lohn ihrer Mühe. Im warmen Luftstrom der ersten Frühlingstage entfalteten die Tulpen ihre Pracht. Zartweiß, sonnengelb, kardinalrot, elegant rosé mit gewellten Blütenblättern und in hellem Lachston durchsetzt von violetten Schattierungen. Alle wunderschön. Annette war zufrieden – jedenfalls mit den Tulpen. Die Angst vor dem Einsatz jedoch ließ sie nicht los, und sie überlegte, wie die Sache für sie angefangen hatte. Ganz harmlos eigentlich. Mit einem Telefonat.

Wolfgang Remschmidt hatte in ihrem Büro angerufen und von Problemen in Gager berichtet, einem Dorf im Südosten der Insel: »Wir haben versucht, das Ganze ordnungsbehördlich zu klären, aber ohne dein Urteil kommen wir nicht weiter. Es geht um übermäßige Katzenhaltung, wohl ein ausgeprägtes animal-hoarding-Syndrom.«

Annette kannte Wolfgang gut. Als stellvertretender Leiter des Haupt- und Ordnungsamtes wusste er Situationen richtig einzuschätzen. Wenn er den Sozialpsychiatrischen Dienst einschaltete, dann nicht ohne Grund.

»Vielleicht kennst du ja Heiko Raabe«, fuhr Wolfgang fort, »dem gehört eine Pensionam Waldrand.«

»Nie gehört. Und der hortet Katzen?«

»Nein, aber er hat uns verständigt. Es geht um seinen Nachbarn«, Wolfgang wurde süffisant, »ein gewisser Hansjoachim Segert. Ich denke mal, da klingelt’s bei dir.«

Und ob! Der Name sagte ihr etwas, auch wenn sie den Mann nicht persönlich kannte. »Etwa der ehemalige Landwirtschaftminister? Der jetzt vegetarische Kochbücher schreibt?«

»Genau der!« Wolfgang grinste durchs Telefon. »Ernährt sich selbst rein pflanzlich und hält sich eingefleischte Mäusemörder. Wir haben schon jede Menge Witze darüber gerissen, aber die Sache ist ernst. Am besten kommst du mal vorbei zur kleinen Dienstbesprechung. Vielleicht schon heute Nachmittag?«

»Lieber morgen früh«, entgegnete Annette. Sie wollte Wolfgang nicht auf die Nase binden, wie wenig Erfahrung sie mit krankhaften Tiersammlern hatte – noch dazu, wenn es sich dabei um ehemalige Bundespolitiker handelte. Eine schwere Form von animal hoarding war Annette noch nicht begegnet. Sie erinnerte sich lediglich an eine schizophrene Patientin, die mit einer Ziege gelebt hatte. Aber bei einem einzigen Tier konnte man wohl kaum von Horten sprechen, eher von nicht artgerechter Haltung – die Wohnung der Frau lag in der fünften Etage eines Hochhauses. Doch die Ziegenhalterin war keine Prominente gewesen, für die Boulevardpresse also eher uninteressant.

Bei Hansjoachim Segert lag der Fall natürlich anders. Als der Politiker vor gut zehn Jahren plötzlich auf die Insel gezogen war, um sich ganz seiner Sammlung fleischfreier Kochrezepte zu widmen, hatte das für Schlagzeilen gesorgt. Und sonst? Wusste man mehr über diesen Mann? Das Internet gab Aufschluss. Hansjoachim Segert war 1961 in der Nähe von Mainz geboren und hatte in Köln Wirtschaft sowie Politologie studiert, es folgte die übliche Ochsentour: Stadtrat, Landtag, Bundestag, dazu Aufstieg innerhalb der Partei, schließlich von 2002 bis 2005 Bundesminister für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft. Danach Beendigung der politischen Laufbahn.

Annette rechnete nach: 2005 war Segert gerade mal dreiundvierzig Jahre alt und hatte eine Bilderbuchkarriere hingelegt. Warum machte er bei so viel Erfolg nicht weiter mit der Politik? Oder wechselte in einen lukrativen Wirtschaftsjob wie seine Kollegen? Warum zog er sich so früh ins Privatleben zurück? Hatte er bemerkt, dass er sich psychisch veränderte? Und wollte es nicht zugeben? Oder hatten andere Politiker ihn zum Rückzug gedrängt, um seiner Partei eine Blamage zu ersparen?

Am nächsten Tag ging Annette zur Lagebesprechung ins Ordnungsamt. Wolfgang bot ihr einen Platz am Schreibtisch an, servierte Kaffee und erläuterte den Fall: Heiko Raabe fürchtete um seine Frühstückspension, weil Hansjoachim Segert auf dem Nachbargrundstück immer mehr Katzen hielt. Inzwischen waren die Verhältnisse absolut unerträglich. Die Katzen miauten Tag und Nacht, ihre Exkremente stanken zum Himmel, und die Pensionsgäste beschwerten sich. Nicht nur wegen der Ruhestörung, sondern vor allem wegen der Tierquälerei. Es sehe ganz so aus, als litte Segert unter einer schweren Tiersammelsucht und müsste dringend psychiatrisch behandelt werden.

»Ist er denn früher schon mal auffällig gewesen?«, fragte Annette.

»Wohl nicht. Als er damals ins Dorf zog, war noch alles in Ordnung. Er hatte nie viel Kontakt zu den Nachbarn, hat aber immer freundlich gegrüßt und seinen Garten gepflegt. Zwischen ihm und Heiko Raabe gab es bis dahin keine Probleme. Im letzten September liefen dann erst drei Katzen auf Segerts Grundstück rum, und in der Woche drauf schon sieben.«

»Und woher kamen die?«

»Das weiß Raabe nicht, und Segert weigert sich, mit ihm zu reden. Vielleicht hat er ein paar Streuner eingefangen. Oder sie sind ihm zugelaufen. Er musste ja nur Futter hinstellen, und schon waren sie da. Jedenfalls: Er unternimmt nichts gegen die Vermehrung. Im Gegenteil. Er sorgt dafür, dass ihm keine einzige entwischt. Im Winter hat er sie offenbar mit ins Haus genommen und erst im Februar wieder ins Freie gelassen. Da waren es nicht mehr bloß drei Tiere, sondern Dutzende. Raabe hat versucht, mit ihm ins Gespräch zu kommen, aber ohne Erfolg. Segert verbarrikadiert sich. Vor ein paar Wochen hat er seinen Jägerzaun abreißen und ersetzen lassen: durch massive Stahlstreben, zwei Meter hoch. Die Pforte besteht aus einer äußeren und einer inneren Metalltür, beide mit scharfen Spitzen an der Oberkante. Der Stahl ist so glatt, da kommt keine Katze hoch. Und falls doch, schlitzt sie sich oben den Bauch auf.«

In seinem Computer rief Wolfgang eine Reihe von Fotos auf.

