Holla die Waldfee! - Lars Vasa Johansson - E-Book

Holla die Waldfee! E-Book

Lars Vasa Johansson

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Beschreibung

Holla die Waldfee! Ein Anruf seiner Eltern und eine E-Mail vom Elektrodiscounter sind die einzigen Glückwünsche, die Anton zu seinem 45. Geburtstag erhält. Aber der grummelige Berufszauberer mag Menschen sowieso nicht besonders. Seit Jahren tingelt er mäßig erfolgreich mit seinen Auftritten von Altersheim zu Einkaufszentrum. An und für sich würde ihn all das gar nicht stören. Wäre da nicht sein Erzfeind Sebastian, der mit seiner spektakulären Zaubershow in ganz Schweden Erfolge feiert. Ausgerechnet mit Charlotta an seiner Seite, Antons Exfreundin. Früher waren Anton und Sebastian befreundet und haben gemeinsam gezaubert, nun sieht Anton überall die riesigen Plakate, die Sebastians und Charlottas Tournee ankündigen und auf denen groß in silbernen Buchstaben «Together in Magic Forever» steht. Es liegt auf der Hand: Für Anton läuft es nicht gut. Im Grunde läuft es überhaupt nicht. Aber niemand ist besser darin als er, sich das Leben schönzureden. Bis er sich eines Nachts im Wald verirrt und ein seltsames Mädchen trifft. Danach scheint Anton plötzlich vom Pech verfolgt zu werden. Als ernsthafter Zauberer glaubt Anton natürlich nicht an Magie. Aber langsam dämmert ihm, dass er etwas an seinem Leben ändern muss …

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Seitenzahl: 462

Veröffentlichungsjahr: 2016

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Ähnliche


Lars Vasa Johansson

Anton hat kein Glück

Roman

Aus dem Schwedischen von Ursel Allenstein & Antje Riek-Blankenburg

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Holla, die Waldfee!

 

Ein Anruf seiner Eltern und eine E-Mail vom Elektrodiscounter sind die einzigen Glückwünsche, die Anton zu seinem 45. Geburtstag erhält. Aber der grummelige Berufszauberer mag Menschen sowieso nicht besonders. Seit Jahren tingelt er mäßig erfolgreich mit seinen Auftritten von Altersheim zu Einkaufszentrum. An und für sich würde ihn all das gar nicht stören. Wäre da nicht sein Erzfeind Sebastian, der mit seiner spektakulären Zaubershow in ganz Schweden Erfolge feiert. Ausgerechnet mit Charlotta an seiner Seite, Antons Exfreundin.

Früher waren Anton und Sebastian befreundet und haben gemeinsam gezaubert, nun sieht Anton überall die riesigen Plakate, die Sebastians und Charlottas Tournee ankündigen und auf denen groß in silbernen Buchstaben «Together in Magic Forever» steht. Es liegt auf der Hand: Für Anton läuft es nicht gut. Im Grunde läuft es überhaupt nicht. Aber niemand ist besser darin als er, sich das Leben schönzureden. Bis er sich eines Nachts im Wald verirrt und ein seltsames Mädchen trifft. Danach scheint Anton plötzlich vom Pech verfolgt zu werden. Als ernsthafter Zauberer glaubt Anton natürlich nicht an Magie. Aber langsam dämmert ihm, dass er etwas an seinem Leben ändern muss …

Über Lars Vasa Johansson

Lars Vasa Johansson, geboren 1966 in Stockholm, ist Drehbuchautor, Musiker und einer der gefragtesten script doctors in Schweden. Er war an diversen Film- und Fernsehproduktionen beteiligt und arbeitete außerdem als Schlagzeuger und Komponist, ehe im Februar 2016 sein Romandebüt «Anton hat kein Glück» erschien.

Prolog

Die Alten, die um den Tisch versammelt saßen, warteten darauf, dass sich die Königin des Waldes zu den unheilverkündenden Gerüchten äußerte, die in der letzten Zeit kursierten.

Wir sind zu schwach, dachte sie. Wir sind zu wenige. Wir sind zu alt. Was wir brauchen, ist tollkühner Mut. Wenn schon nicht aus unseren eigenen gebrechlichen Reihen, dann vielleicht von einem Außenstehenden. Wenn es hart auf hart kommen sollte, könnten wir vielleicht sogar einen von ihnen opfern.

Die Königin des Waldes streckte sich und gähnte. Vielleicht sollte sie die Sache noch einmal überschlafen. Bislang war es schließlich nur ein Gerücht. Ein Flüstern im Wind:

Der Tränentriefer ist zurück.

1

Eine Cremeschnitte mit einem Plastiklöffel zu essen ist eine echte Herausforderung. Daher ist eine Kuchengabel zu empfehlen, denn man benötigt ein stabiles Besteckteil, um die oberste Blätterteigschicht mit dem festen Zuckerguss und dem Johannisbeergelee zu zerteilen. Ansonsten besteht die Gefahr, dass das ganze Gebäckstück zerdrückt wird. Eine feste Oberfläche und eine weiche Füllung aus Sahne und Vanillecreme, die bei Druck leicht nach außen entweicht. Eigentlich ein ziemlich unpraktisch konstruiertes Gebäck.

Ich hatte irgendwo zwischen Askersund und Karlsborg auf einem Rastplatz mit Aussicht auf den Vätternsee geparkt, der in der Junisonne glitzerte. Mein Handy schaltete ich aus, um für zehn Minuten meine Ruhe zu haben, und dann setzte ich mich mit meinem Gebäck auf die Motorhaube.

Ich blickte auf meine Armbanduhr. Es war kurz vor elf und Zeit für mein alljährliches Geburtstagsritual. Heute vor fünfundvierzig Jahren war ich um exakt 10:59 Uhr im Söder-Krankenhaus in Stockholm geboren worden. Je älter man wird, desto weniger Grund besteht eigentlich zum Feiern. Dennoch hatte ich es mir zur Gewohnheit gemacht, meinen Geburtstag mit einer kleinen privaten Auszeit zu zelebrieren, in der ich ein Stück Torte oder Ähnliches aß, ganz egal, wo ich mich gerade befand. Dieses Jahr stand außerdem mein fünfundzwanzigjähriges Berufsjubiläum als Zauberer an, was mich mit großem Stolz erfüllte. Und das war definitiv ein Grund zum Feiern.

Ich war nicht allein auf dem Rastplatz. Auf einem der vollgekritzelten Holztische hatte eine Familie mit zwei kleinen Kindern ihr Mittagessen ausgebreitet. Der Geruch ihrer Eibrote stieg mir in die Nase, während mich von der anderen Seite der scharfe Gestank zweier Dixie-Klos anwehte, die ein Stück entfernt von meinem Wagen standen. Außerdem schwirrten hier jede Menge nervtötende Fliegen umher. Alles in allem kein idealer Platz für mein Vorhaben, aber dies war der einzige Ort, den ich pünktlich zu meiner Geburtsstunde hatte ansteuern können.

«Glückwunsch, Anton. Gute Arbeit. Wirklich großartig», murmelte ich und widmete mich der Cremeschnitte.

Ich hatte sie morgens in einem Supermarkt außerhalb von Södertälje gekauft. Zum Sonderpreis, wegen des nahenden Verfallsdatums. Da ich zu meinem Geburtstagsritual nur mich selbst und meine Gedanken eingeladen hatte, fand ich es angemessen, die Kosten niedrig zu halten. Nach einem Vormittag im warmen Auto sah die Cremeschnitte allerdings nicht gerade appetitlicher aus. Beim Versuch, die obere Blätterteigschicht zu durchstoßen, zerbrach der Plastiklöffel wie ein trockener Zweig. Also umfasste ich den vorderen Teil des Löffels mit Daumen und Zeigefinger und begann an der Seite die Sahnefüllung herauszugraben. Dabei höhlte ich das Gebäckstück so weit aus, bis der Blätterteig Schlagseite bekam. Nach ein paar Löffeln hatte ich genug. Vielleicht hätte ich lieber eine Packung Kekse kaufen sollen.

Ich schloss den Deckel der eingedellten Plastikverpackung und warf die Cremeschnitte in einen Mülleimer hinter den stinkenden Toilettenkabinen. Die Familie mit den Eibroten hatte ihre Picknickutensilien inzwischen auf dem gesamten Holztisch ausgebreitet. Servietten, Thermoskannen, Aluschälchen und Plastikdosen, Trinkgläser und Kaffeebecher. Die Kleinkinder kleckerten und alberten herum, während sich ihre Eltern nach Kräften bemühten, sie in Schach zu halten und dabei selbst etwas in den Magen zu bekommen. Der Vater war ungefähr in meinem Alter. Ich beobachtete ihn eine Weile lang und fragte mich, ob er wohl neidisch auf mich wäre, wenn er wüsste, dass ich in der Unterhaltungsbranche arbeitete, während er in der brütenden Sommerhitze Kind und Kegel herumkutschieren und den Tag von morgens bis abends durchorganisieren musste, um ein Chaos zu verhindern.

Ich war unterwegs zu einem Auftritt in einem Altersheim, das am Stadtrand von Karlsborg lag. Danach erwartete mich ein Hotelzimmer mit einem frischbezogenen Bett und Erdnüssen aus der Minibar. Dem Vater der Kleinkinder hingegen stand das Säubern verschmierter Kinderfinger bevor, an denen eingetrocknetes Ei klebte.

