Hope Sweet Hope - Ronja Uhlmann - E-Book

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Ronja Uhlmann

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Beschreibung

Amalia Fleer ist eigentlich eine ganz normale Jugendliche. Doch dann erhält sie einen seltsamen Anruf, der ihr Leben verändert. Der Anrufer lockt sie zu einer Kapelle und entführt sie. Sie wird betäubt und findet sich in einem dunklen Keller mit den attraktiven Brüdern Tyron und Mirak wieder. Ihren Entführern. Sie versteht die Welt nicht mehr und als Tyron sie dann auch noch zu retten versucht, kann sie nicht einmal mehr ihren Gefühlen trauen. Die Kommissare Neil und Davis ermitteln in dem Fall, der zunächst nach einer klassischen Entführung mit Lösegeldforderung aussieht. Doch Amalias Mutter ist wohl doch nicht so unschuldig, wie sie scheint. Die Ermittler fördern ein dunkles Geheimniss zutage, das Entführer und Entführte verbindet...

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EPUB
MOBI

Seitenzahl: 287

Veröffentlichungsjahr: 2020

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Ähnliche


Inhaltsverzeichnis

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Epilog

Prolog

Schritte durchbrachen die Stille, sie näherten sich entschlossen der Treppe. Dann das Knarren der Stufen. Die Tür wurde geöffnet und ein Mann betrat den Raum. Es war ein kleines Zimmer mit einem hohen Kamin. Das Feuer, das darin brannte, war die einzige Lichtquelle in der Finsternis. Die schweren Vorhänge und die Ohrensessel schafften eine gemütliche Atmosphäre, doch nun lag eine unbestimmte Spannung in der Luft. Die lodernden Flammen warfen zuckende Schatten an die Wände und erhellten die Gestalt des Mannes.

Er trug einen gut sitzenden Anzug und hatte eine auffällige Narbe im Gesicht. Rastlos tigerte er vor den kleinen Fenstern auf und ab und sah immer wieder zur Tür. Wieder waren Schritte zu hören. Der Mann blieb stehen und lauschte. Die zweite Person näherte sich stockend der Treppe und öffnete schließlich langsam die Tür. Der andere Mann, der nun den Raum betrat, war kleiner und dunkel gekleidet. Er wich dem Blick des Anzugträgers aus, ja er schien regelrecht darunter zu schrumpfen. „Da bist du ja endlich. Hab ich nicht gesagt, du sollst dich beeilen.“, zischte der erste leise. „Mach die Tür zu.“, befahl er dann grob. Der zweite gehorchte und trat dann auf den anderen zu. „Hör mal, das mit vorhin tut mir echt leid. Das war so nicht geplant. Wir konnten ja nicht wissen, dass…“, begann er, doch der Anzugträger unterbrach ihn mit einer Handbewegung. „Ach hör doch auf. Du wusstest genau, dass es so kommen würde. Du bist schuld!“ Die letzten Worte schrie er seinem Gegenüber ins Gesicht. Der wich einen Schritt zurück. Nach einem Augenblick Stille überlegte er es sich anders und legte dem Anzugträger langsam seine Hand auf die Schulter. Die beiden Männer sahen sich in die Augen. „Aber es gibt etwas, das du tun kannst.“, flüsterte der erste. Der andere schüttelte den Kopf. „Bitte, wir sind doch Freunde. Wir haben schon so viel gemeinsam durchgestanden. Das kannst du nicht von mir verlangen.“ Er sprach in einem Tonfall, den man sonst bei einem Kind verwendete. Aus dem Gesichtsausdruck des Ersten sprach unendliche Qual, als er seinen Freund ansah.

Dann lächelte er, doch das Lächeln war grausam. Er packte den zweiten am Kragen und zog ihn so dicht heran, dass kaum eine Haaresbreite Abstand zwischen den beiden war. Der Mann versuchte sich zu wehren, doch er hatte keine Chance. „Wir waren Freunde, bis du mich hintergangen hast und mein kleiner Bruder dafür bezahlen musste. Das war allein deine Schuld.“, zischte der Anzugträger. Der Kleinere wand sich in seinem Griff und wurde noch blasser. „Bitte, ich, ich kann das nicht!“ Der Größere lachte erneut sein gänsehautbereitendes Lachen. „Das interessiert mich nicht. Denk daran, was auf dem Spiel steht.“, zischte er und zog den Mann noch näher. Er flüsterte ihm etwas ins Ohr. Dann ließ er ihn ruckartig los, sodass der andere ein paar Schritte rückwärts stolperte. Der erste ging langsam auf den am Boden Liegenden zu und zog etwas aus seiner Tasche. Es war ein Messer, das die zuckenden Flammen des Feuers wiederspiegelte. Langsam kniete er sich hin und drückte dem anderen das Messer an die Kehle. „Du hast die Wahl. Du oder deine Tochter.“

1

Ich ging durch den Park und ließ meine Gedanken schweifen, während ich die glitzernden Sonnenstrahlen beobachtete, die durch die Bäume am Rande des Weges fielen. Es war ein wunderschöner Herbstnachmittag und die leuchtend bunten Blätter raschelten im Wind. Ich war bester Laune, denn endlich war Wochenende und ich konnte mich von der anstrengenden Schulwoche erholen. Außerdem waren die letzten beiden Stunden entfallen und ich konnte früher nach Hause gehen. Die Bänke, die ringsum unter den ausladenden Ästen der Bäume standen, waren fast leer, nur ein Pärchen saß eng umschlungen unter einer Birke. Ich beobachtete sie und war tief in Gedanken versunken, als mich ein Ruck von den Beinen holte und ich mich auf dem Boden wiederfand.