»Das sind Aufnahmen von Segerts Garten, allerdings nur von dem Teil, den Heiko Raabe von seinem Dachfenster aus sehen kann.«

»Also hat er die Bilder gemacht?«

»Ja klar. Die Pension ist ja das einzige Haus in direkter Nachbarschaft. Wie es auf der anderen Seite von Segerts Haus aussieht, wissen wir nicht, aber insgesamt ist das Grundstück eher klein, knapp vierhundert Quadratmeter.«

Katzen über Katzen! Annette versuchte sich einen Überblick zu verschaffen.

Wolfgang grinste. »Wir haben die Bilder so gut wie möglich analysiert. Demnach sind es einundsechzig allein aufgrund dieser Fotos. Vermutlich gibt es aber noch viel mehr Katzen: im Haus, hinterm Haus, in den Büschen oder sonstigen Verstecken.«

Annette schüttelte den Kopf. »Und wie ernähren die sich? Doch wohl kaum von den Mäusen und Vögeln im Garten?«

»Natürlich nicht. Segert füttert die alle schön durch. Einmal pro Woche kommt ein Riesenpaket vom Supermarkt in Sellin. Wir haben nachgefragt: Segert lässt sich jede Menge Dosen mit Futter für die Katzen schicken und für sich selbst Bananen, Traubensaft und Weizenschrot.«

»Lecker!«

Wolfgang ließ sich im Schreibtischstuhl zurückfallen. »Tja, Frau Doktor. Wir haben uns auch gewundert. Aber unser werter Exminister ernährt sich nur noch von Bananen, Traubensaft und Weizenschrot. Mehr braucht man nicht, sagt er, da sind angeblich alle Nährstoffe drin. Übrigens ist der Lieferant der einzige Mensch, dem Segert überhaupt noch die Tür aufmacht. Alle anderen wimmelt er ab. Uns natürlich auch.«

»Und woher wisst ihr das alles? Habt ihr im Supermarkt angerufen?«

»Ja. Die haben von Segert eine Einzugsermächtigung. Finanziell geht es ihm offenbar gut. Als Minister außer Dienst bekommt er immer noch Bezüge. Und sein Verleger sagt, die Kochbücher verkaufen sich weiterhin, auch wenn Segert zurzeit keine neuen mehr rausbringt. Ach ja, noch was Interessantes: Er kümmert sich zuverlässig um den Abfall. Die gelben Säcke mit den leeren Dosen stehen immer ordentlich vorm Haus, wenn die Müllabfuhr kommt. Schon erstaunlich bei dem Chaos, was da sonst so herrscht. Jetzt guck dir das mal an.«

Wolfgang vergrößerte eins der Fotos auf dem Bildschirm.

»Selbst ich als Laie sehe, dass die Katzen nicht gesund sind. Es ist viel zu eng für so viele Tiere, die sind im Dauerstress und fressen nicht genug. Außerdem kommt es bei den Katern zu Revierkämpfen. Dabei verletzen sie sich gegenseitig, sagt Nora Onning.«

»Wer ist das?«

»Die Leiterin vom Tierheim in Göhren. Sehr engagierte Frau. Erst Mitte zwanzig, aber absolut kompetent. Und dann haben wir die Fotos natürlich Regine Groote gezeigt, unserer Amtsveterinärin. Die meint, vermutlich haben die Katzen allesamt Parasiten.«

»Also Flöhe?«

»Ja, und wohl auch Viren und Bazillen, aber nichts Hochgefährliches für Menschen. Es würde übrigens keinen Sinn machen, die Tiere zu beschlagnahmen und Segert einfach weiterwurschteln zu lassen.«

»Weil er dann sofort neue Tiere sammeln würde?«

»Genau. Darum sollst du ihn bitte begutachten: Diagnose, nötige Behandlung, weitere soziale Maßnahmen.«

»Aber kooperativ ist er nicht, oder?«

»Kaum. Über kurz oder lang braucht er einen juristischen Betreuer. Und Heiko Raabe macht Druck. Inzwischen weiß das ganze Mönchgut von Segerts Katzen.«

»Ging das denn schon durch die Medien?«, fragte Annette.

»Nein, da hält Raabe sich bis jetzt zurück. Aber lange wartet er nicht mehr, bis er an die Presse geht. Die Situation ist inzwischen unerträglich, meint er.«

»Das heißt?«

»Die Pensionszimmer auf der Seite zu Segerts Haus sind kaum noch bewohnbar. Manchmal kann man nicht mehr die Fenster aufmachen vor lauter Gestank. Und die Katzen schreien gotterbärmlich. Fast wie kleine Kinder.« Wolfgang zeigte wieder auf den Bildschirm. »Vom Rasen ist kaum noch was übrig, kein Wunder bei den ganzen Ausscheidungen. Die Katzen wissen nicht, wohin mit sich auf der kleinen Fläche. Wir sollen froh sein, dass die Fotos den Geruch nicht mitliefern, sagt Raabe.«

Annette verzog das Gesicht. »Und was ist das hier?« Sie deutete auf ein Foto. Es sah aus, als hätte jemand Äste in ein Beet gesteckt.

»Holzkreuze.« Wolfgang zoomte heran. »Das ist der Katzenfriedhof. Übrigens der einzige Bereich, wo Segert noch eine Art Gartenpflege betreibt. Wenn ihm ein Tier wegstirbt, wickelt er es in Zeitungspapier und buddelt es ein, anschließend harkt er die Erde und stellt so ein Kreuz auf.«

»Immerhin ein Bestattungsritual. Segert ist also nicht völlig abgestumpft.«

»Aber trotzdem verrückt.

Also kommst du mit zum Einsatz und begutachtest Segert? Und begleitest ihn notfalls direkt in die Psychiatrie?«

»Na sicher«, seufzte sie. Eine Wahl hatte sie ohnehin nicht.

