Höllental - Andreas Winkelmann - E-Book
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Höllental E-Book

Andreas Winkelmann

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Beschreibung

Die Angst treibt sie in einen einsamen Tod – und ihr letzter Blick schickt einen Mann auf die Suche nach dem Mörder ...

Im ersten Schnee des Winters steht eine junge Frau auf einer Eisenbrücke hoch über der Höllentalklamm. Sie ist fest entschlossen, sich in die Tiefe zu stürzen. Roman Jäger, Mitglied der Bergwacht, versucht noch sie aufzuhalten, doch vergeblich. Was ihm bleibt, ist ihr letzter Blick – ein Blick voll entsetzlicher Angst, der ihn bis in seine Träume verfolgt. Er macht sich daran, die Hintergründe dieses Selbstmords herauszufinden. Und stößt auf ein schreckliches Geheimnis, das sein Leben für immer verändern wird ...

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Seitenzahl: 435

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Buch

Im ersten Schneefall des Winters steigt Anfang Dezember eine junge Frau zur Brücke über die Höllentalklamm oberhalb von Grainau auf. Sie ist verzweifelt und am Ende ihrer Kräfte und will sich in die Schlucht stürzen. Roman Jäger, Mitglied der Bergwacht, versucht sie zu retten, kann ihren Tod aber nicht verhindern. Fortan verfolgt ihn ihr letzter Blick, der voller Angst gewesen ist. Roman findet keinen Schlaf, fühlt sich schuldig und sucht nach den Hintergründen für den Tod der Frau. Mithilfe der Polizei findet er heraus, dass es sich um die 22-jährige Laura Waider handelt, eine Studentin aus Augsburg. Doch die Gründe für ihre Tat bleiben rätselhaft, auch für Lauras gramgebeugte Eltern.

Roman lässt nicht locker. Seine Suche führt ihn zu einer Clique aus vier Freunden, mit denen Laura auf Berge gestiegen ist. Erst im Sommer war sie mit ihnen in der Höllentalklamm. Und an diesem Tag ist etwas geschehen, worüber die vier nicht sprechen wollen und das sie doch bis heute verfolgt und sie nicht ruhen lässt. Etwas, das so schrecklich war, dass es Lauras Leben zerstört hat – und nun auch das ihrer Freunde bedroht.

Denn ohne es zu wissen, haben sie längst jemanden auf sich aufmerksam gemacht, einen gefährlichen Psychopathen, für den Laura der Mittelpunkt seines Lebens war. Und der will Rache für ihren Tod …

Von Andreas Winkelmann sind im Goldmann Verlag außerdem lieferbar:

Tief im Wald und unter der Erde. Thriller (46955)

Hänschen klein. Thriller (47125)

Blinder Instinkt. Psychothriller (47338)

Bleicher Tod. Psychothriller (47589)

Andreas Winkelmann

Höllental

Psychothriller

1. AuflageOriginalausgabe März 2013Copyright © 2013 by Andreas WinkelmannCopyright © dieser Ausgabe by Wilhelm Goldmann Verlag,München, in der Verlagsgruppe Random House GmbHUmschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, MünchenUmschlagmotiv: FinePic®, München; mauritius images/ageTh · Herstellung: Str.ISBN 978-3-641-08154-6www.goldmann-verlag.de

Dieses Buch widme ich all denen, die Leben retten.

Teil 1

Sprung in den Tod

Höllentalklamm

01.12.2009

Der böige Wind trieb die Schneeflocken durch die Wipfel der hohen Tannen in die Schlucht hinein und ließ die Sicht gegen Null sinken. Es war ein Wirbeln und Tanzen, ein Stoßen und Treiben, eine unruhig bewegte Welt voller geisterhafter Schemen und Schatten. Immer wieder von neuem stürzten sie auf die junge Frau zu, ein niemals enden wollender Reigen.

