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HORROR 006 Buchausgab: Angst W. A. Hary (Hrsg.): »Die Anthologie der Sieger!« Das Ergebnis der großen HORROR-Ausschreibung von 2006: Die Teilnahme an dieser Ausschreibung war überwältigend – sowohl quantitativ als auch qualitativ. Manche Autoren haben gleich mehrere Storys von unterschiedlicher Länge beigesteuert. Genug herausragendes Material also, um dieses Buch zu füllen. Eine bunte Vielfalt rund um das Thema Angst. Und wer die Angst nicht scheut, sollte es unbedingt lesen: Es lohnt sich auf jeden Fall! W. A. Hary (Hrsg.)
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Inhaltsverzeichnis
HORROR 006:
Impressum:
W. A. Hary (Hrsg.)
Die Mutprobe
Robert Ervin Howard
Der Uralte
Grüße aus der Nacht
Was besser verschlossen geblieben wäre
Die Allegorie des Todes
Apophis
Das Dorf der Toten
Das Ding auf der Schaukel
We are family!
Das Zeichen des Vampirs
Ende mit Schrecken
Alptraum
Niemandes Schuld
Kon Kin Pua
Wahnsinn
Erwache, blutige Magie!
Krallen im Sand
Hartz, aber herzlich
Die Göttin an meiner Seite
Who am I?
Kleines Haus im Wald
Silvaclamorum
Nachts in der Anatomie
Von Zombies und Schattenwesen
Wetterprognose
Die Uhr
Späte Rache
Manchmal kommt sie wieder
Der Parasit
Pflegeversicherung
Angst
W. A. Hary (Hrsg.)
Alleinige Urheberrechte: Wilfried A. Hary
Copyright Realisierung und Folgekonzept aller Erscheinungsformen (einschließlich eBook, Print und Hörbuch) by www.hary-production.de
ISSN 1614-3310
Erstauflage: 2007
Diese Fassung:
© 2016 by HARY-PRODUCTION
Canadastr. 30
D-66482 Zweibrücken
Telefon: 06332-481150
www.HaryPro.de
eMail: [email protected]
Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck und Vervielfältigung jedweder Art nur mit schriftlicher Genehmigung von Hary-Production.
Covergestaltung: Anistasius
Das Ergebnis der großen HORROR-Ausschreibung von 2006
Die Anthologie der Sieger:
Angst
Die Teilnahme an dieser Ausschreibung war überwältigend – sowohl quantitativ als auch qualitativ. Manche Autoren haben gleich mehrere Storys von unterschiedlicher Länge beigesteuert.
Genug herausragendes Material also, um dieses Buch zu füllen. Eine bunte Vielfalt rund um das Thema Angst.
Und wer die Angst nicht scheut, sollte es unbedingt lesen: Es lohnt sich auf jeden Fall!
Martin Schemm
„Er strengte sich so sehr an, nicht die Nerven zu verlieren, dass er in Schweiß ausbrach. Er biss die Zähne zusammen, bis die Kiefer schmerzten, und die Fingernägel gruben sich tief in die Handflächen.“
Wenn ich nach so vielen Jahren heute mein Schweigen breche, dann geschieht dies aufgrund des besonderen Umstands, dass kürzlich mein ehemaliger Kommilitone und Freund Uwe Golz verstorben ist. Von seinem Tod erfuhr ich aus der Zeitung, genauer gesagt aus den Todesanzeigen, die man in meinem Alter - ich bin siebenundfünfzig - unweigerlich häufiger zu studieren pflegt.
Wir hatten unmittelbar nach den grauenhaften und folgenschweren Ereignissen jener Nacht im August 1965 den Kontakt zueinander verloren. Das lag vor allem an Golz, der sich in der Folge überhaupt völlig zurückgezogen und sämtliche Brücken zu Freunden und Bekannten abgebrochen hatte. Obwohl wir beide ununterbrochen in Hamburg wohnten, kreuzten sich unsere Wege in all den folgenden Jahren nur einmal. Das war vor achtzehn Jahren im Alsterhaus, wo wir einander zufällig auf der Rolltreppe begegneten.
Ich erinnere mich noch genau, in seinen Augen unmittelbar nach dem Moment des Wiedererkennens ein kurzes Aufflackern von Angst, wenn nicht gar von Entsetzen beobachtet zu haben. So als habe ihn mein Anblick direkt in die Tragödie aus tiefer Vergangenheit zurückversetzt. Es gelang ihm damals aber, sich recht zügig wieder in den Griff zu bekommen, und er klopfte mir - als wären wir noch Studenten - in seiner offenen, kumpelhaften Art begrüßend auf den Rücken. Spontan beschlossen wir, ein wenig miteinander zu plaudern.
Wir gingen einen Kaffee trinken und erzählten einander, was in den vergangenen sechzehn Jahren aus uns geworden war. Golz hatte damals sein Jura-Studium abgebrochen und war über Umwege Angestellter beim Finanzamt geworden - ein Job, über den er zu unserer Zeit nur abfällig gespottet hätte. Auch die Tatsache, dass er allein lebte und keine partnerschaftlichen Ambitionen hegte, widersprach gänzlich seiner früheren Lust an der Jagd auf das andere Geschlecht. Aus dem wilden, jungen Mann, dessen Energie mich in Studientagen förmlich mitgezogen hatte, war ein stiller, unauffälliger Bürger geworden. Wollte man den Verlauf von Golz‘ Leben graphisch in einer Kurve - anhand der Faktoren Lebensfreude und Aktivität - darstellen, so ergab sich eine waagerechte Linie, die im August 1965 abrupt nach unten abknickte und ab dann konstant abfiel.
Mein eigener Weg dagegen war recht stringent verlaufen, und meine Lebenslinie zeigte eine bescheidene, aber konstante Steigung. Nach dem Examen hatte ich geheiratet, war Vater zweier Kinder geworden und hatte den Beruf des Journalisten ergriffen. Golz hätte mich dafür früher als langweiligen und angepassten Spießer abgekanzelt. Bei unserer letzten, zufälligen Begegnung im Jahr 1981 aber war von seiner progressiven Haltung und Wildheit nichts mehr zu spüren.
Irgendwann im Verlauf unseres Gespräches verriet er mir den Grund für seine Wandlung. Es war, wie ich mir immer gedacht hatte, jene schreckliche und schicksalhafte Nacht im August 1965, die wir gemeinsam durchlebt hatten. Er gab sich selbst die Schuld am damaligen Tod unseres Freundes Jochen Grunow, und sein Gewissen ließ ihm auch nach all den Jahren keine Ruhe. Die Schuld habe all seine Energien und seine Lebensfreude absorbiert und in seiner Seele ein düsteres Vakuum hinterlassen.
Nicht dass er verbittert und vergrämt über ein ungerechtes Schicksal geklagt hätte, vielmehr wirkte er in ruhiger Klarheit davon überzeugt, dass es zurecht das mindeste war, das er für den Fehler seines Lebens seine Agilität und seinen Überschwang hatte einbüßen müssen. Im positiven Sinne könne man von einer grundlegenden, inneren Läuterung sprechen. Und dennoch wollte er über jene Nacht nicht mit mir reden, und es war zu spüren, dass er eine solche unmittelbare Erinnerung nicht würde ertragen können. Im Gegenteil, er bat mich eindringlich, dieses Kapitel für alle Zeiten geschlossen zu halten. Ich verstand diese Bitte als einen Appell an mich, nicht über jene Ereignisse zu berichten, und ich versprach es ihm.
Am Ende unseres Gesprächs wirkte er geradezu erleichtert, so als ob er ein letztes offenes Problem im Zusammenhang mit jener Schreckensnacht geregelt habe. Wie man das aus Höflichkeit so tut, gelobten wir, den Kontakt aufrechtzuerhalten und verabschiedeten uns voneinander. Bis zur Nachricht seines Todes habe ich nichts mehr von ihm gehört. Ich selbst habe mich bei ihm nicht gemeldet, weil ich mich nicht aufdrängen, sondern ihm die Möglichkeit geben wollte, selbst zu entscheiden und initiativ zu werden. Offensichtlich war es ihm so aber lieber gewesen.
