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Eine Affäre mit der Unternehmerin Leonie hat für Nick ungeahnte Folgen: Er wird Vater – oder eher Mutter, denn Leo will auf keinen Fall in diese Rolle schlüpfen. Sie überlässt die kleine Hope seiner Obhut. Nick stürzt sich mit nie gekannter Leidenschaft und großer Liebe in seine neue Aufgabe. Doch er hat nicht mit den Widerständen gerechnet, die einem Mann in der klassischen Mutterrolle begegnen, und schon gar nicht mit den anderen Eltern, die ihn auf dem Spielplatz misstrauisch beäugen. Oder mit den Schwierigkeiten, einen Kita-Platz zu finden und nebenbei noch Geld zu verdienen. Um seine Finanzen auszugleichen, legt Nick sich zwei Untermieter zu. Die schließen zwar sofort Hope ins Herz, haben ansonsten aber einen eher zweifelhaften Leumund. Was dazu führt, dass Nick eine panische Angst vor einer Kontrolle des Jungendamts entwickelt ...
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Seitenzahl: 495
Veröffentlichungsjahr: 2025
Das Buch
»Zehn Tage in einem Hotel mit Kinderbetreuung, rund um die Uhr«, brüllte der Mann gegen das Gebrüll des Kindes an. Seine Hand, die immer noch auf Nicks Schulter lag, hatte sich jetzt in seine Jacke gekrallt. »Ich werde nicht in der Küche stehen und kochen und ich werde nicht zum Spielplatz gehen, ich werde keine Windel wechseln, keine Lieder singen, niemanden füttern, ich werde einfach nur in der Sonne liegen und lesen, lesen, lesen. Und Bier trinken!«
Nick hätte sich sowohl ohne diese Information als auch ohne die Hand an seiner Jacke besser gefühlt. Er sah sich um, ob jemand zu dem Mann gehörte, als auch schon eine Frau mit einem Zwillingsbuggy aus der Metzgerei kam, in dem zwei kreischende Kinder saßen, die auch durch die halben Würstchen nicht beruhigt werden konnten, die sie im Laden geschenkt bekommen hatten. Der Blick des Mannes änderte sich, als ob er ein Gespenst gesehen hätte. Er näherte sich Nick, so dass der Kopf des Babys in seiner Trage Nicks Kinn berührte, und flüsterte eindringlich: »Wissen Sie eigentlich, wie oft ich mich in den letzten zweieinhalb Jahren im Klo eingeschlossen und geweint habe? Wissen Sie das eigentlich?«
Der Autor
Tankred Lerch wurde 1970 in Lübeck geboren, ist in Hamburg zur Schule gegangen, hat in Kiel Jura studiert und bei Radio Schleswig-Holstein volontiert. Seit 1997 lebt er in Köln, arbeitet als Autor und Producer fürs Fernsehen (u. a. »extra3«, »Stromberg«, »Krömer – Late Night Show«, »TV total«) und lehrt seit 2013 als freier Dozent Medientechnik und Dramaturgie an der FH St. Pölten. Mit Kurt Krömer bereiste er zwei Mal Afghanistan und schrieb mit ihm das Buch »Ein Ausflug nach wohin eigentlich keiner will – Zu Besuch in Afghanistan«, das 2013 zum Bestseller wurde. Im Juli 2019 erschien sein Romandebüt »Der Rüberbringer«, darauf folgten zahlreiche weitere Publikationen, zuletzt im Heyne Verlag: »Die Hochzeit meines besten Freundes (mit mir)«.
Lieferbare Titel
978 – 3-453 – 42713 – 6 – Die Hochzeit meines besten Freundes (mit mir)
Tankred Lerch
Hope oder wenn Papa Mama wird
Roman
WILHELMHEYNEVERLAGMÜNCHEN
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Originalausgabe 03/2025
Copyright © 2025 by Tankred Lerch
Copyright © 2025 dieser Ausgabe
by Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München
(Vorstehende Angaben sind zugleich Pflichtinformationen nach GPSR)
Umschlaggestaltung: Das Illustrat, München, © Gino Faglioni
Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering
ISBN: 978-3-641-32970-9V002
www.heyne.de
Dieses Buch widme ich »Emma S.G.C.«
Persönliches Vorwort
Als Autor hat man die Aufgabe, seine Figuren möglichst in die Hölle zu schicken und sie dann wieder rauszuholen. Bei diesem Roman ist mir das deutlich schwerer gefallen als bei anderen Büchern oder Drehbüchern, weil viele der geschilderten Erfahrungen autobiografisch sind. Streng genommen war ich kein richtig alleinerziehender Vater. Die Mutter meiner Tochter und ich waren aber schon kein Liebespaar mehr, als ihr klar wurde, dass sie schwanger war. Auch wenn wir beide recht jung waren (oder vielleicht gerade deswegen), hatten wir – im Gegensatz zu unseren Eltern – kaum Bedenken, den Versuch zu wagen, ein Kind in einer unkonventionellen Familiensituation, in zwei Wohnungen, in zwei Leben großzuziehen. Die Mutter musste ausbildungsbedingt viel unterwegs sein und sich kinderunfreundlichen Arbeitszeiten beugen. Weil ich beruflich schon etwas solider war und einen ziemlich freundlichen Arbeitgeber hatte, der nichts dagegen hatte, wenn ich vormittags ein Kleinkind mit ins Büro brachte, fiel mir in den ersten zwei Jahren die Hauptbetreuung zu. Wenn ich mir Bilder aus der Säuglings- und Kleinkindzeit meiner Tochter anschaue, neige ich dazu zu glorifizieren und merke, wie ich die Momente der Überforderung verdrängt habe. Die Viertelstunden, die ich mich einfach mal kurz im Bad eingeschlossen habe, um alleine zu sein. Einfach mal in ein Handtuch zu schreien oder leise zu weinen. Um danach wieder rauszugehen und das Kind liebzuhaben wie sonst nichts auf der Welt. In den ersten zwei Jahren ihres Lebens hat sich für mich viel geändert. Eigentlich alles. Keine Partys, keine Clubs, keine Kneipen, kein Kino, keine Dates. Tinder gab es noch nicht. Wenn doch mal was ging, dann nur mit Babysitter. Die Großeltern konnte man nicht mal schnell einspannen, weil sie 500 km entfernt lebten. Dort, wo eigentlich auch mein Zuhause war. Ich habe meine Tochter überallhin mitgenommen, wo es ging. Und fast immer habe ich das sehr gerne getan und die Zeit genossen. Klar gab es Babysitter. Aber die kosten erstens Geld und: Will man sein kleines Kind jemandem anvertrauen, den man nicht wirklich gut kennt? Wenn ich nicht nette Kolleg:innen und Nachbar:innen gehabt hätte, von denen sich immer wieder mal jemand angeboten hat, auf das Kind aufzupassen, wäre ich nach Büroschluss schon ziemlich sozial verarmt. Und Netflix gab es auch noch nicht. Ich bin in dieser Zeit immer wieder darauf gestoßen, wie ungewöhnlich es für meine Mitmenschen gewesen ist, mich in einer Mutterrolle agieren zu sehen. Als ich begonnen habe, dieses Buch zu schreiben, habe ich gedacht, dass sich das längst geändert hätte. Doch egal, wo ich mich zu Recherchezwecken herumgetrieben habe, ob auf Spielplätzen, in Kitas oder Warteräumen von Arztpraxen – ich war fast überall von Müttern umgeben. Und wenn ich mich mit ihnen unterhalten habe, hatten alle vor der Geburt ihrer Kinder den Plan, dass beide Elternteile danach zu gleichen Teilen arbeiten gehen. Weil sich die Gesellschaft aber gedanklich schneller entwickelt hat, als Legislative und Verwaltungen mitgekommen sind, leben wir noch immer in einer Welt, in der ein Kitaplatz so schwer zu bekommen ist wie einst Bananen in der DDR. Eine Welt, in der Frauen viel öfter die Erziehungsaufgabe übernehmen, einfach weil die Männer mehr verdienen. Die Geschichte mit der Geburt können wir ihnen nicht abnehmen. Alles andere aber schon. Wir müssen nur dafür einstehen, dass Gerechtigkeit geschaffen wird. Wir müssen dafür einstehen, dass Frauen für gleichwertige Arbeit nicht schlechter bezahlt werden als Männer, dass die Gemeinschaft dafür sorgt, dass Arbeitgebern keine Nachteile daraus entstehen, wenn sie Frauen in gebärfähigem Alter einstellen, und wir müssen den Männern immer wieder erklären, dass Kindererziehung ihrer Männlichkeit keinen Abbruch tut. Denn das tut es nicht. Gar nicht. Ich schwöre! Und ich wünsche mir, dass meine Tochter es insofern einmal etwas leichter haben kann.
Prolog
Wenn sie ihm gegenübersitzt und ihn anschaut, hat Nick das Gefühl, sie kann in ihn hineinsehen, obwohl sie noch nicht einmal zweieinhalb Jahre alt ist. Sie sitzt dann kerzengerade in ihrem Hochstuhl und kneift ein Auge, es ist das linke, halb zu, scheint alles um sich herum zu vergessen und guckt in seine Seele. Was mag sie sehen? Kann sie seine Gedanken lesen? Hoffentlich nicht, sie soll nicht wissen, welche Ängste er hat und was er tut, damit diese nicht im Kampf gegen das Schöne in seinem Leben siegen. Und das Schöne ist sie.
