Höhlenflüstern - C.K. Jennar - E-Book

Höhlenflüstern E-Book

C.K. Jennar

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Beschreibung

Ein ganzes Dorf hasst sie! Die gesamte Gemeinde gibt ihr die Schuld! Dabei war sie doch selbst noch ein Kind.

Als Fiona Hickey vor 20 Jahren ihr Heimatdorf verließ, trauerte nur ihre kleine Schwester. Jetzt, kaum dass sie zurückgekehrt ist, verschwindet Sheila plötzlich auf mysteriöse Weise. Etwas Unheimliches geht in dem kleinen Dorf an der irischen Südwestküste vor.

Tief in einer abgelegenen Höhle im stürmischen Meer verbergen sich Antworten, die niemand je finden soll. Fiona erkennt schnell, dass die düsteren Lügen keinen verschonen, erst recht nicht sie selbst. Um ihre Schwester zu finden, muss sie nicht nur kriminelle Machenschaften aufdecken, sondern sich auch ihrer eigenen Vergangenheit stellen. Doch die Wahrheit hat ihren Preis – und könnte das Leben aller kosten.

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Veröffentlichungsjahr: 2025

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Inhaltsverzeichnis

Über das Buch

Dein Leseglück ist mein Ziel!

TEIL I:

Schuldig

Rückkehr zum Albtraum

Teenagersünden

Alte und neue Geheimnisse

Bittere Erkenntnis

Rollentausch

Aussichtslos

TEIL II:

Rückkehr der Schwester

Gefährliches Spiel

Schuld und Sühne

Düstere Entdeckungen

TEIL III:

Wiedervereinigung

Alte Relikte

Zeit für die Wahrheit

Imbolc

Epilog

Danksagung

Anhang

Glossar

Meine Fotos

Über die Autorin

Deine Zufriedenheit ist mein Ziel!

Weitere Bücher von C.K. Jennar

Impressum

C.K. Jennar

Höhlenflüstern

Die Wahrheit liegt im Dunkeln! | Irland Thriller

Über das Buch

Ein ganzes Dorf hasst sie!

Die gesamte Gemeinde gibt ihr die Schuld!

Dabei war sie doch selbst noch ein Kind.

Als Fiona Hickey vor 20 Jahren ihr Heimatdorf verließ, trauerte nur ihre kleine Schwester. Jetzt, kaum dass sie zurückgekehrt ist, verschwindet Sheila plötzlich auf mysteriöse Weise. Etwas Unheimliches geht in dem kleinen Dorf an der irischen Südwestküste vor.

Tief in einer abgelegenen Höhle im stürmischen Meer verbergen sich Antworten, die niemand je finden soll. Fiona erkennt schnell, dass die düsteren Lügen keinen verschonen, erst recht nicht sie selbst. Um ihre Schwester zu finden, muss sie nicht nur kriminelle Machenschaften aufdecken, sondern sich auch ihrer eigenen Vergangenheit stellen. Doch die Wahrheit hat ihren Preis – und könnte das Leben aller kosten.

Dein Leseglück ist mein Ziel!

Lieber Leser, liebe Leserin,

ich freue mich, dass Du dieses Buch erworben hast. Vielen herzlichen Dank. Kunst ist ein brotloses Unterfangen, heißt es. Ich kann bestätigen, dass es gar nicht so einfach ist, vom Schreiben leben zu können. Aber da es meine Leidenschaft ist, freue ich mich über jeden Verkauf!

Dennoch möchte ich, dass mein Buch für Dich zu einem einzigartigen und wundervollen Leseerlebnis wird. Deswegen liegt mir Deine Meinung ganz besonders am Herzen!

Ich würde mich über Dein Feedback zu meinem Buch freuen! Hast du Anmerkungen? Gibt es Kritik? Bitte lass es mich wissen. Deine Rückmeldung ist wertvoll für mich, damit ich in Zukunft noch bessere Bücher für Dich schreiben kann.

Schreibe mir gerne: [email protected]

Nun wünsche Dir viel Freude mit diesem Buch!

C.K. Jennar

TEIL I:

Schuldig

Fiona

Ihr taten die Beine weh. Sie hatte keine Ahnung, wie viele Stunden sie bereits da stand, unzählige Hände schüttelte und sich nicht traute, in die Augen der Besitzer zu schauen. Manche murmelten etwas, andere entrissen ihre Hand so ruckartig, als hätte sie eine ansteckende Krankheit. Als würde die Berührung der kleinen Mädchenhand das Unglück auf sie übertragen. Niemand wagte es, ohne Handschlag an ihr vorbeizutreten. Obwohl Fiona wusste, dass es die meisten gerne getan hätten. Aber das gehörte sich nicht bei einer Aufbahrung.

Ihre Kehle war trocken. Dennoch konnte Fiona nicht durch die Nase atmen. Der Gestank im Raum ließ ihren Magen rebellieren. Es war der Geruch des Todes. Ihres Todes. Fiona schluckte schwerfällig und starrte wie schon die letzten Stunden auf den gelben Fleck vor ihren Füßen. Inmitten des grauen Teppichs war der Farbklecks ihr einziger Lichtblick, der ihr für diesen Moment Erlösung bot. Er war ihr Zufluchtsort an dieser ersten Station der Hölle.

Fiona hätte nicht gewusst, wohin sie sonst schauen sollte. Den Ausdruck der Gesichter direkt vor ihren Augen konnte sie nicht ertragen. Rechts vor ihr sammelten sich die Trauergäste auf den Wartebänken und murmelten leise weiter. Sie wusste, dass sie auch von dort verstohlene Blicke zu ihr herüberwarfen. Sie konnte sie spüren. Fiona wollte sie nicht sehen. Links von ihr lag die leblose Hülle. Auch diesen Anblick hätte Fiona unter keinen Umständen ertragen können, ohne wieder in Tränen auszubrechen. Sie hatte schon so viel geweint. Aber es hatte nicht geholfen. Im Gegenteil. Ihre Tränen schienen alles schlimmer zu machen. Denn Fiona glaubte, dass sie ihr nicht zustanden.

Weitere Menschen kamen, weitere Hände schoben sich in ihre. Am Anfang hatte Fiona sie noch gezählt. Ihre Gedanken waren schnell durcheinandergeraten. Alles, was Fiona jetzt noch spüren konnte, waren ihre schmerzenden Beine. Es war eine viel zu schwache Strafe für ihre Schuld.

Irgendwann ließ der Menschenstrom nach. Das Gemurmel im Raum verblasste. Bis niemand mehr kam, um seine Hand in die ihre zu schieben. Fiona wagte es immer noch nicht, aufzuschauen. Selbst als sich eine Hand auf ihren Rücken legte und sie drängte, ihre schmerzenden Beine zu bewegen, starrte sie weiter auf den Boden. Der gelbe Fleck war irgendwann aus ihrem Sichtfeld verschwunden. Der graue Teppich ging in einen genauso grauen Betonboden über. Kieselsteine folgten, dann die dreckige Fußmatte des Wagens. Vor Fionas innerem Auge tanzte der gelbe Fleck weiter. Sie brauchte ihn, um auch die zweite Station der Hölle zu ertragen.

In der Kirche schwoll das Gemurmel zunächst wieder zu einem lauten Dröhnen an, bevor der Pfarrer sein Wort erhob. Fiona hörte nicht hin. Sie wollte nicht wissen, was er zu sagen hatte. Trost konnte er ihr nicht spenden.

Um sie herum begann der Gesang und verebbte nach einiger Zeit. Fiona stand auf, wenn die Menschen um sie herum aufstanden und setzte sich, wenn alle anderen es taten. Sie folgte als braves Mädchen ihrem Nachbarn auf die Kniebank und zurück. Bei allem konzentrierte sie sich ausschließlich auf den gelben Fleck in ihrer Erinnerung. Bis sich zum zweiten Mal eine Hand auf ihren Rücken legte. Sie signalisierte ihr, aufzustehen und folgsam zu sein.

Auf dem Weg hinaus bemerkte sie den kalten Wind an ihren Händen. Er machte ihr nichts aus. Es war die Kälte auf ihrer Seele, die sie frieren ließ. In Augenblicken wie diesem war sich Fiona sicher, dass sie nie wieder wohlige Wärme spüren würde. Sie hatte sie nicht verdient.

Plötzlich drang ein Klageschrei an ihr Ohr, der so schmerzerfüllt war, dass es Fiona tief ins Mark erschütterte. Ihre Trance wich mit einem Ruck. Erst jetzt spürte sie die große Hand, die ihre hielt. Sie schaute auf und starrte erschrocken in das von Tränen überströmte Gesicht zu ihrer Linken. Noch nie hatte Fiona ihren Vater so weinen sehen. Noch nie hatte sich seine Hand in ihrer so falsch angefühlt. Fiona riss sich los, wandte ihren Blick ab. Beinah wäre sie losgelaufen, doch die Szenerie vor ihren Augen ließ sie innehalten. Fiona sah den Sarg langsam im Erdloch hinabtauchen. Mit ihm verschwand sie endgültig. Nur der Geruch blieb. Der Gestank des Todes würde für immer an ihr haften.

Verzweifelt versuchte Fiona, den gelben Fleck ihrer Erinnerung wieder heraufzubeschwören. Er war verschwunden. Stattdessen sah sie nun auch mit geschlossenen Augen die Gesichter voller Entsetzen, Trauer und Vorwürfen vor sich. Niemand sprach es aus. Es würde keiner wagen, ein junges Mädchen offen damit zu konfrontieren. Doch ihre Blicke verrieten sie alle: Sie gaben ihr die Schuld.

Jetzt konnte Fiona ihre Tränen nicht mehr zurückhalten. Denn etwas war noch viel schlimmer als die stummen Vorwürfe. Es war die Hölle für ihr restliches Leben, weil die vorwurfsvollen Blicke recht hatten: Sie war schuldig!