„Hey!“ Benommen sah ich auf. Ein verärgerter Jogger stand über mir. Es war ein Mann mittleren Alters, der einen alten abgewetzten Jogginganzug trug und fettige dunkle Haare hatte, doch was mich an ihm am meisten irritierte und abstieß, waren seine stechend blauen Augen. Er machte keine Anstalten mir hoch zu helfen oder sich auch nur zu entschuldigen, sondern stand nur mit verschränkten Armen über mir. „Kannst du nicht aufpassen, wo du hinläufst?“, fragte er mich aufgebracht. Ich sah ihn empört an. „Aber…“, begann ich, doch er stemmte die Hände in die Hüften, was ihn auf eine merkwürdige Weise bedrohlich erscheinen ließ und ich verstummte. Einen Augenblick sahen wir uns wortlos an, dann stand ich auf und klopfte mir den Dreck von der Hose. Der Mann musterte mich von oben bis unten und schien auf etwas zu warten, ich trat unsicher von einem Bein aufs andere. „Kann ich Ihnen helfen?“, fragte ich und dachte mir gleichzeitig, dass der Typ echt komisch war. Der Jogger schnaubte abfällig und lief dann weiter, ich sah ihm kopfschüttelnd hinterher.

Er zog ein Handy aus seiner Tasche, wählte eine Nummer und wartete. Dabei sah er sich noch einmal nach mir um. Dann sagte er ein Wort und legte wieder auf, er wurde schneller und verschwand um die Kurve. Was war das bitte schön?! Das Pärchen auf der Parkbank hatte sich erschrocken umgedreht und ich lächelte ihnen entschuldigend zu. Die Frau lächelte mitleidig zurück und sagte etwas zu ihrem Begleiter. Die beiden standen auf und gingen in die gleiche Richtung, in die der Jogger verschwunden war. Seufzend sah ich auf den am Boden liegenden Inhalt meiner Tasche und begann, ihn aufzusammeln. Meine ganzen Schulsachen waren voller Kies und Erde und meinen Block konnte ich wegschmeißen. Sogar mein Federmäppchen war aufgegangen und die Stifte hatten sich auf dem Weg verteilt. Meine gute Laune war wie weggeblasen. Als ich endlich wieder alles in meiner Tasche verstaut hatte, hängte ich sie mir um und ging weiter. Ich wollte nur schnellstmöglich nach Hause.

Plötzlich klingelte mein Handy. Ich suchte es und sah auf das Display, darauf wurde ein Anruf mit unterdrückter Nummer angezeigt. Der Tag wird immer seltsamer. Zögernd nahm ich den Anruf an. „Ha.. Hallo?“ Der Anrufer atmete schnell und fluchte dann unterdrückt. Es raschelte. „Hallo? Ich… ich brauche Hilfe. Ich werde verfolgt. Bitte hilf mir. Ich bin an… an der kleinen Kapelle am nördlichen Ende des Parks. Bitte hilf mir, ich…“, der Anruf brach ab. „Hallo? Wer ist da? Hallo?“ Die Leitung war tot. Mein Herz raste, ich starrte auf mein Handy und überlegte, was ich jetzt machen sollte.

Die kleine Kapelle war sowieso auf meinem Weg, also konnte ich ja mal vorbeisehen. Aber was, wenn es eine Falle war? Eine Falle? Ernsthaft? Wer soll dir denn eine Falle stellen? Ich glaube du hast eindeutig zu viele Krimis gesehen, Amalia, ermahnte ich mich. Die Person am Telefon hatte echt verzweifelt geklungen und vielleicht konnte ich helfen. Unschlüssig sah ich mich um und erwartete halb, dass gleich jemand kommen würde und mir sagte, dass das alles ein Scherz gewesen war. Doch der Park war leer. Ich seufzte, packte das Handy in meine Tasche und ging weiter.

Etwas später sah ich die Kapelle, die ein wenig abseits des Weges stand. Hier standen die Bäume dichter und ohne die Sonne war es ziemlich kühl, ich zog meine Jacke enger um mich. Dann sah ich mich um, denn plötzlich war es sehr still. Kein Wind ließ die Blätter rauschen und die Vögel waren auch verstummt. Ich verließ den Kiesweg und stapfte durch das hohe Gras auf die Kapelle zu. Sie war rund gebaut und hatte ein spitzes Dach, das mit Moos überwuchert war und ein verwittertes Kreuz trug. Ich war an der Tür angekommen und sah mich nochmal unbehaglich um. „Hallo? Ist hier jemand?“, rief ich. Als Antwort bekam ich nur Stille. Ich ging einmal um die Kapelle herum und rief nochmals, doch wieder war nichts zu hören. Mit vorsichtigen Schritten ging ich auf die Tür zu und versuchte, sie aufzudrücken, doch erst als ich meine Füße in den Boden stemmte und mich mit meinem ganzen Gewicht gegen das Holz lehnte gab sie schließlich nach.