Mit dem Tod von Uwe Golz fühle ich mich nun von meinem Versprechen ihm gegenüber entbunden, so dass ich nach nunmehr vierunddreißig Jahren über jene Nacht berichten kann und will, deren Schrecknisse für immer ein Mysterium bleiben werden. Bislang habe ich lediglich meiner Frau vor vielen Jahren von jenem alptraumhaften Erlebnis erzählt, jedoch blieb dies allenfalls oberflächlich und nur andeutend, da ich ihr nicht zuviel zumuten wollte. Nun aber will ich in jener Ausführlichkeit berichten, in der die Bilder jener Nacht in meinem Gedächtnis geradezu eingebrannt sind. Ich tue dies zugegebenermaßen nicht zuletzt auch als Versuch einer persönlichen Aufarbeitung jener Vorfälle, wenngleich ich damit im Unterschied zu Golz weniger etwaige Schuldgefühle - was den tragischen Tod Jochen Grunows anbelangt - verbinde. Aufarbeitung bedeutet hier vielmehr den erneuten und fast schon verzweifelten Anlauf - ich versuche es seit vierunddreißig Jahren -, die entsetzlichen, fraglos übernatürlichen Ereignisse jener Nacht im August 1965 zu begreifen.
Wir drei - Uwe Golz, Jochen Grunow und ich - hatten uns in einer Vorlesung zur Deutschen Rechtsgeschichte im Wintersemester 1964/65 kennengelernt und waren recht schnell enge Freunde geworden. In unserem studentisch-jugendlichen Überschwang machten wir so manchen abendlichen Zug durch die Hamburger Kneipenwelt und versuchten, uns selbst und anderen unsere vermeintliche Männlichkeit zu beweisen.
Recht schnell kristallisierte sich hierbei eine klare Hierarchie oder Hackreihe unter uns heraus, die wohl nicht zufällig unseren unterschiedlichen Lebensaltern entsprach. Golz, mit seinen vierundzwanzig Jahren der Älteste, war der unbestrittene Mittelpunkt und das pulsierende Herz unserer Gruppe - was er sagte, war gültige Doktrin und besaß zugleich unbestrittene Entscheidungsgewalt. Ich - falls ich mich übrigens noch nicht vorgestellt haben sollte: Dieter Heidkamp - war mit dreiundzwanzig Jahren der Zweitälteste und stand in allen Belangen damit noch weit vor unserem Greenhorn - so nannten wir ihn herablassend - Jochen Grunow, der erst einundzwanzig Jahre alt war.
Für mich war es geradezu eine stolze Ehre, mit dem draufgängerischen, verwegenen Golz befreundet zu sein, denn sein Ruf als Teufelskerl galt einiges an der Juristischen Fakultät der Uni Hamburg. Er war aus vielen berühmt-berüchtigten Schlägereien als Sieger hervorgegangen und war so eine illustre, von manchen gar gefürchtete Persönlichkeit geworden. Wer von ihm in seinem näheren Umfeld geduldet wurde, konnte sich dementsprechend etwas darauf einbilden. Im Grunde zehrte ich davon, dass durch unsere Freundschaft einige Strahlen des Lichtes, in dem Golz sich sonnen konnte, auch auf mich abfielen. Im Nachhinein betrachtet, war seine Welt des „Hallo, hier komme ich“ nie und nimmer mein Wesen, aber als junger Mensch möchte man beachtet werden, im Rampenlicht stehen. Und wenn man dies nicht durch eigene Kraft vermag, so nutzt man die Gelegenheit, auf einen fahrenden Zug einfach aufzuspringen.
Bei Jochen Grunow lag der Fall noch extremer. Er war ein schüchterner, fast ängstlicher Student, der von den meisten ignoriert oder schlimmstenfalls belächelt wurde - ein Umstand, unter dem er sehr litt. Golz hätte ihn sicherlich nie wahrgenommen, wenn er in seinem untrüglichen Instinkt nicht erkannt hätte, dass er von diesem hervorragenden Studenten - er war fachlich ohne Zweifel einer der besten - würde profitieren können. Golz überredete den kleinlauten Grunow, ihn bei Zwischenexamina abschreiben zu lassen. Quasi als Gegenleistung gewährte er dem jungen Mann einen Platz in seinem nächsten Umfeld. Für Grunow brachte dies einen ansonsten unerreichbaren Status mit sich, der sein Ansehen erheblich aufwertete. Er gehörte dadurch zum harten Kern der wilden Draufgänger, auch wenn er diese Rolle seelisch nicht einmal ansatzweise mit Leben erfüllen konnte. Dass er all dem eigentlich nicht gewachsen war, sollte schließlich in jener Nacht tragisch kulminieren.
Wie dem auch sei, wir drei zogen abends durch die Kneipen und die verrufensten Gassen von St. Pauli und pflegten so unser Image. Uwe Golz war der Motor, der uns immer wieder antrieb, der uns an Ziele führte, die Grunow und ich uns niemals hätten ersinnen können. Er eröffnete uns Einblicke in Welten, die ich später nie mehr betreten habe.
Einige - wohl aus Neid - behaupteten hinter vorgehaltener Hand, Golz sei nichts weiter als ein Blender, der im Grunde nur eine Rolle inszeniere, in Wahrheit aber ein einfältiger, schwacher Mensch sei. Solches wurde nur hinter unserem Rücken verbreitet, da man vor der kräftigen Figur und dem herben Ausdruck in Golz‘ Gesicht doch Respekt hatte und nicht das Risiko eingehen wollte, zu erfahren, dass er eben doch schlagkräftig war. Immerhin kratzten diese feigen Verleumdungen an unserer Ehre - Grunow und ich fühlten uns natürlich genauso geschmäht - und ließen uns zu dem Entschluss kommen, es diesen Schwätzern zu zeigen, ein überwältigendes Beispiel von Mut und Unerschrockenheit zu geben.
Uwe Golz war von diesem Vorhaben gänzlich eingenommen und phantasierte bereits von epischen Heldenfahrten und Abenteuern. In der Folgezeit saßen wir abends in den Kneipen und brüteten und erwogen, was wir tun könnten, um unseren Ruf ein für allemal zu verteidigen und dem Gerede ein Ende zu bereiten.
Die zündende Idee kam eines Abends dann überraschenderweise von Jochen Grunow, der zumeist eigentlich eher uns beiden Älteren nur zuzuhören pflegte und nur selten etwas sagte. Aber an diesem Abend hatte er sich offensichtlich vorgenommen, sein Renommee innerhalb unserer Gruppe entscheidend aufzuwerten, sich endlich Golz‘ und meinen Respekt zu verschaffen.
Das Außergewöhnliche der Situation an jenem Abend war unübersehbar, denn Grunow war völlig aufgeregt und zappelte unruhig hin und her. Es war ihm anzumerken, dass er seine Rede vorab einstudiert hatte. Krampfhaft suchte er nach den vorentworfenen, kernigen Passagen, verhaspelte sich, geriet ins Stocken und wurde dabei immer wieder rot. Wir versuchten, ihm seine Scheu zu nehmen und ihm das Ganze leicht zu machen, und nach einiger Zeit gelang es ihm dann schließlich, freier und entspannter zu erzählen.
Seine Idee überzeugte uns vom ersten Moment an. Sie war ungemein verwegen und erforderte ein solches Maß an Mut, dass man sich kaum vorzustellen vermochte, wie sie in einem Menschen wie Grunow überhaupt hatte reifen können. Und doch hatte er alles schon bis ins kleinste Detail geplant, so dass es nur noch ein Frage der Realisierung war.