Was sollte sie damit anfangen können, zu wissen, dass er gleichzeitig versucht, die Zeit mit ihr zu genießen, aber auch daran denkt, den Haustürschlüssel nicht zu vergessen, überlegt, wo das Auto steht, das Auto abzuschaffen, es doch nicht abzuschaffen, zwischendurch erschrickt, weil das Handy nicht in seiner Hosentasche ist und er nicht sehen kann, wie spät es ist, und er sie wieder zu spät bringen und von Esther in der Kita einen Anpfiff bekommen wird. Den dritten oder vierten in diesem Monat.
Die Küchenuhr ist schon seit einiger Zeit kaputt. Man kann es sehen, wenn man einen Blick auf sie wirft. Man kann es aber auch auf dem Zettel lesen, der neben der Kaffeemaschine langsam vergilbt. »Uhr kaputt«. Eine sinnlose Notiz, die dort seit fast drei Jahren liegt. »Uhr reparieren« oder »Uhr wegwerfen« wäre besser. Oder es einfach mal machen. Der Stundenzeiger hängt schlaff nach unten, als wäre er gerade einen Marathon gelaufen und jetzt völlig ausgelaugt, während der kleine Sekundenzeiger sein Tempo verschärft hat und die Minute in weniger als einer halben absolviert, so als würde er seinen großen Freund auffordern, sich nicht hängen zu lassen, nicht aufzugeben, doch noch eine Runde zu drehen.
Er verliert sich in Gedanken und taucht erst wieder daraus hervor, als Hope ihm vorsichtig auf den Arm tippt.
Wenn er sie anschaut, ist sein Blick voller Liebe. Sie ist das Schönste und Beste, was ihm in seinem Leben passiert ist. Er kann nicht genug davon bekommen, sie anzusehen. Ihr dunkelblondes Haar, zu zwei Zöpfen geflochten. Er hat die Zöpfe selbst gemacht und sie sehen fast wie richtige Zöpfe aus. Als er letztes Jahr, als ihre Haare lang genug waren, damit begonnen hatte, war es gut zu wissen, dass es Zöpfe sein sollten, denn sie erinnerten viel mehr an ausgefranste Stücke eines Springseils. Das Springseil!! Wo ist es eigentlich? Haben sie es wieder eingepackt, als es neulich urplötzlich anfing zu regnen? Oder liegt es immer noch auf dem Piratenspielplatz, dem Pirati? Oder auf dem Schiffi, dem anderen Spielplatz? Oder hat jemand es eingepackt und mitgenommen und ihm ein neues Zuhause gegeben? Einen Platz, wo das Seil es besser hat als bei ihm? Wo man es nicht einfach vergisst? Schon wieder werden seine Augen feucht, er nimmt schnell einen Schluck Kaffee und tut so, als würde er etwas auf dem Boden suchen.
Doch Hopes Blicken entgeht nichts.
Aus dem Schlafzimmer kommt leise Musik. Er hat ihr einen CD-Player gegeben, den sie selbst bedienen kann. Samt der CD »Die 12 schönsten Kinderlieder«. Aramsam Aramsamsam – bestimmt zum hundertachtzigsten Mal diese Woche. Und es ist erst Dienstag. Schön ist immer eine Frage der Definition.
Vor ihr auf dem Frühstückstisch befinden sich die beiden Märchenbrettchen, Hänsel und Gretel und Hans im Glück. Dünne Holzbretter mit Motiven aus Märchen, naiv gemalt, von Messern zerkratzt und von Jahren des Spülens und Abwischens lange nicht mehr so bunt, wie sie waren, als er so alt war wie sie. Er kann sich nicht daran erinnern, sie oft benutzt zu haben, aber Hope liebt die beiden Brettchen. Sie braucht beide. Auf Hänsel und Gretel liegt das Brot, das er ihr gemacht hat. Sie besteht darauf, dass er es jeden Tag genau so macht. Eine Scheibe Mehrkornbrot mit veganer Butter und Marmelade bestrichen, zerschnitten in 16 Teile. Omas »Erd-Bär-Mandelane«. Sie kann inzwischen fehlerfrei Marmelade aussprechen, aber beide sagen immer noch Mandelane. Die Mandelane ist eine Lüge. Sie ist zwar aus Erdbeeren hergestellt, aber nicht von Oma. Seine Mutter hat noch nie Marmelade für Hope eingekocht. Er kauft sie im Supermarkt, löst die Etiketten ab und klebt handbeschriebene drauf. Sie nennen diese Minibrotstücke Reiterchen, so wie in seiner Kindheit, er hat keine Ahnung warum. Weil sie einzeln in den Mund geritten kommen? Auf Hans im Glück schmiert sie sich ihr eigenes Brot. Sandwichtoast mit veganer Mortadella. Immer muss die Rinde abgeschnitten werden. Für Hans Albers. Bei den Reiterchen, die er für Hope anfertigt, herrscht ein hartes Reglement. Kein Stück Rinde, auch nicht kleinerfingernagelgroß, darf zu sehen sein. Die vegane Butter, eigentlich ist es Margarine, aber Hope mag das Wort Margarine nicht, muss bis zum Rand reichen und die Mandelane muss sie so bedecken, dass sie ganz leicht golden durchscheint, aber keine Fläche frei bleibt. Hat er das geschafft, isst sie genüsslich Stückchen für Stückchen und schmiert ihr Kindergartenfrühstück selbst. Bei ihrem eigenen Brot ist es völlig egal, ob die Margarine die komplette Fläche bedeckt oder ob etwas vegane Wurst übersteht. Sie schneidet die Kruste selbst ab und steckt sie, Stück für Stück, Hans Albers zu, der unter dem Tisch liegt und darauf wartet.
Hans Albers ist ein vierzehnjähriger Retriever-Opa. Er kaut die Rinde nicht. Er schluckt sie einfach. Er hat nicht mehr viele Zähne, er hat aber auch, als er noch mehr Zähne hatte, selten etwas gekaut, sondern meist gierig runtergeschlungen. Sie ernähren sich zwischen vegan und vegetarisch. Auch wegen Hans Albers. Er ist schließlich ein Tier und tierische Produkte sollen in ihrem Haushalt nicht gegessen werden. Hans Albers selbst bildet die Ausnahme, aber auch hier belügt Nick Hope. Er hat ihr gesagt, es sei vegetarisches Hundefutter. Es wird noch ein wenig dauern, bis sie lesen kann, er die Lüge nicht mehr aufrechterhalten kann und sie wissen wird, dass der Hund zerkochte Schlachtabfälle frisst. Aber bis dahin wird Hans Albers vermutlich nicht mehr leben. Vierzehn Jahre sind für einen Retriever schon wie hundert Jahre für einen Menschen. Als Nick sechzehn war, hat sein Vater ihm den Hund geschenkt und ihn Hans Albers genannt, weil er blaue Augen und blonde Haare hat.
Obwohl draußen die Sonne scheint, trägt Hope ihren neuen Regenmantel. Ein weißer Gummimantel mit bunten Blumen drauf. Sie hat ihn sich selbst ausgesucht. Sie sucht sich all ihre Kleidungsstücke selbst aus. Sie trägt nie Hosen, sie kaufen nur Kleider. Sie mag keine Hosen, außer Strumpfhosen, wenn es kalt ist. Sie ist noch keine drei Jahre alt, aber sie zieht sich alleine an. Er kontrolliert nur, ob alles richtig sitzt und der Jahreszeit angemessen ist.
»Hope, zeigst du mir, was für ein Kleid du angezogen hast?«
Sie schaut ihn ernst an.
»Leider nein.«
Sein Herz schmilzt. Er hört sich selbst. Er sagt nie einfach »Nein«. Er sagt immer »Leider nein«. Und erklärt ihr dann, warum er der Meinung ist, dass man etwas nicht machen sollte.
»Warum leider nein?«
»Das geht nicht.«
»Warum geht das denn nicht?«
Sie überlegt angestrengt und er ist sehr gespannt auf ihre Antwort.
»Das können wir nicht machen.«
»Warum können wir das denn nicht machen?«
Nick selbst ist farbenblind und trägt deswegen meist einfache Kombinationen, hauptsächlich grün und blau. Grün und Blau schmücken die Sau, sagt Kevin immer, sein Chef aus der Bar, obwohl er selbst ausschließlich hellblaue Jeans und schwarze T-Shirts trägt. Hope dagegen ist ziemlich farb- und stilsicher. Warum also will sie nicht zeigen, was sie angezogen hat?
»Da ist nichts«, sagt sie.
»Wie, da ist nichts? Darf ich mal gucken?«
»Nein!«
Das kommt sehr bestimmt rüber. Dann verzieht sie ihr Gesicht.
»Hans Albers.«
»Was ist mit Hans Albers?«
Sie hält sich die Nase zu und kichert.
»Gepupst.«
Jetzt merkt er es auch. Hans Albers riecht nicht mehr gut. Besonders schlimm ist es, wenn er einen anatmet. Noch böser allerdings, wenn er einen fahren lässt. Manchmal kommen Arch oder Marianne in die Wohnung, halten die Luft an, rennen zum nächsten Fenster oder zur Balkontür, öffnen diese und atmen dann durch. Er selbst riecht es kaum noch. Hans Albers pupst eigentlich durchgehend, keine große Sache. Und jetzt liegt er da in aller Seelenruhe, der Hundeopa, bewegt sich nicht und es ist ihm völlig egal, was um ihn herum passiert.