Und jetzt war es so weit: Während Annette die Tulpen im Vorgarten bestaunte, hörte sie den Wagen vom Ordnungsamt heranfahren. Sie stieg ein.

»Tachschön, werte Frau Doktor.« Wolfgang drückte ihr eine Akte in die Hand. »Der aktuelle Schriftwechsel. Wir haben Segert noch mal angeschrieben – bisher ohne Reaktion.«

Annette starrte auf die Akte.

»Der Brief ist ganz hinten«, erklärte Wolfgang. »Als Einschreiben geschickt. Hat er also garantiert bekommen.«

»Aber vermutlich nicht gelesen.« Annette schlug die Akte auf.

Wolfgang seufzte. »Das kann nicht mehr unser Problem sein. Wir gehen da jetzt rein.«

Sie nickte. Nein, am korrekten Vorgehen der Behörden zweifelte sie nicht. Juristisch war alles wasserdicht, dennoch war ihr nicht wohl bei der Aktion, und Wolfgang wusste das.

»Wir sind ja nicht allein«, tröstete er. »Sogar die Polizei ist dabei. Lauter fähige Leute. Genau wie wir.«

Annette musste lachen. Sie mochte Wolfgang, nicht nur wegen seines Humors. Und er hegte wohl auch ein paar Sympathien für sie. Aber beide waren glücklich verheiratet, es blieb bei einer kollegialen Freundschaft.

Sie suchte nach einer bequemen Position auf dem Beifahrersitz.

»Nur noch ein bisschen autogenes Training. Ich hoffe, das stört dich nicht.«

Er grinste. »Und unsere schöne Insel? Die willst du dir nicht angucken?«

»Mache ich auf dem Rückweg.«

Sie schloss die Augen und redete sich ein: Ich bin ganz ruhig, mein Atem fließt ruhig und regelmäßig. Doch die Unruhe war zu groß. Also schaute sie in die Landschaft. Der Frühling war in den letzten Wochen weit vorangeschritten. Gern hätte sie die Fahrt zur Halbinsel Mönchgut für eine Wanderung genutzt. Die Kulturlandschaft um die Zickerschen Berge galt für viele Menschen als eine der reizvollsten Gegenden auf Rügen – lange bevor die UNESCO sie zum Biosphärenreservat erklärt hatte.

Nach zwanzig Minuten fuhr Wolfgang von der Bundesstraße ab und weiter Richtung Gager. Zum Höft hieß die Straße, die sich in Schleifen und Bögen durch das Dorf zog. Am Waldrand zweigte nach Südosten ein asphaltierter Stichweg ab.

»Die Pension.« Wolfgang zeigte auf ein hellgrün gestrichenes Gebäude. »Heiko Raabe hat in den letzten Jahren jede Menge Geld investiert. Allein diese breite Glasveranda. Richtig schick. Und jetzt ist er natürlich drauf angewiesen, dass der Laden brummt.«

Annette nickte. Ihre Augen wanderten am Haupthaus vorbei zu einer Doppelgarage. In der Einfahrt stand ein Kastenwagen. »Aha? Dieselbe Farbe wie das Haus?«

»Sonderlackierung. Die Farbe ist das Markenzeichen der Pension. Raabe läuft auch selbst Reklame. Er trägt ständig T-Shirts und Jacken in diesem Ton. Eine Werbefirma hat ihn da beraten. Angeblich wirkt dieses Grün ganz besonders einladend«, wurde Wolfgang ironisch, »im Gegensatz zu diesem Ungetüm da.«

Beim Anblick des mit Zacken besetzten Stahlzauns erstarrte Annette. »Und das genehmigt die Bauaufsicht?«

»Leider ja. Raabe hat sich genau erkundigt. Aber bis zu einer Höhe von zwei Metern ist das erlaubt.«

»Aber hier ist doch ein Feriengebiet. So was Grauenvolles direkt neben einer Pension.«

Als sie vor Segerts Anwesen ankamen, wartete dort bereits eine ganze Armada von Fahrzeugen: eine Streife der Polizeiwache Sellin, ein Transporter mit der Aufschrift Tierheim Göhren e.V., ein Kastenwagen vom Schlüsseldienst Korittke und ein heller Minivan, den Wolfgang als Dienstfahrzeug des Veterinäramts erkannte. Er wies auf die Gruppe von Menschen, die vor der Tür im Metallzaun standen. »Zähl mal durch. Müssten acht sein.«

Annette räusperte sich. »Stimmt.«

»Na also. Zu zehnt sollten wir das doch schaffen.«

Sie nickte und griff ihre Tasche mit den Medikamenten: von der leichten Beruhigungstablette bis zur starken Spritze hatte sie alles dabei – und konnte jederzeit medizinische Verstärkung anfordern. Selbstverständlich hatte sie auch den notärztlichen Dienst informiert. Falls es hart auf hart käme, wären Notarzt und Rettungswagen in zehn Minuten vor Ort. Das hatten die Kollegen versprochen. In Annettes Bauch grummelte es trotzdem noch.

Sie öffnete die Autotür – erst nur einen Spalt – und atmete tief ein. Stank es wirklich so furchtbar? Nein, nichts Besonderes zu riechen. Jedenfalls nicht hier an der Straße. Aber wie mochte es in Segerts Garten sein? Oder gar in seinem Haus? Es kommt, wie es kommt!, beschloss sie und ging an Wolfgangs Seite zu den anderen.

Immerhin waren ihr die meisten Gesichter vertraut. Mit Julia Räker und Daniel Beer von der Polizeiwache Sellin sowie Schlossermeister Eckhard Korittke hatte sie schon einige Einsätze bestritten. Amtstierärztin Regine Groote und ihre Mitarbeiterin Jana Möller kannte Annette von Betriebsfesten. Nur mit den Frauen vom Tierschutz hatte sie bisher noch nicht zu tun gehabt – die drei trugen Namensschilder: Tierheimleiterin Nora Onning mit ihren Praktikantinnen Meltem und Patrizia.

»Und?«, fragte Wolfgang. »Lust auf Heldentaten?«

Die anderen lachten leise, ihre Anspannung war deutlich zu spüren. Niemand wusste, was sie im Haus erwartete.

Nora Onning wandte sich an Annette. »Sie sind doch Psychiaterin? Darf ich Sie mal was fragen?«

»Ja sicher«, lächelte Annette und dachte: Wenn es sein muss.