Rückkehr zum Albtraum

Ein Hupen holte sie aus ihren Gedanken. Erschrocken blickte Fiona in zwei grelle Scheinwerfer vor sich. Automatisch riss sie das Lenkrad herum. Die Reifen quietschten. Wie durch ein Wunder gelangte sie gerade noch rechtzeitig zurück auf ihre Fahrbahn.

Fiona trat so abrupt auf die Bremse, dass ihr Körper in den Anschnallgurt gedrückt wurde. Ein weiteres Hupen ertönte. Fiona zuckte abermals zusammen und ließ sofort wieder vom Bremspedal ab. Der Blick in den Rückspiegel verriet, dass das Auto hinter ihr gefährlich nah gekommen war. Das war knapp. Fiona setzte den Blinker und fuhr an den Straßenrand. Ein älterer Herr warf ihr beim Überholen einen wütenden Blick zu und hob drohend die Faust. Dann war er schon verschwunden.

Fiona ließ die Stirn auf das Lenkrad sinken.

Durchatmen, befahl sie sich. Einmal tief durchatmen und beruhigen!

Das Adrenalin in ihren Adern ließ ihren Puls rasen und trieb Schweißperlen auf ihre Stirn. Ihre Hände zitterten. Das wäre beinah schief gegangen. Zu einer anderen Zeit wäre der Ring hier viel befahrener gewesen. Touristenströme würden den Asphalt bevölkern, um die Strände Kerrys zu entdecken. Auf die Gegenfahrbahn zu geraten, hätte unweigerlich in einem Unfall geendet. An einem Nachmittag Ende Januar, an dem bereits die Dunkelheit wieder über die Küste Irlands hereinbrechen wollte, hatte Fiona reines Glück gehabt. Sie richtete sich langsam auf und blickte auf die verwaiste Landstraße. Wahrscheinlich waren die anderen beiden Autos die einzigen, die außer ihr auf dem Ring unterwegs waren.

Wer wollte auch schon hier sein, dachte Fiona grimmig. Sie wollte es nicht, sie wollte niemals wieder nach Caherdaniel zurückkehren. Fiona hatte sich geschworen, dieses Haus am Ende der Landzunge von Lambs Head nie wieder zu betreten. Dieser Vorsatz hielt fast ein Vierteljahrhundert. Dennoch war sie auf dem Weg eben dort hin. Weil sie es musste.

Schlecht gelaunt klappte Fiona die Sonnenblende um und schaute in den Spiegel. Ihr rotes, kurzes Haar wirkte zerzaust, ihre grünen Augen matt. Unter ihnen hatten sich dunkle Ringe ausgebreitet, die sie älter aussehen ließen, als sie war. Mit 41 sollte keiner solche Augenringe haben. Sie sollte auch nicht so dürr sein, dass überall Knochen an ihrem Körper hervorragten. Allen voran die Wangenknochen, die ihr Gesicht ausgemergelt erscheinen ließen. Beides war das Ergebnis der schlaflosen Nächte. Als hätte sie nicht schon genug Schlafprobleme, waren die Albträume on top zurückgekehrt.

Kein Wunder, dachte Fiona noch missmutiger. Es waren schwere Tage gewesen. Ihre Mutter Eleonore hatte einen langen Todeskampf im Altersheim durchlitten. Fiona mit ihr. Es war niemand anderes da gewesen. Es lag an ihr, das Haus auf Vordermann zu bringen, um es für den Verkauf herauszuputzen. Selbst darin zu wohnen kam für Fiona niemals infrage. Sheila würde es sofort tun. Aber Sheila konnte es sich nicht leisten.

Fionas Stimmung verdüsterte sich bei den Gedanken an ihre Schwester noch mehr. Einmal hatte sie sich im Altersheim blicken lassen. Ein einziges Mal vor Monaten. Seither war wie immer von ihr nichts zu sehen oder zu hören gewesen, bis zur Beerdigung. Auch vor der Arbeit im Haus würde sie sich drücken, so gut sie konnte. Dabei wohnte Sheila immer noch in Caherdaniel.

Gereizt lenkte Fiona ihr kleines Auto wieder auf die Straße. Jetzt war es nicht mehr weit. Müde rieb sie sich die Augen und stoppte auf dem Parkplatz vor der Kirche. Fiona stieg aus. Sie vermied es, ihren Blick schweifen zu lassen. Nein, sie wollte all das nicht sehen. Der Geruch von Torf stieg unweigerlich in ihre Nase. Fiona konnte ihn nicht leiden. Er brachte immer ungebeten die Erinnerung an vergangene Tage zurück. In der Straße ihres Reihenhauses in Cork feuerte niemand mehr den Ofen mit Torf an. Hier draußen auf dem Land schienen sich manche Dinge eben nie zu ändern.

»Wenn das nicht Fiona Hickey ist«, dröhnte es quer über den Platz. Fiona schaute zur Kirche hinüber und erblickte eine gekrümmte Gestalt im schwarzen Anzug und einer Tweedjacke darüber. Sie konnte die blauen Augen sogar über den Platz hinweg funkeln sehen.

»Pater Matthew.« Sie nickte und trat langsam auf ihn zu. »Ich wusste gar nicht, dass sie die Gemeinde immer noch betreuen?«

»Aye.« Der Greis winkte mit der Hand durch die Luft. »Ich werde nirgendwo mehr hingehen, bis der Herr mich zu sich ruft. Dennoch hätte ich nicht erwartet, dich hier je wieder zu sehen.«

Fiona zuckte zusammen. Sie war längst kein Mädchen mehr. Auch diese Ansicht schien sich in so manchen Köpfen auf dem Land eben niemals zu ändern.

»Wie lange ist das jetzt her?«

»Fast 24 Jahre.« Als Fiona es aussprach, erschrak sie selbst. Über zwei Jahrzehnte hatte sie ihre Heimat nicht mehr gesehen. Jetzt stand sie hier und alles wirkte, als habe sich nichts geändert.

»Ich bin wegen des Hauses gekommen. Es soll so schnell wie möglich auf den Markt.« Fiona plapperte nervös, ohne zu wissen, was und warum sie es eigentlich erzählte.

»Verstehe.« Der Pater zupfte sich unbehaglich an seinem Kragen. »Gott habe Eleonore selig. Sie hatte ein beschwerliches Leben.«

Fiona nickte. Sie wusste nicht, was sie darauf antworten sollte. Manchmal war es besser zu schweigen.

»Mrs Fitzpatrick ist drinnen«, sprach der Pater weiter. »Sie hat doch den Schlüssel zum Haus, richtig?«

»Seit wir es an die Touristen vermieten. Ich bin ihr dankbar, dass sie das übernommen hat.« Fiona warf einen Seitenblick hinüber zu dem Häuschen gegenüber der Kirche. Die Fenster waren alle dunkel. Hatte sie etwas anderes erwartet, fragte sie sich.

»Ja, wenn es kein anderer tut, tut es Mrs Fitzpatrick. Sie ist ein wahrer Engel.« Der Pater folgte Fionas Blick und sofort legte sich Verachtung auf sein Gesicht. Fiona wusste genau, woher sie rührte. Er musste nicht aussprechen, dass ihre Schwester Sheila in seinen Augen ein Nichtsnutz war. Wohnte gegenüber der Kirche, benahm sich aber, als würde alles in der Gemeinde sie nichts angehen. Selbst die Ferienvermietung des eigenen Elternhauses war nicht ihre Angelegenheit, wenn das Geld komplett für den Altersheimplatz der Mutter drauf ging.

Fiona riss ihren Blick von den dunklen Fenstern weg und schaute in Pater Matthews Gesicht. Zur Verachtung hatte sich ein anderer Ausdruck gesellt. Konnte sie Sorge darin lesen? Oder war es sogar Angst?

»Tu, was du tun musst, Mädchen. Aber lass dir nicht zu lange Zeit. Du weißt, wie die Leute sind. Es könnte sonst unschön werden.«

»Ich weiß, Pater. Keine Sorge. Ich habe nicht vor, länger als nötig zu bleiben. Sie werden mich schneller wieder los sein, als sie sich umdrehen können.«

»Das wäre das Beste. Dieser Ärger muss nicht wieder hochkochen.«

Nein. Das durfte er nicht, dachte Fiona sofort. Ein zweites Mal würde sie es nicht durchstehen, von einer gesamten Gemeinde angefeindet zu werden.

Mit diesem Gedanken verabschiedete sie sich vom Pater und machte sich auf die Suche nach Mrs Fitzpatrick. Eine halbe Stunde später stellte sie das Auto vor dem Haus ab, das sie vor über 20 Jahren verlassen hatte. Sie starrte die dunklen Umrisse der Mauern an. Das erwartete Erschaudern blieb aus. Hatte das Haus einen neuen Anstrich bekommen?

Die Fahrt über die Straße, die den Namen nicht verdient hatte, war Fiona länger vorgekommen, als sie es in Erinnerung hatte. Kurve um Kurve zog sich die Route die Landzunge entlang, die von mehr Schlaglöchern übersäht war, als Fiona hätte zählen können. Als Kinder waren sie diese Straße unzählige Male zu Fuß entlang gelaufen, um im Dorfshop Süßigkeiten zu kaufen. Jetzt konnte sie sich das gar nicht mehr vorstellen.

Es war längst dunkel. In den letzten Januartagen brach die Dämmerung hier schon am frühen Nachmittag herein. Kaum ein Haus war auf der Landzunge erleuchtet. Die meisten waren Ferienhäuser, die um diese Jahreszeit leer standen. Auch das hatte sich geändert. Zu ihrer Kindheit hatte in jedem Haus eine Familie gewohnt.