»Lenkst du ab?«
Sie grinst.
»Ja.«
Er grinst zurück.
»Nicht schlecht. Aber mach mal bitte deinen Regenmantel auf.«
»Haust du mich sonst?«
Er erschrickt. Er hat sie noch nie gehauen. Niemals. Er wurde als Kind nicht geschlagen und er würde niemals ein Kind schlagen.
»Wie kommst du da drauf?«
»Ringo hat mich gehauen.«
»Warum hat Ringo dich gehauen?«
Nick bleibt äußerlich ruhig, innerlich brodelt es aber in ihm. Ringo ist ein anderes Kind aus dem Kindergarten, dem Yitzi, eigentlich Yitzhak-Rabin- Kindergarten.
Wieder Ringo! Er kann sich gut daran erinnern, dass es schon einmal Ärger wegen Ringo gegeben hat. Eigentlich nicht wegen Ringo. Mit Ringo. Wegen Hope. Und wenn man noch genauer sein wollte, dann war es seine Schuld gewesen. Nick hatte Hope einen Griff aus dem Aikido gezeigt, er hatte ihr erklärt, wie man einen durch den Arm verlaufenden Nerv auf einen Knochen schieben kann, damit jemand die Hand öffnet, der einem etwas weggenommen hat. Er hatte nicht damit gerechnet, dass Hope sich den Griff merken würde. Und schon gar nicht, dass sie ihr Wissen brühwarm an die anderen Kindergartenkinder weitergeben würde. Erst als Esther ihm dafür einen Anschiss verpasste, war ihm klar geworden, dass das, was er getan hatte, nicht gut war. Aber nun hat Ringo Hope geschlagen? Vielleicht muss man Ringo mal zurückschlagen? Aber richtig, man schlägt ja nicht.
Ist er selbst wirklich nie geschlagen worden? Er kann sich an so wenig erinnern und selbst an das Wenige oft nur verschwommen. So wie an die Brettchen. Seine Mutter benutzte den Ausdruck »Hand ausrutschen«. Das bedeutet doch nichts anderes, als eine Ohrfeige zu bekommen?
»Was war denn mit Ringo?«, fragt er noch mal.
»Ringo wollte mein Kleid. Mein Feuerkleid.«
Das Feuerkleid ist rot und gelb, daher der Name. »Was wollte er mit dem Kleid?«
»Spielen.«
»Was habt ihr denn gespielt?«
»Feuer.«
Okay, das erklärt zumindest ein bisschen die Situation, beruhigt Nick aber nicht wirklich.
»Ihr spielt im Kindergarten Feuer?«
Sie nickt.
»Ja.«
Äußerst beunruhigend.
»Und wie geht Feuer?«
»Das Kleid ist Feuer.«
Er seufzt.
»Also kein echtes Feuer?«
Sie schaut ihn an, als hätte er etwas richtig Dummes gesagt.
»Mama, wir dürfen nicht Feuer.«
Natürlich nicht. Er versucht sich auf das, was sie sagt, einen Reim zu machen.
»Du sollst nicht immer Mama zu mir sagen.«
Sie lächelt. Sie weiß das. Er nimmt ihre kleine Hand.
»Und du möchtest nicht, dass Ringo dein Kleid als Feuer benutzt?«
Sie nickt. Endlich beginnt er zu verstehen.
»Und deswegen hast du das Feuerkleid heute nicht angezogen?«
Sie nickt wieder.
»Und welches hast du angezogen?«
»Keins.«
»Keins?«
»Nur den Mantel.«
»Nur den Mantel?«
»Es ist warm.«
Sie lächelt ihn an. Er kann ihre Logik gut nachvollziehen. Hope will den neuen Regenmantel tragen. Sie will nicht, dass ihre Kleider zum Spielen umfunktioniert werden. Und es ist wirklich warm. Wie erklärt man jetzt, dass man nicht einfach nackt unter dem Regenmantel in den Kindergarten gehen kann? Oder kann man doch? Und er ist einfach nur zu erwachsen für so etwas? Er beschließt, erst mal nichts zu sagen und das Thema in ein paar Minuten, wenn es losgeht, noch einmal anzusprechen. Hope kann sehr willensstark sein, wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hat.
Von unten, von der Straße her, ertönt eine Hupe, laut und ausdauernd. Das ist das Nervige an der Stadt, die sonst so viele Vorteile hat. Der Lärm. Nick atmet auf, als das Gehupe aussetzt, und zuckt zusammen, als es sofort wieder losgeht.
Was für ein Idiot hat es da wieder eiliger als alle anderen.
Er läuft auf den Balkon, schaut runter und sieht Arch, der seinen Kopf aus dem Fenster seines weißen Toyota Corolla steckt und brüllt.
Arch, sein Mitbewohner, der eines Tages noch seinen Kopf vergessen würde, wäre der nicht festgewachsen. Er hat sich daran gewöhnt, die Küche sauber zu machen, nachdem Arch gekocht hat. Wenn der so gut aufräumen würde, wie er kocht, wäre das herrlich. Arch benutzt mehrere Aschenbecher gleichzeitig, die meist alle randvoll auf dem Balkon stehen, und Nick hat sich daran gewöhnt, sie zu leeren. Und er hat sich daran gewöhnt, dass Arch, der eigentlich mal als Untermieter eingezogen ist, weil Nick das Geld dringend braucht, seine Miete, wenn überhaupt, sehr, sehr verspätet zahlt. Arch ist grundverpeilt. Das kann man allein schon daran festmachen, dass er sein Geld als Uberfahrer verdient, aber meistens zu stoned ist, um zu fahren.
»Marianne! Komm endlich!«, brüllt Arch.
Als er Nick entdeckt, winkt er ihm von unten aus dem geöffneten Fenster des Autos zu.
»Marianne soll endlich kommen. Wir haben es eilig!«
Das haben wir alle, denkt Nick und stolpert über die Blumenkästen, in denen Arch jetzt neuerdings, seit es legal ist, Hanfpflanzen anbaut. Ihm ist das ein Dorn im Auge, aber er hatte keine Lust auf einen Streit. Ihm ist einfach unwohl dabei, ein kleines Kind in einer Wohnung zu haben, in der Drogen angebaut werden. »Ich weiß nicht, ob dein Bier im Kühlschrank nicht gefährlicher ist als meine Pflanzen?«, hat Arch argumentiert. »Oder läuft Hope oft durch den Park und frisst die Büsche, die dort stehen?«
Nein, hat Nick zugeben müssen, das macht sie natürlich nicht.
Arch hupt noch einmal und brüllt: »MARIANNEEEEE!«
Nick läuft über den Flur und sucht seine Sachen zusammen. Die Tür zum Bad steht offen. Er will sie schließen und sieht, dass der Klodeckel ebenfalls hochgeklappt ist. Er will ihn schließen und sieht, dass da jemand noch mehr vergessen hat, als nur den Deckel zuzuklappen.
»Hope, du musst ziehen!«
Aus der Küche erklingt ihr zarte, dennoch erboste Stimme: »Das war ich nicht.«
»Was warst du nicht?«
»Kacka!«
»Woher weißt du denn, dass ich Kacka meine?«
Er kommt sich ganz besonders schlau vor. Ein Detektiv, der versucht, eine Dreijährige, eine nicht mal ganz Dreijährige, der Lüge zu überführen.
»Das war schon!«, ruft Hope.
Okay, denkt Nick, dann war es Arch.
»Arch, mach deine Scheiße weg!«, murmelt Nick. Er erschrickt, denn ihm fällt ein, dass sie hier nicht Scheiße sagen, und hofft, dass Hope ihn nicht gehört hat. Eine Sekunde später ist es eh zu spät.
»Lass die Scheiße liegen!«, ertönt es aus Mariannes Zimmer. Marianne, seine andere Mitbewohnerin, die eigentlich auch nur zur Untermiete eingezogen ist, weil er in finanziellen Nöten ist.
»Die brauche ich noch!«
»Wozu um alles in der Welt braucht man eine … K-Wurst?«
Nick kommt sich ganz besonders clever vor, weil er K-Wurst sagt.
»Die ist für den Arzt!«, brüllt Marianne.
»Die ganze?«, brüllt er zurück. »Was will er damit?«
»Natürlich nicht die ganze!«, ruft Marianne.
Dann öffnet sich ihre Tür und sie tritt heraus. Auf dem Kopf ein Yankees-Basecap und gekleidet in abgeschnittenen Turnhosen und einem T-Shirt, auf dem »BRD verrecke« steht. Völlig unangemessen für eine Frau Mitte sechzig. Noch unangemessener, als grundsätzlich bei geöffneter Tür auf der Toilette zu sitzen und als Begründung anzuführen, dass sie seit dem Knast keine geschlossenen Türen ertrage und erst recht nicht, wenn sie vom Klo aus nicht in andere Zellen gucken könne.
»Du weißt nie, wer da an der Ecke lauert«, erklärt sie immer.
»Ich musste noch was vorbereiten«, sagt Marianne. In ihrer Hand hält sie die Tupperdose, in die er sonst die Apfelschnitze verpackt, die er Hope in die Kita mitgibt, und einen gelben Eierlöffel. Damit bewaffnet geht sie ins Bad, hockt sich vor die Schüssel und beginnt zu fluchen.