»Dieser Herr Segert hat die Briefe von den Ämtern bekommen. Und nicht reagiert. Also hat er doch wohl Angst davor, dass wir ihm die Tiere wegnehmen?«

»Vermutlich«, erklärte Annette freundlich. »Aber genau kann ich das nicht sagen. Ich kenne ihn ja überhaupt nicht. Und das Krankheitsbild kann ganz unterschiedlich ausfallen.«

Nora Onning nickte. »Und was ist, wenn er sich umgebracht hat?«

Da war sie! Die böse Ahnung, die wohl allen durch den Kopf spukte.

Annette blieb sachlich. »Das kann man natürlich nicht ausschließen.«

Nora Onning nickte erneut, obwohl ihr die Antwort offenbar nicht behagte. Aber schließlich hatte niemand die junge Frau gezwungen, beim Einsatz mitzumachen. Hätte sie nicht gewollt, hätte das Ordnungsamt bei einer anderen Tierschutzorganisation nachgefragt.

Annette sah hinüber zu Polizeioberkommissar Daniel Beer. »Alle bereit?«, fragte er klar und knapp. Er war ein Mann der Tat.

Die fünf Frauen vom Veterinäramt und vom Tierheim gingen zum Transporter, um sich ihre Schutzkleidung anzulegen. Annette wartete mit Wolfgang, den Polizisten und dem Schlosser am Zaun. Sie sah hinüber zur Pension: Unten die Glasveranda, darüber ein Geschoss mit Balkonen – vermutlich für Gäste –, dann das Giebelgeschoss. Am Dachfenster bewegte sich etwas. Erst auf den zweiten Blick erkannte sie einen jungen Mann. Sein T-Shirt war vom selben Grün wie die Hausfassade.

»Das ist doch bestimmt Heiko Raabe?«

Wolfgang schaute hoch und grinste. »Genau. Gut getarnt. Er verschmilzt mit seinem Haus. Zumindest farblich.«

Annette blieb ernst. »Und es ist kein Problem, wenn er zuguckt?«

»Keine Sorge«, entgegnete Julia Räker. »So einen Einsatz können wir sowieso schlecht geheim halten. Wir waren eben sogar bei Herrn Raabe auf dem Dachboden.«

»Ach so?«

»Ja, von dort gibt es den besten Blick auf Segerts Haus.

Die Jalousien sind überall runtergelassen, auch im Erdgeschoss.«

Annette nickte. Sie hätte gern noch mehr gefragt, doch in dem Moment kehrten die fünf Frauen vom Transporter zurück: weiße Kunststoffanzüge, unterarmlange Handschuhe, Atemschutz mit Visier – bereit für den Kontakt mit Tieren mit unklarer Infektionslage. Aus dem Transporter hatten sie langstielige Kescher und ein paar Boxen mitgebracht.

Daniel Beer nickte. »Sieht professionell aus. Wie viele Käfige habt ihr denn mit?«

»Zweiundsiebzig«, sagte Nora Onning. »Damit ist unser Wagen voll. Es sind auch größere Boxen dabei, wo mehrere Tiere reinpassen.«

Das Tor zu Segerts Grundstück war so abweisend wie der ganze Zaun: eine glatte Stahlplatte mit eingelassenem Griff, in einer Seitenstrebe waren ein Klingelknopf und das Auge der Überwachungskamera installiert.

»In der Gruppe bleiben! Meine Kollegin und ich gehen vor!«, befahl Beer.

Gern, dachte Annette und reihte sich hinten ein. Ihre Aufgabe war es, Segert zu begutachten. Solange sie ihn nicht leibhaftig vor sich hatte, brauchte sie nichts zu tun. Und dann würde man sehen.

Julia Räker klingelte. Nichts tat sich. Ein zweites Mal. Wieder nichts.

»Es gibt zwar eine Sprechanlage«, meinte Wolfgang. »Aber die funktioniert erst dann, wenn er sich meldet. Wenn wir hier jetzt einfach so reinsprechen, bringt das überhaupt nichts. Das haben wir beim ersten Besuch schon ausprobiert.«

»Na gut. Dann ein letzter Versuch.« Die Polizeioberkommissarin drückte ein drittes Mal den Knopf. Eine halbe Minute verging – ohne Reaktion. Sie drehte sich zu den anderen: »Wir öffnen!«

Eckhard Korittke war ein Großmeister seines Fachs, kein Mann der groben Kraft, sondern der wohldosierten Technik. Mit einem Ziehgerät entfernte er den Schließzylinder, die erste Stahltür sprang auf. Hinter einem Vorhof von etwa zwei Quadratmetern folgte die nächste Tür. Wieder setzte er das Gerät an: Knack und offen!

Zehn Augenpaare starrten in Segerts Garten. Einen Moment lang verharrten sie schweigend, dann sprach Wolfgang aus, was alle dachten: »Ach du heilige Scheiße!« Diese Bemerkung mochte eines stellvertretenden Amtsleiters nicht würdig sein – passend war sie allemal. Vom ehemaligen Rasen war nicht mehr viel erkennbar, der Garten hatte sich in ein gigantisches Katzenklo verwandelt.

Annettes Magen drückte gegen das Zwerchfell. Sie zog ein paar Atemmasken aus ihrer Tasche und gab auf jede ein paar Tropfen Menthol. »Wer möchte?«

Wolfgang und die Polizisten griffen dankbar zu, nur Korittke verzichtete. »Nett von Ihnen, aber ich bin da nicht so empfindlich.« Er hatte Tausende von unbekannten Türen geöffnet und war üble Gerüche gewohnt.

»Falls die Katzen die ganze Nacht im Haus waren, stinkt es da noch viel schlimmer als hier draußen«, meinte Regine Groote, und erst jetzt begriff Annette, was die anderen offenbar längst bemerkt hatten: Auf dem Grundstück war keine einzige Katze zu sehen.

»Bei so vielen Tieren gibt es hier draußen kein natürliches Futter mehr. Da muss Segert nur ein paar Dosen aufmachen, und sie kommen rein.« Die Veterinärin horchte. »Seid mal ganz ruhig, bitte.«

Jetzt hörten es alle. Aus dem Haus drangen Kratzgeräusche und lautes Miauen.