Im Nachhinein erst habe ich erkannt, dass Grunow sich damals insgeheim erhoffte, wir würden seine Idee als zu verwegen aufnehmen und als undurchführbar zurückweisen. Denn seinem Ziel - also der Aufwertung seines Ansehens bei uns - hätte dies schon vollauf genügt. Denn er hätte damit bewiesen, dass er Dinge zu tun bereit war, vor denen selbst wir zurückschreckten. Doch diese Spekulation ging nicht auf, denn besonders Golz war vollkommen begeistert und zerstörte so Grunows Hoffnung, ohne größeren Einsatz und Risiko, dafür aber mit vermehrtem Ruhm durchzukommen.
Der Plan lautete, eine Nacht in einer der ohne Zweifel schaurigsten Stätten Hamburgs zu verbringen, an einem Ort, der in der Bevölkerung als heimgesucht und böse galt. Es handelte sich um das sogenannte Brusek-Haus in Altona, ein kleines Gebäude an der belebten Holstenstraße, das seit Ende der Fünfziger Jahre leer stand und mehr und mehr zu einer Ruine verkam. Seinen Namen und seinen entsetzlichen Ruf hatte es Wilhelm Brusek zu verdanken, der dort bis 1958 gelebt und auf grauenhafteste Weise gemordet hatte. Brusek, der von der Presse damals plakativ genannte „Schlächter von Altona“, hatte innerhalb dreier Jahre, in denen er das kleine Mietshaus bewohnte, fünf Frauen, in der Mehrzahl Prostituierte, gequält und bestialisch ermordet. Bei der Festnahme Bruseks fand man ihre Überreste in Wänden und Holzverschlägen eingemauert, einzelne Körperteile waren auch unter den Holzdielen versteckt. Auch ohne die Ausmalungen der Presse galt der Ort überall als Stätte unvorstellbaren Grauens, und das Haus stand dementsprechend lange Zeit leer. Erst ein paar Jahre nach den schrecklichen Ereignissen versuchte der Hausbesitzer, ein Mann aus Bremen, neue Mieter zu gewinnen. Er bot das Haus zwei Gastarbeiterfamilien an, die nacheinander auch zunächst dankbar annahmen, aber noch vor dem Einzug das Weite suchten. Entsetzt sprachen sie davon, dass es in dem Haus spuke. Seitdem hatte es keine weiteren Versuche gegeben, und das Gebäude war langsam, aber sicher verkommen. Wilhelm Brusek übrigens nahm sich ein Jahr nach seiner Festnahme das Leben; er erhängte sich in seiner Zelle der Justizvollzugsanstalt.
Grunow kannte die Geschichte relativ genau, denn sein Großvater, der nur einige Häuser vom Ort des Geschehens entfernt wohnte, war als eine Art Hausmeister und -verwalter für den Bremer Besitzer tätig, der noch andere Mietshäuser in Hamburg besaß. Von ihm hatte Grunow all jene Details über das düstere Kapitel Brusek erfahren, die ansonsten kaum jemandem bekannt waren.
Grunows Plan sah vor, sich den Schlüssel für das Brusek-Haus bei seinem Großvater zu verschaffen und sich dann vor den Augen einiger Bekannter, die als Zeugen fungieren sollten, in das Gebäude zu begeben. Denn natürlich musste unser mutiges Unternehmen auch unzweifelhaft beweisbar sein.
Noch am selben Abend in der Kneipe wurde beschlossen, das Ganze möglichst bald in die Tat umzusetzen. Grunow sollte von seinem Großvater den Schlüssel, der eh seit einigen Jahren nicht mehr verwendet worden war, unbemerkt entwenden, während Golz und ich im Bekanntenkreis unser Vorhaben publik machen und ein paar Zeugen finden sollten, die uns dann bis vor die Tür jenes Hauses begleiten würden.
Als diese Vorbereitungen erfolgreich abgeschlossen waren, fieberten und bangten wir dem verabredeten Freitagabend entgegen. Während sich Grunow und ich aber im Stillen schon grauenvolle Szenarien ausmalten, plante Golz begeistert weitere Details. So legte er fest, dass zur Steigerung des Abenteuers keine Taschenlampe, sondern nur je eine Wachskerze für jeden von uns mitgenommen werden sollte. Darüber hinaus hatte er sich überlegt, dass wir uns trennen und jeder in einem anderen Raum des Hauses die Nacht verbringen sollte. Als er letzteres verkündete, weiteten sich Grunows Augen vor Schreck, doch er schluckte es ohne Widerspruch. Mir selbst war auch mulmig, doch ich sagte mir pragmatisch, dass das Schlimmste die Dunkelheit sein würde und ich deshalb die Kerze, die etwa drei Stunden Brenndauer besaß, sparsam würde einsetzen müssen.
Am vereinbarten Freitagabend gegen acht Uhr erreichten wir schließlich mit zwei Bekannten unser Ziel. Auf dem Weg hatten wir noch Scherze gemacht und herumgealbert, doch als wir vor dem kleinen Haus ankamen, änderte sich unsere Stimmung schlagartig.
Wir standen auf der anderen Straßenseite und blickten hinüber zu dem kleinen, einstöckigen Gebäude, das zwischen zwei hohen Mietshäusern Mauer an Mauer eingeschlossen war. Die Außenfront war verschmutzt und der Putz bröckelte an vielen Stellen ab. Alle drei Fenster waren mit Brettern zugenagelt, die wiederum mit unzähligen alten und neueren Plakaten überklebt waren. Doch nicht allein dieser tote und abweisende Anblick dämpfte unsere Stimmung, denn zusätzlich - als wäre es ein Zeichen - lag über der Szene ein blutroter Abendhimmel, der das Ganze in ein unheimliches, fast schon beklemmendes Licht tauchte. Ich denke, in diesem Augenblick spätestens wurde jedem von uns klar, auf was wir uns da einließen. Es war wirklich eine Mutprobe - eine Auseinandersetzung vor allem mit den ureigensten Angstvorstellungen. In diesen Minuten gab es die letzte Möglichkeit, noch von dem Vorhaben zurückzutreten, doch keiner schien dies ernsthaft zu erwägen. Wie hätte das auch ausgesehen?
Wir verabschiedeten uns von den beiden Bekannten, die nur mit dem Kopf schüttelten und uns Glück wünschten. Während wir die Straße überquerten und Grunow mit dem Schlüssel die verstaubte, dreckige Haustür aufschloss, folgten sie uns mit den Blicken. Als die Tür mit einem lauten Knarren aufschwang und wir entschlossen in das vor uns liegende Halbdunkel traten, winkten sie noch ein letztes Mal, bevor die Tür wieder ins Schloss fiel und uns von der Welt absonderte.
Wie verloren standen wir in einem etwa sieben Meter langen Flur und versuchten, unsere Augen an das kaum vorhandene Licht zu gewöhnen, das durch die Ritzen der vernagelten Fenster nur spärlich hereinfiel. Der Blick reichte in diesem trüben, gräulichen Dämmer kaum mehr als drei, vier Meter weit, und es war schlichtweg unmöglich, Konturen scharf und deutlich auszumachen. Dennoch beschlossen wir, unsere Kerzen nicht bereits jetzt zum Einsatz zu bringen, denn die vor uns liegende Nacht würde noch lange genug dauern.