»Das verdammte Ding ist knüppelhart und geht immer unter.«
Nick ist entsetzt.
»Sag mal Marianne, du kannst doch nicht die Dose und den Löffel …«
Sie fällt ihm ins Wort: »Der Arzt hat Arch so was mitgegeben, so eine durchsichtige Sache, aber das ist irgendwie weg, lag auf der Kommode.«
Nick erinnert sich, dass ihm da gestern etwas runtergefallen ist, das Hans Albers erst angebissen und dann geschluckt hat. Er hat sich keine weiteren Sorgen gemacht. Er weiß, dass Hans Albers alles verdauen kann, wahrscheinlich sogar ein Fahrrad.
»Aber die Dose und der Löffel …«, stammelt Nick.
»Mach dir nicht in die Hosen«, sagt Marianne, »ich mach das wieder sauber!«
Noch bevor Nick fragen kann, ob ihr Plan sei, das, was sie da gerade am Stück aus der Toilette fischt, dem Arzt einfach auf den Schreibtisch zu kippen, klingelt es und er ist abgelenkt. Er fragt sich sowieso, was Arch und Marianne da in den letzten Tagen immer konspirativ zu besprechen haben?
»Wir machen aus Scheiße Gold«, hat Arch gesagt und dabei Marianne verschwörerisch angeschaut.
»Genau«, hat Marianne geantwortet.
»Ich mach auf?«, fragt Hope.
Nick hat sie nicht kommen hören. Er hofft, dass sie nicht gesehen hat, was Marianne da treibt.
»Darf ich?«
Eigentlich darf sie das nicht. Weil Nick sie aber hier weghaben will und er sich sicher ist, dass es Arch ist, der geklingelt hat, um Marianne persönlich abzuholen, erlaubt er es und knöpft sich Marianne vor.
»Du glaubst doch nicht, dass ich die Dose und den Löffel noch mal verwende?«
»Warum nicht?«, regt sich Marianne auf, »im Knast hätten wir das jahrelang benutzt.«
»Hallo«, ruft eine Frauenstimme aus dem Flur.
»Mama ist auf Klo«, hört er Hope.
»Du sollst nicht Mama sagen«, brüllt Nick.
»Aha«, sagt eine ihm unbekannte Stimme an der Tür.
»Der macht Mariannes Kacka in meine Kita-Dose.«
»Aha.«
Eine Pause.
»Bist du denn Hope?«
»Ja! Und du?«
»Ich bin Anette Reimers vom Jugendamt. Wie schön dich kennenzulernen.«
Das Wort Jugendamt fährt in Nick wie der Blitz in eine Eiche. Anette Reimers vom Jugendamt? Was will Anette Reimers vom Jugendamt in seiner Wohnung? Was will das Jugendamt in seiner Wohnung?
Er lässt Marianne Marianne sein und setzt sich Richtung Wohnungstür in Bewegung. Da steht tatsächlich eine Frau, die er nicht kennt. Er hat sich immer vorgestellt, dass es alte Biester mit Haaren auf den Zähnen sind, die beim Jugendamt arbeiten. Die hier sieht aber ganz freundlich aus.
»Sind Sie Herr Nikolaus Przbilsky?«
Wer denn sonst?
Er will gerade antworten, als er noch eine zweite Person sieht. Eine Frau. Sie trägt einen Regenmantel, der fast so aussieht wie der von Hope. Lange braune Beine gucken unter dem Mantel heraus und Hope schaut völlig fasziniert auf die Frau.
Dann dreht die Frau sich um und er sieht ihr Gesicht.
Leo!
Leo? Was macht die denn hier? Seit zweieinhalb Jahren hat er sie nur auf Bildschirmen gesehen und auf einmal steht sie hier in seiner Wohnung? Mit einer Frau vom Jugendamt. Und sie trägt den gleichen Mantel wie seine Tochter. Die auch ihre Tochter ist.
Leo, mit der er seit einem Jahr nur über seine Anwältin kommuniziert.
Er steht da, als ob er sich in die Hosen gemacht hätte.
Leo, deren Anwältin ihm gedroht hat, ihm das Aufenthaltsbestimmungsrecht für Hope zu entziehen. Leo, von der er nicht gedacht hätte, dass sie so etwas machen würde, weil sie doch eigentlich keinerlei Interesse an ihrer Tochter hat.
Als Marianne Leo zur Seite stößt, die Tupperdose an ihr vorbeibalanciert, und dabei »Achtung, heiß und fettig!« ruft, wirkt Leo irritiert. Was ist hier los?
Und als ob sie Marianne danach gefragt hätte, zeigt die auf die Dose und sagt zu Leo: »Das muss in spätestens zwanzig Minuten verarbeitet werden. Weißt du, seit der JVA habe ich echt ein fettes Problem damit, ein richtiges Ei zu legen.«
Leo nickt nur, als wäre es die natürlichste Sache der Welt.
»Na, dann beeil dich am besten.«
Leo!
Und es ist, als ob etwas in ihm explodiert, denn Nick möchte sie gleichzeitig umarmen und ihr eine ballern.
Aber man schlägt nicht.
Stattdessen streckt er ihr perplex die Hand entgegen, als wären sie völlig Fremde, die kein gemeinsames Kind haben. Aber Leo nimmt sie nicht. Sie schaut ihn mit einem Blick an, den er noch nie an ihr gesehen hat. Sie ist wütend. Und er ahnt, dass er daran eine große Mitschuld trägt. Sonst wäre sie nicht am frühen Morgen mit der Frau vom Jugendamt aufgekreuzt, die gerade vom Balkon wieder in die Küche getreten ist.
»Ihre Hanfpflanzen sind umgekippt«, sagt sie und bleibt vor Hans Albers stehen. »Was stinkt denn hier so?«
Scheiße, scheiße, scheiße, denkt Nick. Die werden ihm doch nicht das Kind wegnehmen?
1
An dem Tag, als er Leo das erste Mal traf, hätte Nick jeden, der das Wort Pandemie sagte, am liebsten so richtig durchgeschüttelt. Er wusste, dass es seine Situation nicht besser machen würde, aber es hätte ihn zumindest für eine kurze Zeit abgelenkt, während er den Flur der Agentur langschlurfte, in die verglasten, geschmackvoll eingerichteten Büros der Angestellten schaute und einen Karton mit ausgedientem Werbematerial ins Archiv bringen sollte, von dem er keine Ahnung hatte, wo es sich befand – aber er wollte natürlich auch niemanden fragen.
Sally, eine Kollegin aus der Bar, mit der er eine unregelmäßige sexuelle Beziehung unterhielt, eine angehende Schauspielerin, die leider irgendwie mehr zu einer Ratgeberin als zur Gespielin avanciert war, hatte ihm diesen Job hier besorgt, den er jetzt schon einige Zeit machte, wobei er sich aber sicher war, dass kaum jemand wusste, wie er hieß. Sally, der seine Plan- und Ambitionslosigkeit immer ein Dorn im Auge war, hatte zu ihm gesagt, dass sie gerne in ihrem eigenen Leben gleichzeitig die Autorin, die Regisseurin, die Produzentin und die Hauptdarstellerin wäre. Er hatte zu ihr aufgeschaut, nicht nur, weil sie ein Stück größer war als er. Aber du, hatte sie gesagt, taugst eigentlich nicht mal zu meinem Fahrer, du hast keine Ahnung, wo du hinwillst und wo es langgeht. Er hatte das ungerecht gefunden, aber auch gewusst, dass es nicht ganz unzutreffend war.
Nick warf einen Blick in den Karton. Autogrammkarten. Er schaute genauer hin. Keine von Sally. Moderatoren? Schauspieler? Influencer? Er kannte sie alle nicht. Drei Männer, eine junge Frau. Leo the CEO. Die kannte er natürlich. Die kannte jeder. Leonie »Leo the CEO« Stanislawski war eine der Hosts der Internetshow Founders, in der erfolgreiche Unternehmer:innen Start-up-Gründer:innen finanzielle Starthilfe gewährten oder organisierten. Sie hatte Millionen Follower und war selbst die Hauptanteilseignerin und CEO des börsennotierten Unternehmens Happyland, das unter dem Slogan »Toys statt Boys« Sexartikel für Frauen verkaufte. Berühmt geworden war sie unter anderem, weil sie ihre Produkte in Videos selbst vorführte. Er schaute genauer hin. Nicht unattraktiv. Passte zu dem Laden. Hier waren alle attraktiv. Und jung. Und wahrscheinlich erfolgreich. Bis auf ihn. Er, der nicht wusste, was er wollte, der völlig ohne Plan war.
Die Jahre zwischen fünfundzwanzig und vierzig sind die produktivsten. Was du in der Zeit nicht schaffst, das schaffst du auch später nicht mehr. Der Satz stammte von seinem Vater und er hatte ihn immer wieder zu Nick gesagt.