Ich stolperte in einer Wolke aus Staub und kleinen Holzsplittern in den düsteren Innenraum. Hier war es noch kühler und eine Gänsehaut überzog meine Arme. Es roch nach Wachs und Weihrauch und ein klein wenig nach Staub, rechts und links waren jeweils zwei Kirchenbänke aus Holz, das ziemlich morsch aussah. Zwischen den Bänken waren dicke Spinnweben und ab und zu blitzte der schwarze Körper einer Spinne in den Lichtflecken, die durch das morsche Dach hereinfielen, auf. Der kleine Altar in der Mitte war mit vertrockneten Blumen und alten, verstaubten Kerzen geschmückt, die schon lange nicht mehr gebrannt hatten. Durch die zwei Fenster, die hinter dem Altar in der Wand eingelassen waren, fiel nur wenig Licht. Hoch oben war ein metallenes Kreuz angebracht, ich drehte mich einmal im Kreis. Hier war sicher schon seit Jahren keiner mehr gewesen. Mir lief ein weiterer Schauer über den Rücken, also ging ich wieder nach draußen und war im ersten Moment wie geblendet. Ich hob meine Hand vor die Augen, bis ich mich an das Tageslicht gewöhnt hatte. Noch immer war niemand zu sehen und auch als ich rief antwortete mir keiner. Da wollte sich wohl nur jemand einen schlechten Scherz erlauben. Ich wandte mich um und ging in Richtung des Weges, von dem ich gekommen war, als hinter mir die Vögel aus den Bäumen aufflogen.

Noch bevor ich mich umdrehen konnte, hatte sich ein starker Arm wie ein Schraubstock um mich gelegt und meine Tasche rutschte mir von der Schulter. Ihr Inhalt verstreute sich im Gras. Ich wollte schreien, aber eine Hand presste ein Tuch auf mein Gesicht, das beißend roch. Ich wehrte mich, trat um mich und wollte mich aus dem Griff winden, doch ich hatte keine Chance. Die Welt verschwamm vor meinen Augen und meine Bewegungen wurden schwächer. Verzweifelt kämpfte ich gegen die Ohnmacht an. Kurz bevor ich bewusstlos wurde, spürte ich einen kalten Atemhauch in meinem Nacken, dann flüsterte eine Stimme in mein Ohr. „Versuch es erst gar nicht, Kleine.“ Ich erkannte wie im Traum die Stimme des geheimnisvollen Anrufers. Oh Gott, was will er nur von mir? Was wird er mir antun? Ich war ihm ausgeliefert und völlig hilflos, mein Atem ging immer schneller. Ich wollte schreien und mich wehren, doch ich konnte mich nicht bewegen. Dann wurde alles schwarz. Das Letzte was ich bemerkte war, dass mich zwei starke Arme auffingen, bevor ich den Boden berührte.

Das weiße Taschentuch segelte langsam zu Boden.

2

Mittagspause. Endlich. Dieser Montagvormittag war ihm endlos vorgekommen. Hauptkommissar Neil legte seine Beine mit einem wohligen Seufzer auf seinen Schreibtisch. Er und sein Kollege Davis saßen in ihrem Büro. Es war ein großer Raum, der in warmen Orangetönen gestrichen war. Mannshohe Fenster ließen großzügig Licht herein, was die gemütliche Atmosphäre verstärkte. Die Schreibtische standen in kleinen Gruppen im Raum und waren von gläsernen Abtrennungen unterteilt, an denen die Fotos und Notizen der aktuellen Fälle hingen. Kommissar Davis war etwas jünger als sein Chef, jedoch überragte er ihn um einen Kopf. Er trug ein weißes Hemd, eine karierte Krawatte und eine blaue Anzughose, die nagelneu aussah. Seine Brille rutschte ihm ständig von der Nase und er schob sie mit dem Zeigefinger wieder nach oben.