Genau das schätzte ich an meiner zehnminütigen Geburtstagsauszeit. Es war eine ausgezeichnete Gelegenheit, mir bewusst zu machen, wie privilegiert ich war. Freiheit. Nur ich und die Straße bis zum fernen Horizont.

Die Mutter löste gerade ein buntes Geschenkband von einer weißen Pappschachtel und hob eine Marzipantorte heraus, die sie auf den Tisch stellte. Die Kinder halfen ihr, die Kerzen hineinzustecken, und als alle angezündet waren, wurde lauthals «Hoch soll er leben» gesungen. Zwei Männer mittleren Alters, die ihre Geburtstage auf ein und demselben Rastplatz feierten – das war schon ein merkwürdiger Zufall. Die Kinder sangen furchtbar falsch, aber mit unerschütterlichem Enthusiasmus. Für ihren Vater schien allein die Geste zu zählen, denn er strahlte während des Katzenkonzerts übers ganze Gesicht.

Nachdem er die Kerzen ausgeblasen hatte, küsste ihn seine Frau lange und leidenschaftlich. Ich kehrte ihnen den Rücken zu, weil ich mein privates Zehnminutenritual nicht damit vergeuden wollte, eine glückliche Familie anzuglotzen. Zurück am Wagen, schaltete ich mein Handy wieder ein. Keine verpassten Mails oder Anrufe von Gratulanten. Meine Eltern hatten sich schon am Morgen gemeldet, und ansonsten gab es nicht so viele Leute, die wussten, dass ich heute Geburtstag hatte. Eigentlich ganz angenehm.

Als Kind fand ich, dass mein Geburtstag immer etwas unterging, weil er so nah an Mittsommer lag, doch mittlerweile machte es mir nichts mehr aus. Fünfundvierzig zu werden ist wie gesagt nicht unbedingt ein Grund zum Feiern.

2

Wenn es gut lief, absolvierte ich pro Jahr an die hundert Auftritte, verteilt über das ganze Land. Ich fuhr, wohin mein Navi mich führte, und manchmal wusste ich kaum, in welcher schwedischen Provinz ich mich gerade befand. Um eine Kleinstadt von der anderen unterscheiden zu können, machte ich mir einen Spaß daraus, verschiedenste nutzlose Fakten über die von mir bereisten Orte zu sammeln. Karlsborg beispielsweise ist für seine Miniaturen bekannt, wie den niedrigsten Küchentisch Schwedens, den kleinsten Vogelkäfig Skandinaviens oder auch einen der kürzesten Schnürsenkel der Welt.

Kurz vor dem Stadtzentrum von Karlsborg liegt das Altersheim Igel, das in einem vierstöckigen braunen Gebäude aus den Achtzigern untergebracht ist. In den vergangenen zwei Jahren war ich hier bereits drei Mal aufgetreten.

Als ich in den frischgestrichenen, aber dennoch trostlosen Aufenthaltsraum kam, standen darin bereits um die zwanzig Stühle, zwischen denen einige Plätze für Rollstühle frei gelassen worden waren. So weit, so gut. Mein Blick fiel auf einen Putzmann, der gerade um die Stühle herumsaugte. Der Staubsauger machte einen Höllenlärm. Ich stellte meinen schweren schwarzen Zauberkoffer mit den Metallbeschlägen auf dem Boden ab und warf einen befremdeten Blick auf die Fläche, die eigentlich für meinen Auftritt vorgesehen war. Dort befanden sich nämlich zwei Tischtennisplatten, auf denen halbfertige Puzzles ausgebreitet lagen. Die junge Altenpflegerin, die darauf bestanden hatte, mich in den Raum zu begleiten, obwohl ich den Weg bereits kannte, erklärte mir, dass die Bewohner gerade erst begonnen hätten, die Puzzles zu legen, weshalb es doch sinnvoll wäre, wenn die Tischtennisplatten an Ort und Stelle stehen bleiben könnten.

Aufgrund meiner Größe von einem Meter neunzig bin ich es gewohnt, auf Menschen hinabzuschauen. Auch die Altenpflegerin mit ihren knallrot gefärbten Haaren bildete hier keine Ausnahme, da sie fast zwei Köpfe kleiner war als ich. Erst starrte ich aufgebracht zum Putzmann hinüber, um ihn dazu zu bringen, den lärmenden Staubsauger auszuschalten, allerdings ohne Erfolg, da er mir den Rücken zugewandt hatte. Dann warf ich der Altenpflegerin einen wütenden Blick zu.

«Ich bin dreihundert Kilometer weit gefahren und habe nichts als ein paar Bissen einer fast abgelaufenen Cremeschnitte im Magen. Sie müssen also entschuldigen, wenn ich etwas irritiert klinge. Aber wo soll hier Ihrer Meinung nach bitte schön mein Auftritt stattfinden?»

Ich breitete die Arme aus, um ihr mit einer dramatischen Geste zu signalisieren, dass einfach nicht genug Platz war – weder auf der Fläche mit den Stühlen noch dort, wo die Tischtennisplatten aufgestellt waren. Die Altenpflegerin erkundigte sich, ob es möglich wäre, dass das Publikum in einem Kreis säße. Vielleicht könne ich ja in der Mitte stehen und dort zaubern. Bei dem Lärm hörte ich ihre Worte kaum. Ich gestikulierte wild in Richtung Putzmann, woraufhin dieser mich endlich bemerkte.

«Könnten Sie bitte den Staubsauger ausschalten? Ich versuche hier zu arbeiten. Ich putze ja auch nicht um Sie herum, wenn Sie versuchen zu arbeiten, oder?»

Der Putzmann brummelte vor sich hin, schaltete den Staubsauger aus und verließ schlurfend den Aufenthaltsraum. Die rothaarige Altenpflegerin wiederholte ihre Frage und wollte wissen, ob es für mich in Ordnung wäre, in der Mitte des Sitzkreises aufzutreten. Ich zuckte mit den Achseln. Schon rein aus Prinzip bereitete mir die Tatsache große Probleme, dass zwei unfertige Puzzlespiele wichtiger waren als meine Bühne, aber ich war schließlich ein ernsthafter Zauberer und keiner dieser Fernsehclowns mit Tänzerinnen, aufwendigen Requisiten und sonstigem Hokuspokus, bei dem das Publikum in einem gewissen Winkel zur Bühne sitzen musste.

«Klar kann ich in der Mitte stehen. Wollen wir zuerst gemeinsam die Stühle an Ort und Stelle rücken, und dann schauen Sie nach meinem Imbiss?»

«Ich geh jetzt nach Hause. Hab Feierabend.»

«Es war aber abgemacht, dass ein kleiner Imbiss für mich bereitsteht, wenn ich am Veranstaltungsort eintreffe. So sieht es jedenfalls der Vertrag vor. Darin ist übrigens auch zu lesen, dass am Auftrittsort eine Fläche zur Verfügung steht, auf der ich zaubern kann. Beispielsweise eine Bühne oder ein kleiner freier Bereich ohne Tischtennisplatten.»

«In der Cafeteria kann man belegte Brote kaufen.»

«Gut, dann stelle ich die Stühle bereit, und Sie holen mir derweil ein paar belegte Brote.»

«Ich geh jetzt nach Hause. Hab Feierabend. Belegte Brote gibt’s in der Cafeteria.»

Angesichts ihrer unsensiblen roboterhaften Antwort schüttelte ich nur den Kopf.

«Kein Problem. Dann stelle ich die Stühle bereit, und anschließend schaue ich, ob ich in der Cafeteria ein paar belegte Brote auftreiben kann. Dann brauchen Sie gar nichts zu tun. Ist das ein Angebot?»

Meine Ironie überstieg offenbar bei weitem den Verstand der rothaarigen jungen Dame. Sie nickte nur zufrieden, begann auf ihrem Handy herumzutippen und zog ab.

 

Mein letzter Auftritt vor dem Mittsommerwochenende, das mein Leben verändern sollte, war ein voller Erfolg. Nach einem Trick, bei dem ich ein Sektglas aus einem Zylinder gezaubert hatte, fragte ich die alten Leute im Publikum, ob sie nicht Lust hätten, ein wenig gemeinsam zu singen. So etwas machte ich normalerweise nicht, doch ich dachte mir, dass ein paar Mittsommerlieder wie «Die kleinen Frösche» oder «Die kleine Krähe» dem Anlass angemessen wären. Das Publikum reagierte begeistert und wartete darauf, dass ich begann.

«Ach, da ist mir gerade etwas eingefallen. Ich habe nämlich heute Geburtstag. Ich erwarte zwar nicht, dass Sie mir ein Ständchen bringen, aber wir könnten doch zusammen ein Lied singen, dessen Text Sie alle kennen. Was halten Sie davon?»

Ich stimmte «Hoch soll er leben» an. Die Senioren konnten den Takt nicht halten und wurden immer langsamer, obwohl ich meinen Zauberstab als Taktstock einsetzte. Da nach dem Lied keiner von ihnen die Initiative zu einem vierfachen Hurra ergriff, musste ich es auch diesmal selbst anstimmen. Ein Mann im Rollstuhl erlitt während der Hurrarufe einen Hustenanfall und gab ein Röcheln von sich, das die ganze weitere Vorstellung begleitete. Es war ziemlich nervtötend.