Die Eiseskälte durchdrang mühelos ihre viel zu dünne violettfarbene Jacke. Sie zitterte am ganzen Körper, ihre Zähne schlugen aufeinander, ihre Lippen hatten längst die Farbe der Jacke angenommen. Ungeschützt und blau verfroren ragten ihre Hände wie Totenklauen aus den Bündchen der Ärmel – an Handschuhe hatte sie bei ihrem überstürzten Aufbruch nicht gedacht. Doch es störte sie nicht, sie war versunken, hatte sich tief in ihr Innerstes zurückgezogen, und alles, was ihrem Körper geschah, nahm sie aus der sicheren Distanz einer Verlorenen wahr.

Sie trug einen leichten, olivfarbenen Rucksack, der flach an ihrem Rücken anlag. Unter der Kapuze ihrer Jacke war ihr Gesicht nicht zu sehen. Die Schultern nach vorn gezogen, schräg gegen den Wind gelehnt, stieg sie mühsam bergan. Ihre Spur in der dünnen Schneeschicht spiegelte ihren schleppenden Gang. Die einzelnen Abdrücke ihrer Schuhe waren nicht sauber voneinander getrennt, sondern durch Schleifspuren verbunden, die den kahlen Felsboden freilegten. Immer wieder geriet sie ins Stolpern, strauchelte und fing sich dann. Ihre beinahe profillosen Schuhe waren für Wetter und Gelände nicht geeignet, aber daran lag es nicht allein; sie war schon aus dem Tritt gekommen, lange bevor sie sich auf den Weg gemacht hatte.

Auf dem ebenen Pfad unten im Tal hatte sie noch ein paar Menschen gesehen, doch seit sie bergan stieg, war sie allein – so allein, wie ein Mensch nur sein konnte. Es gab ganz einfach keine Welt mehr, in die sie hätte zurückkehren können, es gab keine Menschen mehr, die sie aufgenommen und ihr geholfen hätten. Derart getrennt von allem, was das Leben ausmachte, war es unmöglich für sie, noch einmal darüber nachzudenken oder es sich gar anders zu überlegen.

Auf halber Strecke erreichte sie die Weggabelung. Links führte der breite Weg direkt zum Klammeingang, rechts ein schmaler Pfad über den Stangensteig bis hinauf zur Eisernen Brücke. Sie kannte sich hier aus. Dieser Weg hatte sich ihr in unzähligen albtraumgeplagten Nächten ins Gedächtnis eingebrannt.

Das für Bergwanderer gedachte Gefahrenschild ignorierend, bog sie ohne Zögern nach rechts auf den schmalen Pfad ab, der sie über Kehren zunächst in einen Laubwald führte. Nasse Stämme kahler Ahornbäume ragten in die graue Luft. Da der Schneefall erst vor einer Stunde eingesetzt hatte, war der Boden unter den Bäumen noch fast frei davon. Sanft senkten sich die kleinen Flocken auf die Laubschicht und erzeugten dabei ein fremdartiges Raunen.

Sie blieb stehen, schob die Kapuze von den Ohren und sah sich um. Ehrfurcht lag in ihrem Blick. Ihre Augen waren groß, von durchdringend blauer Färbung, aber der Ausdruck einer zerrissenen, gehetzten Seele darin brach ihre Schönheit. Mit zurückgelegtem Kopf stand sie eine Weile lauschend da. Hier und jetzt konnte sie die Geister verstehen, die zu ihr sprachen. Sie breitete die Arme aus, als wolle sie fliegen, dann begann sie zu weinen. Stille Tränen im flüsternden Chor des beginnenden Winters.

Nach wenigen Minuten setzte sie ihren Fußmarsch fort.

Der Weg wurde immer steiler, bald begann sie zu schwitzen. Sie ließ die Baumgrenze hinter sich. Die Umgebung änderte sich drastisch, wurde steinig, grau und hart, nur gelegentlich belebt durch niedrig geduckte Latschenkiefern.

Als sie aus deren schützenden Schatten heraustrat, schlug ihr der kalte Wind wuchtig ins Gesicht. Er fiel aus der hochalpinen Zone über ihr in den schmalen Trichter der Klammschlucht, beschleunigte darin und fegte weiter unten aus der Engstelle. Sie taumelte, geriet gefährlich nahe an die Abbruchkante, fing sich aber wieder und bückte sich tiefer, machte sich klein, um unter dem Wind hindurchzukriechen. Binnen weniger Minuten sog er ihr die mühsam erworbene Wärme aus dem Körper und kühlte sie erneut aus bis auf die Knochen.