»Die sitzen direkt hinter der Tür«, sagte Korittke. »Das heißt, wenn ich das Schloss aufmache, stürmen die uns alle entgegen?«

»Ja. Und wir fangen sie dann ein.«

Wolfgang stöhnte auf. »Warum sperrt er sie ins Haus, wo es viel enger ist als im Garten? Erklär mir das, Annette.«

Was weiß ich?!, hätte sie gern geantwortet. Ich kenne diesen Kerl nicht. Doch sie bemühte sich um eine Erklärung: »Vermutlich will er demonstrieren, dass er alles unter Kontrolle hat.«

»Wir müssen rein«, entschied die Polizistin.

Sie erreichten die Haustür. Die Katzen dahinter miauten herzzerreißend.

Eckhard Korittke klopfte die Tür ab. »Edelstahl, ordentliche Qualität. Und gucken Sie mal hier.« Er wies unten an der Tür auf zwei Rechtecke. »Das sind dann wohl Katzenklappen.«

»Gut.« Nora Onning beugte sich vor. »Machen Sie die doch bitte auf. Dann kommen nicht so viele Tiere auf einmal raus, und wir können sie leichter einfangen.«

Doch der Schlosser schüttelte den Kopf. »Die Riegel sitzen innen. Da kommen wir von außen nicht dran.«

Er beriet sich kurz mit den Polizisten, dann verkündete Julia Räker: »Mein Kollege und ich bleiben neben der Tür. Alle anderen bitte rüber an die Mauer. Und wir gehen erst rein, wenn die Tiere draußen sind.«

Annette, Wolfgang und die fünf Tierfängerinnen stellten sich an die Hauswand. Korittke setzte sein Werkzeug an, es knackte. Mit einem Ruck zog er die Haustür auf und ging dahinter in Deckung. Die Polizisten blieben mit erhobenen Waffen neben der Tür stehen.

Ihnen schlug bestialischer Gestank entgegen, Mundschutz und Menthol halfen da kaum. Doch das Schauspiel, das sich ihnen bot, war durchaus imposant: Sobald die Tür einen Spaltbreit offen war, verstummten die Schreie der Katzen. Und ein Schwall von Leibern brach sich Bahn, ein Strom von weißen, schwarzen, grauen, braunen Tieren. Lautlos stürmten sie in den Garten. Viele waren offenbar so erleichtert über die Befreiung, dass sie gleich ihre Notdurft verrichteten: im Gebüsch, in den verbliebenen Grasbüscheln oder einfach auf der kahlen Erde.

»Mann, Mann, Mann.« Korittke schüttelte den Kopf. »Ich verstehe zwar nichts von den Viechern. Aber dass es hier viel zu eng für die ist, merke ja sogar ich.«

Julia Räker warf einen Blick ins Haus. »Keine mehr zu sehen.« Sie steckte ihre Waffe ein und wandte sich an Beer. »Machst du Außenwache? Falls Segert aus der Terrassentür kommt oder aus einem Fenster? Dann gehen wir jetzt rein.«

Aber ohne mich!, hätte Annette gern gerufen. Direkt vor der Haustür stank es höllisch: Ekliger als alles, was sie im Medizinstudium gerochen hatte. Übler als die Wasserleiche in der Rechtsmedizin und widerwärtiger als die Obduktion eines Toten, der zwei Wochen bei Bullenhitze in seiner Wohnung gelegen hatte.

Die Polizistin gab weitere Anweisungen: »Alles schön langsam. Angst muss keiner haben.«

Sie zogen Gummihandschuhe über und traten in den Flur. Gegenüber der Tür standen zwei hohe Holzregale, die Fächer leer bis auf ein paar zerfledderte Sofakissen.

»Herr Segert?«, rief Julia Räker. »Hallo? Herr Segert?«

Keine Antwort.

Auf ihr Kopfnicken hin zog Wolfgang einen Rollladen hoch. Frühlingssonne fiel in den Flur. Die kühle Luft vertrieb den allerschlimmsten Mief.

Der Korridor setzte sich nach links mit weiteren Regalen fort. Überall hatten die Katzen ihre Spuren hinterlassen. Jede Wand war bis zum Mauerwerk abgekratzt, der Boden bedeckt mit verpappten Tapetenresten und Holzspänen.

»Immerhin.« Nora Onning wies auf einige Wannen mit frischer Streu. »So wie das stinkt, dachte ich, alles ist komplett zugekackt.«

Die Gruppe ging weiter den Flur entlang. Links war eine Treppe, rechts lag ein Zimmer mit weit geöffneter Tür.

»Herr Segert?«

Wieder nichts.

Julia Räker tastete nach dem Lichtschalter. Eine Leuchtstoffröhre flackerte auf.

»Die Küche …?«, sie stockte. »Na ja, wohl eher: die ehemalige Küche.«

Wolfgang nickte. »Ist bestimmt besser, wenn hier keiner mehr kocht.«

Alle starrten fassungslos in den Raum: in der Mitte ein einsamer Holzstuhl mit ramponiertem Sitz. Ansonsten Näpfe, Näpfe, Näpfe. Auf sämtlichen Schränken, auf dem Elektroherd und auf dem Boden.

Regine Groote sprach aus, was alle dachten: »Seltsam für jemanden, der Kochbücher schreibt.«

»Er schreibt ja keine mehr«, wandte ihre Kollegin ein.

»Und das ist auch gut so.« Wolfgang bahnte sich den Weg zum Fenster, zog die Jalousien hoch und öffnete die Fensterflügel. »Möchte jemand in die Schränke gucken? Oder in den Kühlschrank? Unser werter Exminister ernährt sich angeblich ja nur noch von Weizenschrot, Bananen und Traubensaft. Wir könnten das jetzt alle zusammen hochoffiziell überprüfen.«

Niemand wollte.

Sie gingen weiter und stießen auf eine Tür mit Glaseinsatz. Der Raum dahinter lag im Dunkel.

»Wird wohl das Wohnzimmer sein.« Julia Räker drückte die Klinke und schob die Tür eine Handbreit auf. »Hallo? Herr Segert?«

Keine Antwort.

Der ist tot!, durchfuhr es Annette. Er hat sich umgebracht aus Angst und Verzweiflung. Die anderen schwiegen. Vermutlich hatten sie alle den gleichen Gedanken.

»Also dann!« Julia Räker stieß die Tür auf. Aus dem Flur fiel Licht in den vorderen Teil des Raums, der Rest lag im Halbdunkel.