Ich erinnere mich genau, dass mich schon da ein erstes Frösteln überlief, denn die Atmosphäre und die Aura, die uns hier umfing, war vollkommen anders als die reale Welt jenseits der Haustür. Es war - mit einem Wort gesagt - fremdartig. Alle Sinne und die ganze Wahrnehmung waren aufs Äußerste angespannt, um sich in dieser Welt zurechtzufinden. Denn neben dem verschleiernden Halbdunkel, das wir mit den Augen vergeblich zu durchdringen versuchten, lastete eine irritierende und erschreckend vollkommene Stille in dem Haus, die selbst die Verkehrsgeräusche der Holstenstraße absorbierte. Aber es war nicht einfach eine Stille im Sinne von Ruhe, sondern vielmehr eine angespannte, unnatürliche Tonlosigkeit, so als ob das Haus geduldig wartend auf irgendetwas lauerte. Zuletzt - als dritte Sinneswahrnehmung - fiel mir schließlich der Geruch auf, der einem anfänglich fast die Luft zum Atmen nahm und wie eine dichte Wolke alles durchdrang. Seine Intensität war enorm, so als ob durch das Gebäude seit Jahren kein frischer Luftzug mehr geweht wäre. Es war eine Mischung aus dem abgestandenen Geruch von Moder und Schimmel, wie er in alten Kellerräumen oft vorkommt, und einem aufdringlichen, schwülen, süß-säuerlichen Duft, der am ehesten an verrottende Lebensmittelabfälle erinnerte. All diese Sinneswahrnehmungen und die angespannte innere Verfassung machten es mir schwer, ruhig und gefasst zu bleiben. Wenngleich ich bemüht war, mir nach außen hin nichts anmerken zu lassen, so signalisierte mir ein beklemmendes Ziehen im Unterleib doch unmissverständlich meine Unruhe und eine latente Angst. Grunow dagegen konnte seine seelische Lage kaum verbergen. Mit weit aufgerissenen Augen und geöffnetem Mund bewegte sich sein Kopf ruckartig von links nach rechts in dem angstvollen Bemühen, sich zurechtzufinden. Er atmete kurz und flach, und sein zuckender Kehlkopf verriet, dass er aus Furcht häufig schlucken musste.
Golz war für solche sensitiven Eindrücke und Reaktionen völlig unempfänglich. Die bedrückende Atmosphäre des Hauses schien ihn ganz einfach nicht zu erreichen. Er stand im düsteren Flur und blickte sich interessiert um, so, als ob er etwas ganz Alltägliches erlebte, wie beispielsweise einen Museumsbesuch.
Nachdem sich unsere Augen ein wenig an die Dunkelheit gewöhnt hatten, gingen wir langsam den Flur entlang und verschafften uns so einen ersten Eindruck vom Grundriss des Brusek-Hauses. Der Flur führte von der Haustür bis an die Rückwand des Gebäudes, wo ein von Staub und Dreck blindes Fenster ein matt-graues Rechteck bildete, und teilte das Haus so in zwei Hälften. Je zwei Türen führten in die - vom Eingang gesehen - linke und in die rechte Hälfte. Da die Türen offenstanden oder ganz fehlten, konnten wir - so gut das Dämmerlicht dies zuließ - einen Blick in die einzelnen Räume werfen.
Nach vorn raus zur Straßenseite lag linker Hand der bei weitem größte Raum, der wohl als Wohnzimmer fungiert hatte und der durch einen Durchgang mit dem hinteren Raum verbunden war. Letzterer erwies sich durch eine steinerne Spüle und einen vergammelten Herd eindeutig als die Küche. Zu ihr führte auch die zweite Tür auf der linken Flurseite.
Rechter Hand lag vorn ein Badezimmer mit einem klobigen Waschbecken und einer verdreckten, deckellosen Toilette. Die zweite Tür führte in einen Raum, der wohl das Schlafzimmer gewesen sein musste. Mit Ausnahme der Küche und des Badezimmers waren die Räume vollkommen leer. Staub und Dreck lagen am Boden. Die frühere Tapete hatte sich an manchen Stellen von der Wand gelöst und hing in Fetzen oder Streifen herab. An anderen Stellen fehlte sie ganz, und mit Schaudern erkannte ich in einer plötzlichen Eingebung, dass es sich hierbei um jene ehemaligen Nischen und Verhaue handeln musste, die von der Polizei aufgebrochen und entfernt worden waren, nachdem man dort die entsetzlichen Spuren von Bruseks Morden entdeckt hatte.
Beim Anblick jener kahlen Passagen an den Wänden - sie waren im Wohn- und im Schlafraum zu finden - schien mein Herz stehenzubleiben. Nur mit Mühe konnte ich in mir aufsteigende, grauenvolle Phantasiebilder unterdrücken und mich krampfhaft dazu zwingen, woanders hinzuschauen. Doch auch am Boden - das ganze Haus war mit breiten Holzdielen ausgelegt - lauerten vereinzelte Stellen, die schreckliche Assoziationen wachriefen. Brusek hatte Körperteile seiner Opfer auch unter jenem Holzboden versteckt, und analog zu den Wänden waren die entsprechenden Dielen von der Polizei entfernt und später behelfsmäßig durch neuere Bretter ersetzt worden. Es war geradezu unerträglich, ganz präzise jene Orte sehen zu müssen, die der Schlächter in seinem bestialischen Wahn benutzt hatte.
Als mir all dies bedrohlich und angsterfüllend bewusst wurde, drohten mir die Sinne zu schwinden. Die optischen Eindrücke und die damit verbundenen grauenvollen Vorstellungen verbanden sich plötzlich mit jenem stickigen, süß-säuerlichen Geruch. Von einer Sekunde zur anderen glaubte ich mit Schrecken zu wissen, woher jener Geruch stammen musste. Ich musste mich mit einer Hand an der Wand abstützen, als ich merkte, dass mir plötzlich schwindelig wurde. Silbrige Sterne tanzten vor meinen Augen, und abrupt überzog eisige Kälte meine Haut. Übelkeit wallte empor und ließ sich nur durch krampfhaftes Schlucken unterdrücken. Ein elektrisierendes Kribbeln wanderte über meine Stirn und meine Kopfhaut. Meine Glieder waren kraftlos und taub. Eine ganze Zeit lang stand ich so angelehnt an der Wand und blickte stumpf ins Leere, bis sich mein Körper schließlich wieder etwas beruhigt hatte.
Meine beiden Freunde hatten von meinem kurzen Einbruch nichts mitbekommen. Während Golz aufmerksam die Räumlichkeiten studierte, schien Grunow mehr mit sich selbst beschäftigt und eifrig bemüht zu sein, die Fassung zu bewahren. An seiner angespannten, angstvollen Mimik hatte sich nichts geändert. Und doch schien es ihm im Unterschied zu mir zum Glück bislang noch erspart geblieben zu sein, jene grauenvollen Erkenntnisse und Assoziationen zu haben. Ich fragte mich, wie es ihm erst ergehen mochte, wenn er die greifbaren Belege des Grauens entdecken und in einen entsetzlichen Zusammenhang würde bringen können. Ich erinnere mich, dass ich in diesem Moment zum ersten Mal vage Zweifel daran bekam, ob und wie Grunow all dies verkraften würde.
Während wir in der folgenden halben Stunde teils gemeinsam, teils getrennt durch die Räume streiften und uns umsahen, war inzwischen die Sonne untergegangen und hatte das Zwielicht innerhalb des Gebäudes noch düsterer werden lassen. Denn anstelle des vorherigen Tageslichts fiel nun nur noch das spärliche Licht der Straßenlampen an der Holstenstraße durch die Ritzen der zunagelten Fenster. Manchmal erhellte sich die Szenerie geringfügig für einen Augenblick, wenn das Scheinwerferlicht eines vorüberfahrenden Autos über die Hausfront wanderte.
Golz war mittlerweile am hinteren Ende des Flurs angelangt und bedeutete uns plötzlich aufgeregt, dass sich zu seinen Füßen eine Holzluke befand, die hinab in den Keller führen musste. Zögerlich traten wir hinzu und sahen hinunter auf eine quadratische Holzplatte, die sich deutlich vom Dielenboden unterschied. Dieses Ende des Flurs war durch das mattgraue Licht, das durch das staubblinde Fenster an der Rückwand einfiel, etwas heller als der Rest des Hauses. Während Golz sich schon an dem kleinen Ring zu schaffen machte, mit dem man die Luke anheben konnte, schossen mir erneut die schrecklichen Details der Brusek-Geschichte durch den Kopf. Denn der Keller war damals das Zentrum des Grauens gewesen. Hier hatte Brusek seine Opfer gequält, verstümmelt und ihren langsamen, unvorstellbar leidensvollen Tod inszeniert. Hier hatte er die Leichen zerlegt, um sie dann im ganzen Haus zu verteilen. Immer in seiner Nähe, wie er beim Verhör ungerührt gestand, wollte er seine Opfer spüren, riechen und sich an ihnen erregen. Sonst wäre das Haus doch so leer und unbelebt gewesen. Ohne sie um sich herum hätte er kaum schlafen können.