Einmal bei einem Fußballspiel. Champions League, Viertelfinale, Rückspiel, um sie herum fünfzigtausend brüllende Fußballfans, die letzten zehn Minuten liefen, das Ergebnis war noch offen und sein Vater hatte den Arm um seine Schultern gelegt und ihm diese Lebensweisheit mitgeteilt: »Junge, die Jahre zwischen fünfundzwanzig und vierzig sind die produktivsten!« Dass kurz danach das entscheidende Tor fiel, sie einer Bierdusche unterzogen wurden und er von wildfremden Menschen umarmt und geherzt wurde, daran erinnerte er sich auch noch. Aber nicht so sehr wie an den Satz seines Vaters, der gefallen war, als ob in einem Schwarz-Weiß-Bild urplötzlich ein Farbklecks auftaucht, der da überhaupt nicht hingehört. Sein Vater war Versicherungsmann, wie er immer sagte. Nicht Agent oder Verkäufer oder Inhaber einer Agentur. Versicherungsmann. Als ob es was Cooles wäre, wie Cowboy oder Geheimagent. In Trittau, einem Dorf kurz vor oder hinter Hamburg, je nachdem aus welcher Richtung man kam, kannte ihn jeder.
Jens Przybilsky – Versicherungen aller Art. Jeder, der bei seinem Vater eine fondsgebundene Lebens- und Rentenversicherung abschloss, zahlte die ersten Jahre nur für dessen Provision. Meine Cash-Cow, sagte sein Vater zu diesen Versicherungen. Die Leute im Dorf kannten den Jens, sie vertrauten ihm, sie kamen zu ihm, wenn sie ihr erstes Mofa versicherten, wenn sie Bausparverträge abschlossen, wenn sie heirateten, wenn sie ein Haus bauten, sie kamen immer wieder. In seinem Büro hatte er Akten über alle Klienten. Erst in Schubladen, später digital. Wenn Nick als Kind seinen Vater im Büro besuchte, was er nie gerne, sondern nur auf Geheiß seiner Mutter tat, saß sein Vater an seinem Schreibtisch, drehte sich auf seinem Drehstuhl zu ihm um, lächelte ihn an und sagte, anstatt »Bond, James Bond«, dass die Jahre zwischen fünfundzwanzig und vierzig die produktivsten wären.
Dann griff er in seine Schublade, zog eine Akte raus und hielt sie hoch.
»Das ist unser Haus.«
Er nahm eine andere Akte.
»Das ist dein Studium.«
Die nächste:
»Das ist dein Erbe.«
Und dann lächelte er wie einer, dem eigentlich nicht nach Lächeln zumute ist. So als ob er wüsste, dass er einen faulen Zahn hat, der bald raus muss. Zum Ende jedes Besuchs durfte Nick in das Glas mit den in Provinzial- oder Allianz-Knisterpapier eingepackten Bonbons greifen, die schmeckten, als ob einem eine Krähe eine Kirsche in den Mund geschissen hätte. Und jedes Mal, wenn er das Büro verließ, hatte er das Gefühl, selbst eine Versicherung abgeschlossen zu haben, die er eigentlich gar nicht wollte.
Er hatte es sich nicht leicht gemacht, vielleicht um es seinen Eltern nicht zu leicht zu machen? Er wäre ein sehr guter Grundschüler gewesen, wenn er sich für mehr interessiert hätte. Lernen fiel ihm nicht schwer, er wusste nur nicht, wofür. Drehstühle in ranzigen Büros? Akten? Bonbons in Knisterpapier? Auf dem Gymnasium konnte er in manchen Jahren mehrere Fünfer in Naturwissenschaften durch Einser in Sprachen und Geisteswissenschaften ausgleichen. Für Deutsch, Englisch, Geschichte und Religion brauchte er nicht zu lernen. Er hatte das Gefühl, er wüsste in diesen Fächern alles von selbst. Mathe, Bio, Chemie und Physik hingegen interessierten ihn genauso wenig, wie er den Stoff begriff. Er war ein Kind ohne viele Freunde. Er hatte keine Hobbys, außer dass er gerne las. Er war oft mittendrin, aber nicht wirklich dabei. Und als er sechzehn war, kam der Krebs, er verlor fast ein ganzes Schuljahr und nicht nur das. In Folge der Krankheit, der Chemo, der Zeit im Krankenhaus verlor er das Interesse an fast allem. Wenn er nichts hatte, was ihm in seinem Leben etwas wert war, war es vielleicht nicht so schlimm, wenn man kein Leben mehr hätte?
Doch der Krebs ging, das Einzige, was er mitnahm, war sein linker Hoden und die Hälfte seines rechten. Der Krebs hatte ihm nur ein halbes Ei gelassen. Es würde seiner Manneskraft keinen Abbruch tun, hatte der Arzt gesagt, nur Kinder zeugen, das würde er nicht mehr können. Mit dem verbliebenen halbierten Testikel und noch weniger Eifer setzte er seine Schulkarriere fort, blieb sitzen und war deswegen mit einundzwanzig Jahren mehr als zwei Jahre älter als die anderen Abiturienten. Sein Vater riet ihm zu einem Studium der Wirtschaftswissenschaften, seine Mutter, eine Lehrerin, trug ihm an, doch – so wie sie – Deutsch, Englisch und Geschichte auf Lehramt zu studieren. Nick wollte nichts davon. Er machte die Grundausbildung bei der Bundeswehr. Als er diese geistig und körperlich überlebt hatte, war seine Lust an der Armee jedoch erloschen. Es zog ihn in den Süden. Nach einem Sommer in Spanien blieb er ein paar Jahre dort, jobbte in Bars und Discotheken, lernte Menschen kennen, lernte Menschen zu verlieren und lernte Spanisch. Über ein Jahr lang lebte er als Untermieter bei einer Großfamilie in Valencia. Die Wohnung war riesig, er hatte ein helles Zimmer für sich, die Miete war mehr als erschwinglich, dafür übernahm er kleinere Familiendienste, wie mit der Großmutter spazieren zu gehen oder eine Partie Schach zu spielen, die beiden kleinen Kinder in den Kindergarten zu bringen oder das kleinste mal zu füttern und sogar zu wickeln. Das ließ sich gut mit seinem Alltag vereinbaren. Zurück in Deutschland versuchte er es mit Wirtschaftswissenschaften, brach zugunsten von Deutsch, Englisch und Geschichte auf Lehramt ab und machte erst mal gar nichts, nur in Bars jobben. Außer der Sprache gab es jetzt aber einen weiteren Unterschied zu seiner Zeit in Spanien. Er war nicht mehr so alt wie seine Kunden, sondern deutlich älter. Und seine Eltern hatten sich inzwischen scheiden lassen und waren jeder für sich in ein eigenes Leben gezogen. Das Heim seiner Kindheit, sein Elternhaus, der letzte Rückzugsort, den er bis dahin gar nicht als solchen definiert hätte, war ihm damit genommen.
Die einzige wirkliche Konstante in Nicks Leben war Hans Albers, sein Hund, den er immer bei sich hatte, seit sein Vater ihm diesen geschenkt hatte. Und dann war er auf einmal fast dreißig und hatte in den ersten fünf Jahren der Zeit, in der man am produktivsten ist, nichts geschafft, und nun lief er hier über den Parkettboden der PR-Agentur, auf der Suche nach einem Archiv, das er verdammt noch mal nicht finden konnte, obwohl er längst wissen müsste, wo es sich befand.
Während er seinen Karton trug, sah er Sabine vom Empfang, die immer so tat, als sei sie die Geschäftsführerin, an einem Regal stehen. Mit der rechten Hand schob sie sich ihre FFP2-Maske so zurecht, dass sie besser Luft bekam, mit der linken zog sie sich ein Stück Rock aus der Arschfalte. Nick mochte Sabine nicht. Er hätte ihr am liebsten in die Kniekehlen getreten, damit sie umfiel. Natürlich tat er das nicht. Er stellte es sich nur so intensiv vor, dass es sich fast so anfühlte, als hätte er es getan.
»Na, Sabine«, murmelte er, während er an ihr vorbeiging.
»Nick«, sagte sie, »warum trägst du keine Maske? Wir haben hier FFP2-Pflicht!«
»Am Platz«, murmelte Nick.
»Da gehört sie aber nicht hin«, monierte Sabine.
»Leck mich und stirb«, murmelte Nick.
»Was sagst du?«
»Ich bin schon auf dem Weg, habe ich gesagt«, log Nick.
»Warte mal«, sagte Sabine.
Genervt blieb Nick stehen. Was wollte sie jetzt noch?
»Würdest du mir einen Gefallen tun?«
Eigentlich lieber nicht, denn Sabine einen Gefallen zu tun, bedeutete etwas für sie zu erledigen, das sie für unter ihrer Würde empfand. Aber er konnte sich auch nicht wirklich auf einen anderen Auftrag berufen, also nickte er.
»Kannst du einen Augenblick vorne auf Leo the CEO warten und sie dann in den kleinen Konferenzraum bringen?«
»Die Dildofrau?«
Sabine schaute ihn missmutig an.
»Sei doch nicht so despektierlich. Kannst du das machen?«
2
Nicht einmal eine Minute später stand er vor Leo und versuchte, so lässig wie möglich rüberzukommen.