Kommissar Davis arbeitete gerade am Computer und machte die Berichte der letzten Tage fertig, nebenbei aß er ein Sandwich. Er sah zu Neil, der mal wieder eines seiner ausgewaschenen blauen Hemden anhatte, dazu eine beige Cordhose und Anzugschuhe. Sein graues Haar war gescheitelt und mit Gel zurückgekämmt. Er hätte wirklich mal eine Stilberatung nötig. Das Telefon klingelte. Kommissar Neil schwang die Beine mit einem missmutigen Seufzer von seinem Schreibtisch und hob den Hörer ans Ohr. „Hauptkommissar Neil, wie kann ich Ihnen helfen?“ Eine weibliche Stimme meldete sich, sie klang verzweifelt. „Mein Name ist Mrs. Fleer. Meine Tochter Amalia ist am Freitag nicht nach Hause gekommen. Ich habe vorhin schon mal angerufen, aber ein Kollege von Ihnen sagte mir, Sie wären beschäftigt. Aber als ich gerade eben die Post aus dem Briefkasten geholt habe, war da ein Erpresserbrief. “ Kommissar Neil warf Davis einen scharfen Blick zu. Dieser legte sein Sandwich beiseite und stand auf, er stellte sich hinter den Schreibtischstuhl seines Chefs. „Einen kleinen Moment, ich werde mal im Computer nachsehen.“ Er klemmte sich den Hörer zwischen Kopf und Schulter und fing an etwas auf seiner Tastatur zu tippen. Dann runzelte er die Stirn und begann auf seiner Maus herum zu klicken, schließlich stieß er ein entnervtes Stöhnen aus und sah hilfesuchend zu Davis. Der drängte Neil zur Seite und hatte mit wenigen Klicks die gewünschte Information auf dem Bildschirm. „Ah, ja. Ihre Tochter war auf dem Nachhauseweg von der Schule, ist jedoch nie daheim angekommen. Richtig?“ Ein unterdrücktes Schluchzen war zu hören. „Das ist richtig.“ Kommissar Neil sah zu seinem Kollegen und runzelte die Stirn. „Aber Amalia ist siebzehn, nicht wahr? Könnte es nicht eventuell sein, dass sie bei ihrem Freund ist? Oder bei Freundinnen? Der Erpresserbrief könnte eine Fälschung sein.“ -„Meine Tochter hat keinen festen Freund und ich habe schon in der Schule angerufen, da ist sie auch nicht. Sie hatte früher aus und ihre Freunde und Mitschüler waren noch in der Schule. Aber am Wochenende habe ich schon alle angerufen. Sie ist nirgends.“ –„Kann es denn sein, dass sie einen Freund hat, von dem Sie nichts wissen, denn Amalia ist sicher in einem Alter, in dem man seiner Mutter nicht mehr alles erzählt. Und naja…“-„Also hören Sie mal! Bei allem Respekt, aber ich kenne meine Tochter wohl besser als Sie und so etwas hätte sie mir erzählt!“, sie klang nun aufgebracht und war bei den letzten Worten immer lauter geworden. Schweißperlen traten auf die Stirn des Kommissars und er räusperte sich verlegen. „Tut mir leid, so war das nicht… Äh, hatte Ihre Tochter in letzter Zeit Streit mit irgendjemandem? “ Mrs. Fleer überlegte einen Augenblick. „Nicht soweit ich weiß.“- „Na gut. Wir…äh…wir werden gleich vorbeikommen, dann können Sie uns ja nochmal genau erzählen, was passiert ist und uns das Erpresserschreiben zeigen.“ Die Stimme der Mutter klang wieder ruhiger. „Ja, gut. Auf Wiedersehen.“ „Auf Wiedersehen.“ Neil legte auf.

Er drehte sich zu seinem Kollegen um und fuhr ihm dabei prompt mit dem Schreibtischstuhl über die Zehen. Davis stieß einen erstickten Laut aus und hielt sich den Fuß. „Oh, Entschuldigung“, Neil sah ihn an und musste ein Lachen unterdrücken, als er seinen Kollegen auf einem Bein hüpfen sah. Dann wurde er wieder ernst. „Also los. Wir haben eine Vermisste und ein Erpresserschreiben.“ Er sah zu Davis, der sich noch immer den Fuß hielt. „Beeilung, wir haben nicht den ganzen Tag Zeit und schließlich wollen wir die gute Frau nicht warten lassen.“ Davis holte seinen Mantel, dann verließen sie gemeinsam das Büro. Auf dem Weg zum Parkhaus murmelte Neil etwas davon, dass man Mütter niemals verärgern sollte.

Einige Minuten später waren die Kommissare an der Adresse der Familie Fleer angekommen. Es war ein kleines Reihenhaus, das zwischen den anderen Häusern wie eingequetscht schien. Die Fassade war weiß gestrichen, doch die Jahre hatten die Farbe grau werden lassen, außerdem gab es einen kleinen Balkon im ersten Stock, der zur Straße hin zeigte. Geranien hingen von der Brüstung. Die Polizisten stiegen aus und gingen die kleine Treppe nach oben, die zur Eingangstür führte. Neil klingelte und eine kurze Melodie erklang im Inneren. Die Tür öffnete sich und sie standen einer kleinen Frau mittleren Alters gegenüber. Sie war schmächtig, hatte kurze braune Haare, die sich auf ihren Schultern lockten und trug ein blaues Kleid. Ihre Augen waren rot und geschwollen und sie hielt ein Taschentuch in ihrer Hand. „Ja?“ Kommissar Neil trat vor und räusperte sich. „Guten Tag Mrs. Fleer. Wir sind von der Polizei.“ Die beiden Kommissare holten ihre Ausweise hervor und zeigten sie der Frau. Sie musterte die Männer, warf einen kurzen Blick auf ihre Ausweise und bedeutete ihnen dann, einzutreten.

Hinter der Tür war ein schmaler Korridor, an dessen Ende eine Treppe in den ersten Stock führte. Rechts und links der Polizisten befanden sich zwei Türen, sie gingen durch die linke und standen im Wohnzimmer. Große Fenster, die von orangen Vorhängen umrahmt waren, ließen viel Licht herein und die breiten, mit Kissen bedeckten Fensterbänke luden dazu ein, es sich bequem zu machen. Rechts der Fenster war ein offener Kamin, in dem schon ein kleines Feuer brannte. Gemütliche Ohrensessel standen davor und daneben bog sich ein überfülltes Bücherregal unter seiner Last. An den Seiten stapelten sich noch mehr Bücher. Die Kommissare setzten sich nebeneinander auf das Sofa, das in der Mitte stand und ließen den Blick über die vielen Bilder gleiten, mit denen die Wände geschmückt waren. Alle zeigten ein junges Mädchen mit ihrer Mutter an den verschiedensten Orten. Auch auf dem kleinen Tisch vor dem Sofa stand ein Bild des Mädchens, Davis nahm es in die Hand und betrachtete es. Sie lächelte, was ihre braunen Augen zum Strahlen brachte und ihre braunen Haare waren kunstvoll geflochten. Mrs. Fleer ging zu den Fenstern und sah hinaus. Neil räusperte sich erneut.