Ein Licht konnte Fiona dennoch entdecken. Im Nachbarhaus war Leben. Stand da jemand hinter den Vorhängen und spähte herüber? Fiona wandte den Blick gleichgültig ab. Es interessierte sie nicht, ob die ehemals beste Freundin ihrer Mutter wie eine Spannerin auf der Lauer lag. Die Tage der Freundschaft waren viel zu lange her. Ein ganzes Leben lag dazwischen.

Ein Klingeln ließ sie zusammenzucken. Der Blick auf das Handydisplay ließ Fiona lächeln.

»James. Ich hätte es mir denken können. Ich bin gerade erst angekommen«, sprach sie ohne weitere Begrüßung in die Leitung.

»Und? Wie ist es?«

Fiona zuckte unbewusst mit den Schultern.

»Das Haus sieht verändert aus.«

»Das meine ich nicht und das weißt du.«

Ja, Fiona wusste, was er eigentlich meinte. Aber sie war noch nicht bereit, etwas auf die Frage zu antworten, die James zwischen den Zeilen gestellt hatte.

»Ich weiß es nicht«, antwortete sie ehrlich. »Ich kann es noch nicht sagen.«

Sie atmete tief ein und aus.

»Es wird schon nichts passieren«, raunte er durch die Leitung.

»Das hoffe ich sehr«, flüsterte Fiona zurück. Ihr Gefühl sagte ihr etwas anderes. Auch das Jucken ihrer Narbe auf dem Oberarm, das sich mit jedem Kilometer zurück nach Caherdaniel verstärkt hatte, sagte ihr das Unheil voraus. Aber das wollte sie James nicht schon wieder erzählen.

»Gut. Dann melde dich später, wenn du willst. Ich bin da.«

»Das weiß ich. Danke.«

»Ich liebe dich.«

»Ich dich auch.«

Mit einem Lächeln legte Fiona auf. Es verschwand schnell mit dem Blick auf das Haus vor ihr.

»Was solls«, murmelte sie und schnallte sich ab. Es brachte nichts, das Unvermeidliche vor sich herzuschieben. Fiona war ein letztes Mal zum Ort ihrer Albträume zurückgekehrt. Jetzt gab es kein Zurück mehr!

Das Haus roch muffig. Fiona schlich wie ein Geist durch die Räume. Besser, sie stellte sich den Erinnerungen gleich, dachte sie, bevor diese sie in einem unvorbereiteten Moment übermannen würden. Der erwartete Schock war ausgeblieben. Das Untergeschoss hatte sich derart verändert, dass Fiona kaum noch eine bekannte Ecke fand. Ihr Elternhaus war zu einem Touristenidyll geworden. Statt des kleinen Flurs, des engen Wohnraumes oder der altertümlichen Küche fand sie sich in einem großzügigen Wohnkonzept wieder. Mit seinem hellbraunen Laminatboden, der modernen Küche mit Insel, Essbereich und Ledercouch vor dem Panoramafenster war es ein Traumhaus. Alles war in einem riesig erscheinenden Raum, offen und modern. Die alten Innenwände waren verschwunden.

Fiona stellte sich die glücklichen Familien darin vor: Kinder, die Müslischüsseln auf der Kücheninsel stehen ließen, sich ihre Badehandtücher schnappten und über die Terrasse bis hinunter zum Meer liefen. Der Ausblick vom Haus war fantastisch, würde die Dunkelheit ihn nicht gerade einhüllen. Auch daran erinnerte sich Fiona noch gut. Sie brauchte kein Tageslicht, um sich die Bucht und die letzten Teile vom Derrynane Strand vorzustellen. Auch Abbey Island war von hier aus zu entdecken. Das Meer rauschte in einer gleichgültigen Unablässigkeit und schickte salzige Luft zu ihr herüber.

Im Obergeschoss existierte eine andere Welt. Hier war nichts ausgebaut. Hier gab es die Trennwände und Schlafzimmer noch, die inzwischen zwar moderne Möbel beinhalteten, jedoch immer noch altmodisch wirkten. Ihr altes Kinderzimmer ließ Fiona einen Schauer über den Rücken gleiten, auch wenn die Möbel nichts mehr mit ihrer eigenen Ausstattung gemein hatten. Der Raum reichte. Die Wände waren voller Geschichten. Fiona hastete weiter.

Weiter hinten den Flur entlang gab es verschlossene Türen, hinter denen sich der klägliche Rest des Besitztums der Familie Hickey verbarg. Zusammengepfercht in den Räumen bedeckte Staub das Erbe einer ganzen Familie.

Deswegen war Fiona hier. Es war ihre Aufgabe, die alten Besitztümer zu sortieren. Sie musste entscheiden, was davon auf den Müll gehörte und was noch irgendeinen Wert haben könnte. Fiona fürchtete sich davor. Sie hatte ihr ganzes Leben lang versucht, ihre Erinnerungen zu vergraben. Jetzt musste sie sich ihnen stellen.

Ein Scheppern ließ sie innehalten. Fiona lauschte in das Haus hinein. Für eine Sekunde lang blieb alles still, doch im nächsten Augenblick wiederholte sich das Geräusch. Es kam aus dem Untergeschoss. Fionas Nackenhaare stellten sich auf. Eine Gänsehaut kroch über ihre Arme.

Es war jemand im Haus.

Fiona schaute sich entsetzt in der verstaubten Kammer voller Gerümpel um. Alles Brauchbare, was sie entdecken konnte, war der alte Hurlingschläger ihrer Schwester. Sie schnappte sich ihn und schlich auf Zehenspitzen hinaus. Mit dem Schläger über ihrem Kopf tapste sie die Treppe hinunter, bis sie in den Wohnraum blicken konnte. Sofort ließ Fiona den Schläger wieder sinken.

»Was machst du denn hier?«, fragte sie vorwurfsvoll. An der Kücheninsel saß Sheila, die gerade genüsslich in ein Sandwich biss. Fionas Sandwich, das sie sich unterwegs gekauft hatte.

»Nette Begrüßung«, nuschelte ihre Schwester mit vollem Mund, ohne aufzublicken. »Ich wollte dir helfen.«

»Wer es glaubt«, seufzte Fiona. »Das war mein Abendbrot.«

»Oh. Tut mir leid.«

Es klang keineswegs aufrichtig.

Fiona trat näher und ließ sich auf einen Küchenhocker gegenüber fallen. Sie hatte das Gefühl, in ihr eigenes Gesicht zu schauen. Sheila hatte die gleichen Augen, die gleichen hohen Wangenknochen, ähnliche perfekt geformte Augenbrauen. Sie glichen sich wie Zwillinge, hatten die Leute immer gesagt. In Wahrheit war Fiona elf Monate älter als ihre Schwester. Sheila hatte seit der Jugend auf diesen Umstand beharrt und sich so gut es ging von Fiona abgrenzen wollen. Als Teenager hatte sie begonnen, ihre Haare kurz zu rasieren, schwarz zu färben und sich deutlich dunkler zu schminken. Nietenhalsband, Augenbrauenpiercing und ein dicker schwarzer Lidstrich konnten die Ähnlichkeit jedoch nur übertünchen. Sie waren und blieben irische Zwillinge.

»Was wolltest du denn damit?« Sheila schaute auf ihren alten Hurlingschläger, den Fiona immer noch in der Hand hielt. Sie stöhnte. »Mein alter Schläger? Dein Ernst?«

Fiona legte ihn geräuschvoll auf der Tischplatte ab.

»Ich hatte keinen Besuch erwartet.«

»Gibt es was zu trinken im Haus?« Sheila ignorierte Fionas unterschwelligen Vorwurf, stand auf und trat zu den Küchenschränken. Sie öffnete eine Tür nach der anderen. Bis sie Gläser und eine alte verstaubte Flasche fand, deren Inhalt undefinierbar braun und nicht einladend aussah. Sheila öffnete die Flasche, roch daran und befand das Gebräu für geeignet.

»Du auch?«

»Nein, danke. Ich trinke lieber Wein.«

»Also damit kann ich nicht dienen.«

Sheila setzte sich zurück an die Insel, goss sich eine großzügige Menge ins Glas und kippte sie mit einem Mal hinunter. Sie verzog keine Miene. Fiona erschauderte schon beim bloßen Zusehen.

»Wie geht es den Kindern?«, fragte sie mehr aus Verlegenheit als aus Interesse.

»Michael studiert. Lea ist bei ihrem Vater. Es hat sich nichts geändert.«

Nein, warum sollte das auch, dachte Fiona. Es würde immer das gleiche bleiben. Fiona hatte schon vor einer Ewigkeit aufgegeben, ihre Schwester retten zu wollen.

Nach der Katastrophe hatte sie noch alles Mögliche unternommen, um Sheila vor der schiefen Bahn zu bewahren. Damals war es ihr noch gelungen. Doch damals war lange her. Mit 18 hatte sie Caherdaniel verlassen. Sie hatte keine Wahl gehabt. Sie musste gehen, obwohl Sheila ihr bis heute vorwarf, sie im Stich gelassen zu haben.

Trotzdem war Fiona immer auf dem neusten Stand geblieben, was das Leben ihrer Schwester und ihrer Mutter betraf.

»Und du?« Sheilas Frage riss Fiona aus den Gedanken. »Immer noch kinderlos und dem alten Knacker verfallen?«

Fiona zuckte zusammen. Aus dem Mund ihrer Schwester klang die Zusammenfassung ihres Lebens abfällig. Dabei war es eine bewusste Entscheidung gewesen, keine Kinder zu bekommen.

»James ist kein alter Knacker«, verteidigte sich Fiona sofort. Sheila zog belustigt eine Augenbraue hoch.

»Ach nein? Wie würdest du ihn dann nennen? Reif?«

»Solange man neugierig ist, kann einem das Alter nichts anhaben«, konterte Fiona.