»Hi, ich bin Nick.«
»Hi, ich bin Leo.«
»Ich weiß.«
»Cool.«
»Cool.«
Und dann wusste er auch schon nicht mehr, was er sagen sollte. Er musterte sie. Leo sah gut aus. Kurze Haare, Sonnenbrille auf den Kopf geschoben, dezent geschminkt, ein geblümtes Kleid, darüber eine dünne Bomberjacke und Stiefel, die bis zu den Knien reichten und farblich zur Jacke passten. Sie hatte ein freundliches Lächeln und ganz weiße Zähne. Als sie sich aus dem Sessel erhob, in dem sie auf ihn gewartet hatte, stellte Nick fest, dass sie mindestens genauso groß war wie er, in den Stiefeln wahrscheinlich sogar größer. So ungefähr wie Sally. War es so, dass Frauen inzwischen immer größer wurden? Oder war er einfach nur klein? Er musterte sie und schätzte sie auf Ende zwanzig, höchstens dreißig.
»Bist du alleine gekommen?«, fragte er.
Leo sah sich um. Da war niemand. Außer Sabine, die wieder hinter ihrem Empfangstresen Platz genommen hatte und so tat, als würde es der Wand helfen, wenn sie sie anstarrte.
»Nein«, sagte Leo, »wir sind zu zehnt, aber die anderen sind alle unsichtbar.«
Viel schlagfertiger, als er es sonst war, lächelte Nick sie an.
»Die können dann ja hier warten.«
Er schaute zu Sabine.
»Sabine, kannst du den anderen hier inzwischen einen Kaffee machen?«
Leo grinste, Sabine guckte nicht mal hoch.
»Masken auf!«, sagte sie nur.
Nick steckte eine Hand in die Gesäßtasche. Shit, er hat seine wohl verbummelt. Leo, die seine Geste beobachtet hatte, holte eine Handvoll zusammengeknüllter Masken aus ihrer Handtasche und reichte ihm eine.
»Hier. Kann sein, dass ich die schon mal benutzt habe. Okay?«
»Absolut«, sagte Nick und setzte die Maske auf. »Happyland« stand drauf. Und: »Was du dir selber kannst besorgen …«
Er atmete tief ein. Die Maske roch nach Parfum und Minzbonbon.
»Danke.«
»Gerne.«
»Soll ich mit dir eine Runde durch die Agentur machen?«
Ein dummes Angebot. Was sollte er ihr schon zeigen? Er, der nicht einmal wusste, wo das Archiv lag.
Leo lachte. »Auf keinen Fall.«
»Warst du schon mal hier?«
Eine dumme Frage. Die Agentur vertrat sie schließlich.
»Ja, die kümmern sich schon lange um meine Presseangelegenheiten und so Zeug.«
Froh, etwas zu tun haben, führte er sie zum Konferenzraum und genoss dabei die Blicke der anderen, die aus ihren Büros guckten, wie er mit Leo the CEO durch die Agentur bummelte, als wären sie alte Freunde.
Der kleine Konferenzraum hatte keine Fenster und bot lediglich Platz für einen Tisch und vier Stühle, die mit Sicherheit mehr gekostet hatten als ein Mittelklassewagen.
Sobald Nick das Licht angemacht hatte, riss Leo sich ihre Maske vom Gesicht.
»Was freue ich mich, wenn der Scheiß erst mal ganz vorbei ist«, stöhnte sie.
Nick nahm seine ebenfalls erleichtert ab.
»Ich auch.«
Dann wusste er nicht mehr, was er sagen sollte, und fragte, ob sie gerne Kaffee oder Tee hätte, sie lehnte aber beides ab und sie schwiegen.
Verstohlen sah er zu ihr rüber, wie sie sich mit den Fingern durch ihre Haare fuhr. Er wurde etwas nervös, weil ihm auffiel, dass er seit Beginn der Pandemie selten mit einer Frau in einem Raum gewesen war, die nicht eine seiner Nachbarinnen war, die sich in aller Schnelle mal etwas borgen wollte.
»Und?«, fragte er dann irgendwann, als ihm die Ruhe zu still wurde.
Sie lachte.
»Und was?«
»Und sonst so?«
Sie lachte wieder.
»Sonst so?«
Er war verunsichert. Lachte sie ihn aus?
»Na, was du sonst so machst?«
Sie überlegte kurz und seufzte dann.
»Gerade hatte ich ein schreckliches Interview.«
»Was bedeutet denn schrecklich?«
»Schrecklich bedeutet, dass ich das Interview gefühlt schon hundertmal gegeben habe. Keine einzige interessante Frage. Immer das Gleiche.«
Er nickte, als ob er sich damit auskennen würde.
»Das kenne ich.«
Sie schaute ihn an.
»Ja? Woher?«
»Aus Interviews. Die ich höre oder lese. Dann denke ich auch oft: was für eine dämliche Frage.«
Genau so dämlich wie der Stuss, den du hier erzählst, dachte er.
Sie schien das aber nicht so zu empfinden. Sie überlegte und sah ihn dann erwartungsvoll an.
»Was würdest du mich denn fragen?«
Er dachte nach.
»Vielleicht würde ich etwas Persönliches fragen?«
»Das ist immer gut.«
Sie zwinkerte ihm zu.
»Dann mach doch.«
Er überlegte. Meinte sie das ernst? Sollte er wirklich? Sie schien auf jeden Fall darauf zu warten.
»Weißt du«, sagte sie nach einer Zeit, »einer der Tricks bei so einer persönlichen Frage ist, das du sie mir auch stellen musst.«
Nick wusste aber überhaupt nicht, was er fragen sollte. Er war verunsichert, wollte aber nicht so wirken und tat deswegen so, als sei seine Faust ein Mikrofon, in das er hineinsprach, einen Reporter imitierend.
»Ich sitze hier mit Leo the CEO und viele von euch sind jetzt wahrscheinlich neidisch.«
Er schaute sie an. Sie schaute zurück.
»Das war keine Frage.«
»Was wäre denn eine gute Frage?«
Sie musterte ihn und lächelte spöttisch.
»Etwas Persönliches, hat mir vor Kurzem jemand gesagt.«
Er fing ihren Blick auf und wusste nicht genau, wie er mit der Situation umgehen sollte. »Gibt es denn irgendetwas Persönliches, was du gerne gefragt werden würdest?«
Sie überlegte. »Nee, es ist so, wie ich eben gesagt habe. Eigentlich bin ich schon alles gefragt worden, was man fragen kann, und die meisten Fragen waren einfach nur blöde, weil ich sie schon so oft beantwortet habe. Oft denke ich darüber nach zu lügen, damit es etwas spannender wird.«
Nick wäre gerne derjenige, der dieses Schema durchbrach, aber er hatte keine Ahnung wie. Er hatte das Gefühl, sie flirte mit ihm, fragte sich aber, warum sie das tun sollte? Sie war schließlich ein Promi, er war hier nur der Handlanger, den kaum einer mit Namen kannte.
»Soll ich stattdessen dich was fragen?«, sagte sie. »Das wäre mal was anderes.«
Die Idee gefiel Nick.
»Gut«, sagte Leo und lehnte sich zurück. »Stört es dich, wenn ich mich etwas ausziehe?«
Machte sie das absichtlich, um ihn ins Schwitzen zu bringen?
»Ist das die Frage?«, fragte Nick, schon wieder schlagfertiger als gewohnt.
Leo lachte, während sie ihre Jacke auszog. Ihr Kleid war ärmellos, ihre Arme gleichzeitig straff und zart, sie trainierte sicherlich. Ohne Jacke entfaltete sich ihr Parfum in dem kleinen Raum, als hätte man einen Strauß Blumen aus einer Cellophanhülle befreit. Er versuchte ihren Geruch einzuatmen, ohne dass sie es mitbekäme. Doch er hatte das Gefühl, sie wusste ganz genau, was sie da gerade mit ihm machte. Was blieb ihm also übrig, als sich so selbstsicher wie möglich zu geben und es ganz normal zu finden, dass er hier mit ihr saß und sie ihn fragte, ob es ihn stören würde, wenn sie sich entkleidete.
Dann stützte sie ihre Arme auf den Tisch, beugte sich vor und schaute ihm tief in die Augen.
»Nein, die Frage ist: Wie ist es denn, einer Frau in die Augen zu schauen, deren Vagina du schon als Wichsvorlage benutzt hast?«
Bäm! Treffer! Nick wäre jetzt für sein Leben gerne im Erdboden versunken. Gott sei Dank war es im Konferenzraum ziemlich dunkel und sie konnte nicht sehen, wie rot er gerade wurde. Unter seinen Achseln hatten sich Springbrunnen in Gang gesetzt.
»Wie …, was …, hä …«, stammelte er.
»Na komm«, sagte sie, »du kennst doch sicherlich die Videos für Toys statt Boys von Happyland? Oder willst du sagen, du hast dir noch nie eines angeschaut?«
Nick ahnte, das Leugnen hier gar nichts nützen würde.
»Doch …, schon …«, sagte er.
Natürlich kannte er die Videos. Jeder kannte die Videos. Leo erklärte darin, wie man die Sexspielzeuge, die Happyland vertrieb, hauptsächlich die Vibratoren Butterfly, Snake, Doublehead, Wonderwoman und Uncle Dick, richtig benutzte. Die Videos waren sexy, aber nicht schmutzig. Leo saß in ihnen auf einem Barhocker und demonstrierte die Anwendung. Sie war nicht nackt und zeigte auch nicht pornomäßig ihre Brüste oder stöhnte rum oder so etwas. Sie sah eher aus wie eine junge Professorin, die den Studierenden etwas erklärte. Sie trug ein ähnliches Kleid wie heute, keine Unterwäsche. Die Sitzfläche des Barhockers war ein Spiegel. Sie packte die Geräte aus, erklärte die Funktionen und zeigte, wie man sie am besten mit Gleitgel einschmierte und dann einführte.