„Also, könnten Sie uns nochmal erzählen, seit wann Ihre Tochter Amalia genau verschwunden ist?“ Davis zog ein Notizbuch aus seiner Jackentasche und zückte einen Stift, dann wartete er bis Mrs. Fleer anfing zu sprechen und machte sich Notizen. „Seit Freitag. Amalia hatte früher aus und wollte eigentlich gleich nach Hause kommen. Normalerweise sollte sie so gegen halb zwei zuhause sein. Ich habe bis halb drei gewartet und schließlich ihre Freundinnen angerufen. Aber keiner wusste, wo meine Tochter ist. Ich…“, ihre Stimme brach. Sie schluckte und atmete einmal tief durch, dann sprach sie mit vorwurfsvollem Ton weiter. „Schließlich habe ich bei Ihnen angerufen. Aber ein Kollege hat mir gesagt, dass sie frühestens heute etwas machen können.“ Neil hatte die Stirn gerunzelt und sah auf die Notizen seines Kollegen. „Es tut mir leid, aber so sind nun einmal die Vorschriften. Also weder ihre Klassenkameraden noch ihre Freundinnen wissen, wo sie ist. Und einen Freund hat sie nicht. Okay. Sie sagten am Telefon, dass Sie einen Brief des Entführers erhalten haben? Dann können wir wohl ein Gewaltverbrechen nicht mehr ausschließen.“ Mrs. Fleer ging zu einem kleinen Schrank und holte ein gefaltetes Blatt Papier. „Das lag vorhin in meinem Briefkasten.“ Sie gab ihn Davis, der einen Einmalhandschuh trug.

SECHSHUNDERTTAUSEND EURO IN BAR, WENN DU DEINE TOCHTER AMALIA WIEDERSEHEN WILLST. LEG DAS GELD MORGEN UM MITTERNACHT UNTER DIE TREPPE ZUR HAUSTÜR. KEINE POLIZEI ODER AMALIA STIRBT, stand da.

„Der Brief wurde mit einem Computer geschrieben.“ Davis zog eine Plastiktüte aus seiner Jackentasche und packte das Papier ein. In der Küche begann der Teekessel zu pfeifen. Mrs. Fleer stand auf und ging in den angrenzenden Raum, man hörte das Klappern von Geschirr und schließlich verstummte das Pfeifen. „Möchten Sie auch Tee?“, rief sie aus der Küche. „Nein, vielen Dank.“, antwortete Neil. „Welchen Weg nimmt Ihre Tochter denn normalerweise zur Schule?“ Die Mutter kam wieder aus der Küche und hielt eine dampfende Tasse in der Hand. „Amalia geht vom nördlichen Eingang aus durch den Park, an der alten Kapelle vorbei und trifft sich dann auf der anderen Seite mit ihren Freundinnen.“ Sie nahm einen vorsichtigen Schluck von ihrem Tee. „Wie heißen ihre Freundinnen?“ Davis kritzelte wieder etwas in das kleine Buch, das er noch immer in der Hand hielt. „Kiki Cline und Felia Medin. Die drei gehen auch in eine Klasse und kennen sich schon seit der Grundschule. Sie sind beste Freundinnen.“ Mrs. Fleer setzte sich auf einen Sessel, gegenüber von den Männern und sah auf ihre Armbanduhr. „Die Mädchen müssten jetzt eigentlich in der Schule sein.“ Davis und Neil sahen sich an. „Mit den beiden müssen wir auf jeden Fall sprechen. Dürften wir dieses Bild hier mitnehmen?“ Davis deutete auf das Foto in seiner Hand. Mrs. Fleer nickte. „Natürlich.“ Er steckte es ein. „Ich werde jetzt ein paar Kollegen der Spurensicherung rufen, die sich einmal in Amalias Zimmer umsehen werden, wenn das für Sie in Ordnung ist. Vielleicht finden sie noch Hinweise auf den Aufenthaltsort Ihrer Tochter.“ Die Frau nickte wieder und ließ sich tiefer in die Kissen des Sessels sinken. Sie wirkte müde und angespannt. Die Kommissare bedankten sich und verließen das Haus. Dann fuhren sie zur Schule, wo die Freundinnen von Amalia gerade noch Unterricht hatten.