»Herr Segert?«

Stille.

Doch dann ein Räuspern. Gefolgt von einem Knacken und Knirschen.

»Ja doch«, sagte eine raue, undeutliche Stimme. »Sie haben mich gefunden.«

Wieder das Knacken, dann lautes Kauen. »Sie stören mich bei meiner Zwischenmahlzeit. Das ist unhöflich. Sehr, sehr unhöflich. Ich habe aber natürlich längst mit Ihnen gerechnet. Die Kugel trifft. Und wie sie trifft! Darf ich fragen, wie viele Sie sind?« Das musste Segert sein. Offenbar aß er Nüsse.

»Guten Tag«, erwiderte Julia Räker sachlich. »Sind Sie Herr Hansjoachim Segert, geboren 1961 in Mainz?«

Er brauste auf: »Ich habe zuerst gefragt! Ich will eine Antwort!«

Nein. An Segerts Geisteszustand gab es keine Zweifel mehr. Die Polizistin blieb unbeirrt. »Wir sind insgesamt zehn. Ein Kollege von mir und ein Herr vom Schlüsseldienst warten draußen. Hier drinnen sind wir zu acht.«

Segert schien beschwichtigt. »Küss die Hand, Frau Wachtmeister. Tut mir leid, dass ich Sie nicht mit korrektem Dienstgrad anspreche. Aber es ist hier so dunkel. Da kann ich die Sternchen auf Ihrer Schulter nicht zählen. Und ein paar Astronauten haben Sie auch mitgebracht.« Er zeigte mit einem hämischen Kichern auf die Frauen in den Schutzanzügen.

»Nein, Herr Segert. Diese Damen werden sich um Ihre Katzen kümmern. Und dann sind hier noch Herr Remschmidt vom Ordnungsamt und Frau Dr. Bäumler, unsere Fachärztin vom Gesundheitsamt …«

»Hören Sie auf! Ich will mich nicht mit Ihnen anfreunden. Statt rumzuquatschen, lassen Sie doch bitte das heitere Licht des Frühlings herein. Und lüften Sie gut durch. Im Flur und in der Küche haben Sie das ja auch schon getan. Ohne meine Erlaubnis. Sie bezeichnen sich als Katzenfreunde, aber den Geruch ertragen Sie nicht.«

Kommentarlos öffnete Wolfgang die Jalousien, das Fenster und die Terrassentür. Sie atmeten auf – außer Segert. Er war gegen den Gestank offenbar längst immun.

Annette sah sich um. Die einstige Wohnkultur ließ sich allenfalls noch erahnen. Parkett und Wände waren zerkratzt. Aus dem Sitzpolster eines Sessels quoll die Füllung. Im zweiten Sessel saß Segert. Annette wunderte sich. Der Exminister bot eine gepflegte Erscheinung: frisch gewaschenes graumeliertes Haar, sauberer Sportanzug, Polo-Hemd. Offenbar kam er regelmäßig mit Wasser und Seife in Berührung. Annette schöpfte Hoffnung. Vielleicht würde er sogar freiwillig mit in die Klinik kommen.

Auf seinem Schoß döste eine schwarze Katze. Zwischen ihren Vorder- und Hinterläufen lag eine kleine Schüssel mit Trockenfutter. Leckerlis für seinen Liebling. Annette dachte an den Spruch vom Tier als Kindersatz.

»Warum haben Sie nicht auf unsere Schreiben geantwortet?«, fragte Wolfgang. »Wir haben Ihnen Hilfe angeboten, Herr Segert.«

Er schnaubte wieder. »Wenn ich schon kapitulieren muss, dann mit Rückgrat. Sie nehmen mir die Katzen sowieso weg. Soll ich da vorher einen höflichen Schriftwechsel mit Ihnen pflegen?«

»Zumindest hätten wir dann nicht mit Polizei und Schlüsseldienst anrücken müssen.«

»Ach was! Tun Sie doch nicht so. Ich liebe meine Katzen, aber Sie sehen das nicht ein.«

»Herr Segert, wir glauben Ihnen ja, dass Sie die Tiere lieben.« Regine Groote nahm ihre Kapuze ab. »Zum Beispiel den kleinen Schwarzen auf Ihrem Schoß. Wie heißt der denn?«

Offenbar traf sie den richtigen Ton.

»Das ist mein Mafed«, sagte Segert sanft.

»Mafed. Wie der ägyptische Katzengott.«

»Respekt, Sie kennen sich aus.« Er kraulte dem Kater den Hals. »Mafed ist ja mein kleiner Gott. Alle Katzen sind Götter für mich. Aber bitte, tun Sie Ihre Pflicht. Nur glauben Sie nicht, dass ich Beifall klatsche.«

»Ihre Tiere werden es gut haben«, versprach Regine Groote. »Wir versorgen sie medizinisch und vermitteln sie an liebevolle Pflegestellen.«

»Was ich ja wohl erwarten kann. Eine gute Pflege ist das Mindeste. Das Allermindeste!« So rasch wie Segert aufgebraust war, ließ er sich im Sessel zurückfallen und griff in die Schale mit Trockenfutter. »Mafed, mein Schatz? Was sagst du dazu?«

Der Kater reagierte nicht, die Besucher allerdings erstarrten: Das Futterstück landete nicht in Mafeds Maul, sondern in Segerts Mund. Es knackte, er kaute laut und amüsierte sich. »Viel Vitamin B und gut für die Zähne. So bleiben sie schön blank.«

Annette fand als Erste die Sprache wieder. »Essen Sie oft Katzenfutter, Herr Segert?«

»Ja. Sehr schmackhaft. Fast wie Kartoffelchips, aber längst nicht so salzig. Besonders diese Sorte: echtes Kalb. Nun gut. Eigentlich bin ich ja Vegetarier, aber Sie gönnen mir sicher eine Ausnahme.«

»Selbstverständlich«, entgegnete Annette trocken.

»Danke. Die Ringe mit Hühnchengeschmack sind übrigens auch ganz lecker. Nur Fisch mag ich nicht so gern.« Er hielt ihr die Schale hin. »Kosten Sie mal.«

Annette lehnte dankend ab und sparte sich jede Diskussion. Sie wollte Segert nicht provozieren. Der Patient isst Katzentrockenfutter bewusst und aus voller Überzeugung, so würde sie das später in ihren Bericht schreiben.