»Ernsthaft?« Sheila lachte laut auf. »Das klingt wie eine Binsenweisheit. Von einer studierten Psychotherapeutin hätte ich jetzt etwas anderes erwartet.« Sie goss sich erneut einen Schluck des Gebräus ins Glas und trank. »Ich sag's doch, ein Studium bringt auch nichts Gutes.«

»Mir hat es meinen Beruf gebracht. Ein erfülltes Leben ohne Sorgen.«

»Ohne Sorgen?« Sheila lachte erneut. »Du hörst dir tagein, tagaus die Probleme von Polizisten an und meinst, dein Leben sei sorgenfrei? Das ist eine schräge Perspektive.«

Fiona seufzte und hob die Hand. Es hätte keinen Sinn, ihrer Schwester ihre Berufung zu erklären.

»Du bist sicherlich nicht gekommen, um über meinen Beruf oder meine Beziehung zu plaudern.« Fiona sprach mit einer betont ruhigen Stimme.

»Nö. Da hast du recht. Wie ist der Plan?« Sheila ließ ihren Blick durch das Untergeschoss schweifen. »Sieht doch ganz passabel aus. Müsste eigentlich nicht viel Arbeit machen und sich schnell verkaufen.«

»Du hast das Obergeschoss vergessen«, erinnerte Fiona sie. »Da wartet die Arbeit. Montag bringt die Entsorgungsfirma den Container, nächsten Freitag holt sie ihn wieder ab. Was bis dahin nicht darin gelandet ist, müssen wir selbst entsorgen. Onkel Liam hat versprochen, am Mittwoch mit den Helfern zu kommen, damit wir nicht alles allein machen müssen. Schwere Möbel schleppen sich doch besser mit mehreren Händen. Bis dahin sollten wir sie ausgeräumt haben.«

Fiona schaute ihre Schwester erwartungsvoll an. Sheila ließ ihren Blick immer noch durch den Raum schweifen, bis sie wieder auf die Flasche blickte.

»Na, dann sind es ja noch ein paar Tage.« Sie goss sich einen letzten Schluck ein. Sheila schüttete ihn mit einem Ruck hinunter und stellte das Glas geräuschvoll auf die Tischplatte. »Ich melde mich, wenn ich Zeit habe. Dann helfe ich dir.«

»Aber …« Fiona kam nicht dazu, ihrer Schwester zu widersprechen. Denn Sheila stand bereits auf und eilte zur Haustür.

»Ich melde mich, aber jetzt habe ich zu tun. Wollte nur kurz hallo sagen«, rief sie noch mal zurück in den Raum, bevor sie endgültig verschwand. Nur zwei Sekunden später hörte Fiona den alten Pick-up aufröhren. Ein Wunder, dass sie seine Ankunft nicht bemerkt hatte.

Fiona schnappte nach Luft. Was für eine Begrüßung. Fiona hätte gern darauf verzichtet. Aber eigentlich war das doch nur typisch für ihre Schwester. Sie kommt kurz vorbei, isst Fionas Abendbrot, bedient sich am Schnaps und verschwindet, ohne irgendetwas geleistet zu haben.

»Was hast du erwartet?«, fragte Fiona sich. Wenn sie ehrlich war, war Sheilas Besuch selbst schon Überraschung genug. Sie hatte erwartet, dass ihre Schwester sich gar nicht blicken lassen würde.

»Es bleibt an dir hängen«, flüsterte sich Fiona zu. »Das wusstest du doch.« Deswegen sollte ich anfangen, dachte sie. Fiona gab sich einen Ruck. Sie stand auf, nahm das Glas und die leere Flasche und räumte alles mit einem Kopfschütteln in die Spüle. Danach griff sie sich den Rest, den Sheila von ihrem Sandwich übrig gelassen hatte und biss hinein. Mit vollem Mund lief sie durch den Raum und machte bereits einen Plan, was sie als Erstes tun würde.

Sie wischte sich wirr die Tränen von der Wange. Fiona hatte gar nicht gemerkt, wie sie herunterrollten, bis sie auf das Papier in ihren Händen getropft waren. Das Gesicht auf dem Foto war sofort verschwommen. Es war ein Foto aus glücklichen Tagen, als alle noch lächelnd in die Kamera geschaut hatten. Alle. Arm in Arm stand die gesamte Familie Hickey stolz vor ihrem Haus und ließ sich ablichten.

Fiona schien es, als wäre diese Erinnerung aus einem anderen Leben und nicht aus ihrem. Viel zu lange war es her. Viel zu anders waren diese Tage gewesen.

Sie saß auf dem Boden zwischen Wohnbereich und Esstisch. Um sie herum lagen zahlreiche Papiere verteilt, Bücher und Ordner hier, Metallschüsseln, altes Porzellan und Besteck dort. Sogar ein alter Pullover ihres Vaters hatte sich in der ersten Kiste befunden, die Fiona nach unten geschleppt hatte. Es war jedoch das Familienalbum gewesen, das unerträglich war. Was sollte sie damit machen? Sie konnte es unmöglich verbrennen. Aber es zu behalten und von Zeit zu Zeit anschauen, war ebenfalls keine Option.

Fiona klappte es zu. Das Geräusch zerriss die ruhige Atmosphäre im Haus, die bisher nur vom sanften Meeresrauschen und einem salzigen Geruch beherrscht war. Sonst war nichts wach um diese Uhrzeit. Es war kurz nach vier Uhr morgens.

Drei Stunden vorher war Schluss mit dem albtraumgeplagten Herumwälzen auf der Couch gewesen. Fionas Geist war hellwach, auch wenn ihr Körper nach Schlaf förmlich schrie. Das war ein Zustand, den Fiona nur allzu gut kannte. Seit Jahren litt sie unter Schlaflosigkeit, keine Schlaftabletten der Welt hatten ihr bisher Herr werden können. In den letzten Wochen war es besonders schlimm geworden. Ihre Albträume waren wieder aufgeflammt und verfolgten sie, als seien sie altbekannte Freunde. Sie hatte klassische Musik gehört, gelesen, sie hatte es mit Stricken versucht, Malen und sogar mit Meditieren. Nichts half. Nacht für Nacht war Fiona wach, wenn der Rest der Welt schlief.

Sie stand auf und wischte das letzte Nass von ihren Wangen fort. Gedankenverloren trat sie an das Panoramafenster, hinter dem die Bucht in der Dunkelheit lag.

Wie sollte sie das bewältigen? Diese Frage stellte sie sich nicht zum ersten Mal. Fiona hatte keine Ahnung, wie sie das durchstehen sollte. Wie sollte sie die Überreste eines einst glücklichen Lebens durchforsten, ohne dabei das letzte Seelenheil zu verlieren, das ihr geblieben war?

»Du musst das tun«. James' Worte hallten in ihren Ohren nach. »Du kannst nicht alles von jemand Fremdem wegschmeißen lassen. Das würdest du bereuen.«

»Vielleicht«, hatte sie geantwortet. »Aber mein Gefühl sagt, dass es besser wäre. Es kann nichts Gutes geschehen, wenn ich zurückkehre. Im Gegenteil. Etwas Grauenvolles wird passieren.«

»Das redet dir nur deine Angst ein und das weißt du.«

Fiona hatte hin und her überlegt, doch ihm letztendlich recht gegeben. Woher sollte sie schon ahnen, was passieren würde? Jetzt wünschte sie sich, sie hätte nicht auf James gehört.

James. Der alte Knacker, wie Sheila ihn so gern bezeichnete. In gewisser Weise war er das Einzige, was Fionas Leben lebenswert machte.

Ja, James war zwar fast 20 Jahre älter als sie. Aber er war auch seit über 15 Jahren ihr Fels in der Brandung. Er hatte einen Gastvortrag über die »Psychologie der Garda« halten wollen, als er Fiona über den Weg lief. Die damals 25-Jährige hatte sich sofort in den damals noch aktiven Profiler der irischen Polizei verliebt. Zu dieser Zeit wusste Fiona bereits, dass sie sich auf die Therapie von Polizeiangehörigen spezialisieren wollte. Dass sie weit weg von Zuhause bleiben wollte. Ein Leben wollte. Sie brauchte einen Mentor. Sie fand ihn in James.

Aus einer leidenschaftlichen Affäre mit Höhen, Tiefen und emotionalen Zusammenbrüchen entwickelte sich nach dem Tod von James' Frau eine gefestigte Beziehung. Fiona ging offen in James' Haus ein und aus. Seine Söhne, die nicht viel älter als sie selbst waren, kannten sie als die Neue an Vaters Seite. Von Zeit zu Zeit zeigte sie sich auch an James' Seite auf Geschäftstreffen, Wohltätigkeitsveranstaltungen und anderen Meetings.

Sie würde niemals zu ihm ziehen. Fiona hatte nicht vor, ihr Leben aufzugeben oder ihr Häuschen in Cork zu verlassen. Ein so verkorkster Mensch sollte das Leben eines anderen nicht zu sehr beeinflussen, hatte Fiona immer argumentiert. James hatte nie versucht, ihr das auszureden. Die emotionale Bande zwischen ihnen zählte mehr als Äußerlichkeiten.

Plötzlich überkam Fiona die Sehnsucht, mit James zu reden. Die Angst hatte sie fest im Griff. Er würde sie beruhigen. Fiona schaute auf die Uhr, entschied sich jedoch gegen einen Anruf. Obwohl sie sich in diesem Augenblick danach sehnte, so wäre es deutlich zu früh, James anzurufen. Nein. Sie wollte ihn nicht wecken. Hatte sie nicht erst Stunden zuvor am Abend eine Nachricht geschickt, dass alles in Ordnung sei, damit er sich keine Sorgen machte? Warum sollte sie ihm dieses wohlige Gefühl mitten in der Nacht wieder nehmen?

Fiona schüttelte sich.