Weiter, immer weiter.

Einen Fuß vor den anderen.

Gegen den Wind, der sie scheinbar zurückdrängen wollte, gegen den Schnee, der den Aufstieg immer schwieriger werden ließ. Gegen sich selbst, denn je näher das Ziel rückte, desto schwerer wurden ihre Beine, steifer ihre Bewegungen, träger ihr Verstand. Sie war so müde, unendlich müde, wollte nur noch schlafen und war nahe daran, sich einfach auf den Weg zu legen.

An einem besonders steilen Stück rutschte sie auf einer Eisfläche aus, die unter dem Schnee verborgen war, stürzte auf ihre Knie, prellte sich den Ellenbogen an der Felswand, nahm den Schmerz hin, nutzte ihn zur Mobilisierung ihrer letzten Kräfte und erreichte zwei Stunden nach ihrem Aufbruch im Tal die Brücke hoch über der Klamm.

An dieser exponierten Stelle entfaltete der Wind seine ganze Stärke, drückte ihr den Schnee ins Gesicht, riss ihr den Atem von den Lippen, sog ihr das Leben aus dem dünnen Körper, trug es hinunter in die Schlucht, um es im klaren Eiswasser zu ertränken.

Ungefähr in der Mitte der Brücke blieb sie stehen. Wandte sich dem Tal zu, das von hier aus nicht mehr zu sehen war. Nichts war mehr zu sehen. Sie hatte ihre Welt mit hinaufgenommen, alles befand sich mit ihr auf dieser Brücke – und alles war nichts. Das Geländer war nichts, auch die brutale Kälte darin, als sich ihre Finger krampfhaft um das Metall schlossen, war nichts.

Mit einem Ruck zog sie sich auf die unterste Querstrebe und ließ das Geländer los.

Roman Jäger starrte auf die Fußabdrücke im Schnee, sah dann hoch und verfolgte mit den Augen die einsame Spur den Weg zum Stangensteig hinauf, bis sie unter den Bäumen verschwand.

Eine einzelne Person. Der Schuhgröße nach zu urteilen ein Kind oder eine Frau. Wahrscheinlich mit schwerem Rucksack, denn die Füße kamen nicht richtig vom Boden hoch, aber ohne vernünftiges Schuhwerk, denn die Sohlen hatten kaum Profil, waren glatt wie diese modernen Sneaker, die heute jeder trug.

Verrückte Touristen.

Schon gestern hatte der Wetterdienst für den heutigen Tag Schneefall angekündigt, der bei rasch fallender Temperatur zum Abend hin stärker werden würde. Der Winter hatte sich Zeit gelassen in diesem Jahr, bisher war es frühlingshaft mild gewesen, doch nun musste die Region mit einem ernsthaften Wintereinbruch rechnen. Im Tal waren vorerst nur ein paar Zentimeter Schnee zu erwarten, oberhalb der Tausend-Meter-Grenze jedoch deutlich mehr. Dazu kräftiger, eiskalter Fallwind von den Hängen der Berge.

Wer seine Sinne beisammenhatte, stieg an einem solchen Tag nicht auf. In den Bergen war das Wetter oft unberechenbar, und auf dem Weg hinauf gab es nichts, wo man einkehren und Schutz suchen konnte. Zwischen der Sommer- und Wintersaison waren die Hütten geschlossen. Es gab ein Winterlager für Notfälle, aber wer das nicht kannte und sich in dieser Nacht auf dem Berg dem Wetter auslieferte, der war verloren.