Als Golz die Luke öffnete, und uns kühle, modrige Luft aus der Tiefe umfing, begann Grunow neben mir leise zu stöhnen. Aus den Augenwinkeln konnte ich erkennen, dass er seine Augen geschlossen hatte, so als ob er sich in innerer Zwiesprache Mut machen wollte. Golz, der sich in die Hocke begeben hatte, um hinab in die undurchdringliche Finsternis zu spähen, drehte sich halb um und blickte Grunow kurz an. Plötzlich begann er, verächtlich zu grinsen und in arroganter Überheblichkeit seine Augen zu verdrehen. Lächelnd schimpfte er den leicht zitternden Grunow einen jämmerlichen Feigling, der keinen Mumm habe und seinen kindlichen Ängsten erliege. Überhaupt sei er ein Weichling und das schwächste Glied in der Gruppe.
Ich weiß nicht, was Golz zu dieser Tirade bewog, doch aus heutiger Sicht würde ich sagen, dass es seine Art war, mit eigener Angst fertig zu werden. Vielleicht dämmerte ihm beim Blick in die düstere Tiefe, welches Grauen dieses Haus erlebt hatte, und vielleicht spürte er, wie sein dicker Panzer aus prahlerischer Geste und Selbstbewusstsein in diesem Moment auf unerwartete und bedrohliche Weise durchbrochen wurde. Von einem bislang kaum gespürten Gefühl... der Angst. Und Golz reagierte darauf mit dem simplen Versuch, solchen Kontrollverlust abzuwenden und sein Ego auf Kosten eines Schwächeren wiederherzustellen.
Im Nachhinein betrachtet, würde ich sagen, dass diese Situation der schicksalhafte Wendepunkt in jener Nacht war, denn unglücklicherweise setzte diese bittere Verhöhnung in dem verzweifelt um Anerkennung bemühten jungen Mann eine fatale Gegenreaktion in Gang. Denn offensichtlich glaubte Grunow, diese herabwürdigenden Vorwürfe nur durch einen umso wagemutigeren Einsatz tilgen zu können. In diesem Augenblick - getrieben von dem Wunsch, sich von Golz‘ Beleidigung reinzuwaschen - traf er spontan und unüberlegt eine Entscheidung, die sein Schicksal besiegeln sollte. Ich denke, die Tatsache, dass Golz ihn zu diesem fatalen Schritt genötigt hatte, war einer der Hauptpunkte jener Schuldgefühle, die Golz in den nachfolgenden Jahrzehnten verfolgen sollten. Nachdem Golz und ich uns bereits wieder der geöffneten Luke zugewandt hatten, sagte Grunow mit betont lauter, aber leicht zitternder Stimme, dass er die ewigen Sticheleien satt habe und uns beweisen wolle, dass er alles andere als ein Feigling sei. Überrascht sahen wir ihn an. Es war unverkennbar, dass es ihm bitterernst war. Aus weit aufgerissenen Augen funkelte er uns zornig und entschlossen an. Er werde die Nacht allein in diesem Keller zubringen, verkündete er lauthals, denn er habe keine Angst. Golz und ich sollten ruhig hier oben bleiben, er werde allein, nur mit einer Kerze und Streichhölzern ausgerüstet, hinuntergehen. Gespielt heiter fügte er überheblich hinzu, dass wir ihn morgens dann nur bitte wecken sollten.
Während ich selbst angesichts dieser verrückten Ankündigung nur ungläubig den Kopf schüttelte, nutzte Golz mit sicherem Instinkt die Gelegenheit, Grunow jede Chance auf einen Rückzug von seinem ungeheuerlichen Plan zu nehmen. Er warf ihm vor, nur ein großes Maul zu riskieren, aber am Ende doch kleinlaut einzuknicken. Es sei ein Unterschied, was man sage und was man letztlich tue.
Grunow reagierte genau in der fatalen Weise, die Golz hatte provozieren wollen. In betonter Bestimmtheit wies er die Kritik zurück und bestand entschlossen auf seinem Vorhaben. Während Golz diabolisch grinste und sich innerlich wohl schon am zu erwartenden Rückzug Grunows weidete, versuchte ich auf humorvolle Weise, den Druck von ihm zu nehmen und es ihm so zu ermöglichen, ohne allzu großen Gesichtsverlust einen Rückzieher zu machen. Doch es war bereits zu spät. Für Grunow gab es kein Zurück mehr. So sehr er es sich auch wünschen mochte, er konnte seine Ankündigung nicht mehr zurückziehen.
Ich erinnere mich, dass ich in dieser Situation dennoch davon überzeugt war - wie ja auch Golz -, dass es zu einer Realisierung letztlich nicht kommen würde. Doch wir sollten uns täuschen. Für Jochen Grunow ging es in dieser Nacht um einiges, denn offensichtlich wollte er diesen Beweis auch vor sich selbst erbringen. Dramatisch ausgedrückt, stand er an einem Scheideweg und wollte seinem Leben eine neue Richtung geben. Golz‘ böse Anwürfe waren da lediglich die Initialzündung gewesen.
Nach diesem Gespräch herrschte Schweigen und wir blickten hinunter auf die Öffnung im Dielenboden. Um die Situation zu entkrampfen und um - unbewusst, wie ich heute denke - Grunow etwas Zeit für einen Rückzieher zu verschaffen, schlug ich vor, dass wir es uns, bevor wir uns gemäß Golz‘ ursprünglichem Plan verteilen würden, erst einmal im Wohnraum gemütlich machen sollten. Aus meiner Jackentasche zog ich als Argumentationshilfe einen Flachmann hervor, der auch Golz schnell überzeugte.
Mit einem lauten Krachen ließ er die Holzluke zufallen und folgte uns in den Wohnraum. Wir setzten uns im Dreieck unter das zugenagelte Fenster, ließen den billigen Whiskey durch die Runde wandern und rauchten Zigaretten. Für kurze Zeit gelang es mir, das Ambiente um uns herum zu vergessen, mich etwas zu entspannen und so Kraft für die vor uns liegende Nacht zu schöpfen.
Die Konversation lief hauptsächlich über mich, da sich Golz und Grunow nicht direkt anredeten. Im Laufe der Zeit fiel mir auf, wie sich Letzterer immer mehr aus der Runde ausklinkte und scheinbar eigenen Gedanken nachhing. Dass diese aber alles andere als angenehm waren, zeigten die Falten auf seiner Stirn und sein ruhelos und nervös umherstreifender Blick. Offenbar malte er sich bereits das ihm bevorstehende Grauen aus. Seine Lage war unmissverständlich, und er tat mir wirklich leid.
Nachdem die Flasche geleert war, versuchte ich daher noch einmal, die schreckliche Bürde von seinen Schultern zu nehmen. Ich sagte ihm, wie unsinnig und überflüssig sein Plan doch sei; schließlich brauche er keinem etwas zu beweisen. Für einen Moment schien er dann auch fast schon aufatmend den von mir gebotenen Ausweg annehmen zu wollen, doch da schaltete sich Golz ein. Ich erinnere mich, dass ich ihn damals wirklich hasste, denn er nahm dem armen Grunow nun auch die letzte Chance und stieß ihn damit geradezu direkt in den Keller hinab. Natürlich müsse Grunow es uns beweisen, denn er habe ja auch große Töne gespuckt. Wenn er jetzt nicht zu seinem Wort stehe, dann könne er auf der Stelle das Haus verlassen. Golz starrte Grunow herausfordernd an und warf dabei einen strafenden Seitenblick auf mich. Seine Worte hingen wie eine Anklage im Raum, und in dem folgenden Schweigen entschied Grunow endgültig über sein Schicksal. Er richtete sich stolz auf und betonte ruhig, dass sich an seinem Vorhaben nichts geändert habe. Gefasst ignorierte er mein Kopfschütteln und warf Golz einen vernichtenden, hasserfüllten Blick zu. Der wiederum grinste Grunow schief an und blickte selbstzufrieden drein. In Erinnerung an sein Drehbuch für diese Nacht schob er als zusätzliches Argument nach, dass es auch schließlich nur zwei Räume hier oben gebe, so dass sowieso einer in den Keller hätte gehen müssen. Er sagte dies mehr in meine Richtung - offenbar in der Absicht, neuerlichem Widerspruch von meiner Seite den Wind aus den Segeln zu nehmen.