»Komm schon«, sprach sie zu sich selbst. »Du hast schon so viel durchgestanden, dann ist das hier nur ein Klacks.« Die Selbstlüge wollte nicht funktionieren. Es war eben kein Klacks. Sie war zum Ursprung allen Übels zurückgekehrt, nach über 20 Jahren. Natürlich würde das nicht leicht sein.

Fiona drehte sich vom Fenster weg und spazierte durch den Raum. Sie blieb an der Kücheninsel stehen, an dem Hocker, auf dem ihre Schwester nur Stunden zuvor gesessen hatte.

Sheila.

Augenblicklich verdüsterte sich Fionas Stimmung noch mehr. Das war mal wieder ein typischer Auftritt gewesen. Ja nicht die Hände schmutzig machen, aber so gut wie möglich die Lage sondieren. Sheila war nur gekommen, um herauszufinden, ob Fiona schon etwas Wertvolles im Haus entdeckt hatte. Das war alles, was Sheila interessierte: Geld.

»Wann wird es verkauft sein, wann bekommen wir das Geld?« Diese Frage hatte sie gerade mal zwei Stunden nach der Beerdigung ihrer Mutter gestellt. Kaum unter der Erde wollte sich Sheila den Rest des Besitzes unter den Nagel reißen. In diesem Augenblick war Fiona dankbar gewesen, dass Eleonore in ihrem Testament die Nachlassverwaltung in Fionas Hände gelegt hatte. Sheila hätte das Haus ungesehen für einen viel zu niedrigen Preis verscherbelt, nur um das Geld so schnell wie möglich in die Hände zu kriegen. Dabei war es wichtig, dass vom Erlös so manche Altlasten der Krankenversicherung und beim Altenheim gedeckt würden. Nein! Fiona hatte vor, es richtig zu machen. Obwohl es einen hohen Preis für ihr Seelenheil bedeutete.

Die Hoffnung für Sheilas Seelenheil hatte sie inzwischen begraben. Zur Geburt von Sheilas Sohn hatte Fiona noch daran geglaubt, dass das eine Wende im Leben ihrer Schwester sein würde. Vergebens. Der Junge hatte mehr bei seiner Großmutter gelebt oder einsam vor dem Pub auf seine Mutter gewartet.

Als er vier Jahre alt war, schmiss Eleonore Hickey ihre Tochter aus dem Elternhaus. Diesem Haus. Sheila hatte eine Mietwohnung bezogen, deren Nähe zum Pub nicht von Vorteil gewesen war.

Fionas Hoffnung keimte wieder auf, als Sheila Kevin kennenlernte. Er war ein anständiger Kerl, der sich auch ihres Sohnes annahm. Ein Kind der Liebe folgte. Endlich schien Sheilas Leben in geordneten Bahnen.

Das Glück währte nicht lange. Fiona hatte keine Ahnung, was alles vorgefallen war, doch es musste eine Menge gewesen sein. Denn als Sheilas Tochter Lea drei Jahre alt war, schnappte der Vater beide Kinder und suchte das Weite. Seither sorgte Kevin für Lea und auch Michael, auch wenn er gar nicht sein leiblicher Sohn war. Sheila sah ihre Kinder nur selten. Nicht, dass sie Interesse an mehr Besuch hätte, dachte Fiona verbittert.

Was ihre Schwester heute trieb, wusste Fiona nur allzu gut. Ein Gelegenheitsjob hier, ein anderer da, das brachte sie über die Runden. Das mühsam verdiente Geld investierte sie wie eh und je im Dorfpub.

Sie hatten das gleiche Schicksal durchlitten. Dennoch hatte es die beiden Schwestern auf so unterschiedliche Weise gezeichnet. Dabei standen sie sich einst so nah, waren wirklich wie Zwillinge. Sie tauschten in Kindertagen sogar aus Spaß die Identität, um andere zu täuschen.

Fiona lief ein Schauer über den Rücken. Unbewusst hatte sie sich an ihrer Narbe am Oberarm gekratzt. Wie immer, wenn die Erinnerungen sich ihren Weg bahnten. Das Mahnmal auf ihrer Haut war auf ewig mit dem Unglück verbunden.

Die Erinnerung an längst Vergangenes war nicht hilfreich in einer schlaflosen Nacht wie dieser. Längst hatte sie gelernt, ihr Leben zu akzeptieren, wie es mal war. Ebenso, dass sie ihre Schwester nicht vor sich selbst retten konnte. Was sollte dann all das Grübeln?

»Es liegt am Haus«, sprach Fiona laut aus, um sich selbst aus den düsteren Gedanken wachzurütteln. Sie würde die nächsten Tage durchstehen, sie würde all das bewältigen und dann die Vergangenheit endgültig begraben. Wie ihre Eltern. Wie sie.

Jetzt brauchte Fiona dringend frische Luft. Sie musste raus aus den alten Gemäuern voller Erinnerungen. Hätte sie doch nur ihre Joggingschuhe eingepackt, dachte sie enttäuscht. Laufen half immer, ungebetene Gedanken abzuschütteln. So musste heute ein Spaziergang reichen. Ohne zu zögern griff Fiona nach ihrer Jacke und verließ das Haus ungeachtet der Uhrzeit. Es war nicht mal fünf Uhr morgens und draußen gab es nichts als Dunkelheit. Fiona flüchtete so abrupt aus ihrem Elternhaus, als habe sich darin ein Mörder versteckt, der ihr nach ihrem Leben trachtete.

Ein Schrei zerriss die Stille. Fiona zuckte erschrocken zusammen. Sofort rann ein Schauer ihren Rücken hinunter. Sie stand mitten in der Dunkelheit auf der Straße und hatte schon Mühe gehabt, nicht vom Weg abzukommen. Permanent hatte das Meer von rechts gerauscht und sie in eine wohlige Wolke vorgegaukelter Idylle gehüllt. Für kurze Zeit hatte sie Frieden beim Gehen gefunden. Bis der Schrei das Rauschen jäh unterbrach.

Was zur Hölle? Fiona lauschte genauer. War das ein Angstschrei gewesen oder ein Ausdruck von Freude? Sie war sich nicht ganz sicher. Aber sie glaubte, jetzt ein Flüstern zu hören. War das nur eine Stimme oder doch zwei unterschiedliche?

Fiona drehte sich angsterfüllt um sich selbst. Einsam in der Dunkelheit fühlte sie sich schutzlos. So sehr sie sich auch umschaute, sie konnte niemanden entdecken.

Sie mahnte sich zur Ruhe. Wer sollte schon um diese Uhrzeit hier draußen herumlaufen und ihr an den Kragen wollen? Das war eine unsinnige Angst, schalt sie sich. Fiona wusste, dass die Panik von den unheilvollen Erinnerungen rührte, aber in der jetzigen Realität keine Berechtigung hatte. Trotzdem konnte sie ihr Unbehagen nicht daran hindern, stetig zu wachsen.

Es waren zwei Stimmen, war sich Fiona eine Minute später sicher. Eine männliche und eine weibliche vielleicht? Es war unmöglich, sie zu erkennen.

Wo kamen sie her? Vom Pier? Vielleicht waren doch Touristen in einem der Häuser, mutmaßte sie. Was sollten sie weit vor Sonnenaufgang hier draußen in Dunkelheit und Kälte herumspazieren? Das letzte Haus hatte sie schon vor fünf Minuten hinter sich gelassen. Hier am Hafen gab es keines mehr. Der Naturhafen lag in völliger Abgeschiedenheit.

»Du bist doch auch hier draußen«, flüsterte sie sich zu, nur um sicherzugehen, dass alles real war. Das schwarze Nichts um sie herum fühlte sich plötzlich bedrohlich an. Vielleicht konnte Fiona deswegen nicht an ihre Theorie über Touristen glauben?

Sie lauschte angestrengt gegen das Meeresrauschen an. Die Stimmen waren wieder verstummt. Allein das Meer schickte sein monotones Schäumen herüber. Fiona zuckte mit den Achseln, zog die dicke Winterjacke enger und wollte sich gerade auf den Rückweg machen. Da erklang abermals eine Stimme. Sie flüsterte nicht mehr, dennoch konnte Fiona die Worte nicht verstehen. Aber sie erkannte die Stimme. Fiona lief es kalt den Rücken hinunter.

»Sheila?«, rief sie laut aus und lief eiliger die Straße entlang. »Sheila, bist du hier?«

Es folgte keine Antwort. Fiona rannte jetzt. Dabei war sie immer darauf bedacht, den Grünstreifen in der Mitte des Betons nicht aus den Augen zu verlieren. Gleichzeitig tastete sie nach ihrem Handy in der Jackentasche. Es dauerte etwas, bis sie die Taschenlampe daran angeschaltet hatte und diese den Weg beleuchtete.

Ohne einen weiteren Laut zu hören, war Fiona fast am Ende angekommen. Hier lag der Pier von Lambs Head. Hier schlugen die Wellen jetzt laut an die Mauer des winzigen Kais, der nur für kleine Boote gemacht war. Fiona wusste, dass ein Stück weiter draußen eine kleine Insel aus dem Meer ragte, die den Ballyvohane Harbour versteckte und diese Anlegestelle zu etwas Besonderem machte. Vom Meer aus kaum zu entdecken, hatte diese Stelle viele Geschichten zu erzählen.

Nichts davon konnte sie mit ihren Augen erfassen. Zu mächtig war die Dunkelheit an diesem frühen Morgen.

Fiona lauschte ein weiteres Mal. Aber die Stimmen waren nicht mehr zu hören. Nur das Meer rauschte weiter unaufhaltsam. Die innere Panik wollte sich nicht legen.

Was zur Hölle, fragte sie sich abermals.