Wenn man vor älteren Leuten auftritt, sollte man lieber keine Kartentricks vorführen, die darauf aufbauen, dass sich einer der Zuschauer eine Spielkarte merkt, da es leicht zu Verwirrungen kommen kann. Von der Gesangseinlage abgesehen, brachte ich deshalb die einstudierten Nummern, die ich seit meiner Teenagerzeit Tausende von Malen vor jedem nur denkbaren Publikum wiederholt hatte. Vor alten Leuten, jungen Leuten, nüchternen oder auch betrunkenen. Ein Violinist kann sein ganzes Leben lang dieselben klassischen Stücke spielen, ohne dass man ihm unterstellt, er würde in seiner Entwicklung stagnieren, und genauso verhielt es sich mit mir und meinen bewährten Zaubertricks.

Die Herausforderung lag für mich gerade darin, sie immer weiter zu verfeinern und zu perfektionieren, und zwar die technische wie die visuelle Präsentation. Auch die Tagesform spielte eine entscheidende Rolle. Manchmal dauerte ein Trick etwas länger oder kürzer als am Tag darauf, genau wie es auch mit einem Musikstück der Fall ist.

Manche Zauberer nennen sich Illusionisten und präsentieren aufwendige Shownummern mit Lichteffekten und Rauch, Tänzerinnen und jeder Menge humoristischen Einlagen, «denkwürdigen» Monologen und anderem Schnickschnack, für den die breite Masse offenbar bereit ist, viel Geld auszugeben. So etwas war nichts für mich. Ein guter Zauberer benötigt auf der Bühne keine beweglichen Spiegelwände, hydraulischen Rampen oder eine aparte Assistentin, die das Publikum ablenkt. Wenn ich ein unbegrenztes Budget hätte, würde ich vermutlich ein paar etwas größere und spektakulärere Nummern vorführen, doch ich legte Wert auf den persönlichen Kontakt mit dem Publikum und auf die Tatsache, dass die Leute aus nächster Nähe sehen konnten, wie ich agierte.

 

Nach der Vorstellung rief mich mein Agent Pontus Bergström an. Sein Stall von Künstlern bestand aus einigen Kabarettisten und Schriftstellern, die Lesungen veranstalteten, zwei DJs, diversen Dokusoap-Stars, einem Hypnotiseur und mir.

«Hallo, Anton. Ich habe eine gute und eine schlechte Nachricht. Welche willst du zuerst hören?»

Ich bat ihn, mit der guten anzufangen.

«Ich habe am Wochenende einen Wettbewerb im Luftpistolenschießen gewonnen! Die Siegerprämie waren zehn Pfund Kaffee und zwei Kilo exklusives Rinderfilet.»

Ich hatte bis dahin nicht einmal gewusst, dass Pontus in seiner Freizeit Schießsport betrieb. Doch ich gratulierte ihm und bat ihn, mir die schlechte Nachricht zu nennen.

«Skövde und Vänersborg haben abgesagt.»

«Was?» war alles, was ich nach einer Weile verblüfften Schweigens hervorbrachte.

«Leider. Basmati hatte kurzfristig eine Lücke in ihrer Planung, und für die Betriebsfeier in Vänersborg wollten die dann doch lieber sie haben. Und das Einkaufszentrum in Skövde will irgendein Event mit den lokalen Basketballerinnen ausrichten. Da konnten sie dich nicht auch noch unterbringen.»

«Aber wir haben doch einen Vertrag, oder? Können sie es sich denn einfach anders überlegen?»

In diesem Jahr hatte ich zwar weniger Auftritte als in all den Jahren zuvor, aber es war noch keiner abgesagt worden. Bis heute.

«Ich weiß, es ist absolut tote Hose, aber ich muss flexibel sein und will den Leuten nichts aufschwatzen, was sie nicht haben wollen. Basmati ist ein Fernsehstar, sieht gut aus und kann Cocktails mixen. Das kommt bei Firmenfesten gut an, und wir sprechen hier von einem Malerbetrieb, da geht es wahrscheinlich ziemlich wild zu. Das hätte sowieso nicht zu dir gepasst.»

Ich seufzte ein paar Mal laut auf, um Pontus meinen Missmut zu signalisieren.

«Das heißt, vor Mittsommer habe ich nichts mehr im Terminplan? Dann kann ich ja auch gleich wieder nach Hause fahren.»

Ich fluchte im Stillen darüber, dass ich schon im Hotel in Karlsborg eingecheckt hatte. Laut Plan hatte ich das Ganze ruhig angehen lassen wollen. Ich hatte mir vorgenommen, mir einen Film anzusehen, dann auszuschlafen und am nächsten Tag weiter nach Skövde zu fahren.

«Du hast mir übrigens die Auftrittstermine für Juli noch nicht geschickt. Wie sieht’s denn da aus?»

Pontus zögerte.

«Um ehrlich zu sein, ziemlich mau. Aber das gilt nicht nur für dich, auch bei den meisten anderen läuft es gerade etwas zäh. Eigentlich flutscht es nur bei Kicki Hjort so richtig.»

Ich knirschte mit den Zähnen. Kicki Hjort war eine fünfundsechzigjährige Frau, die einmal fast ertrunken wäre und eine Nahtoderfahrung gemacht hatte, bei der ihr Engel erschienen waren. Sie hatte nicht nur ein Buch darüber geschrieben, das sich mehrere hunderttausend Mal verkaufte, sondern auch Vereine und Unternehmen besucht und dort von ihrem Erlebnis berichtet. Das Publikum fand ihre Schilderungen offenbar sehr inspirierend, was mir völlig unbegreiflich war. Der Job eines Zauberers besteht darin, sein Publikum zu täuschen. Das Publikum will geradezu getäuscht werden. Meine Zuschauer waren sich jedenfalls immer im Klaren darüber, dass ich nicht wirklich zaubern konnte. Niemand glaubte allen Ernstes, dass sich Spielkarten auf wundersame Weise von meinem Platz auf der Bühne über den Kosmos bis in die Anzugtasche eines Zuschauers bewegten. Doch wenn eine ältere Dame in der Gegend herumfuhr und irgendetwas von Engeln faselte, kapierte offenbar niemand, dass sie die Leute ebenso täuschte wie ich.

«Ach übrigens, treten Sebastian und Charlotta nicht auch gerade irgendwo in deiner Nähe auf?»

Ich verdrehte die Augen, obwohl Pontus mich nicht sehen konnte.

«Keine Ahnung, ich hab ihre Auftrittstermine nicht immer im Blick», antwortete ich und hörte selbst, wie gereizt ich klang.

«Ich glaub, sie haben gestern oder vorgestern in der Sparbanken Arena in Lidköping eine große Sommershow veranstaltet. Mit achttausend Gästen. Ausverkauft. Ist dir klar, wie viel Kohle die beiden verdienen? Absolut fantastisch!»

«Ich habe übrigens heute Geburtstag», sagte ich, um so schnell wie möglich das Thema zu wechseln.

«Tatsächlich? Glückwunsch.»

«Danke. Wann hat Kicki Hjort eigentlich Geburtstag?»

«Ich weiß es nicht aus dem Kopf, aber ich kann mal im Kalender nachschauen.»

«Ihr Geburtstag steht also in deinem Kalender und meiner nicht?»

Er versuchte sich an einer halbherzigen Erklärung, woraufhin ich das Thema fallenließ und das Telefonat beendete, nicht ohne Pontus noch einmal zum Sieg beim Luftpistolenschießen zu gratulieren. Er freute sich, wobei ihm offenbar mein säuerlicher Tonfall entging. Ich brachte nicht die Energie auf, ihm zu erklären, dass bei der Ankündigung einer guten und einer schlechten Nachricht normalerweise beide Nachrichten den Empfänger betreffen sollten. Ein Arzt sollte seinem Patienten also beispielsweise nicht die gute Nachricht präsentieren, dass er selbst fünfzig Millionen von seiner Oma geerbt habe, während die schlechte wäre, dass sein Patient unheilbar an Krebs erkrankt sei.

3

Es gelang mir nicht, mein Hotelzimmer zu stornieren, da ich es bereits einige Stunden «bewohnt» hatte. Dabei war ich nur kurz drinnen gewesen und hatte meine Tasche aufs Bett gestellt, aber ich hatte keine Lust, mich mit dem Kleingedruckten in den kundenverachtenden Geschäftsbedingungen des Hotels herumzuschlagen. Ich duschte, ging hinunter in die Bar und bestellte ein Bier. Es war eine ziemlich durchschnittliche Hotelbar, und die Gäste waren eine Mischung aus herumreisenden Geschäftsleuten und Menschen aus dem Ort. Neben mir setzte sich eine Frau an die Theke. Sie sah aus, als wäre sie in meinem Alter. Eine typische Vertreterin, schick gekleidet und zurechtgemacht, mit ein paar Kilos zu viel, höchstwahrscheinlich aufgrund der ungesunden Lebensweise, die ihr Beruf mit sich brachte. Dabei war sie auf eine professionelle Weise attraktiv, die vermutlich ankam, wenn man in einer männerdominierten Branche Waren verkaufte. Wir nickten einander zu. Sie bestellte sich einen Drink und begann mit mir einen Smalltalk über das Wetter (sonnig und warm).