Roman war eigentlich im Abstieg begriffen. Er hatte die Gittertore am Klammeingang, die während der Wintersaison übermütigen Touristen den Weg hinauf versperrten, überprüft und abgeschlossen. Später würden Lawinen die Klamm so sehr mit Schnee verstopfen, dass sowieso niemand mehr hindurchkonnte, aber ein paar Verrückte würden es trotzdem versuchen. Zumindest den Weg hinauf zu versperren ersparte der Bergwacht die eine oder andere Rettungsaktion. Auf dem Rückweg wollte er die Schlüssel in der Bergwachtstation im Tal deponieren, dann war Feierabend für heute.

Theoretisch.

Praktisch konnte er diese Spur aber nicht einfach ignorieren.

Sie bedeutete Ärger. Nach zehn Jahren Dienst bei der Bergwacht entwickelte man schon allein aus der Erfahrung heraus eine Intuition, und die verriet ihm jetzt, dass er es später bereuen würde, wenn er dieser Spur nicht nachginge. Auf seine Intuition konnte Roman sich verlassen, sie hatte ihn schon vor einigen brenzligen oder zu wagemutigen Situationen bewahrt, deshalb stellte er sie auch nicht in Frage.

Ein Blick auf die Uhr, die am Schultergurt seines Rucksacks hing, dann war die Entscheidung getroffen. Bis zum Einbruch der Dunkelheit hatte er eine Stunde Zeit. Die Spur war nicht alt, höchstens fünfzehn Minuten konnten vergangen sein, seitdem die Person an der Weggabelung abgebogen war. Bei dem Tempo, das er selbst bergan zu gehen in der Lage war, würde er sie bis zur Brücke eingeholt haben.

Das war der Deal. Bis zur Brücke. Wenn er sie bis dahin nicht eingeholt und zur Rede gestellt hatte, würde er umkehren und bei der Leitstelle eine Meldung hinterlassen.

Roman schritt kräftig aus. Das tiefe Profil seiner Alpinstiefel krallte sich in den Schnee. Die Spur verriet ihm, dass die Person zwei Schritte gemacht hatte, wo er einen brauchte, und so wuchs seine Zuversicht. Sie einzuholen dürfte nicht schwer werden, sie davon zu überzeugen, sich heute nicht da oben rumzutreiben, schon eher. Da waren die Touristen alle gleich. Warnungen der Bergwacht zu ignorieren galt als cool und wagemutig. Später waren es dann Leute wie er und seine Kollegen, die ihren ganzen Mut in die Waagschale werfen mussten, um in Not geratene Bergsteiger zu retten.

Wie konnte nur jemand so dumm sein, bei einem solchen Wetter kurz vor Einbruch der Dunkelheit auf den Berg zu steigen? Das war selbst für Touristen ein dreistes Verhalten. Außerdem waren jetzt in der Zwischensaison kaum welche im Ort. Am Wochenende kamen immer ein paar Bergsteiger aus der weiteren Umgebung für Tagestouren, aber heute war Dienstag, und als Roman vorhin aufgestiegen war, hatte er das Alleinsein genossen, denn viele solche ruhigen Tage gab es in einer Ferienregion nicht. Er hatte sich zu früh gefreut, wie es schien.

Roman zog sein Tempo noch an und begann zu schwitzen. Den eisigen Wind spürte er in seiner wind- und wasserdichten Kleidung kaum. Als er an der Wegbiegung aus dem Schatten der Felswand trat, stemmte er sich gegen den Fallwind und versuchte, die Brücke weit oben über der Schlucht ausfindig zu machen. In dem zunehmend dichter werdenden Schneegestöber war sie jedoch nicht zu sehen. Also lief er weiter. Steil hinauf über Felsstufen, auf denen das Regenwasser der vergangenen Tage gefroren war, sodass sie zu tückischen Fallen wurden. Roman bewegte sich jetzt vorsichtiger, stützte sich immer öfter mit einer Hand an der Felswand ab und ergriff jede Kante, jeden Riss und jede Wurzel, um etwas Halt zu finden. Rechts ging es steil abwärts in die Klamm. Wer hier ausrutschte, hatte kein Chance. Einmal im Sturz begriffen, gab es nichts mehr, was Einhalt gebieten konnte. Es waren oft Stellen wie diese – eigentlich gut begehbare Wanderwege, die an einer Abbruchkante entlangführten –, an denen Bergwanderer verunglückten, weil sie die Gefahr unterschätzten und die Unberechenbarkeit der Natur nicht ernst genug nahmen. In den Bergen überlebte aber nur, wer Respekt und Angst nicht gänzlich verlor.