»Sheila?«, rief Fiona verzweifelt gegen die Dunkelheit an. Sie war sich so sicher gewesen, die Stimme ihrer Schwester erkannt zu haben. Was wollte sie hier? Was machte sie mitten in der morgendlichen Dunkelheit am Hafen? Das konnte nichts Gutes bedeuten! Hatte ihre Vorahnung recht?

Aber auch diesmal ertönte keine Antwort. Aufgeregt schaute Fiona sich um, kniff die Augen zusammen und suchte mit dem Schein der Taschenlampe die Umgebung ab. Der Pier war leer. Auch stand kein Auto hier, mit dem jemand zum Hafen hätte fahren können. Fiona leuchtete ins Meer hinein. An der Anlegestelle schaukelte einsam ein kleines Ruderboot vor sich hin. Auf dem Rest der Wasseroberfläche konnte sie nichts entdecken.

Fiona gab auf. Du bist eine dumme Gans, schalt sie sich resigniert. Ihre Fantasie hatte ihr offenbar einen Streich gespielt und sie sich die Stimmen und den Schrei nur eingebildet. Es war niemand hier draußen, erst recht nicht ihre Schwester. Sheila lag mit Sicherheit in ihrem Bett. Seelenruhig schlief sie den Rausch des Trinkgelages aus, das mit der Flasche im Haus nur begonnen hatte. Warum sollte sie sich hier draußen mitten in der Dunkelheit herumtreiben? Zu solch einer unchristlichen Zeit?

Und wenn doch? Fiona verbot sich, den Gedanken zu Ende zu denken. Nein, niemals. Das war unmöglich.

Fiona steckte das Handy wieder weg und wollte sich auf den Rückweg machen. Aber das ungute Gefühl wollte sich nicht vertreiben lassen. Innerlich zitterte Fiona weiter.

Sie hielt inne und starrte nach links auf den Rest der Landzunge. Fiona konnte gerade so die Silhouette der schroffen Felsen dort ausmachen. Details waren unmöglich zu erkennen. Aber das reichte aus, um ihre Narbe erneut kribbeln zu lassen.

Es war der Ort!

Unter den Felsen lag die Höhle. Jener Ort, von dem sich Fiona jahrelang gewünscht hatte, sie hätten ihn damals als Teenager nie entdeckt. Denn hier begann das Grauen!

Teenagersünden

»Hey, lass das!« Fiona schrie auf. Wütend drehte sie sich weg, damit Sheilas Wasserspritzer sie nicht länger ins Gesicht trafen.

»Du bist ein Feigling«, rief ihre kleine Schwester mit ihrer jungen, klaren Stimme vergnügt zurück. »Komm schon. Das Wasser ist gar nicht so kalt.«

»Für dich vielleicht«, murmelte Fiona, drehte sich aus Neugier wieder um und sah ihre Schwester in den Wellen versinken.

»Aus dir wird mal ein Angsthase werden«, ertönte es im nächsten Augenblick neben ihr. Fiona spürte einen kalten Luftzug auf ihrer Haut, als der großgewachsene Kean an ihr vorbeirannte und ins Meer stürmte. Kaum im Wasser hastete er zu Sheila, um sie hochzuheben und umzuwerfen. Sheila jauchzte. Natürlich gefiel ihr das. Sie mochte Kean, wusste Fiona. Nein, korrigierte sie sich. Das wäre ein zu schwacher Ausdruck. Ihre 15-jährige Schwester war hoffnungslos in den drei Jahre älteren, attraktiven blonden Burschen mit den strahlend blaugrünen Augen verliebt. Ihre erste große Liebe.

Fiona gönnte es ihr, auch wenn sie es albern fand. Kean war doch in der Gemeinde als Weiberheld bekannt. Kein Rock war vor ihm sicher. Es fiel Fiona schwer zu glauben, dass er echtes Interesse an einer 15-Jährigen hatte. Obwohl es gar nicht so lange her war, dass er auch mit ihr flirten wollte. Fiona war schon 16. Das war ein himmelweiter Unterschied. Nur, dass Fiona kein Interesse an ihm hatte.

Auf der anderen Seite war er heute bei Sheila. Nicht mit den anderen oder mit Mary-Rose in der Stadt, wie diese gestern Abend noch ganz stolz geprahlt hatte.

»Komm schon«, rief ihre Schwester aus dem Wasser, bevor Kean sie erneut untertauchte.

»Komm endlich rein«, setzte er hinterher.

Fiona schüttelte den Kopf. Sie wollte nicht schwimmen. Dabei war es ein herrlicher Tag und bestens dafür geeignet. Die Sonne schien, der Wind der letzten Nacht hatte sich gelegt und die Sommerferien hatten gerade erst begonnen. Drei Monate schulfrei lagen vor ihnen. Fiona hatte noch eine Woche, bevor sie ihren Ferienjob antreten musste. Zeit, die sie genießen wollte.

Aber aus irgendeinem Grund erschien ihr das Meer heute nicht verlockend genug. Fiona trat einen Schritt zurück. Das Wasser, das ihre Füße umspielt hatte, wich dem heißen Beton. Wohlig seufzend ließ sie sich auf ihrem Handtuch auf dem Kai nieder und schlang die Arme um ihre Beine. Es genügte ihr, den anderen beim Planschen zuzuschauen.

Sie griff in den Korb zu ihrer Rechten und holte sich ein Sandwich heraus. Mama hatte alles vorbereitet. Genüsslich biss sie hinein und ließ ihren Blick über die Hafenbucht schweifen. Sie waren nicht die einzigen, die das Wetter ausnutzten. Die kleine Bucht war voller Jugendlicher, Kinder und deren Eltern. Fiona kannte sie alle, doch war sie längst nicht mit jedem befreundet. Auch in einer kleinen Gemeinde wie Caherdaniel musste man nicht jeden mögen!

Auf dem Pier standen die Kleineren. Einer nach dem anderem sprang vergnügt hinunter ins Wasser und kletterte danach die Leiter wieder hinauf, um von vorne zu beginnen. Ihr Lachen schallte über die gesamte Bucht. Die beiden Mädchen saßen etwas abseits, ließen die Beine vom Kai hinunterbaumeln und kicherten miteinander. Weiter vorn waren Erwachsene zu erkennen: Die Mütter, die nicht volltags wie ihre eigene arbeiteten und noch darauf bestanden, ihre jungen Kinder zum Schwimmen im Hafen zu begleiten. Der Schwatz mit den anderen Müttern war ein willkommener Bonus. Selbst auf den Felsen hatten sich Badegäste niedergelassen und der Betonvorsprung war voller Handtücher und fröhlichen Menschen.

Fiona seufzte innerlich. Ihre eigene Mutter arbeitete den ganzen Tag, wie auch ihr Vater. Die große Schwester war die Aufpasserin.

Für einen Augenblick schloss sie die Augen, um die Sonne auf ihr Gesicht scheinen zu lassen und dem vergnügten Treiben zu lauschen. Im nächsten Moment riss sie sie wieder erschrocken auf. Sie hatte jemanden ihren Namen rufen hören. Sofort spürte sie Panik in sich aufsteigen. Dort, wo eben noch Kean und Sheila miteinander herumgealbert hatten, war das Meer nun leer. Die anderen Jugendlichen vergnügten sich weiter arglos in den Wellen. Nur diese eine Stelle war verwaist.

Fiona sprang auf und suchte die Bucht mit ihren Augen ab. Da entdeckte sie den schwarzen Schopf ihrer Schwester. Ganz links am Rand der Bucht stand sie im Wasser und winkte ihr aufgeregt zu. Komm her, signalisierte sie. Fiona schüttelte den Kopf, doch ihre Schwester winkte nur vehementer. Auch Kean begann zu winken. Bei ihm sah die Geste eindringlich aus.

Fiona stöhnte auf. Widerwillig setzte sie einen Fuß vor den anderen, die schnell wieder vom Wasser umspielt waren. Sie wollte nicht hinein gehen. Wenn sie ihre Schwester erreichen wollte, musste sie bis zur Hüfte ins Meer tauchen. Sie riss sich zusammen und ignorierte das kalte Gefühl auf ihrer Haut.

»Was ist los?«, fragte sie ärgerlich, als sie ihre Schwester und Kean erreicht hatte. Fiona konnte spüren, wie ihre Lippen blau anliefen.

»Wir haben was entdeckt.« Sheila wirkte ganz aufgeregt und Kean grinste verschwörerisch.

»Was denn entdeckt?«

»Schau selbst.«

Sheila zeigte hinter sich, drehte sich dann um und lief auf einen Felsvorsprung zu. Fiona hatte keine Ahnung, was sie meinte. Lag da ein Tier zwischen den Felsen?

Plötzlich sah sie es, das große schwarze Loch, das sich zwischen den Felsspalten auftat.

»Eine Höhle?« Fiona starrte in das schwarze Nichts.

»Ich schwöre, die war letzten Sommer noch nicht hier«, sprach Sheila aufgeregt neben ihr. Fiona musste lachen.

»Dann ist sie dieses Jahr wie von Zauberhand hier aufgetaucht? Komm schon, Sheila, die Höhle muss es schon immer gegeben haben. Wir haben sie nur nie gesehen.«

»Nein«, widersprach ihre Schwester. »Letztes Jahr war hier keine Höhle. Ich schwöre es.«

»Das ist unmöglich.«

Sheila zuckte trotzig mit den Schultern.

»Keine Ahnung. Vielleicht war Geröll davor und die Sturmflut im Frühjahr hat sie wieder freigespült. Wisst ihr noch?«

Fiona nickte. Sie erinnerte sich noch sehr gut an den Sturm im März, der so manchen Ziegel von ihrem Dach geholt hatte. Fiona hatte ihre völlig verängstigte kleine Schwester auf ihrem Bett in ihren Armen gewiegt.