Nach diesem Gespräch herrschte Schweigen. Jeder schaute in eine andere Richtung und hing seinen eigenen Gedanken nach. Als ich irgendwann einen Blick auf meine Armbanduhr warf, zeigte sie kurz nach zehn Uhr. Die Sichtverhältnisse im Wohnraum waren inzwischen so schlecht geworden, dass man selbst das Gesicht des nur einen oder anderthalb Meter entfernten Nebenmannes nur schemenhaft erkennen konnte. Während wir so untätig und schweigend herumsaßen, breitete sich die bis dahin fast vergessene, bedrohliche Stille erneut im Haus oder vielmehr in unseren Köpfen aus. Nicht mehr abgelenkt, lauschte man unwillkürlich in diese lauernde, unnatürliche Ruhe hinein. Ich kann es nicht erklären, aber es war eine Art misstrauisches Horchen und Spähen, so als ob man unterschwellig vor etwas auf der Hut sei. Auf der anderen Seite gab es zugleich aber auch das wesentlich beängstigendere Gefühl, selbst heimlich und von verborgener Warte aus belauscht und beäugt zu werden. Mit einem Male nahm ich auch den seltsamen Geruch wieder wahr, und in kürzester Zeit stieg wieder jene Angst in mir empor, beherrschte mich wieder jene beklemmende Aura, die mich früher am Abend so sehr aus der Fassung gebracht hatte.
Als ich unauffällig meine beiden Begleiter musterte, stellte ich fest, dass auch sie in diesen unheimlichen Bann geraten waren. Selbst Golz konnte eine gewisse Unruhe nicht verbergen, die sich in nervösem Umherblicken verriet. Doch wie zuvor an der Luke, versuchte er auch nun, sich innerlich durch ein Ablenkungsmanöver zu entlasten, um den fremdartigen Wahrnehmungen zu entfliehen und sich zugleich die eigene Stärke bewusst zu machen. Und wie immer geschah dies auf Kosten anderer. In diesem Fall durch das Schüren und Intensivieren von Angst.
Unvermittelt und ohne Einleitung erläuterte Golz in betont souveränem und abgeklärtem Ton, was über das wahnhafte Treiben Wilhelm Bruseks bekannt war. In bildhaften Details schilderte er uns, was der Schlächter mit seinen Opfern vor und nach deren Tod gemacht hatte. Er versuchte, uns die unbeschreiblichen Leiden und Martyrien jener Frauen möglichst plastisch vor Augen zu führen. Danach ging er dazu über, uns auf die tapetenlosen Wandstellen und die unterschiedlichen Dielen aufmerksam zu machen und eben jenen Schluss zu ziehen, zu dem ich unter Schrecken bereits vorher gelangt war. War diese Offenbarung für mich daher nichts Neues und somit halbwegs erträglich, so traf sie den armen Grunow doch völlig unvermittelt.
Während seiner Schilderung, die wir mit eisigem Schweigen quittierten, beobachtete Golz unauffällig aus den Augenwinkeln, welche Wirkung er bei uns erzielte. Ich gab mich gleichgültig und bemühte mich sogar, an manchen Stellen interessiert zu nicken - eine Reaktion, die ihn natürlich ärgern musste. Umso mehr studierte und genoss er Grunows Mimik, die leider allzu deutlich eine Mischung aus Angst, Ekel und innerer Erschütterung widerspiegelte.
Es war widerlich zu sehen, wie Golz sich an der entsetzten Reaktion Grunows labte und aufbaute. Je größer dessen Angst wurde, umso selbstherrlicher und arroganter wurde Golz. Auf diese Weise gelang es ihm, sein zumindest angeschlagenes Selbstvertrauen wieder herzustellen, indem er sich über jemanden erhob, der in dieser Lage schwächer und ängstlicher war als er selbst.
Ich wollte ihm gerade zornig meine Verachtung über sein arrogantes und gemeines Gehabe entgegenschleudern, als plötzlich etwas geschah, was die Einleitung zum Grauen jener Nacht bilden sollte. Denn in diesem Moment wurde für mich das vertraute Gefüge menschlicher Realitätsvorstellung zum ersten Mal erschüttert. Als wäre unsere Wirklichkeit nur eine Leinwand, auf der Bilder projiziert werden, so schien in diesem Moment ein Riss in dem Stoff entstanden zu sein, der einen Blick freigab auf eine andere, jenseitige Wirklichkeit. Das Erleben der Gleichzeitigkeit dieser beiden Welten war ein unbeschreiblicher Schock und ein unerträglicher Widerspruch, den ich wohl niemals in meinem Leben werde auflösen können.
Wie gesagt, ich wollte Golz gerade Vorhaltungen wegen seines absurden und gemeinen Verhaltens machen, als eine undeutliche, vage Bewegung im düsteren Hintergrund des Raumes meine Aufmerksamkeit auf sich zog. Da ich unter dem Fenster zur Straßenseite hin an der Wand lehnte und Golz und Grunow mir gegenüber saßen, musste ich über deren Köpfe hinwegblicken, um den Rest des Wohnraums sehen zu können. Die Bewegung, mehr eine Art Verschiebung in der dunklen, schemenhaften Masse der Schatten, ließ sich aus meiner Sicht links hinter Golz lokalisieren, also dort, wo der Durchgang zur Küche war.
Was genau in den folgenden drei oder vier Minuten geschah, ist schwer zu beschreiben, da die Wahrnehmungen von völlig unbekannter Art waren und sich allenfalls ansatzweise umschreiben lassen. Wie gebannt starrte ich in die dunkelgraue Finsternis, die die Umrisse des türlosen Durchgangs zur Küche nur erahnen ließen. In diesem düsteren Rechteck ging etwas vor sich, was sich am ehesten als ein Wabern oder ein Verschwimmen beschreiben lässt. Die Luft oder Atmosphäre war in Bewegung geraten. Innerhalb einer halben Minute verdichtete sich dieser Prozess immer mehr, bis sich - wie soll ich es anders ausdrücken - die Schatten zusammenzogen und eine pechschwarze Kontur erkennen ließen, die sich vor dem diesigen, dunkelgrauen Hintergrund deutlich abzeichnete. Ohne jeden Zweifel waren es die Umrisse eines großen Mannes, der in dem Durchgang stand und in unsere Richtung blickte. Bewegungslos verharrte er dort und schien uns zu beobachten.
Mein Atem stockte und mein Herz schien still zu stehen; wie gelähmt fixierte ich die Erscheinung. Golz hatte abrupt aufgehört zu sprechen, so dass völlige Stille herrschte. Meine beiden Gegenüber saßen mit dem Rücken zum Geschehen, doch sie machten keine Anstalten, sich umzudrehen. Vielmehr starrten sie mich, beziehungsweise mein angstvoll erstarrtes Gesicht an und trauten sich nicht, sich zu bewegen. Keiner von beiden fragte mich, was denn hinter ihnen zu sehen sei. Ganz offensichtlich wussten sie aufgrund einer anderen Wahrnehmung, dass es etwas Grauenvolles sein musste. Denn nachdem sich die Gestalt - nun, sagen wir - als geisterhafter, tiefschwarzer Schatten materialisiert hatte, war ein weiteres Zeichen seiner widernatürlichen Präsenz immer stärker und aufdringlicher in Erscheinung getreten. Diese zweite Wahrnehmungsebene war bei weitem eindringlicher und entsetzlicher als die rein optische. Aus diesem Grund konnten sich Golz und Grunow auch jegliche Frage an mich ersparen, denn sie wussten selbst inzwischen ohne einen Zweifel, dass etwas Schreckliches vor sich ging. Nachdem nämlich die reine Sichtbarwerdung der Erscheinung abgeschlossen war, kam ein zweites, bei weitem grauenvolleres Symptom der fremdartigen Präsenz hinzu. Und dies war es, was Golz und Grunow - auch ohne direkte Ansicht - in Angst und Schrecken versetzte und sie erstarren ließ.