Sie hätte mich wahrscheinlich als groß und schlank mit blauen Augen und kurzen dunkelblonden Haaren beschrieben, bekleidet mit einem gutsitzenden schwarzen Anzug und sorgfältig geputzten Schuhen. Ein durchschnittliches Aussehen ohne irgendwelche markanten Züge. Weder hübsch noch hässlich. An der Grenze zu langweilig und ungefährlich, was bei einem Smalltalk übers Wetter mit einem fremden Mann in einer Hotelbar je nach ihren persönlichen Absichten von Vor- oder auch von Nachteil sein konnte. Ich hatte jedenfalls nichts dagegen, mich ein wenig mit ihr zu unterhalten. Im Lauf des Gesprächs erfuhr ich, dass sie Sportkleidung verkaufte, noch nicht die Funktion aller blinkenden Lämpchen auf dem Armaturenbrett ihres neuen Firmenwagens herausgefunden hatte und dass hier in der Bar ein superleckeres Clubsandwich serviert wurde.

Ich hatte mein zweites Bier gerade zur Hälfte ausgetrunken und war mir ziemlich sicher, dass ich noch ein drittes trinken würde, als sie mich nach meinem Sternzeichen fragte. In einem Versuch, ihr mein Desinteresse zu signalisieren, zuckte ich mit den Achseln, doch es gelang ihr schließlich, herauszubekommen, dass ich Krebs bin. Zum Glück ließ sie dieses Thema bald wieder fallen und fragte mich stattdessen nach meinem Beruf. Wenn Frauen erfuhren, dass ich als professioneller Zauberer auftrat, reagierten sie ausgesprochen unterschiedlich. Manche wurden neugierig und wollten, dass ich ihnen einen Zaubertrick vorführte, um mich anschließend zu löchern, wie er funktionierte. Doch ein Zauberer verrät niemals seine Tricks – das ist ein ungeschriebenes Gesetz, das alle Profis befolgen. Die anderen blickten eher misstrauisch drein, ungefähr so, wie die meisten Erwachsenen reagieren, wenn sie von jemandem erfahren, dass er als Clown arbeitet. Mitunter erkundigten sie sich noch, ob man wirklich davon leben könne.

In diesem Fall fand die Frau an der Bar meinen Beruf offenbar spannend, und ich vermutete schon, dass sie mich gleich bitten würde, einen Trick vorzuführen. Aber ich hatte mich geirrt.

«Haben Sie schon einmal dieses Paar im Fernsehen gesehen? Ich glaube, sie heißen Sebastian und Charlotta. Die beiden zaubern irre gut. Ich habe letztes Wochenende die Umweltgala geschaut. Dabei ist diese Charlotta in einen Tigerkäfig gestiegen, der über dem Publikum heruntergelassen wurde, und alle haben gedacht, dass jeden Moment ein Tiger herauskommen würde. Doch dann hat sie ein Tuch gelüftet, unter dem stattdessen ein Katzenjunges saß, noch dazu mit dem Armband eines Mädchens aus dem Publikum um den Hals. Wirklich irre gut! Ich komme einfach nicht dahinter, wie der Trick funktioniert!»

Sicher hätte ich punkten können, indem ich ihr erzählte, dass ich die beiden von früher kannte. Und dass Sebastian als Jugendlicher so starkes Lampenfieber hatte, dass er vor jeder Vorstellung Durchfall bekam, oder dass man alle Komponenten der Illusionsnummer mit dem Tigerkäfig bei einer Firma in Las Vegas bestellen konnte. Sie erforderte weder großes Talent noch besondere Finesse. Man musste sie nur teuer bezahlen, die Anweisungen genau befolgen und das Ganze einstudieren. Doch angesichts der Tatsache, dass gerade meine Auftritte bis Mittsommer abgesagt worden waren, fehlte mir die Energie, mich über Sebastian und Charlotta auszulassen.

Ich bestellte kein drittes Bier mehr.

Stattdessen verbrachte ich den Abend beim Versuch, mit meinem alten Laptop ins Internet zu gelangen. Gegen elf Uhr ging ich noch einmal nach unten an die Rezeption und warf einen kurzen Blick in die Bar. Die Frau war noch immer dort. Sie saß mit einem gutgekleideten Mann an einem Tisch und aß ein Clubsandwich. Die beiden lachten und unterhielten sich mit übertriebenen Gesten. Vermutlich über Horoskope oder irgendwelche anderen uninteressanten Dinge.

Ich beugte mich über den Tresen, doch ich schaffte es nicht, Blickkontakt mit der jungen Rezeptionistin aufzunehmen, die tief versunken war in die Lektüre von Kicki Hjorts Buch über Nahtoderfahrungen und Engel.

«Sorry, dass ich störe», sagte ich und winkte, als befänden wir uns zehn Meter voneinander entfernt. «In der Minibar gibt es nur trockengeröstete Erdnüsse, aber die sind ungenießbar.»

Endlich hob sie den Kopf und schaute mich an.

«Es ist, als würde ich Nüsse mit einer Staubschicht darauf essen», fuhr ich fort. «Davon bekommt man ja Hustenanfälle. Ich hätte gern ganz gewöhnliche Erdnüsse.»

«Tja, wir haben aber nur diese Erdnüsse», erklärte sie und widmete sich wieder ihrem Bestseller.

«Ich habe keinesfalls vor, diese schweineteuren Erdnüsse zu bezahlen, wenn man davon Hustenanfälle bekommt. Ich hatte nicht einmal vor, hier zu übernachten, aber es war leider schon zu spät, um die Buchung zu stornieren. Deswegen schlage ich vor, dass Sie ein wenig guten Willen zeigen und mir normale Erdnüsse besorgen.»

«Die Erdnüsse in der Minibar sind leider die einzigen, die wir haben.»

«Ich habe Sie sehr wohl verstanden, aber finden Sie es angemessen, dass ich als Ihr Gast Nüsse essen muss, von denen ich Hustenanfälle bekomme?»

«Sie müssen die Nüsse ja nicht essen, wenn Sie sie nicht mögen.»

Ich warf eine zerknüllte Erdnusstüte auf den Tresen.

«Die Nüsse an sich sind in Ordnung. Ich mag nur die Röstung und den Staub nicht. Sobald ich beim Kauen einatme, muss ich husten. Für diese hier werde ich jedenfalls nichts bezahlen.»

«Okay, Sie bekommen sie umsonst, auch wenn Sie schon die ganze Tüte leer gegessen haben, obwohl Sie sie nicht mögen.»

Ihr Ton gefiel mir ganz und gar nicht. Es war Zeit für klare Worte. Ich deutete mit dem Finger durch die Eingangstür hinaus auf einen 7-Eleven-Laden, der auf der anderen Straßenseite lag.

«Jetzt werde ich Ihnen mal zeigen, wie leicht es ist, ein Minimum an Entgegenkommen zu demonstrieren. Ich gehe kurz rüber und kaufe eine große Tüte gewöhnliche Erdnüsse. In maximal fünf Minuten bin ich zurück. Erinnern Sie sich daran, nachdem Sie einen Kunden verloren haben, der von nun an nicht mehr in Ihrem Hotel absteigen wird. Gerade mal fünf Minuten hätte es gedauert, mich zufriedenzustellen, aber Sie haben sich dagegen entschieden.»

«Es tut mir leid, wenn Sie nicht zufrieden sind, aber ich kann meinen Platz hier nicht verlassen.»

«Können oder wollen Sie es nicht?», fragte ich mit eindringlichem Blick, bevor ich in Richtung Ausgang marschierte.

«Wenn Sie sowieso gerade einkaufen gehen, wären Sie dann so lieb, mir Kaugummi mitzubringen? Zuckerfreies, gerne Spearmint oder Ocean frost», rief sie mir nach, als ich schon halb auf der Straße war.

Aus dem Büro hinter der Rezeption lugte ein langhaariger junger Mann hervor. Er winkte mir zu.

«Gehen Sie rüber zum 7-Eleven? Könnten Sie mir bitte ein Päckchen Marlboro mitbringen?»

4

In der Nacht warf ich mich von einer Seite auf die andere und konnte einfach nicht einschlafen. Also stand ich um kurz vor eins auf und packte rasch meine Sachen zusammen, um auszuchecken und nach Hause zu fahren. Ich konnte natürlich nicht ahnen, dass diese Entscheidung eine Serie von bizarren und denkwürdigen Ereignissen auslösen würde. Zu diesem Zeitpunkt wusste ich nur, dass ich lieber mitten in der Nacht nach Hause fahren wollte, als mich im Bett eines Hotelzimmers herumzuwälzen und die Zeit totzuschlagen.