Regine Groote, die eben noch so geduldig mit Segert gesprochen hatte, verdrehte die Augen. Offenbar ging ihr seine Verrücktheit nun doch zu weit. Sie setzte Mundschutz und Kapuze wieder auf. »Ab in den Garten, liebe Kolleginnen. Es ist viel zu tun.«

Nora Onning zögerte. »Da ist doch noch etwas.« Sie kniete sich unter den Tisch und zog eine Box hervor, aus der leises Miauen kam.

»Alle Achtung«, spottete Segert. »Sie sind ja eine richtige Spürnase. Da drin sind ein Muttertier und vier Kleine. Anderthalb Wochen alt. Übrigens der erste Wurf dieses Frühjahr, und den zweiten gibt es auch schon.«

»Wo?!«

Segert kaute den nächsten Ring mit Kalbsaroma und zeigte auf den anderen Sessel. »Dahinter. Ein halbes Dutzend. Ein paar Tage alt und ganz gesund.«

Die Tierheimleiterin stürzte zum Sessel und holte die Box hervor. Auf den Inhalt warf sie einen knappen Blick.

»Ich untersuche sie draußen.« Nora Onnings Unterlippe zitterte. »Und übrigens: Solche Plastikkäfige sind nur für kurze Transporte. Darin kann man die Tiere nicht dauerhaft halten. Das ist viel zu eng.«

»Wieso? Die Kätzin bekommt gutes Futter, und sie säugt ihre Jungen. Mir ist mal ein Muttertier abgehauen, und die Kleinen sind alle verreckt. Dann doch lieber in einer sicheren Box.«

Nora Onning antwortete nicht. Mit unbewegter Miene brachte sie die Boxen hinaus.

»Und?« Segert wandte sich Annette zu. »Was planen Sie jetzt mit mir?«

»Wir bringen Sie in die Klinik. Meine Kollegen in Stralsund wissen schon Bescheid.«

Segert schwieg ein paar Sekunden, dann fragte er: »Und meinen Mafed? Muss ich den auch abgeben?«

»Ja.«

»Kann ich keine Katze behalten? Nicht eine einzige?«

»Leider nein«.

Er schüttelte sich kurz, packte den Kater im Nacken und hielt ihn Annette hin.

»Nehmen Sie ihn mit! Schnell!«

Annette zögerte. Wolfgang kam ihr zu Hilfe und trug Mafed nach draußen. Regine Groote beförderte ihn sanft in eine Box.

Wieder änderte sich Segerts Stimmung. Er schluchzte auf, ohne eine Träne zu vergießen. »Bloß nicht ins Versuchslabor. Meine Katzen sollen zu lieben Menschen.«

Annette beruhigte: »Dafür sorgen die Damen vom Tierschutz ganz bestimmt. Und jetzt packen Sie bitte Ihre Sachen. Wo ist denn Ihr Kleiderschrank?«

Er fuhr sich mit einem Taschentuch durchs Gesicht. »Oben im Schlafzimmer.«

»Wir begleiten Sie.«

Er stellte die Schale mit dem Trockenfutter beiseite und ging die Stiege hoch. Wolfgang, Annette und Oberkommissarin Räker folgten. Auch auf dem oberen Treppenabsatz herrschte Chaos, zwischen Näpfen und Wannen ließ sich kaum ein Fuß vor den anderen setzen.

»Hier kommt mir keine Katze rein.« Segert zeigte auf eine Tür. »Die ist aus Stahl. Habe ich mir extra einbauen lassen. Hier ist nämlich die Grenze. Ich liebe meine Tiere, aber ich lasse sie nicht bei mir schlafen, dahinter liegt der gesperrte Bereich. Und der ist aufgeräumt.«

Sieh an!, dachte Annette. Auch Wolfgang und die Polizistin staunten. Segert konnte also Grenzen ziehen. Vielleicht war er doch nicht so krank wie befürchtet.

Er stieß die Tür zu einem hellgrau gekachelten und blitzblank geputzten Badezimmer auf. Rollläden gab es hier nicht, durch eine Milchglasscheibe fiel Morgensonne. »Schön, nicht wahr? Stammt noch von der Vorbesitzerin.«

Dann standen sie in einem kleinen Schlafraum: hellgelb gestrichene Raufasertapete, ein Kleiderschrank in weißem Mattlack, dazu passend ein Standregal, vollgestellt mit Spielzeugautos, ein Einzelbett mit Matratze, doch ohne Kissen oder Decke, und ein kleiner Schreibtisch samt Stuhl.

»Sie dürfen gern staunen«, erklärte Segert halb belustigt, halb arrogant. »Das Zimmer habe ich selbst möbliert. Es wurde schon lange nicht mehr benutzt. Wie Sie wissen, lebe ich sehr zurückgezogen.«

»Woher stammen denn die Spielzeugautos?« Annette wies auf das Regal.

Er lächelte. »Aus meiner Kindheit. Ich konnte mich nicht davon trennen.«

»Also eine schöne Erinnerung.«

»Ja, Frau Doktor«, freute er sich. »Und ich zeige Ihnen noch mehr. Bitte mitkommen. Voilà!«

Wieder stieß er eine Tür auf – wieder staunten sie: Unter der Schräge stand ein Doppelbett, ausgestattet mit Decken und Kissen, sauber bezogen. Hatte er hier ursprünglich ein Leben zu zweit geplant? War ihm eine Frau weggelaufen? Hatte er sich deswegen zum Eigenbrötler entwickelt und Katzen gehortet? Oder stammte das breite Bett ebenfalls noch von den Vorbesitzern, die ihm das Haus samt Inventar verkauft hatten? Annette wagte nicht zu fragen.

»Und wenn Sie bitte meine kleine Sammlung im rechten Regal beachten. Alles vegetarisch.«

In seiner Stimme lag Stolz. Annette, Wolfgang und die Polizistin beugten sich hinunter zu den Büchern. Hajo Segert:Große Menüs, Hajo Segert: Schnell und gut für jeden Tag, Hajo Segert: Ein Fest für Gäste und noch weitere Bände.

»Sehr beachtlich«, lobte Annette. »Wollen Sie denn noch mehr Kochbücher schreiben?«

Er kicherte. »Wenn ich Zeit dazu finde in der Klinik.«

Nun schmunzelten alle – das Eis schien gebrochen.