»Schon«, stammelte Nick, »aber nur … äh … professionell.«
»Professionell?«, grinste Leo. »Hast du sie denn auch ausprobiert? Bist du eher der Wonderwoman- oder der Uncle-Dick-Typ?«
Nick wischte sich ein paar Schweißperlen von der Stirn.
»Äh, bist du das denn selbst in den Videos?«, fragte er.
Sie schaute ihm weiterhin fest in die Augen.
»Natürlich bin ich das selbst. Alles andere wäre falsch. Aber …«, bei diesem Aber erhob sie ihre Stimme, »… es ist und war nie das Ziel, etwas Pornografisches darzustellen. Die Idee dahinter ist, jungen Frauen und Mädchen das Gefühl zu nehmen, sie täten etwas Unnatürliches oder Verbotenes. Und mir ist absolut klar, dass es Männer gibt, die meine Videos zu anderen Zwecken nutzen.«
»Ich nicht!«, behauptete Nick.
Sie lächelte zuckersüß. »Nein, du hast es ja nur professionell angeschaut …«
Nick wusste nun gar nicht mehr, wie er mit der Situation umgehen sollte. Vor allem, weil dies hier, auch wenn es kein echtes Interview war, trotzdem ein Gespräch mit einer Frau war, die wusste, dass er wusste, wie ihre Vagina aussah, wenn sie sich einen Vibrator einführte. Und die sich damit ganz normal zu fühlen schien. So wie Sally, wenn sie Sätze sagte wie »Ich fick dich jetzt richtig durch« und er sich dann irgendwie komisch vorkam, weil das in Filmen meistens die Männer sagten.
Leo wurde jetzt etwas ernster.
»Du als in Deutschland geborener weißer Cis-Junge, machst dir keine Vorstellungen davon, wie verklemmt viele Mädchen aufwachsen. Du hast wahrscheinlich mit zwölf oder dreizehn deine ersten Pornos gesehen und dann schön Hose runter und shake hands.«
Nick schüttelte erst den Kopf, dann nickte er. Genau so war es.
»Bei den meisten Mädchen funktioniert das nicht so. Wir haben viel mehr Hemmungen und brauchen eigentlich viel mehr Support als ihr Jungs. Du fängst ja nicht mit dreizehn an, aus deinem Ding zu bluten. In dich will niemand etwas reinstecken und du kannst nicht schwanger werden. Du prahlst vor deinen Freunden mit deinen sexuellen Heldentaten und bist der Capo. Wenn du das als Mädchen tust, bist du keine Queen, sondern eine Nutte. Es gibt viele Unterschiede zwischen Jungs und Mädchen; Lust auf Sex zu haben, ist keiner. Aber wir haben nun mal nichts, was man einfach rausholen und schütteln und hinterher abwischen kann. Und viele von uns haben keine Mütter, die mit ihnen über Selbstbefriedigung sprechen.«
Nick unterbrach sie: »Ich habe mit meiner Mutter nie über Selbstbefriedigung gesprochen.«
Das kam so schnell und vehement, dass sie erst abwartete, ob noch etwas folgte. Und er fragte sich, was er sagen sollte.
»Ich habe nur ein Ei«, schob er dann hinterher.
Sätze, die man unbedingt sagen muss, wenn man mit einer attraktiven Frau über Sex redet, dachte Nick. »Darüber haben wir gesprochen.«
Leo schaute weder angewidert noch desinteressiert.
»Eigentlich ist es auch nur ein halbes«, gestand er.
»Das fehlt oder das noch da ist?«
»Das noch da ist.«
Mein Gott, er redete sich um Kopf und Kragen.
»Was ist passiert?«
»Lange Geschichte.«
»Aber du hast mit deiner Mutter darüber gesprochen, wie du dich mit einem halben Ei fühlst?«
»Mehr schlecht als recht, aber – ja.«
Wie sich das Gespräch entwickelte! Eben hatte es noch erotisch geknistert und urplötzlich erzählten sie sich Dinge, über die er mit niemandem geredet hatte, der nicht sein Urologe war oder mit der er nicht gerade geschlafen hatte.
Sie atmete tief ein und sagte dann:
»Ich habe nie eine Mutter gehabt. Waise. Kinderheim. Pflegeeltern. Kinderheim. Beschissener Kreislauf.«
Nick konnte nicht anders. Er nahm ihre Hand, drückte sie ganz kurz und ließ sie wieder los.
»Bist du immer so offen?«
»Nein«, antwortete Leo, »nur wenn ich merke, dass jemand echtes Interesse hat. Aber wenn ich merke, dass jemand nicht wirklich zuhört, dann höre ich auch schnell auf und sage meine Nullachtfünfzehn-Sätze und dann ist gut.«
Nick war froh, dass sie merkte, dass er wirklich zugehört hatte.
»Wir Frauen wollen genauso selbstbestimmt Sex haben wie Männer. Manchmal mit uns alleine, manchmal auch unter uns – wir machen da nur nicht so ein Geschiss drum.«
Sie piekte ihm auf die Brust.
»Und manchmal wollen wir eben auch Sex mit einem von euch.«
Ihm wurde heiß und kalt.
»Aber nur, wenn wir wollen! Verstehst du?«
Er nickte.
»Und wenn ihr nett seid.«
Er nickte noch einmal.
»Am besten ist, wenn ihr auch noch diskret seid.«
Auf der Ablage stand eine Flasche Wasser. Sie zeigte drauf.
»Ist die frisch?«
Nick sah, dass das Siegel verschlossen war, und reichte ihr die Flasche.
»Es ist heiß hier drinnen«, sagte sie, trank und zwinkerte ihm zu.
Nick beobachtete, wie ihr das Wasser durch die Kehle rann. Er war nicht unerfahren im Umgang mit Frauen. Er war absolut in der Lage, Frauen anzusprechen, sich zu unterhalten und auch bei über Apps arrangierten Dates hatte er sich gut geschlagen. Aber er hatte bislang keine Frau kennengelernt, die so offen mit ihm redete wie Leo. Sally zum Beispiel war ja auch offen. Sie hatte ihm ohne jede Hemmung erklärt, was sie mit ihm machen wollte, und das dann auch getan. Aber das hier war anders. Ihm wurde klar, dass er sich hier mit einer Frau in einem Raum befand, die er »im echten Leben« nie kennengelernt hätte. Er saß hier in einer vier Quadratmeter großen überhitzen Bude mit der unglaublich attraktiven Leo the CEO und redete über Sex.
Leo setzte die Flasche ab und eine Sekunde lang sah es so aus, als wolle sie ein Bäuerchen machen. Dann lachte sie ihn offen an.
»Du bist nett und diskret, oder?«
Nick hatte das Gefühl, dass all sein Blut von überall her, aus allen Organen und besonders aus dem Gehirn, in seine Lenden strömte.
»Hast du wegen dieser Scheißpandemie auch so wenig Sex gehabt, in den letzten Monaten?«
Er bejahte. Sie lachte.
»Außer mit dir selbst?«
Er nickte wieder.
»Ich bin so drastisch untervögelt«, sagte Leo.
Sie hüpfte von ihrem Hocker und ging einen Schritt auf ihn zu. Mit ihrer Nase an seiner blieb sie stehen.
»Kann man diese Besenkammer abschließen?«, hauchte sie.
Man konnte die Besenkammer nicht abschließen, aber es wäre besser gewesen, wenn man es gekonnt hätte. Denn so reagierte Sabine eine Viertelstunde später ziemlich lautstark, als sie die Tür zum Konferenzraum öffnete und Nicks Kopf zwischen Leos Beinen sah.
»Entschuldigung, aber kannst du bitte eine Maske aufsetzen«, lächelte Leo sie zuckersüß an und krallte sich dabei in Nicks Haaren fest, damit sie nicht vom Tisch rutschte.
3
Zweieinhalb Tage und drei Nächte später lag Nick auf dem Bett einer Suite in einem Luxushotel. Außer dem Schlafzimmer gab es noch ein sehr geschmackvoll eingerichtetes Wohnzimmer mit Kopien großer Künstler an den Wänden, einem antiken Schreibtisch, einer gemütlichen Sitzecke und einem echten Kamin, plus zwei Badezimmer, eins mit Wanne und eins mit Dusche, und eine eigene Dachterrasse. Besser hatte Nick noch nie gewohnt.
Auf einem Tisch vor dem Bett standen noch die Reste des Frühstücks. Er lag nackt und auf einen Arm gestützt auf der Seite und betrachtete die ebenfalls nackte, schlafende Leo. Ihre linke Körperhälfte zierte eine große bunte Tätowierung, eine Schlange, die einen Baum hochkroch. Nick rückte langsam immer näher, um besser sehen zu können, was die Schlange da genau machte. Ihr Kopf lag da, wo auf Leos Brust ein silbernes Medaillon baumelte. Während er es betrachtete, atmete er in Leos Rücken und sie wurde davon wach.
»Was machst du da?«, fragte sie.
»Ich schaue mir die Schlange an«, antwortete er.
»Bin ich eine Schlange?«, fragte sie schlaftrunken.