Nach weiteren zehn Minuten tauchte aus dem Schneegestöber vor ihm das Geländer der Brücke auf. Die aus Eisen gefertigte Brücke verlief mehr als siebzig Meter über der Klamm und war Wind und Wetter schutzlos ausgeliefert. Schnee blieb bei dem Sturm kaum darauf liegen, dafür hingen dünne Eiszapfen im schrägen Winkel vom Geländer herab. Die Brücke überwand eine Distanz von dreißig Metern, und Roman musste bis zum Einstieg vorgehen, um wenigstens die erste Hälfte einsehen zu können. Der Sturm pfiff und heulte und peitschte die Schneeflocken an seinem Gesicht vorbei.

Jäh stockte ihm der Atem.

In der Mitte des Bauwerks balancierte eine schmale Person in violetter Jacke und Bluejeans auf der untersten Sprosse des Geländers. Sie hatte die Arme zu den Seiten ausgebreitet und schien sich auf den Sprung vorzubereiten, blickte aber nicht in die weit unten verlaufende Klamm, sondern hatte das Gesicht dem Himmel zugewandt.

Romans Gedanken rasten.

Er hatte nicht viele Möglichkeiten. Wenn er sich bemerkbar machte, würde sie wahrscheinlich sofort springen. Wer ganz allein hier heraufkam, um sich das Leben zu nehmen, der meinte es ernst, der wartete nicht auf einen Retter in allerletzter Sekunde. Also musste er schnell sein. Und leise. Beim Laufen würden seine schweren Schritte die Gitter zum Klappern bringen und die Person warnen.

Roman schlich voran, behielt die Person auf dem Geländer dabei im Auge und wunderte sich, wie sie sich bei dem Sturm überhaupt so lange halten konnte.

Er hatte es fast geschafft, war keine drei Meter mehr von ihr entfernt, als sie ihn bemerkte und den Kopf herumriss.

Der Wind zerrte die Kapuze beiseite. Rötliches Haar umflatterte ein schmales Gesicht. Es war eine Frau. Augen und Mund weit aufgerissen starrte sie ihn an. Deutlich konnte er über diese kurze Distanz Angst und Panik in ihren Augen erkennen. Trotzdem reagierte sie schnell, packte mit beiden Händen das Geländer, hob den rechten Fuß, setzte ihn auf die oberste Strebe und ließ los. Eine einzige fließende Bewegung voller Entschlossenheit. Sofort drückte der Wind sie nach vorn.

»Nein!«, schrie Roman und hechtete vor.

In seiner Wahrnehmung stark verlangsamt sah er, wie die Frau über das hüfthohe Geländer kippte. Roman sprang, streckte die Arme aus, packte zu und erwischte ihre rechte Hand, die sie nach hinten weggestreckt hatte. Er packte so fest wie möglich zu, wurde durch die Wucht ihres Falls nach vorn gegen das Geländer gezogen, prellte sich die Rippen und hatte Mühe, seinen Stand zu wahren. Nur seiner Größe und seinem Gewicht hatte er es zu verdanken, nicht selbst in den Abgrund gerissen zu werden.

Roman schrie auf. Ein heftiger Schmerz fuhr ihm durch den Arm bis ins Schultergelenk, und er meinte, darin etwas reißen zu spüren. Trotzdem hielt er ihr Handgelenk weiter fest umklammert. Die Frau war nicht schwer, aber er hielt sie nur an einem Arm, außerdem baumelte sie im Wind, und der Sog der Tiefe zerrte an ihr.

Ganz langsam hob sie den Kopf und sah zu ihm hinauf.

Angst und Panik, er hatte sich nicht getäuscht. Aber warum kam es Roman so vor, als fürchte sie sich vor ihm?