Die Schule war ein zweistöckiges Gebäude, das drei Straßen vom Park entfernt stand. Neil und Davis wollten zum Sekretariat, um dort zu fragen, in welchem Raum Amalias Freundinnen gerade waren. Glücklicherweise gab es Schilder, die sie dorthin führten. Sie gingen durch die Eingangstür und standen in der Aula, dann bogen sie links in einen langen Korridor ab. An der Tür angekommen, klopften sie an und traten ein. Im Inneren des Sekretariats befand sich ein hoher Schreibtisch, hinter dem eine Frau saß und den Kommissaren neugierig entgegen schaute. „Guten Tag. Was kann ich für Sie tun?“, fragte sie. „Wir sind von der Polizei. Hauptkommissar Neil und Kommissar Davis. Wir ermitteln im Fall des vermissten Mädchens Amalia Fleer. Deshalb wüssten wir gerne, wo Kiki Cline und Felia Medin im Moment Unterricht haben.“ Die Frau begann etwas in ihren Computer einzugeben und sah dann wieder auf. „Es ist wirklich tragisch. Die arme Mrs. Fleer, erst ihr Mann und jetzt ihre Tochter.“ Neil und Davis wechselten einen verwirrten Blick. „Was war denn mit ihrem Mann?“ Die Sekretärin sah die Männer verwirrt an. „Naja, die Geschichte im Gefängnis.“ Dann schüttelte sie den Kopf und begann zu lachen. „Ich dachte, Sie sind hier die Ermittler.“ Davis wurde rot und Neil räusperte sich unbehaglich. „Dann werden wir der Sache mal auf den Grund gehen. Was ist denn nun mit den Mädchen?“ Er wechselte schnell das Thema. „Ach ja, die beiden haben gerade Englisch im Raum 101. Es ist die letzte Stunde.“ Davis holte wieder sein Notizbuch heraus und schrieb etwas hinein. Die Kommissare bedankten sich und gingen wieder hinaus, während die Sekretärin immer noch schmunzelnd im Büro zurückblieb.

Die Kollegen machten sich auf die Suche nach dem Raum 101. Als sie ihn schließlich fanden war eine Viertelstunde vergangen. Sie klopften an und öffneten die Tür. Dreiundzwanzig Köpfe drehten sich in ihre Richtung und die junge Englischlehrerin unterbrach ihren Unterricht. „Excuse me? Äh, ich meine natürlich: Entschuldigung, k… kann ich Ihnen weiterhelfen?“ Die Lehrerin wurde rot wie eine Tomate und einige Schüler begannen zu lachen. „Wir sind von der Polizei und ermitteln wegen Amalias Verschwinden. Wo sind denn Kiki und Felia?“ Die Klasse wurde schlagartig still. Zwei Mädchen in der dritten Reihe hoben ihre Hand. „Könnt ihr beide bitte kurz mit vor die Tür kommen?“ Die Mädchen standen auf, packten ihre Sachen und folgten den Kommissaren nach draußen. „Wir wissen auch nicht, wo sie steckt.“, begann das eine Mädchen sofort, kaum dass die Tür hinter ihnen ins Schloss gefallen war. Sie hatte blonde Locken, die sie offen trug und Sommersprossen. Ihre blauen Augen wirkten müde, doch ihr Gesicht war entschlossen. „Bist du Kiki Cline?“, fragte Neil. Das Mädchen nickte. Die andere, Felia, wirkte hingegen mutlos und sah die Kommissare kaum an. Ihre braunen Haare waren strähnig und zu einem lockeren, unordentlichen Knoten gebunden. „Ist euch beiden irgendetwas Ungewöhnliches aufgefallen? Hat sich Amalia anders benommen?“ Kiki und Felia schüttelten den Kopf. „Es war alles so wie immer.“, sagte Kiki, die beschlossen hatte, das Reden zu übernehmen. Davis machte sich wieder Notizen. „Und in den letzten Tagen und Wochen?“ Kiki verdrehte die Augen. „Ich habe doch schon gesagt, dass alles wie immer war. Amalia war vielleicht etwas gestresst wegen den ganzen Prüfungen, aber das waren wir alle und die Zeit ist ja jetzt vorbei. Am Donnerstag hatten wir unsere letzte. Eigentlich wollten wir das am Samstag feiern, aber sie ist nicht gekommen. Und Amalia ist kein Mensch, der einfach mal so abhaut. Dafür ist sie viel zu nett und pflichtbewusst, außerdem hätte sie zumindest ihrer Mutter und uns Bescheid gesagt. Wir sind ihre besten Freundinnen, uns erzählt sie alles.“ Kikis Augen blitzten und sie hatte ihre Hände zu Fäusten geballt. „Okay. Hat sie denn einen festen Freund, von dem ihre Mutter nichts weiß?“, fragte Neil weiter. Felia schüttelte den Kopf. „Nein das hat sie nicht. Das wüssten wir garantiert.“ Davis packte sein Notizbuch weg. „Na gut. Wir werden ihren Schulweg abgehen, vielleicht finden wir ja einen Hinweis auf ihr Verschwinden. Vielen Dank euch beiden.“ Die Mädchen nickten und warteten dann bis die Kommissare um die Ecke verschwunden waren.