»Die auf deinem Rücken.«
»Ah. Und?«
»Warum hast du die?«
»Damit du was zum Anschauen hast, falls du dich langweilen solltest.«
»Und das Medaillon?«
Die Frage schien sie zu überrumpeln, sie brauchte etwas, bevor sie antwortete: »Da ist das drin, was an meinem Leben gut ist.«
Nick gab sich damit zufrieden, weil er merkte, dass sie nicht mehr dazu sagen wollte. Er ließ die letzten zweiundsiebzig Stunden Revue passieren.
Nachdem sie von Sabine gestört worden waren, fuhren sie im Taxi in Leos Hotel. Wäre das Taxi etwas größer gewesen, hätten sie bereits im Auto miteinander geschlafen. So hatten sie es gerade noch ins Hotel geschafft.
»Wollen wir über Verhütung reden?«, hatte Nick gestammelt, um Zeit zu schinden.
»Warum?«, hatte Leo gekeucht. »Du hast doch nur ein halbes Ei!«
Was für ein Gefühl, mit einem Menschen, der einen bis kurz vor der Ohnmacht erregt, gemeinsam lachen zu können, bevor man wieder übereinander herfällt.
Das war Freitagnachmittag gewesen.
Jetzt war Montag.
Und in dieser Zeit hatten sie das Bett kaum verlassen.
Leo setzte sich auf. Nick betrachtete sie. Und sofort wollte er wieder mit ihr schlafen. Sie sah das und grinste.
»Haben wir etwas ausgelassen?«
Er grinste zurück. »Ich glaube nicht.«
»Ich glaube auch nicht«, sagte sie. Dann griff sie nach einem halb leeren Glas Orangensaft und trank es aus.
Nick sah sich um. Das Bett musste dringend frisch bezogen werden. Auf dem Boden verstreut lagen alle möglichen Sex Toys aus Leos Kollektion.
Sie hatte seinen halben Hoden nicht als verstümmelt oder widerlich empfunden. Sie hatte ihn angefasst und genau betrachtet.
Leo gab ihm ein gutes Gefühl. Ein Gefühl der Sicherheit, das es ihm ermöglicht hatte, sich ihr nicht nur körperlich zu öffnen.
Im Alter von neun war seine Lieblingsfernsehserie Wildes Wohnzimmer. Tiere, die nicht in ein Haus gehörten, aber trotzdem in einem lebten, gemeinsam mit ihren Menschen. Immer am Donnerstag, wenn Wildes Wohnzimmer vorbei war, nahm seine Mutter ihn an die Hand und es ging zu Dr. Wilken. In Dr. Wilkens Wartezimmer roch es nach Medizin und altem Pups. In einer Ecke stand ein Skelett. »Bitte nicht anfassen« war auf einem Schild zu lesen, das um den Totenkopf gehängt war. Wie hypnotisiert betrachtete Nick jedes Mal den Knochenmenschen, bis seine Mutter und er aufgerufen wurden. Im Sprechzimmer von Dr. Wilken musste er seine Hosen runterziehen und der Arzt befummelte seine Hoden. Beziehungsweise seinen Hoden. Nick hatte nur einen. Der andere war irgendwo tief in ihm drin. Doch auch nach dem suchte der Arzt, indem er Nicks Unterleib abtastete, bis er ihn gefunden hatte. Die Rumfummelei war Nick gewöhnt. Schon als kleines Kind, wenn seine Mutter ihn in der Badewanne abtrocknete, machte sie sich auf die Suche nach seinem zweiten Hoden. Wenn der Arzt seine Untersuchung beendet hatte, gab es eine Spritze in den Arsch. Piek. Zack. Fertig. Wer nicht weint, darf sich eine Handvoll Gummibärchen aus einem Glas nehmen. Ein bisschen wie an Ostern. Der eine findet Eier, der andere bekommt Süßigkeiten. Nick hat nie geweint. Nicht bei Dr. Wilken. Erst als er im nächsten Jahr auf der ersten Klassenfahrt seines Lebens ausgelacht wurde, als er mit den anderen Kindern unter der Dusche stand. Er war der einzige Viertklässler mit kompletter Schambehaarung und einem ausgewachsenen Penis. Die anderen Kinder – und Nick ab dem Moment übrigens auch – fanden das so ungewöhnlich, dass sie die Klassenlehrerin riefen. Die besah sich Nicks bestes Stück, erschrak und begann zu weinen. Und Nick dann auch. Später begriff er, dass er an einem Hodenhochstand gelitten und deswegen Hormonspritzen bekommen hatte. Damit die anderen Kinder auch gleich Bescheid wussten, versammelte die Lehrerin die gesamte Klasse und redete über Hodenhochstand und dass das nichts Schlimmes sei und Nick eben deswegen so viele Haare habe wie ein Erwachsener und dass darum auch sein Penis so groß sei. Nick war bei dieser Versammlung ganz elend zumute. Es war, als ob ihm alle über den Pimmel direkt in seine Seele schauen würden, ohne dass er den Mund geöffnet oder die Hose runtergezogen hätte.
Im Laufe der nächsten Jahre hatten sich Penisgröße und Schamhaarbewuchs normalisiert. Aber seine Hoden schwollen an, als er mit der Pubertät endlich so ziemlich durch war. Die Stimme wurde tiefer und die Eier größer. Seine Mutter, die ihn inzwischen wahrscheinlich als zu alt empfand, um selbst Hand anzulegen, schleppte ihn zu einem Urologen. Der Urologe war beunruhigt. Er erklärte, dass Männer, die einer Hormonbehandlung unterzogen worden waren, ein viel höheres Hodenkrebsrisiko hatten. Allerdings sei Nick eigentlich zu jung dafür. Ein MRT und ein Onkologe stellten dann fest, dass er es doch nicht war. Es folgten Operation und Chemotherapie und vierhundertdreizehn Tage später hatte er kaum noch Haare, nur noch einen halben Hoden, galt aber als geheilt. Trotzdem musste er alle sechs Monate zur Kontrolle und er hatte das Gefühl, es höre nie wieder auf, dass ihm wildfremde Menschen auf die Genitalien starrten. Natürlich hat er auch Angst davor, dass der Krebs zurückkommen würde. Und bei jeder Untersuchung hatte er die noch größere Angst seiner Mutter gespürt. Sein Vater hat nie etwas zu seiner Krankheit gesagt, er konnte ihn weder trösten noch umarmen, aber er hat ihm den Hund geschenkt.
Der Krebs war nicht zurückgekommen und irgendwann waren es dann nicht mehr die eiskalten Finger von Ärzten, sondern warme Mädchenhände, die dort unten herumtasteten. Manche reagierten erschrocken, andere versuchten, sich nichts anmerken zu lassen. Doch anfassen wollte ihn keine wirklich. Sally hatte es auf den Punkt gebracht. Sie hatte Angst, den Krebs aus dem Stummelsack zu drücken. Und so gerne sie seinen Penis in den Mund nahm, an seinem halben Ei schielte sie immer vorbei oder schloss die Augen.
Leo hatte ihn geküsst, nachdem Nick ihr die Geschichte erzählt hatte, und sanft zugedrückt. »So hängen sie nicht bis zu den Knien, wenn du alt wirst«, hatte sie gelacht.
Und er hatte mitgelacht.
Jetzt stand sie da und er betrachtete sie. Die Natürlichkeit ihrer Nacktheit gab ihm das Gefühl, ebenfalls eine Rüstung abgelegt zu haben. Er wollte nicht, dass das hier zu Ende war.
»Ab heute sind wir wieder frei«, sagte sie in diesem Moment.
Nick, der darüber nachdachte, dass er eigentlich schon vor einer Stunde hätte in der Agentur aufschlagen müssen, war davon nicht überzeugt.
»Wie meinst du das?«, fragte er.
»Heute ist Schluss mit der Ausgangssperre. Wir können uns wieder normal bewegen.«
Leo streckte sich einmal richtig durch, es sah aus, als würde sie nach der Decke greifen, dann begann sie ihre Sachen einzusammeln und warf einen Blick auf ihr Handy.
»Um zwölf nehme ich den Zug nach Frankfurt, dann geht’s weiter nach Los Angeles.«
Nick sah ihr beim Aufräumen zu. Er wollte hier nicht gerne weg. Er wollte nicht in die Agentur. Er wollte Sabine nicht in die Augen schauen. Am liebsten würde er mit Leo nach Los Angeles fliegen und dort weitermachen, wo sie vor gut einer Stunde aufgehört hatten. Doch ihm war, wenn er Leo anschaute, klar, dass hier und jetzt etwas enden würde. Und es lag nicht in seiner Macht, dieses Ende abzuwenden.
Sie hatte ihr langes Wochenende zweimal unterbrochen, um bei Insta live zu gehen. Sie hatte ihr iPhone dazu so ausgerichtet, dass die Suite nicht protzig aussah. Ihre Aktion war Interaktion. Es hatte nichts mit den Videos zu tun, die er sonst von Influencern kannte. Es war eher wie eine Art Sprechstunde. Ihre Follower hatten Fragen, sie gab sich ehrlich Mühe, diese zu beantworten. Sie hatte eine unglaubliche Art, Augenhöhe herzustellen, die er so noch nicht erlebt hatte.
Leo suchte aus ihrem Koffer frische Klamotten und entschied sich für einen Jogginganzug. Während sie die Sachen aufs Bett warf, fing sie Nicks Blick auf.
»Alles okay?«