Vor mir lag eine drei- bis vierstündige Autofahrt durch die Sommernacht. Ich würde also noch vor dem Frühstück zu Hause in Sundbyberg sein, was etwas nördlich von Stockholm liegt. Zu Hause in meiner hellen und relativ frischrenovierten Mietwohnung. Die alte schwerhörige Dame aus der Wohnung nebenan war vor ein paar Monaten verstorben. Was natürlich traurig für sie war, aber angenehm für mich, da ich nun nicht mehr alle Tierfilme durch die Wand mithören musste, die sie sich in viel zu hoher Lautstärke im Fernsehen anschaute. Kurz nachdem meine Nachbarin gestorben war, hatte irgendein Hausbewohner angefangen, davon zu reden, dass es in der Wohnung der Alten spukte. Einige Interessenten hatten sich die Wohnung angeschaut, doch als sie erfuhren, dass diese von einem schwerhörigen Gespenst heimgesucht wurde, verzichteten sie lieber darauf, sie zu mieten.

Obwohl es schon eine ganze Weile her war, dass die Menschheit in dem Glauben lebte, die Erde wäre eine Scheibe, geschahen selbst in unserer modernen Zeit noch Dinge wie diese in Sundbyberg. Die Leute lehnten eine günstige Dreizimmerwohnung mit einem unbefristeten Mietvertrag ab, weil jemand das Gerücht verbreitet hatte, dass es dort spukte. Beinahe taten mir die abergläubischen Idioten leid, die sich gegen die Wohnung entschieden, auch wenn es mir an und für sich lieb war, vorerst keine neuen Nachbarn zu bekommen.

Bevor ich auf Mittsommertournee ging, hatte ein Umzugswagen vor dem Haus gestanden, und ich war ein wenig besorgt, dass nun jemand neben mir einziehen würde. Ich bin keiner, der den Nachbarn misstrauisch nachspioniert, doch in diesem Fall ging es mich ja persönlich an. Also stand ich eine Weile mit dem Ohr an der Wand und lauschte. Doch es war kein Laut zu hören. Ich blieb im Treppenhaus stehen, um zu sehen, ob die Möbelpacker in meine Etage hochkämen, was aber nicht der Fall war. Wenn es nach mir ginge, könnte die Wohnung gern bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag leer stehen.

 

Als ich Karlsborg verließ, war es schwül, und ein Gewitter lag in der Luft. Kurz vor der Grenze zwischen den Provinzen Västergötland und Närke fiel mir ein, dass ich vergessen hatte, mir vom Hotelpersonal das Geld für das Kaugummi und die Zigaretten geben zu lassen. Ich fluchte laut und verbrachte einige Kilometer meiner monotonen Nachtfahrt damit, gedanklich eine aufgebrachte Mail an die Geschäftsstelle der Hotelkette zu formulieren – mit einer Beschwerde über schlechten Service, die falsche Erdnusssorte und kundenfeindliche Geschäftsbedingungen beim Stornieren von Buchungen. Als plötzlich vor mir auf der dunklen Straße blinkende Baustellenleuchten und Warndreiecke aufblitzten, wurde ich abrupt aus meinen Überlegungen gerissen. Hinter einer Absperrung stand eine dampfende Asphaltwalze quer auf der Straße, umgeben von Straßenarbeitern. Ich schaltete das Autoradio aus, in dem einschläfernde Hintergrundmusik dudelte, bremste ab und hielt an. Ein unrasierter Arbeiter in einem orangefarbenen Overall trat an die Fahrerseite meines Wagens. Ich ließ die Seitenscheibe herunter.

«Die Straße ist gesperrt», erklärte er und deutete mit einer ausladenden Bewegung auf eine schmale Abzweigung. «Fahren Sie da vorne links und dann vor Tiveden rechts in Richtung Olshammar, dann kommen Sie wieder auf die richtige Straße.»

Er hatte eine Zigarette im Mundwinkel hängen, und ich wedelte demonstrativ den Qualm weg, der ins Innere meines Autos drang.

«Links und dann rechts in Richtung Olshammar, und zwar vor Tiveden, verstanden?»

Der autoritäre Ton des Straßenarbeiters war absolut unangebracht.

«Danke, aber ich habe ein Navi dabei, falls ich Probleme mit der Rechts-Links-Orientierung bekommen sollte», brummte ich und deutete mit dem Kopf auf mein Handy, das in einer Halterung auf dem Armaturenbrett steckte.

Ich fuhr die Scheibe wieder hoch und bog links ab. Als ich merkte, dass ich auf einer kurvenreichen Landstraße gelandet war, die von dichtem dunklem Kiefernwald gesäumt war, schaltete ich das Fernlicht ein.

Nach ungefähr zehn Minuten tauchte am Straßenrand ein Schild mit der Aufschrift NATIONALPARK TIVEDEN auf.

Da es nirgends eine Abzweigung gab, fuhr ich weiter. Aber hätte nicht schon vor Tiveden ein Hinweisschild stehen sollen? Irgendetwas mit O, meinte ich mich zu erinnern. Ich hatte nicht so genau zugehört, weil der rauchende Straßenarbeiter auf mich eingeredet hatte, als wäre ich ein Idiot, der selbst die einfachste Erklärung nicht kapierte. Links von der Straße öffnete sich der Kiefernwald zu einem nebelverhangenen Feld. Ich fingerte an meinem Handy herum und versuchte mich auf der Karte zu orientieren.

Plötzlich erblickte ich im Schein des Fernlichts direkt vor mir auf der Straße einen riesigen roten Klumpen.

Und schon im nächsten Augenblick stieß ich mit einem Chesterfieldsofa zusammen.

5

Schon immer hatte ich ein Faible für deutsche Automarken. Bereits in jungen Jahren beschloss ich, die von mir angestrebte steile Karriere durch immer hochwertigere deutsche Autos zu symbolisieren. Angefangen mit Volkswagen über Audi und BMW bis hin zu Mercedes und Porsche. Während ich mit dem roten Chesterfieldsofa zusammenstieß, von der Straße abkam und aufs Feld schlitterte, streifte mich der Gedanke, dass es ganz gut war, meinen dreizehn Jahre alten VW Passat noch nicht durch einen neueren Wagen ersetzt zu haben.

Mein Kopf wurde zur Seite geschleudert und schlug gegen die Fahrertür. Dann verlor ich womöglich für einige Sekunden das Bewusstsein, denn als ich aus dem Wagen stolperte, war ich so verwirrt, als wäre ich gerade aus dem Tiefschlaf aufgewacht. Mein Herz hämmerte wie wild, und meine Fingerspitzen waren kalt und leicht taub. Ich bewegte meine Arme und Handgelenke, um mich zu vergewissern, dass noch alles funktionierte. Doch nichts schien verstaucht oder gar gebrochen zu sein.

Das Sofa war an den Straßenrand geschleudert worden, hatte den Zusammenstoß im Gegensatz zu meinem Wagen jedoch relativ unbeschadet überstanden. Die Vorderräder meines Passats wiesen in entgegengesetzte Richtungen. Das sah nicht gut aus. Ich setzte mich hinters Lenkrad. Der Fahrersitz wackelte in seiner Verankerung, und ich richtete die Rückenlehne neu ein, die sich ein Stück nach vorn geneigt hatte. Der Motor sprang zwar an, aber der Wagen ließ sich nicht mehr lenken. Hinzu kam, dass alle Gegenstände im Wageninneren, die nicht fest installiert waren, in Richtung Windschutzscheibe und Armaturenbrett geschleudert worden waren. Als ich im Fußraum nach meinem Handy griff, verzog ich das Gesicht. Es war in mehrere Teile zerlegt worden. Zwar gelang es mir, das Gerät wieder zusammenzusetzen, doch es gab keinen Ton mehr von sich.

Bestimmt gibt es Personen, denen an einem Tag gleich mehrere Missgeschicke passieren. Man vergisst etwas, lässt Gegenstände fallen, verwechselt Dinge oder sagt etwas Falsches. Es ist also durchaus menschlich, Fehler zu machen, aber wie zum Teufel kann man auf der Straße ein Sofa verlieren, ohne es zu merken? Es musste irgendeinem LKW von der Ladefläche gerutscht sein, denn es hatte ja wohl kaum jemand das Sofa absichtlich mitten auf die Straße gestellt. Da jedoch niemand in der Nähe war, den ich zur Verantwortung hätte ziehen können, reagierte ich mich mit einigen Tritten gegen das Sofa ab, was mir aber hauptsächlich Fußschmerzen einbrachte.

Dann schaute ich nach meiner Ausrüstung im Kofferraum. Ich besaß nur wenige empfindliche Gegenstände, und zum Glück schien alles den Crash unbeschadet überstanden zu haben. Eigentlich bin ich kein Mensch, der andauernd an seinem Handy herumspielt, doch nachdem ich eine gute halbe Stunde am Straßenrand gestanden und darauf gewartet hatte, dass endlich ein Auto vorbeikam, erfasste mich ein Unbehagen beim Gedanken daran, dass ich nicht einmal den Abschleppdienst rufen konnte. Oder überhaupt telefonieren.

Hinter meiner Schläfe hämmerte es, und mein Schlüsselbein schmerzte vom abrupten Einrasten des Sicherheitsgurts. Aber vor allem war ich sauer. Ich beschloss, mich auf den Weg zu machen und nach einem Haus mit Telefon Ausschau zu halten.