Felia begann zu schluchzen und die beiden umarmten sich. So blieben sie eine Weile stehen. „Oh hoffentlich ist ihr nichts passiert. Stell dir nur mal vor, was die ihr alles…“ Ihre Stimme versagte und sie schluckte. Felia war mit ihren Nerven am Ende, seit sie vom Verschwinden ihrer besten Freundin erfahren hatte. Sie hatte sich von der Aufregung an der Schule anstecken lassen und konnte die ganzen Gerüchte nicht mehr ertragen. Kiki packte sie an den Schultern und sah ihr in die Augen. „Sowas darfst du dir nicht einmal denken, okay? Es ist Amalia, was soll ihr denn schon passieren?“ Kiki hatte Recht. Amalia ließ sich nicht so leicht unterkriegen, aber die Mädchen machten sich trotzdem große Sorgen um ihre Freundin. Es war wirklich nicht typisch für Amalia, einfach ohne ein Wort zu verschwinden. „Die Polizei wird sie schon finden.“, murmelte Felia. „Genau. Oder sie hat sich einfach nur einen Spaß erlaubt und taucht morgen wieder auf.“ Sie versuchte ein Lächeln. Kiki grinste zurück, doch es fühlte sich falsch an. Es klingelte und die Klassenzimmertüren flogen auf. Hunderte Schüler strömten auf den Gang und Kiki und Felia ließen sich einfach mittreiben. Sie fühlten sich, als ob ein Teil von ihnen fehlte. Felia malte sich die schrecklichen Orte aus, an denen sich Amalia nun befinden könnte. Und Kiki musste sich auf die Lippe beißen, um ihre Tränen zurückzuhalten, denn sie erinnerte sich an all die Dinge, die sie bisher mit ihrer Freundin erlebt hatte. Amalia gab ihnen immer das Gefühl, etwas Besonderes zu sein. Wenn man sie nicht gut kannte, dann wirkte sie schüchtern, doch als Freundin war sie einfach unbezahlbar.

Als die Kommissare die Schule verließen, bekam Neil einen Anruf. Es war einer der Kollegen von der Spurensicherung, die das Zimmer von Amalia untersucht hatten. „Und, habt ihr was gefunden?“ Neil stellte den Anruf auf laut, sodass Davis mithören konnte. „Tut mir leid. Das einzige, was wir haben ist ein Laptop, der der Vermissten gehört. Wir bringen ihn zur Technik, vielleicht finden die was. Wir haben auch eine DNA Probe genommen, für eventuelle Vergleichszwecke.“ Neil und Davis sahen sich an. Viel war das zwar nicht gerade, aber immerhin ein Anfang. Sie bedankten sich und legten auf.

3

Mein Kopf dröhnte und mein ganzer Körper fühlte sich an, als ob mich ein Laster überrollt hätte. Ich lehnte an einer rauen Wand und unter mir lag eine dünne Decke. Meine Arme waren mit einem groben Seil gefesselt und meine Augenlider waren so schwer wie Blei. Die Umgebung war noch ziemlich verschwommen und ich blinzelte ein paar Mal, bis ich wieder klar sehen konnte. Plötzlich explodierte Helligkeit vor meinen Augen und ich kniff sie stöhnend wieder zu. „Die Kleine ist wach.“, stellte eine dunkle Stimme fest. Es war die Stimme des Anrufers aus dem Park. Ich riss meine Augen wieder auf. Hinter der Taschenlampe, die auf mich gerichtet war, konnte ich nur Schemen erkennen. „Mirak, nimm die Taschenlampe runter.“, sagte eine andere Stimme. Mirak heißt er also. Der helle Schein verschwand.

Endlich konnte ich mich im Raum umsehen. Er war ziemlich karg eingerichtet und komplett aus Beton. An der Wand links befand sich ein kleines Kellerfenster, das ein wenig Licht hereinließ und gegenüber von mir war eine weiße, metallene Tür. In der Mitte standen meine beiden Entführer. Mirak war etwas größer als der zweite und hielt die Taschenlampe, er starrte den anderen aus stechend blauen Augen an. Die beiden sahen sich sehr ähnlich, sie hatten schwarze Haare, der kleinere trug sie jedoch etwas länger und hatte im Gegensatz zu Mirak braune Augen. Beide waren durchtrainiert. Man sah ihnen an, dass sie Brüder waren.

„Kümmer dich um sie, Tyron. Und wenn du fertig bist, komm rüber, wir haben etwas zu besprechen.“ Der Größere, Mirak, trat durch die Tür am anderen Ende des Raumes und ließ mich mit seinem Bruder allein. „Was wollt ihr von mir?“, fragte ich. Tyron sah mich nur genervt an und ignorierte meine Frage. Er kam zu mir und ging in die Knie, dann zog er etwas aus seiner Tasche. „Na gut. Mach keine Dummheiten, klar?“ Ich zuckte zurück, als ich sah, dass es ein Messer war. Ihm schien das nicht aufzufallen, denn er kam einfach näher und packte mich grob am Arm. „Hey, du tust mir weh.“ Ich versuchte panisch meine Arme aus seinem Griff zu winden, doch es war zwecklos. Er war einfach zu stark. „Stell dich nicht so an.“ Tyron zog mich noch näher und ich spürte das kalte Metall des Messers an meinen Handgelenken. Ich wimmerte. Dann spürte ich einen Ruck und meine Fesseln waren durchtrennt. Schnell rieb ich meine schmerzenden Handgelenke und betrachtete die roten Striemen, die die Seile hinterlassen hatten. Tyron, der noch immer neben mir kniete, betrachtete mich schweigend. Ich rückte von ihm ab, bis ich mit dem Rücken an die raue Betonwand stieß.