»Oder jemand hat sie freigelegt.« Das war Kean. Der schlaksige Junge trat hinter die beiden Schwestern. Er legte jeweils einen Arm um sie und flüsterte verschwörerisch von einem Ohr zum anderen.

»Freigelegt?«

»Weil jemand die Höhle braucht. Der Hafen ist doch perfekt, so versteckt hinter der kleinen Insel.«

»Ach Blödsinn.« Fiona befreite sich aus seiner Umarmung und trat vor die beiden. Streng blickte sie in ihre Gesichter. Ihre Beine erstarrten langsam in dem kalten Wasser. Sie wollte nur eins: Wieder zurück auf ihr Handtuch und sich von der Sonne aufwärmen lassen.

»Was ist, gehen wir rein?«, fragte Kean mehr zu Sheila als zu Fiona gewandt.

Einen Augenblick lang fürchtete Fiona, ihre Schwester könnte so waghalsig sein und den Vorschlag annehmen. Für Kean würde sie doch alles tun, oder nicht? Erleichtert sah sie, wie Sheila ihr erst einen fragenden Blick zuwarf und dann zaghaft den Kopf schüttelte.

»Nein. Besser nicht«, flüsterte sie leise. Kean lachte auf. Er riss sich auch von Sheila los und begann erneut vergnügt Wasser auf die beiden Schwestern zu spritzen.

»Ihr seid beide Angsthasen. Unglaublich.«

»Hör auf«, schrie Fiona, die nicht noch nasser werden wollte, als sie ohnehin schon war.

»Angsthasen und Langweiler.« Mit diesen Worten drehte sich Kean um und lief bereits durch das Wasser auf den kleinen Pier zu.

»Wo willst du hin?«, fragte Sheila.

Kean drehte sich um und zuckte mit den Schultern.

»Ich muss sowieso los. Ich habe noch eine Verabredung. Wir sehen uns später.«

Er warf Sheila einen theatralischen Luftkuss zu, drehte sich wieder um und hastete zum Pier.

»Na toll«, schmollte Sheila. »Jetzt hast du ihn vertrieben.«

»Ich?«

»Natürlich. Wer denn sonst? Bestimmt rennt er jetzt zu Mary-Rose.«

»Ach, Sheila!« Fiona seufzte, legte ihren Arm um ihre Schwester und zog sie fest an sich. »Wenn er das sowieso vorgehabt hatte, dann kann ich ihn auch nicht vertrieben haben, oder?«

»Ich dachte nur, weil er doch …« Sheila sprach den Satz aber nicht zu Ende.

»Ich weiß«, murmelte Fiona mitfühlend und zog ihre Schwester durchs Wasser zurück zum Pier. »Nimm es nicht so schwer. Es gibt doch noch andere tolle Jungs.«

»Ich bin kein Langweiler«, murmelte Sheila verärgert. »Er darf das nicht von mir denken.«

»Das tut er sicher nicht«, beschwichtigte Fiona.

Sheila antwortete nicht und ließ sich schweigend zum Pier zurückziehen. Dort setzte sie sich schmollend auf das Handtuch und lehnte das Sandwich ab, das ihr Fiona reichte. Sheilas Laune war verdorben und so würde es für die nächsten Stunden auch bleiben, dachte Fiona betrübt. Schade. Dabei könnte der Tag für einen Teenager nicht herrlicher sein, Kean hin oder her.

Die Sonne kitzelte in ihrem Gesicht. Fiona blinzelte. Erst nach und nach nahm sie ihre Umgebung wieder wahr. Sie stand immer noch am Hafen und starrte auf das Meer hinaus. Wie lange hatte sie so gestanden? Es müssen Stunden gewesen sein. Die Sonne war bereits aufgegangen. Ihre Strahlen spiegelten sich längst im Wasser. Fionas Hände fühlten sich eiskalt an, ihre Beine waren steif. Unvermittelt zog sie ihre Jacke enger um sich. Ihr Körper war ausgekühlt.

Was zur Hölle?

Sie hatte Zeit und Raum über die Erinnerung völlig vergessen. Langsam kehrte die Wirklichkeit zurück. Sie stand am Ballyvohane Harbour. Sie war nach Caherdaniel zurückgekehrt. Sie hatte mal wieder nicht schlafen können.

»Trotzdem kein Grund, sich hier eine Lungenentzündung zu holen«, murmelte sie und ärgerte sich über sich selbst. Abrupt drehte sie sich um und lief los. Sie musste dringend ins Warme. Eine heiße Dusche und ein heißer Kaffee wären das Richtige, um ihre Lebensgeister wieder in Schwung zu bringen. Dann würde sie sich endlich dem Aussortieren widmen, ohne jede Minute in sentimentale Erinnerungen zu verfallen. Kurz und schmerzlos würde sie vorgehen, dachte sie fast trotzig und beschleunigte ihren Schritt.

In diesem Moment klingelte ihr Telefon.

Es dauerte eine Weile, bis ihre steifen Finger das Handy aus der Jackentasche angelten. Der Blick auf das Display überraschte sie. Fiona hatte erwartet, James‘ Namen zu lesen, doch die Nummer war unbekannt.

»Hickey«, meldete sie sich neugierig.

»Hallo Fiona.«

Sie blieb abrupt stehen. Diese Stimme hatte sie seit Jahren nicht mehr gehört. Dennoch erkannte sie ihn sofort.

»Tut mir leid, dass ich so früh störe. Aber es ist wichtig«, sprach er weiter.

»Hallo Kean«, antwortete Fiona, nachdem sie die erste Überraschung überwunden hatte. »Woher hast du meine Nummer?«

»Internet? Sie steht doch überall auf deinen Psychokramseiten.«

»Ach ja«, seufzte Fiona. Das hatte sie ganz vergessen. »Was gibt es?«, fragte sie fast betont uninteressiert. Sie war nicht erpicht darauf, zu hören, was er zu sagen hatte. Kean Hogan mag einst ein attraktiver Teenager gewesen sein, der ihre Schwester um den Finger gewickelt hatte. Als Erwachsener brachte er allen in seiner Umgebung nur Unglück.

»Es geht um Sheila. Sie ist verschwunden. Können wir uns treffen? Du bist doch in Caherdaniel, richtig?«

Fiona schnappte nach Luft. Mühsam versuchte sie, eine Information nach der anderen zu verarbeiten. Woher wusste er, dass sie zurück war? Von Sheila? Was hieß bitte verschwunden?

»Was soll der Blödsinn?«, fragte sie verärgert zurück. »Was meinst Du mit 'verschwunden'? Ich habe Sheila erst gestern Abend gesehen.«

»Ich eben nicht«, sprach Kean und Fiona konnte die Aufregung in seiner Stimme nicht mehr ignorieren. »Wir waren verabredet. Aber sie ist nicht aufgetaucht.«

»Ihr ward verabredet?«

Eine weitere Information, die es zu verarbeiten galt. Fiona hatte nicht gewusst, dass ihre Schwester wieder Kontakt mit Kean hatte. Sie dachte vielmehr, sie sei ein für alle Mal von ihm »geheilt«. Seit dem Fiasko mit dem Imbiss, für den Sheila sich sogar Geld von Onkel Liam geliehen hatte. Eine geschäftliche Partnerschaft, die von Anfang an zum Scheitern verurteilt war. Es lag an Sheila, das Darlehen an ihren Onkel zurückzuzahlen. Allein. Sie hatte über zehn Jahre gebraucht.

Jetzt war sie doch wieder mit Kean verabredet?

»Wir sind Geschäftspartner. Das weißt du doch?«

»Mmh«, antwortete Fiona, die nicht wusste, was sie sonst darauf erwidern sollte.

»Ist ja jetzt auch egal«, fuhr er fort. »Fakt ist, ich mache mir Sorgen. Es sieht Sheila nicht ähnlich, unser Treffen ohne ein Wort sausen zu lassen. Deswegen dachte ich, ich frage dich. Vielleicht ist sie ja bei dir?«

Fiona lachte laut auf. Auch das waren gleich mehrere Dinge in nur wenigen Sätzen, die nicht zusammenpassten. Im Gegenteil. Es sah ihrer Schwester sehr wohl ähnlich, irgendwelche Verabredungen ohne ein Wort der Entschuldigung platzen zu lassen. Dass sie bei Fiona sein könnte, war selbst für Kean eine sehr gewagte Vermutung.

»Ist sie bei dir?«, fragte Kean verunsichert durch die Leitung.

»Nein«, antwortete Fiona, nachdem sich die Lachsalve gelegt hatte. »Sie war gestern Abend für einen kurzen Augenblick da. Seither habe ich sie nicht mehr gesehen. Sie meinte, sie hätte zu tun.«

Stille legte sich in die Leitung.

»Kean? Bist du noch da?«

»Ja«, krächzte er. »Ich überlege.«

»Hast du sie schon angerufen?«

»Natürlich. Es geht nur die Mailbox dran.«

»Dann wird sie noch schlafen. Sie war wohl in einem anderen Pub, hat wie immer deutlich über den Durst getrunken und schläft nun ihren Rausch aus.«

Schon beim Aussprechen dieser Vermutung spürte Fiona Zweifel. Normalerweise wäre das die wahrscheinlichste Erklärung gewesen, wenn es um ihre Schwester ging. Etwas in ihrem Hinterkopf regte sich. Hatte Fiona nicht noch vor kurzer Zeit gedacht, Sheilas Stimme hier draußen in der Dunkelheit zu hören?

»Tut sie nicht«, klang es aus der Leitung.

»Was?«

»Ihren Rausch ausschlafen. Zumindest nicht bei sich zu Hause. Dort war ich schon. Sie ist nicht da.«

»Dann schläft sie woanders.« Fiona versuchte nicht nur ihn, sondern jetzt auch sich zu beruhigen.