Das Risiko, dass jemand in meinen Wagen einbrach, hielt ich für gering. Außer einigen Requisiten und meinem maßgeschneiderten Bühnenanzug lag darin nichts Wertvolles. Auch mein Laptop war so alt, dass sich vermutlich kein verwöhnter schwedischer Dieb dafür interessieren würde. Nur das abgenutzte Spielkartenset aus dem Koffer steckte ich ein. Auf der Rückseite der Karten stand in einer hübschen verschnörkelten Schrift «Anton». Meine Glückskarten. Ich war zwar weder sentimental noch abergläubisch, doch diese Karten wollte ich auf gar keinen Fall verlieren. Vor einigen Jahren hatte ich insgesamt zwanzig Kartenspiele dieser Art bei einer Firma bestellt, die T-Shirts, Kaffeebecher, Stifte und sonstige Büroartikel bedruckte, und dies war das letzte Set, das mir geblieben war. Mir ein neues zu bestellen, hätte zwar keine Unsummen verschlungen, doch meine Finanzen konnten momentan jede Schonung gebrauchen. Ich wagte kaum daran zu denken, was es kosten würde, mein dreizehn Jahre altes Auto, das ich zehn Jahre lang abbezahlt hatte, abschleppen und reparieren zu lassen.

Ich überlegte, ob ich der Straße in Fahrtrichtung folgen oder mich aufs freie Feld begeben sollte, um herauszufinden, was sich auf der anderen Seite befand. Ich entschied mich für das Feld, da es aussah, als wäre es irgendwann einmal ein Acker gewesen. Logischerweise müsste sich dann irgendwo in der Nähe auch ein Haus befinden.

Leichter Nebel hing über dem Boden, und schon bald sah ich die Straße, meinen Wagen und das rote Sofa nicht mehr. Im Nachhinein betrachtet, kommt es mir vor, als wäre ich während dieses Spaziergangs vom Nebel verschluckt worden, um kurz darauf in einer neuen Welt wieder aufzutauchen.

Das Gras war taunass und der Untergrund weich. Leider endete auch das Feld an einem Kiefernwald. An den Stämmen hingen diverse Schilder, die selbstgezimmert aussahen und im Abstand von ungefähr zehn Metern an die Baumrinde genagelt worden waren. Es waren dreieckige Sperrholzplatten, die jemand orange gestrichen, mit einer roten Umrahmung versehen und dann mit schwarzem Filzstift beschrieben hatte.

PRIVATGELÄNDE

Zutritt strengstens verboten!

Die Not kennt kein Gesetz. Ich ignorierte das Verbot. Hoffentlich wohnte der Eigentümer des Grundstücks in der Nähe. Es dauerte nicht lange, bis ich zu einem weiteren Schild der Marke Eigenbau gelangte.

LEBENSGEFÄHRLICHE STROMLEITUNG

Warnung!

Bitte verlassen Sie das Gelände!

Was für ein merkwürdiges Schild. Ich schaute mich um. Weit und breit war keine Stromleitung zu sehen. Allerdings entdeckte ich eine weiße Linie, die sich über den Boden zog und bei näherer Betrachtung aus grobkörnigem Salz zu bestehen schien. Neben der Linie steckten hier und da Bündel von Besteckteilen wie Messer und Gabeln und auch der eine oder andere Teelöffel im Boden. Das Besteck war fleckig und sah altmodisch aus, vielleicht war es sogar aus Silber. Das Besteckbündel zu meinen Füßen wurde von einer Schnur zusammengehalten, an der ein langer schmutziger Stoffstreifen hing. Er war mit altnordischen Runen bestickt. Ich versuchte die Zeichen zu entziffern, begriff allerdings kein Wort.

Womöglich gehörte der Grund und Boden einem exzentrischen Künstler, und es handelte sich um eine Art Installation. Oder die Messer, Gabeln, Stoffstreifen und die weiße Linie aus Salz markierten auf besonders kreative Weise eine unterirdisch verlegte Stromleitung.

Ich machte einen großen Schritt über die Linie hinweg, ging weiter in den Wald hinein und warf einen Blick auf meine Casio-Uhr, die ich eigentlich schon vor vielen Jahren gegen eine TAG Heuer oder ein anderes Schweizer Modell hatte austauschen wollen. Erstaunt stellte ich fest, dass es schon halb sechs Uhr morgens war. Womöglich war ich schon stundenlang herumgeirrt. Höchstwahrscheinlich war ich von dem Zusammenprall mit dem Sofa doch benommener als angenommen und hatte vielleicht sogar eine Gehirnerschütterung davongetragen.

Verwirrt sah ich mich im Morgennebel zwischen Zweigen und Ästen, Heidekraut und moosbewachsenen Felsblöcken um. Eigentlich hätte es um diese Zeit längst hell sein müssen, doch die dichten hochgewachsenen Bäume hüllten den Wald in Dunkelheit. Die absolute Stille war mir fast unheimlich. Der intensive Geruch nach Kiefernnadeln stach mir in die Nase.

Als ich weiterging, drangen vereinzelte Sonnenstrahlen durch die Baumwipfel und erleuchteten eine nebelumwobene moosbewachsene Lichtung, die sich vor meinen Augen öffnete. Der Anblick ließ mich an eines dieser unwirklich anmutenden naturromantischen Stillleben denken, die man als Bildschirmschoner auf dem Computer installieren kann. Vermutlich befand ich mich im Nationalpark Tiveden. Irgendwo hatte ich gehört, dass sich dort ein großes Gebiet skandinavischen Urwalds befand. Nur hoffentlich kein unberührter unbewohnter Urwald. Die handgefertigten Schilder deuteten zwar daraufhin, dass in der Umgebung Menschen wohnten, aber dennoch beschlich mich das beunruhigende Gefühl, in der falschen Richtung unterwegs zu sein. Weg von der Zivilisation und hinein in die Wildnis. Nachdem ich die Lichtung überquert hatte, erblickte ich eine schmale Schotterstraße, die unterhalb eines nebligen Abhangs lag. So schnell es das unwegsame Gelände zuließ, stieg ich den Abhang hinunter. Erneut stieß ich auf eine Reihe von Schildern.

WARNUNG VOR BÄREN

Sehr gefährlich!

Zutritt unbedingt vermeiden!

Das war nun wirklich ein schlecht formuliertes Schild. Gab es denn überhaupt Bären im Nationalpark? Ich war mir nicht sicher, bemühte mich jedoch, schneller vorwärtszukommen, und als ich die Schotterstraße erreichte, entdeckte ich in ungefähr fünfzig Meter Entfernung ein rotes Holzhäuschen. Aus dem Schornstein stieg eine spärliche Rauchsäule auf. Endlich hatte ich ein bisschen Glück.

«Hej.»

Ich zuckte zusammen und fuhr herum. Hinter mir am Waldrand stand ein kleines Mädchen von ungefähr zehn Jahren. Ihre Haut war blass, sie hatte langes helles Haar und trug ein weißes Kleid, das ihr bis zu den nackten Füßen reichte.

«Ich brauche sieben verschiedene Blumen, die ich in der Mittsommernacht unter mein Kopfkissen legen kann. Wollen Sie mir suchen helfen?» Das Mädchen sprach mit monotoner schleppender Stimme.

Ich deutete auf das rote Häuschen. «Wohnst du dort? Sind deine Eltern zu Hause?»

Sie schüttelte den Kopf. Die Morgensonne fiel auf ihr Haar, in dem eine Perlenspange aufblitzte.

«Du … leider habe ich es ziemlich eilig. Ich hatte einen Autounfall und bräuchte dringend ein Telefon.»

Ich kehrte ihr den Rücken zu und ging in Richtung Haus.

«Sie wollen mir also nicht beim Blumenpflücken helfen?»

Ich blieb stehen und drehte mich erneut um. Das Mädchen stand unbeweglich am Waldrand. Es wirkte weder fröhlich noch traurig.

«Ich brauche dringend ein Telefon», wiederholte ich. «Ach übrigens, gibt es eigentlich Bären hier? Falls ja, solltest du äußerst vorsichtig sein.»

«Die Bären trauen sich nicht hierher», antwortete das Mädchen und schaute mich in einer Art und Weise an, die mir etwas altklug vorkam.

«Sind Sie sicher, dass Sie mir nicht helfen wollen, sieben Blumen zu pflücken?»

«Vollkommen sicher. Und außerdem träumst du bestimmt nicht von dem Mann, den du einmal heiraten wirst, nur weil du dir in der Mittsommernacht sieben Blumen unter das Kopfkissen legst. Das ist nichts als Aberglaube. Höchstwahrscheinlich wirst du nur von Ohrenkneifern gebissen. Und im Übrigen hast du ja noch ein paar Jahre Zeit, ehe du dir Gedanken über deine Hochzeit machen musst.»

Das Mädchen senkte den Blick und verschwand langsam rückwärts in den dichten dunklen Wald hinein, was etwas theatralisch anmutete. So jung und schon eine kleine Diva, dachte ich und ging auf das rote Häuschen zu.