Man könnte es wohl als eine Form suggestiver Schwingung bezeichnen, die im Gehirn des Menschen bestimmte assoziative Bilder und Gefühle wachruft. Es mag widersinnig klingen, aber ohne dass irgendein Geräusch akustisch vernehmbar war, hörten wir Töne, die sich nach einiger Zeit zu Klängen unvorstellbaren Grauens wandelten. Ich denke, es war eine Ausprägung jener unbegreiflichen, widernatürlichen Wirklichkeit, dass in der vollkommenen Stille dieses Hauses in unseren Köpfen eine Kakophonie des Schreckens in schrillsten und beklemmendsten Tönen erscholl.
Vielleicht kann man es am ehesten mit einem nächtlichen Karnevalszug vergleichen, der durch enge Gassen näher kommt. Aus einem anfänglich lärmenden Klanggewirr wird mit zunehmender Nähe ein deutlicher unterscheidbares Gemenge an Einzelstimmen. So war es auch in unserem Fall. Je präsenter die Erscheinung wurde, desto lauter und näher ertönten jene Stimmen, deren Klang mich noch heute in Alpträumen heimsucht. War es zunächst ein Gewirr an hohen Stimmen, die indifferent durcheinander schrieen und kreischten, so erfolgte mehr und mehr eine Kristallisation einer Handvoll Frauenstimmen, die nicht nur vom Klang her, sondern auch räumlich klar unterscheidbar waren. Auf dem Höhepunkt dieses unvorstellbaren Effektes ertönten die Stimmen aus den verschiedensten Winkeln des ganzen Raumes in einer gigantischen Lautstärke, die aber durchaus realistisch und lebensecht wirkte.
Es waren die Schreie und unartikulierten Laute menschlicher Todesangst und Qualen. Grauenvolle Schreie des Schmerzes und wahnhaftes, irrsinniges Kreischen wechselten mit entmenschlichtem Wimmern und Stammeln. Es erklangen keine Worte, nur Töne. Es waren die letzten Lebenszeichen der Ermordeten, die einem das Blut gefrieren und das Haar weiß werden ließen.
Im Nachhinein habe ich mir ein Erklärungsmuster zurechtgelegt, um überhaupt irgendwie mit jenen Ereignissen umgehen zu können. Objektive Tatsache ist, dass die Stimmen nur in unseren Köpfen erklangen, denn sie wären sonst weit in der Nachbarschaft des Brusek-Hauses zu hören gewesen. Ich denke, dass wir drei in jener Nacht in eine Art parallele Wirklichkeit gerieten, die sich nur in diesen Räumlichkeiten manifestierte. Mit der Präsenz jener geisterhaften Erscheinung waren die grauenhaften Effekte suggestiv verbunden. Der Raum, in dem wir uns befanden, spiegelte in jenen Klängen das Grauen wider, das die Opfer durchlebt hatten. Ihre Stimmen erklangen aus den Verstecken, die Brusek gewählt hatte. In diesem entsetzlichen Sinn hatte der Schlächter recht, wenn er sagte, dass das Haus durch seine bestialischen Vorkehrungen belebt worden sei.
Wie lange dieses akustische Pandämonium menschlichen Leids wirklich dauerte, vermag ich nur zu schätzen, denn mir kam es wie eine Ewigkeit vor. Es mögen vielleicht nur zwei Minuten gewesen sein, bis plötzlich mit einem Mal abrupt Stille einkehrte. Mit einem kurzen Blick konnte ich sehen, dass meine beiden Begleiter wie zu Säulen erstarrt aus weit aufgerissenen Augen und mit offenem Mund ins Leere blickten. Alle drei wagten wir nicht, uns zu bewegen. Über meine Haut wanderte ein elektrisierendes Kribbeln, und ich spürte, dass sich meine Haare aufgestellt hatten. Alle Muskeln waren angespannt und meine Sinne in einem Maße geschärft, wie ich es noch nie zuvor erlebt hatte. Mit einem angstvollen, kurzen Blick stellte ich voller Panik fest, dass die Erscheinung noch immer im Rahmen des Durchgangs verharrte. In diesem Moment kam eine neuerliche Wahrnehmung an die Oberfläche meines Bewusstseins - diesmal noch fremdartiger, aber anfangs nur völlig vage. Sie war weder optisch, noch akustisch, sondern - nun, ich würde sagen - telepathisch. Es war eine Art Botschaft oder eine warnende Aura, die die Erscheinung begleitete und die mir mit einem Mal unmissverständlich und unerträglich beklemmend klar vor Augen stand. Es ist schwer, all dies in Worte zu fassen, aber ich würde sagen, es war der reine Anhauch des Bösen, der da meine Sinne erreichte. Eine Aura grenzenloser Grausamkeit und bestialischen Wahns hatte sich im Raum ausgebreitet. Ich muss sagen, dass diese Wahrnehmung die schrecklichste war, denn sie lag in ihrem dämonischen Grauen so weit außerhalb menschlicher Vorstellungskraft, dass man die optischen und akustischen Erscheinungen von zuvor fast als real und natürlich bezeichnen könnte. Eine solche Ballung infernalischer Atmosphäre und bösartiger Bedrohung kannte ich bis dahin nur ansatzweise aus Alpträumen. Erneut stellten sich an meinem ganzen Körper die Haare auf, als eine Eiseskälte über die Haut hinwegzustreichen schien. Ich kann für diese übernatürliche Situation nur den oft bemühten Vergleich mit jener prähistorischen, menschlichen Urangst anführen, die in uns zivilisierten Wesen nur in solchen Grenzfällen aus unbekannten, seelischen Tiefen emporsteigt.
Dieses letzte Stadium der Erscheinung dauerte nur etwa eine halbe Minute, bis es urplötzlich und zugleich vollständig endete. Ich benötigte sicherlich noch eine weitere halbe Minute, bis ich überhaupt wieder einen Gedanken fassen konnte. Da erst wurde mir bewusst, dass mein Blick unbeweglich und starr auf Golz‘ Jacke gerichtet war und dass ich Schmerzen im rechten Oberschenkel hatte, die davon herrührten, dass sich die Finger meiner beiden Hände wie Schrauben in das Fleisch gebohrt hatten.
Nachdem ich innerlich wieder etwas ruhiger geworden war, versuchte ich ängstlich und vorsichtig, die Lage zu sondieren. Es gab keinen Zweifel daran, dass sich die bösartige, alptraumhafte Aura vollständig aufgelöst oder zurückgezogen hatte. Das war so klar und deutlich zu unterscheiden wie heiß und kalt. Mein Hauptaugenmerk galt daher der optischen Erscheinung - würde sie noch immer im Durchgang zu sehen oder auch verschwunden sein?
Mit angehaltenem Atem und klopfendem Herzen spähte ich, ohne den Kopf zu heben, an Golz vorbei in Richtung der Küchentür. Der Schrecken, den ich dort zu sehen befürchtet hatte, war nicht mehr da. Und doch belegte ein leichtes, immer weiter abklingendes Flirren der dort versammelten Schatten, dass der Prozess des Verschwindens noch nicht ganz abgeschlossen war. Etwas mutiger wagte ich es nun, den Kopf zu heben und das Geschehen genauer zu beobachten. Doch schon nach wenigen Sekunden stand die Luft - beziehungsweise die Atmosphäre - im Durchgang wieder vollkommen still. Der Riss in der Leinwand der Wirklichkeit hatte sich wieder geschlossen - von der Präsenz jener Erscheinung war keine Spur geblieben.