Viel länger als zwei Sekunden dauerte es nicht, aber Roman hatte das Gefühl, eine Ewigkeit in diese blauen Augen zu schauen. Schließlich wandte sie den Blick ab, sah in die Schlucht hinunter und begann, ihre Hand in seinem Griff zu winden.

»Nein, tu das nicht«, schrie Roman.

Er kämpfte, konzentrierte sich auf seinen Griff, stellte sich vor, seine Finger wären Eisenklammern. Die Zähne zusammengebissen, fest gegen das Geländer gepresst, stieß er einen unmenschlichen Schrei aus und versuchte, die Frau hinaufzuziehen. Ein paar Zentimeter nur, dann sackte sie wieder ab, und Roman erkannte, dass er nicht die geringste Chance hatte, wenn sie ihm nicht half.

Und das tat sie nicht. Stattdessen wand sie sich weiter in seinem Griff. Seine Kraft ließ nach, die Muskeln begannen zu zittern, er spürte, wie seine Finger sich öffneten. Zentimeter für Zentimeter entglitt sie ihm.

»Nein«, brüllte Roman noch einmal.

Plötzlich war seine Hand leer. Einen winzigen Moment schien sie frei über dem Abgrund zu schweben. Dann fiel sie. Rasend schnell. Prallte auf halber Strecke gegen einen Felsbrocken, taumelte zur Mitte der Klamm, schlug auf einen spitzen Grat und tauchte in ein schmales, mit eisig kaltem Wasser gefülltes Becken. Die Strömung riss den leblosen Körper mit sich, er trieb über eine Kante und verschwand in der schäumenden Gischt.

Augsburg

01.12.2009

Ihre Oberschenkelmuskulatur brannte, ihre Lunge litt Qualen. Schweiß tropfte von ihrem Gesicht zu Boden, ihr zu einem Zopf geflochtenes Haar flog hin und her. Mara Landau trieb die Maschine und sich selbst bis an die Belastungsgrenze. Aus dem Inneren des Stairmasters erklang ein metallenes Kratzen, trotzdem stellte die zweiundzwanzigjährige Brünette die Schwierigkeitsstufe noch höher – auf die höchste Frequenz, die das Gerät hergab. Während Maras Hände die Pulsmesser umklammerten, pumpten ihre Beine auf und ab und simulierten den harten Anstieg einer zwanzigprozentigen Steigung.

Von allen aeroben Geräten im Fitness-Studio benutzte Mara Landau den Stairmaster am häufigsten. Sie liebte diese Maschine. Sie liebte die Schmerzen, den Schweiß, das Gefühl, an ihre Grenzen zu gehen. Außerdem war es das perfekte Training fürs Bergsteigen. Mit siebzehn Jahren war sie zum ersten Mal zum Klettern in die Berge gegangen. Anfangs war es ihr nur um das reine Felsklettern gegangen, doch in den letzten zwei Jahren war mehr und mehr das Höhenbergsteigen hinzugekommen. Jetzt waren es die schneebedeckten Gipfel, die sie reizten. Und dafür brauchte man Kondition. Wenn Mara wie jetzt alles gab, malte sie sich gern aus, wie sie einesTages auf einen der Achttausender im Himalaya steigen würde. Schon jetzt verfolgte sie jede Sendung darüber, las jedes Buch, jeden Erfahrungsbericht. Und sollte sie eines Tages das dafür nötige Geld zusammengespart haben, dann würde sie diesen Traum Realität werden lassen.

Bis dahin reichten ihr die Alpen.

Und der Stairmaster.

Sie hielt die hohe Frequenz länger durch als sonst. Das musste an dem zurückliegenden beschissenen Tag und dem aufgestauten Frust liegen. Der Prof vom Fachbereich Sport hatte ihr Referat zur Energiebereitstellung über Kreatinphosphate mit einer lausigen Drei benotet und sich auch nicht umstimmen lassen. Vielleicht hatte sie nicht perfekt recherchiert, schon möglich, aber für eine Zwei hätte es trotzdem reichen müssen. Der Prof mochte sie einfach nicht, daran lag es.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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