6

Nachdem ich mehrfach angeklopft hatte, wurde die Tür des Häuschens geöffnet, und ich blickte in die erstaunten Gesichter einer Frau und eines Mannes, die beide um die siebzig Jahre alt waren. Die zwei waren recht knochig und sehnig und hatten wettergegerbte Haut, doch der Blick aus ihren blauen Augen war wach und aufmerksam. Der Mann hatte dichtes glattes und sonnengebleichtes Haar, das ihm knapp über die Ohren reichte und in der Mitte gescheitelt war. Die grauen Haare der Frau hingegen waren dünn und lagen platt am Kopf an. Sie erinnerten mich an eine Baskenmütze aus Zuckerwatte. Es hatte fast den Anschein, als hätten die beiden die Frisuren miteinander getauscht. Beide trugen eine Latzhose. Sein Hemd war rot, ihres grün.

«Guten Morgen», sagte die alte Frau. «Wie kommen Sie denn hierher? Haben Sie die Schilder nicht gesehen?»

«Vielleicht spricht er kein Schwedisch», wandte der alte Mann ein. «Ich hab ja gesagt, dass wir mehrsprachige Schilder aufstellen sollten.»

Die Frau schüttelte den Kopf. «Die schwedischen Schilder reichen völlig aus. Es sind sowieso schon viel zu viele.»

Der Mann runzelte die Stirn und nickte dann. «Womöglich sinkt der Abschreckungseffekt, je mehr Schilder dort stehen. Wir sollten das Thema bei der nächsten Ratssitzung ansprechen und auf eine Vereinheitlichung der Schilder drängen.»

Ich hob die Hand, um mich bei ihnen in Erinnerung zu bringen und ihre interne Schilderdebatte zu beenden.

«Ich habe die Schilder sehr wohl gesehen, und ich weiß auch, dass ich mich hier auf einem Privatgrundstück befinde. Es tut mir leid, dass ich einfach so in Ihre Besitztümer eingedrungen bin, aber ich bräuchte …»

«Besitztümer?», unterbrach mich die Alte. «Der Wald gehört uns nicht. Er gehört sich selbst. Wir, die Bewohner des Waldes, stellen die Schilder auf, damit niemand von außerhalb hereinkommt und in Gefahr gerät.»

«Aber jetzt, wo Sie schon einmal hier sind, dürfen wir Ihnen vielleicht einen Kaffee und ein Stück Biskuitrolle anbieten?», warf der Alte ein.

Ich schüttelte den Kopf und versuchte mein Anliegen vorzubringen, bevor sie erneut das Wort ergriffen.

«Ich hatte einen Unfall und würde gern Ihr Telefon benutzen.»

«Einen Unfall? Hier?»

«Nein, auf der Landstraße, nicht weit von hier. Allerdings weiß ich nicht genau, wo. Anfänglich bin ich über ein nebliges Feld oder einen Acker gelaufen, bis ich in den Wald gekommen bin, wo ich jede Menge Schilder und eine weiße Linie gesehen und schließlich eine Schotterstraße erreicht habe, die hierherführte …»

«Haben Sie die Linie etwa zerstört?», unterbrach mich die Alte, und ich spürte leichte Aggressionen in mir aufsteigen.

«Was meinen Sie genau?»

«Sind Sie auf das Besteck getreten, oder haben Sie die Salzlinie mit den Schuhen verwischt?»

«Nein, ich habe einen großen Schritt über die Linie gemacht. Ich habe sie gar nicht berührt», erklärte ich.

«Gut. Sie schützt nämlich alle Außenstehenden vor den Lebewesen auf unserer Seite und darf auf keinen Fall durchbrochen werden.»

«Aha. Haben Sie denn möglicherweise ein Telefon, das ich kurz benutzen dürfte?»

«Selbstverständlich. Die nächste asphaltierte Straße liegt allerdings über zehn Kilometer entfernt. Sie müssen also ein ganzes Stück gelaufen sein. Kommen Sie doch herein.»

Sie zogen mich in den Flur, schüttelten mir die Hand und stellten sich als Gunnar und Greta vor. Ihr Häuschen war recht wohnlich und gemütlich eingerichtet. Zwar herrschte eine gewisse Unordnung, aber alles war sauber und gepflegt. Eine der Türöffnungen schien in ein enges Schlafzimmer zu führen und eine andere in eine kleine Küche. Es roch nach Kümmel und geöltem Holz, und ich hatte den Eindruck, dass fast alles in diesem Haus selbstgezimmert war.

Ich nahm einen dampfenden Becher Kaffee von Gunnar entgegen, während ich die Biskuitrolle dankend ablehnte. Greta führte mich zu einer Kommode, auf der ein unmodernes Telefon stand. Daneben lag ein großes goldfarbenes Wollknäuel. Ich berührte es mit dem Finger. Es war hart und wirkte ziemlich schwer. Ich fragte mich, ob es sich womöglich um einen Goldklumpen handelte und was er in diesem Fall wohl wert wäre.

Greta schob sich zwischen den Goldklumpen und mich, nahm den Hörer ab und reichte ihn mir. Ich rief die Auskunft an und wurde erst mit dem Rettungsdienst verbunden und dann mit einem Abschleppdienst in der Nähe. Mit Gunnars und Gretas Hilfe beschrieb ich, wo mein Auto ungefähr stand. Der Mann am anderen Ende der Leitung sicherte mir zu, meinen Wagen abzuschleppen und zu einer Tankstelle zu bringen, deren Adresse er mir nannte. Dort würde er prüfen, was kaputtgegangen sei und ob es sich gleich vor Ort reparieren ließe oder ob der Wagen in eine Werkstatt gebracht werden müsste. Ich könne auf jeden Fall noch im Lauf des Vormittags zur Tankstelle kommen, um nach meinem Wagen zu schauen. Seine Auskünfte klangen sehr professionell und unkompliziert, doch im Hinblick auf meine negativen Erfahrungen mit Automechanikern im Allgemeinen wollte ich mich lieber nicht zu früh freuen.

Kurz nachdem ich aufgelegt hatte, fiel mir ein, dass ich den Fahrersitz nicht erwähnt hatte, der nach dem Zusammenstoß nicht mehr fest in seiner Verankerung saß, aber womöglich war das keine große Sache.

Gunnar bot mir an, mich später zur Tankstelle zu fahren, die ungefähr eine Stunde entfernt lag. Dankend nahm ich sein Angebot an und setzte mich in einen verschlissenen, aber bequemen Sessel. Ich empfand es als äußerst angenehm, sitzen zu können. Schließlich war ich die ganze Nacht auf den Beinen gewesen. Ich trank einen Schluck Kaffee. Er war unerwartet heiß, und ich erfuhr, dass es sich um Kochkaffee handelte. Er schmeckte erstaunlich gut. Nach einigen Schlucken nahm ich schließlich doch ein Stück von der Biskuitrolle, die Gunnar nach einem alten Rezept selbst gebacken hatte. Mit Preiselbeeren, wie er erklärte. Ich hörte nur mit halbem Ohr zu, während er eingehend und leidenschaftlich beschrieb, wie man eine Biskuitrolle backte, sich über die Beschaffenheit der Eier und des Zuckers ausließ, die Funktion des Backpulvers erläuterte, die Backdauer erwähnte und die Frage erörterte, warum es wichtig sei, den Teig mit dem Schneebesen gegen den Uhrzeigersinn zu rühren, damit er schön luftig wurde. Niemals im Uhrzeigersinn. Immer gegen den Uhrzeigersinn. Ich nickte hin und wieder, um Interesse vorzuschützen. Jedenfalls mochte ich die Biskuitrolle und nahm mir noch ein weiteres Stück, als ganz plötzlich der Henkel meines Kaffeebechers abbrach und mir das Gefäß aus der Hand fiel. Der kochend heiße Kaffee ergoss sich über meinen Schoß und verbrühte mich dort, wo man sich am allerwenigsten verbrühen möchte. Der Schmerz setzte mit leichter Verzögerung ein. Es dauerte ein paar Sekunden, bis ich laut aufschrie und aus dem Sessel aufsprang.

Greta wischte den verschütteten Kaffee mit einem Lappen auf. Gunnar entschuldigte sich dafür, dass der Becher kaputtgegangen war. Ich ging rastlos auf dem knarrenden alten Holzfußboden auf und ab, während ich mit zusammengebissenen Zähnen stöhnte.

«Was haben Sie denn mit Ihrer Stirn gemacht?», fragte Greta.

«Stirn? Wieso?», fragte ich, während ich gedanklich mit meinem verbrühten Schritt beschäftigt war.

Die beiden Alten schauten mich mit großen Augen an. Sie wirkten geradezu ängstlich. Gunnar drehte meinen Oberkörper so, dass ich mich im Spiegel über der Kommode sehen konnte. Seitlich auf meiner Stirn etwas oberhalb der Schläfe befanden sich mehrere Rußflecken, die an kleine schmutzige Fingerabdrücke erinnerten. Ich zuckte mit den Achseln. Wenn man nach einem Unfall stundenlang im Wald herumirrt, gibt es Tausende von Situationen, bei denen man sich Rußflecken auf der Stirn holen kann. Ich begriff nicht, warum sie ihnen überhaupt Bedeutung beimaßen.

Die beiden wechselten beunruhigte Blicke, bevor sich Greta wieder an mich wandte. «Sie sind im Wald nicht zufällig einem kleinen Mädchen begegnet?»

«Doch», antwortete ich erstaunt. «Kurz nachdem ich aus dem Wald gekommen und die Schotterstraße ein Stück hinuntergegangen war. Wieso?»