Segert genoss die Anerkennung. Er zog zwei Rollkoffer unterm Bett hervor und öffnete die Schranktüren. Hemden, Hosen und Anzüge auf der Stange – Leibwäsche und Schlafanzüge in den Fächern. Alles sauber und sorgfältig gestapelt. »Ich beeile mich auch.« Er packte systematisch: die Schuhe nach unten, dann Schicht auf Schicht, die Socken in die Lücken.

Annette lächelte. Lief ja alles wie geschmiert! Und was machten die Kollegen im Garten? Sie warf einen Blick aus dem Fenster. Zwei Katzenfängerinnen waren dabei, ein Jungtier unter einem Busch hervorzuziehen. Es wand sich im Klammergriff der Frauen und landete wohlbehalten in einer Box.

Im Schlafzimmer holte Segert einen schwarzen Anzug aus dem Schrank. »Den nehme ich auch mit.«

»In die Klinik?«, fragte Annette. »So was Feines brauchen Sie da wahrscheinlich nicht. Aber wenn Sie sich darin wohlfühlen, nehmen Sie ihn mit. Vielleicht gibt es ja mal einen festlichen Anlass.«

»Na, das hoffe ich doch«, kichernd packte Segert den Anzug ein, holte sein Waschzeug und erklärte sich für reisefertig.

Sie stiegen die Treppe hinunter.

»Darf ich mir noch etwas wünschen, Frau Doktor?«

»Bitte schön.«

»Ich würde so gern die Kalbfleischringe mitnehmen.«

Annette holte die Schale mit dem Trockenfutter aus dem Wohnzimmer. Segert zog eine kleine Tüte hervor und füllte den Inhalt ab.

Vor der Haustür stand immer noch der Schlossermeister in Bereitschaft. Wolfgang verabschiedete ihn dankend und nickte Annette zu. Sie bestellte den Krankenwagen.

»Herrlich, die frische Luft.« Segert ließ seinen Blick durch den Garten schweifen.

Von frischer Luft konnte keine Rede sein, fand Annette. Nach wie vor stank es nach den Exkrementen der Tiere, doch das war ihr jetzt egal. Segert kam freiwillig mit, ohne Gegenwehr. Zwar hielt sie ihn nicht für geschäftsfähig, er würde einen juristischen Betreuer brauchen, doch darum sollten sich die Kollegen in der Klinik kümmern. Für Annette war es geschafft.

Sie sah hinüber zum Zaun. Polizeioberkommissar Beer bewachte die Pforte, während die Frauen vom Tierschutz und vom Veterinäramt nach und nach die Boxen mit den gefangenen Katzen zum Wagen trugen. Als Beer seine Kollegin Julia zusammen mit den anderen vorm Haus sah, kam er herüber. Annette, immer noch erleichtert über den gelungenen Einsatz, lächelte ihm entgegen. Der will uns bestimmt fragen, wie das Kofferpacken war, dachte sie – doch es kam anders.

Beer baute sich direkt vor dem Exminister auf: »Herr Segert, ich nehme Sie jetzt in Handfesseln. Reine Vorsicht.«

Annette stutzte. Was war los? War das abgesprochen? Was hieß reine Vorsicht? Mit Wolfgang tauschte sie ratlose Blicke, und selbst die Polizistin schien nicht zu wissen, was vor sich ging.

Segert jedoch zeigte keine Spur von Verwunderung. Kichernd hielt er beide Unterarme hin. »Bekomme ich auch was für die Füße?«

»Wohin sollten Sie denn laufen?« Beer schloss die Ringe. »Sie hätten sowieso keine Chance.«

»Handschellen!«, amüsierte sich Segert. »Das trifft, das trifft!«

Beer winkte seine Kollegin heran. Die beiden besprachen sich leise.

»Wie geht es hier weiter?«, fragte Annette.

Beer hob die Hand. Moment noch!, sollte das wohl heißen. Neben ihm schnitt Segert schweigend Grimassen.

Kurz darauf begleitete Julia Räker die Katzenfängerinnen durch die Gartenpforte. Auch die fünf Frauen verstanden offenbar nicht, was vor sich ging. Warum mussten sie das Grundstück verlassen? Kommentarlos kehrte Julia zum Hauseingang zurück, nickte Annette zu und legte den Finger an die Lippe. Dann gab sie ihrem Kollegen ein Zeichen.

»Nun zu Ihnen, Herr Segert.« Beer hob die Stimme. »Zwei weitere Streifenwagen und die Kripo sind schon unterwegs. Vor einer Viertelstunde habe ich nämlich etwas entdeckt. Bei Ihnen im Garten.«

Segert kicherte. »Bestimmt der Katzenfriedhof. Aber ich bin unschuldig. Die sind alle bei der Geburt gestorben. Oder an Altersschwäche.«

»Dann sehen wir uns das doch mal zusammen an.«

Sie führten Segert in den hinteren Teil des Gartens. Vorm kahlen Beet mit den Holzkreuzen hielten sie an. Annette wandte den Kopf und blickte hoch. Heiko Raabe am Dachfenster beobachtete noch immer die Szene.

In einer Reihe standen sie vor den Holzkreuzen: Segert in der Mitte, zu beiden Seiten die Polizisten, ganz außen Wolfgang und Annette.

»Hier haben Sie also Ihre Katzen begraben?«, fragte Beer. »Jede einzeln?«

»Nein«, wurde Segert unerwartet ernst. »Manchmal auch im Familiengrab. Wenn es mehrere aus einem Wurf nicht geschafft haben. Nicht alle überleben. So ist nun mal die Natur.«

»Stimmt. Nicht alle überleben. Dann gucken wir mal ein paar Meter weiter.«

Segert wehrte sich nicht. Sie gingen nach links, vorbei an einem Komposthaufen. Wieder schaute Annette nach oben. Von hier aus konnte man Heiko Raabe am Fenster nicht mehr sehen.

Sie drehte sich um und erschrak. Neben dem Kompost lag auf dem Boden ausgebreitet eine grüne Plastikplane, etwa zwei mal drei Meter groß, an den Seiten mit Steinen beschwert. Darunter lag etwas. Nein. Jemand.

Segert kicherte noch immer. »Die Kugel trifft. Die Kugel trifft.«

Er verstummte. Seine Miene erstarrte. Als die Polizisten die Steine beiseitegeräumt hatten und die Plane anhoben, musste Annette würgen.

Das Doppeldorf