»Nein. Das glaube ich nicht. Sie hat gerade keinen Liebhaber.«

»Bist du dir da sicher?« Fiona hob unwillkürlich eine Augenbraue. Der Kontakt zwischen Kean und Sheila schien wieder deutlich enger zu sein. Sie war sich nicht sicher, ob ihr das gefiel.

»Ja. Bin ich. Ich wüsste es«, sagte er mit einer Überzeugung in der Stimme, die Fiona davon abhielt, weiter nachzuhaken.

»Können wir uns treffen?«

»Wir? Du und ich?«

Fiona unterdrückte ein weiteres Lachen.

»Ja. Du und ich. Ich meine es ernst. Machst du dir denn gar keine Sorgen?«

»Nein. Nicht, wenn es darum geht, dass Sheila an einem Samstagmorgen nicht in ihrem Bett liegt.«

Das war eine Lüge. In Wahrheit hatte Fiona nie aufgehört, sich um ihre Schwester zu sorgen. Nicht in den Teenagerjahren, nicht nach der Katastrophe, ja selbst nicht mal, nachdem sie Caherdaniel den Rücken gekehrt hatte. Sheila wusste es nicht, aber selbst aus Cork hatte Fiona noch so manche Fäden gezogen, um ihrer Schwester zu helfen. Onkel Liam hätte Sheila niemals den Kredit für den Imbiss gewährt, hätte Fiona nicht hinter ihrem Rücken dafür gebürgt. Kevin wäre viel eher mit den Kindern verschwunden, hätte Fiona nicht immer wieder heimlich mit ihm telefoniert. Auch Sheilas Wohnung gegenüber der Kirche hatte sie Fionas gutem Wort bei Pater Matthew zu verdanken. Nein: In Wahrheit machte Fiona sich seit ihrer Kindheit Sorgen um Sheila und würde dies nie aufgeben.

»Bitte. Nur ein kurzer Kaffee im Blind Piper. Das Pub ist ab zwölf geöffnet.«

Fiona stöhnte. Was sollte sie tun? Für einen kurzen Moment überlegte sie und gab schließlich nach.

»Also gut. Aber so früh kann ich nicht.« Sie log ohne Gewissensbisse. »Wir treffen uns um 16 Uhr.« Insgeheim frohlockte sie über diesen Einfall. Bis zum Nachmittag hätte sich all das längst wieder erledigt. Fiona rechnete fest damit, dass Kean irgendwann in den nächsten Stunden anrufen und das Treffen wieder absagen würde. Weil Sheila wieder aufgetaucht wäre. Sie war doch nicht verschwunden? Nein, das konnte nicht sein.

»Okay. Dann um 16 Uhr im Blind Piper. Ich halte dich auf dem Laufenden.«

»Mach das.«

Mit diesen Worten legte Fiona auf. Hastig steckte sie das Handy zurück in die Jackentasche und lief los. Sie musste dringend ins Warme.

Eine halbe Stunde später stand sie frisch geduscht in warmen Socken vor der Kaffeemaschine und versuchte, den komplizierten Vollautomaten dazu zu bewegen, etwas von dem schwarzen Gold auszuspucken. Aber die Maschine tat keinen Mucks. Herrgott noch mal, fluchte Fiona. Sie hatte eine Dosis Koffein dringend nötig. Stattdessen musste sie sich mit einem Tee begnügen. Denn zumindest der Wasserkocher tat seinen Dienst. Als der Beutel im heißen Wasser zog, holte Fiona ihr Handy heraus und wählte Sheilas Nummer. Die Mailbox sprang sofort an.

»Ruf mich zurück. Kean sucht dich«, sprach sie knapp in die Leitung, bevor sie wieder auflegte. Mehr gab es nicht zu sagen. Die Standpauke, dass Sheila sich wieder mit Kean zusammengetan hatte, würde sie sich für später aufheben. Das war etwas, das man nicht am Telefon machte.

Fiona kratzte sich unbewusst am Oberarm, bis es ihr auffiel. Abrupt stoppte sie. Diese Narbe juckte nun schon seit Jahren. Würde sie je aufhören? Sicher nicht in der alten Heimat, dachte sie traurig.

Fiona nahm den Teebeutel aus der Tasse und pustete auf die heiße Flüssigkeit. Sie trat an das Panoramafenster hinter dem Esstisch. Während sie den ersten Schluck nahm und auf das inzwischen raue Meer starrte, ließen die Fragen sie jedoch nicht los.

Würde sie Sheila später in Ruhe eine Standpauke halten können? Ihre Schwester war doch nicht verschwunden, oder?

»Es ist unglaublich, wie ähnlich du ihr immer noch siehst«, begrüßte er sie. »Nur die Haare etwas kürzer und schwarz gefärbt und man könnte meinen, du wärst Sheila.«

»Na vielen Dank auch.« Fiona ergriff kurz seine Hand, die er ihr entgegenstreckte und setzte sich ihm gegenüber. »Das ist eine Begrüßung, die ich ungern höre.«

»Tut mir leid«, stammelte Kean sofort verlegen. »Es ist nur … wir haben uns jahrelang nicht gesehen.«

»24 Jahre, um genau zu sein.«

»Mmh. Eine Ewigkeit.«

Nicht lange genug, dachte Fiona grimmig. Sie wollte nicht hier sein. Kean war kein »guter alter Kumpel«, mit dem man sich gern in einem Pub auf Heimatbesuch traf. Ihre Hoffnung, er hätte das Treffen inzwischen wieder abgesagt, hatte sich nicht erfüllt. Weder hatte Sheila sich gemeldet noch Fiona ihre Schwester erreicht. Ein Abstecher zu ihrer Wohnung hatte ebenfalls nichts ergeben. Die Tür war fest verschlossen gewesen. Ein Blick durch die Scheibe hatte verraten, dass drin alles ordentlich und sauber war. Viel sauberer, als Fiona in ihren Träumen zu hoffen gewagt hatte.

Fiona war nichts anderes übrig geblieben, als nun doch Kean gegenüber zu sitzen. Sie musste gute Miene zum bösen Spiel machen.

Er hatte sich kaum verändert. Natürlich war er älter geworden wie sie alle. Seine blaugrünen Augen in den tiefen Augenhöhlen leuchteten immer noch verführerisch. Sein Bart war gepflegt und er hatte bisher nichts von seiner blonden Haarpracht eingebüßt. Lediglich Fältchen hier und da zeugten von den Jahren, die er schon auf dem Buckel hatte. Aber für Mitte 40 sah er immer noch unverschämt attraktiv aus. Sicher nutzte er das nach wie vor schamlos aus.

Er kleidete sich wie ein Gentleman. Das überraschte Fiona. Als Teenager waren es immer zerfetzte Jeans und T-Shirt oder Sweatshirt gewesen. Heute saß Kean ihr in einem hochwertigen Satinhemd, einer Markenjeans und einem teuer erscheinenden Sakko gegenüber. Waren das Designerschuhe? Er roch nach Moschus. Dem Mann ging es nicht schlecht, dachte Fiona verwundert. Ihrer letzten Information nach hatte er keinen festen Job. Im Gegenteil: Kean Hogan lebte von der Arbeitslosenstütze im Haus seiner verstorbenen Mutter, dessen Unterhalt er mit ihrem Erbe bestritt, weil er es laut Testament für nichts anderes verwenden durfte. Mrs Hogan war noch auf dem Sterbebett vorausschauend gewesen.

Augenblicklich fühlte sie sich unwohl. Alles an Kean Hogan strahlte Betrug aus. Hatte sich Sheila tatsächlich wieder mit ihm eingelassen?

»Hast du sie gesprochen?«, fragte er voller Hoffnung, verschränkte die Hände ineinander und schaute sie gespannt an. Fiona schüttelte den Kopf.

»Nein. Immer noch die Mailbox. Kein Rückruf. Und zu Hause ist sie ebenso nicht.«

»Das gibt es doch nicht!« Kean fluchte so laut, dass sich eine Riege Männer an der Bar verwundert umdrehte und zu ihnen herüberschaute.

»Reiß dich zusammen«, zischte Fiona. Sie war dankbar gewesen, dass Kean einen Tisch in der äußersten Ecke neben der Hintertür für das Treffen gewählt hatte. Sie war keineswegs erpicht darauf, alte Bekannte in dem einzigen Pub des Dorfes wiederzutreffen. Das Lokal war nicht übermäßig gefüllt. So mancher Einheimischer fand sich gern an einem Samstagnachmittag hier ein, um sich seines Bieres und des Schwätzchens mit dem Nachbarn zu erfreuen. Sie saßen an der Bar und in kleinen Grüppchen an den Tischen verteilt. Fiona hatte vermieden, sie genauer anzuschauen. Sie war so lautlos wie möglich durch die Hintertür hineingeschlüpft, nachdem sie Kean durchs Fenster entdeckt hatte. Mit Absicht hatte sie sich mit dem Rücken zur Bar gesetzt, um nicht aufzufallen.

»Entschuldige«, sagte Kean fast kleinlaut. »Es ist nur … ich mache mir echt Sorgen. Ich fürchte, ihr ist etwas zugestoßen.«

Fiona runzelte die Stirn. Sorgen? Das passte genauso wenig zu Kean wie Zuverlässigkeit zu Sheila. Waren die beiden enger, als sie je zu fürchten wagte? Oder steckte etwas anderes dahinter?

»Ich bin mir sicher, dass es dazu keinen Grund gibt. Du kennst doch Sheila. Ich glaube ja immer noch, dass sie gestern Abend woanders über die Stränge geschlagen hat.« Sie hatte schon in unserem Haus mit dem Trinken begonnen, dachte Fiona, sprach es aber nicht aus. Alles hatte normal gewirkt. Kean musste sich was einreden. »Vielleicht war sie in der Beach Bar oder im Black Shop in Castlecove? Dann ist sie irgendwo zum Schlafen hängen geblieben.«