«Hat das Mädchen Sie gebeten, sieben Blumen zu pflücken, die es in der Mittsommernacht unter sein Kopfkissen legen will?», fragte Gunnar.

«Ja», antwortete ich und zog den Stoff meiner nassen Hose leicht nach oben.

«Und haben Sie ihm geholfen?», fragte Greta.

«Nein, ich hatte keine Zeit dafür. Und keine Kraft. Und keine Lust.»

Greta rang angestrengt nach Luft. «Sie sind mit einem Todesfluch belegt!»

Dann erhob sie drohend ihren Zeigefinger gegen mich.

«Wie konnten Sie die Bitte nur ablehnen? Wenn ein kleines Mädchen einen um Hilfe bittet, dann hilft man ihm doch, begreifen Sie das nicht?»

«Das war das erste Unglück», brummte Gunnar unheilverkündend, während er seinen Blick auf den zerbrochenen Kaffeebecher richtete.

Langsam ging mir das rätselhafte Verhalten der beiden Alten auf die Nerven, und ich fragte sie, wovon sie eigentlich redeten.

«Das Kind ist eine Fee, die jedes Jahr in der Mittsommerzeit durch den Wald streift», erklärte Greta. «Wenn man ihr hilft, die Blumen zu pflücken, geschieht einem nichts. Aber wenn man ihr nicht hilft, wird man mit einem Todesfluch belegt und immer wieder von Unglück heimgesucht, bis man es nicht mehr aushält und sich schließlich das Leben nimmt. Nach dem Tod bleibt die Seele des Unglücklichen für immer und ewig in einer Perle an der Haarspange des Mädchens eingeschlossen.»

Ich nickte kurz und wischte mir dann mit dem Handrücken das «Todesmal» von der Stirn. «Also, haben Sie vielen Dank für den Kaffee. Könnten Sie mir vielleicht eine Landkarte ausleihen? Dann finde ich allein zu dieser Tankstelle.»

Ich hoffte, sie hörten an meinem Tonfall, dass ich langsam genug von ihrem Gefasel hatte. Doch Gunnar schüttelte nur den Kopf. «Sie können jetzt nicht einfach wegfahren. Wir müssen erst ein reinigendes Ritual mit Ihnen durchführen, damit Sie den Fluch wieder loswerden.»

Ich brauchte ungefähr zehn Minuten, um ihnen zu versichern, dass mit mir alles in Ordnung war. Dass ich nicht an übernatürliche Waldwesen glaubte und auch nicht daran, dass ich von einem Fluch heimgesucht worden war oder dass plötzlich irgendein Unglück über mich hereinbrechen würde. Schließlich gaben sie ihre Überzeugungsversuche auf, bestanden aber darauf, mich zur Tankstelle zu fahren. Ich willigte ein, obwohl ich den Verdacht hatte, dass Gunnar und Greta trotz ihrer wachen blauen Augen womöglich etwas verwirrt und leicht senil waren.

 

Wir fuhren mit dem Auto auf verschlungenen Schotterstraßen durch den, wie mir schien, unendlichen Urwald. Vermutlich hätte ich den Weg mit Hilfe der Karte nie allein gefunden. Greta fuhr vorsichtig, und ich spürte Gunnars prüfenden Blick von der Rückbank im Nacken. Er machte sich wahrscheinlich ernsthaft Sorgen, dass mich ein Unglück ereilen könnte, während wir zusammen im Auto saßen. Ich erzählte ihnen von dem Sofa, mit dem ich in der vergangenen Nacht zusammengestoßen war, und erklärte, dass es merkwürdige und nahezu unbegreifliche Dinge gab, die auch ganz ohne den Einfluss übernatürlicher Kräfte geschehen konnten. Dass beispielsweise der Henkel eines Kaffeebechers viel eher aufgrund eines Risses im Porzellan als durch die magische Einwirkung einer Waldfee abbrach. Greta ignorierte meine Ausführungen und meinte, dass vermutlich kosmische Kräfte am Werk gewesen seien und mir das Sofa in den Weg gestellt hätten, um mir eine Botschaft zu vermitteln. Ich nickte nur und beschloss, ihre lächerliche Theorie, dass der Kosmos eine Art allmächtiges Bewusstsein besaß und mit den Menschen kommunizierte, indem er ihnen Sofas in den Weg stellte, nicht weiter zu kommentieren.

In einer engen Kurve hielt Greta abrupt an. Als ich sie nach dem Grund fragte, deutete sie auf eine dicke Salzlinie, die quer über den Weg gestreut war. Gunnar stieg aus dem Wagen und holte ein Paket grobkörniges Salz aus dem Kofferraum. Sorgfältig füllte er die Linie an den Stellen wieder auf, wo die Reifen sie zerstört hatten. Dann richtete er in der Fahrspur einige Besteckteile auf, die platt gefahren worden waren, bevor er wieder einstieg und sich auf die Rückbank setzte.

«Wir schützen wie gesagt die Außenstehenden davor, dass Fabelwesen jeder Art aus dem Wald kommen und ihr Unwesen treiben», erklärte Gunnar und setzte sich auf der Rückbank zurecht. «Und zwar mit Hilfe von Salz, Silber und einer alten Beschwörungsformel mit altnordischen Runen. Es funktioniert wirklich gut.»

«Super» war alles, was mir dazu einfiel.

Allmählich lichtete sich der Urwald von Tiveden, und wir erreichten eine Teerstraße und näherten uns damit wieder der modernen Zivilisation. Die Tankstelle lag direkt an einer Autobahnausfahrt. Ich hatte keine Ahnung, wo wir uns gerade befanden, doch auf dem Gelände parkte neben einem Abschleppwagen wie versprochen mein alter Passat, und davor sah ich einen jungen Mann mit Kopfhörern stehen.

Ich erhielt einen Zettel mit Gretas und Gunnars Telefonnummer und dazu einen gefühlten halben Meter in Frischhaltefolie eingewickelte Biskuitrolle.

«Es ist wichtig, dass Sie auf der Heimreise in regelmäßigen Abständen ein Stück essen», erklärte Gunnar. «Die Biskuitrolle schützt Sie vor bösen Geistern und Flüchen. Sie bietet zwar keinen umfassenden Schutz, ist aber allemal besser als gar nichts. Trotzdem sind Sie nach wie vor mit einem Todesfluch belegt und werden weiterem Unglück ausgesetzt sein, also seien Sie vorsichtig.»

Ich beschloss, seine Aussage nicht weiter zu kommentieren, sondern nickte lediglich und behauptete, ich würde die beiden anrufen, falls ich das ganze Unglück nicht länger aushalten könne, das mir womöglich bevorstand. Zu meinem Erstaunen umarmte Greta mich herzlich, und die beiden wünschten mir viel Glück. Es war fast rührend, wie aufrichtig besorgt sie um mich waren. Aber auch nur fast. Wir verabschiedeten uns, und dann fuhren Gunnar und Greta wieder zurück in den unendlichen Urwald.

7

Die Biskuitrolle schmeckte an und für sich recht gut, aber ich wollte sie dennoch nicht mit mir herumschleppen. Deshalb warf ich sie an der Tankstelle in den nächsten Papierkorb. Dann wandte ich mich dem Mann zu, der neben dem Abschleppwagen stand. Laute Musik drang aus seinen riesigen Kopfhörern. Aber er machte sich nicht die Mühe, sie abzunehmen, während er mir erklärte, was an der Lenkung kaputtgegangen (und jetzt repariert worden) war, und mich fragte, wohin er die (verdammt hohe) Rechnung für das Abschleppen und die Reparatur schicken sollte. Ich nannte ihm meine Adresse. Nur zu gern hätte ich den hohen Preis hinterfragt, denn Ausgaben dieser Größenordnung konnte ich mir eigentlich nicht leisten, doch ich kannte mich leider mit Kfz-Reparaturkosten nicht gut genug aus, um vernünftig argumentieren zu können. Immerhin hatte ich mein Auto innerhalb eines halben Tages in fahrtüchtigem Zustand zurückbekommen. Vielleicht konnte ich die Rechnung ja an den Kosmos schicken, der mir das Sofa angeblich in den Weg gestellt hatte.

«Haben Sie auch den Sitz repariert?»

«Den Sitz?»

Ich öffnete die Fahrertür und zog leicht an der Rückenlehne.

«Er scheint sich gelockert zu haben. Keine Ahnung, ob es schon vor dem Zusammenstoß so war, aber ich glaube nicht.»

«Am Telefon haben Sie das aber nicht erwähnt.»

«Ich dachte, Sie hätten gesagt, dass Sie alles reparieren würden, was kaputt ist.»

Der Mann prüfte die Stabilität des Fahrersitzes und zuckte mit den Achseln.

«Er ist wahrscheinlich einfach nur alt und abgenutzt. Wenn Sie wollen, kann ich den Wagen in die Werkstatt fahren und alles noch mal im Detail prüfen.»

In meinen Ohren klang das viel zu aufwendig und zeitraubend. Vor allem jedoch zu teuer.

«Nicht nötig. Ich werde mir sowieso bald ein neues Auto kaufen. Wahrscheinlich einen Audi. Oder einen BMW.»