„Hey, Mila, bring mal was zu essen für unseren Gast.“, rief er dann. Ich wollte gerade etwas sagen, als eine Frau mit einem Tablett durch die Tür schritt. Sie hatte ein blasses Gesicht mit fast schwarzen Augen und schwarze Haare mit lila Strähnen, die zu einem Bob geschnitten waren. Dazu trug sie eine weite Hose in Tarnfarben, ein schwarzes Top und Armeestiefel. Mila kam zu mir, kniete sich hin und stellte das Tablett vor mir ab. Darauf waren zwei dicke Scheiben Brot, eine Karaffe Wasser und ein Glas. „Hier, iss was.“ Sie gab mir ein Stück Brot und ich biss hinein. Erst jetzt merkte ich, wie ausgehungert ich war. Wie lange bin ich schon hier? Sie hielt mir noch ein Stück hin und ich schlang es hinunter. Dann gab sie mir ein Glas Wasser. Ich trank so schnell, dass ich mich prompt verschluckte und es wieder ausspuckte. Dabei traf ich Tyron, auf seiner Hose prangte nun ein großer nasser Fleck. Mila riss die Augen auf und öffnete den Mund, doch er holte aus und schlug mir mit der flachen Hand ins Gesicht. Mein Kopf knallte hart gegen die Wand, was meine Kopfschmerzen anschwellen ließ. Ich schrie auf und hielt mir die pochende Wange. Als ich seinem Blick begegnete, weiteten sich seine Augen erschrocken, aber er hatte sich sofort wieder im Griff. Tyron packte mich unterm Kinn und hob unsanft meinen Kopf, sodass ich ihn ansehen musste. „Mach das nie wieder, verstanden?“, stieß er mit zusammengebissenen Zähnen hervor. Ich konnte nur stumm nicken, während mir langsam Tränen in die Augen stiegen. Verärgert blinzelte ich sie weg. Diese Genugtuung wollte ich ihm nicht verschaffen. Er ließ mich los und verließ mit wütenden Schritten den Raum, die Tür schlug hinter ihm zu. Ich zuckte zusammen. Mila hatte derweil begonnen, das Wasser, das auf dem Boden gelandet war, mit einem Lappen aufzuwischen. Ich atmete nochmal tief durch, und beschloss, den Vorfall schnellstmöglich zu vergessen. Dann fixierte ich die junge Frau, die bei mir saß. „Okay. Mila. Wie lange bin ich schon hier? Und wo bin ich eigentlich? Und was wollen die von mir? Und warum gerade ich? Und…“, ich wollte alle Fragen stellen, die mir durch den Kopf schwirrten, doch sie unterbrach mich mit einem Kopfschütteln. „Das kann ich dir nicht sagen. Da musst du schon einen der Brüder fragen. Außerdem darf ich eigentlich gar nicht mit dir reden.“ Sie begann damit, den Teller und das Glas zurück auf das Tablett zu räumen, auf dem schon der nasse Lappen lag. „Und noch was. Ich wäre an deiner Stelle vorsichtig. Mit den Brüdern ist nicht zu spaßen. Okay?“ Dann stand sie auf und ging hinaus. Ich blieb verwirrt zurück. Meine Kopfschmerzen hatten sich verschlimmert und meine Wange begann anzuschwellen. Ich zog die Knie an und verbarg den Kopf in meinen Händen. Nachdem ich nun allein war konnte ich meine Tränen nicht mehr länger zurückhalten. Sie liefen mir über die Wangen und tropften auf den Boden. Mein Hals tat weh, doch ich hatte Angst, dass die Brüder zurückkamen, wenn ich schluchzte. Irgendwann, als die Tränen versiegt waren, legte ich mich hin und deckte meine Beine zu. Ich dachte an meine Mutter und meine beiden Freundinnen, wieder stiegen mir die Tränen in die Augen, doch ich war zu müde um noch zu weinen. Ob sie wohl schon nach mir suchen?, fragte ich mich.

Kurz bevor ich einschlief ging die Tür auf und Tyron kam herein. Er kniete sich vor mich hin und beobachtete mich, dann zog er die Decke, auf der ich gesessen hatte, über meine Schultern. Er strich mir eine wirre Strähne aus dem Gesicht und stand auf. Dann schlief ich ein.

Einige Stunden später schreckte ich hoch. Ich konnte nur an eines denken: Flucht. Als sich meine Augen an das schummrige Licht gewöhnt hatten, sah ich mich um. Es war dunkel und nur ein schmaler Streifen Mondlicht fiel durch das Kellerfenster. Ich richtete mich vorsichtig auf. Meine Kopfschmerzen waren einem leichten Pochen gewichen, aber meine Wange fühlte sich dick an. Erschrocken schrie ich auf als ich sah, dass Tyron in der Mitte des Raumes lag. Er schien zu schlafen, doch es war offensichtlich, dass er mich bewachte. Leise stand ich auf, ohne den Blick von ihm zu wenden. Mit vorsichtigen Schritten ging ich um ihn herum, dabei hielt ich mich so, dass er zwischen dem Kellerfenster und mir lag, so konnte mein Schatten ihn nicht wecken. Als ich an der Tür angekommen war, stieß ich erleichtert die Luft aus. Langsam legte ich die Finger um die Klinke und drückte sie nach unten. Es war nicht abgeschlossen! Ich konnte mein Glück kaum fassen, aber ich musste ruhig bleiben.