Langsam begann mein Körper, sich wieder zu entspannen; mit einem tiefen Zug holte ich ausgiebig Luft. Nach einiger Zeit begannen sich auch Golz und Grunow wieder zu regen, wobei sie sich verängstigt, verwirrt und vorsichtig im Raum umsahen. Doch von der übernatürlichen Präsenz war keine Spur mehr zu entdecken. Lastende Stille und düsteres Zwielicht erfüllten das Haus, als ob nichts geschehen wäre. Aus meiner Jackentasche zog ich die Kerze heraus, die Golz bereits vor dem Aufbruch zu unserem Abenteuer verteilt hatte. Nachdem ich sie mit einem Streichholz entzündet hatte, ließ ich etwas Wachs auf den Holzboden vor mir tropfen und fixierte sie so in der Mitte unserer Runde. Nach dem vorangegangenen Geschehen brauchte ich unbedingt etwas Licht, um mich wieder beruhigen zu können. An Grunows erleichtertem Blick konnte ich erkennen, dass es ihm ähnlich erging.
Ganz anders Golz. Wie schon zuvor, floh er auch diesmal in seine Angewohnheit, jegliche Angst zu verdrängen und sich an der Unsicherheit anderer aufzubauen. Spöttisch und überheblich grinsend, fragte er allen Ernstes, ob ich meine Kerze nicht sinnvoller und sparsamer über die noch vor uns liegende Nacht einteilen wollte. Das sei doch schließlich alles noch gar nichts gewesen. Fassungslos starrte ich ihn an - mir fehlten die Worte. Wie konnte Golz sich nur so irrsinnig aufführen? Ich schüttelte den Kopf und musste in staunendem Unglauben sogar laut lachen. Schließlich fragte ich ihn schlicht, ob er verrückt sei. Er habe dies alles doch wie wir miterlebt - wie könne er da auch nur eine Sekunde lang so tun, als ob wir hier noch bleiben sollten. Ich hatte jedenfalls beschlossen, das Brusek-Haus sofort zu verlassen - Mutprobe hin, Mutprobe her.
Fragend schaute ich zu Grunow hinüber, der gerade antworten wollte - eindeutig in der gleichen Weise, wie sein erleichtertes Gesicht verriet -, als Golz ihm zuvorkam. Schnippisch lachte er kurz auf und sagte in beißendem Ton, dass Grunow ja eh ein Feigling sei und dass seine Meinung daher nichts gelte. Er habe doch nur den ganzen Abend sehnsüchtig darauf gewartet, den Rückzug antreten zu können. Herausfordernd sah er Grunow an, der für einen Moment fassungslos und ratlos schien, doch dann kurz schluckte, tief Luft holte und sich aufrichtete. Golz‘ teuflische Provokation ging einmal mehr auf. In knappen, entschlossenen Worten sagte Grunow mit todernster, versteinerter Miene, dass er nach wie vor zu seinem Wort stehe und ihn nichts von seinem Vorhaben abbringen könne. Während Golz hämisch schmunzelte und sich über seinen Triumph innerlich freute, rief ich Grunow aufgebracht zu, dass er sich doch nicht herausfordern lassen solle. Zornig und eindringlich sagte ich ihm, dass er ein Idiot sei, wenn er in Golz‘ plumpe Falle gehe. Der habe doch selber Angst und versuche nur, davon abzulenken. Golz sah mich finster und drohend an, doch Grunow blieb halsstarrig bei seiner unsäglichen Meinung. Offensichtlich gab es für ihn kein Zurück mehr, wobei ich heute meine, dass er in dieser Phase auch schon gar nicht mehr vernünftig denken konnte. Die Verletzung seines Stolzes überlagerte alle anderen Empfindungen und Gedanken.
Während ich noch resigniert den Kopf schüttelte und überlegte, ob ich einfach auf der Stelle und auch allein das Haus verlassen sollte, erhob sich Grunow plötzlich in einer ruckartigen, fast mechanischen Bewegung. Überrascht sahen Golz und ich zu ihm auf, als er langsamen Schrittes auf die Tür zum Flur zuging. Sofort dachte und hoffte ich geradezu, dass er vielleicht doch abhauen wollte. Ich sprang auf und folgte ihm in dem erleichterten Gefühl, diesen Alptraum hinter mir lassen zu können. Doch anstatt sich nach rechts zur Haustür zu wenden, bog Grunow nach links in den Flur ein. Mit langsamen Schritten ging er auf das hintere Ende zu, wo sich unter dem dunklen Fenster die Luke zum Keller befand. Ich rannte hinter ihm her und packte ihn mit beiden Händen schließlich an der Schulter, um ihn aufzuhalten. Doch er entwand sich meinem Griff und ging einfach weiter.
Inzwischen war Golz an mir vorbei gelaufen und ging nun neben Grunow her. Wie in einer feierlichen Prozession bewegten sie sich auf die Luke zu, während ich fassungslos hinter ihnen her starrte. Kalter Schweiß brach aus meinen Poren und mein Herz begann zu rasen. Fieberhaft überlegte ich, wie ich dem irren Treiben ein Ende würde bereiten können. Doch mir blieb nicht viel Zeit. Schon hatte sich Golz gebückt und begann, die Luke anzuheben, während Grunow bewegungslos davor verharrte und apathisch und willenlos darauf zu warten schien, seinem tragischen Schicksal gegenübertreten zu müssen. Als die Luke geöffnet war und ein schwarzes Rechteck den Zugang zum finsteren Keller markierte, griff Grunow in seine Jacke und zog seine Kerze hervor. Mit zitternden Fingern unternahm er vergeblich mehrere Versuche, ein Streichholz zu entzünden, bis schließlich Golz es übernahm, die Kerze zum Leuchten zu bringen. Das Ganze vollzog sich in völligem Schweigen und wirkte wie ein geheimes Ritual, bei dem jeder der beiden seine Rolle genau zu kennen schien.
Sobald er die brennende Kerze in Händen hielt, setzte sich Grunow mechanisch wieder in Bewegung und machte sich an den Abstieg in den Keller. Ich schrie ihn an, dass er mit dem Blödsinn doch aufhören solle und rannte auf die Luke zu. Grunows Gestalt wurde mit jedem Schritt, den er über die Holzstiege hinunterging, kleiner, und er schien in der Erde zu versinken. Als ich mit einem letzten Satz zu ihm hinspringen wollte, um ihn festzuhalten, trat Golz mir rasch in den Weg und packte mich mit eisernem, schmerzhaftem Griff an den Oberarmen. Ohne ein Wort zu sagen, starrte er mich drohend an. Ich brüllte ihn an, dass er wohl verrückt geworden sei, und entwand mich seinem Griff. Doch gerade als ich hinter Grunow her wollte, der bereits den Boden des Kellers erreicht hatte, riss mich Golz von hinten zurück und warf mich mit voller Wucht gegen die Rückwand des Hauses. Der Messinggriff des Fensters bohrte sich beim Aufprall schmerzhaft in meinen Rücken, so dass ich reflexartig tief Luft holte und stöhnen musste. Inzwischen sprang Golz selbst zu der Luke, sah kurz zu mir herüber und warf sie mit einem lauten Knall zu. Doch noch bevor der Deckel zufiel, hatte ich einen letzten, flüchtigen Blick auf Grunow erhascht, dessen rückwärtige Silhouette sich durch das Kerzenlicht gespenstisch abzeichnete. Er war mittlerweile einfach stehengeblieben und verharrte apathisch auf der Stelle. Trotz der Entfernung war nicht zu übersehen, dass er am ganzen Körper zitterte. Sein Kopf war leicht nach rechts geneigt, und er schien zu lauschen. Dies war das letzte Mal, dass ich Jochen Grunow lebend sah.
Mit einem erschütternden Knall fiel die Luke zu und ließ das Bild verschwinden. Behände machte Golz einen Schritt nach vorn und stellte sich demonstrativ mit verschränkten Armen auf die rechteckige Klappe. Finster und zugleich triumphierend sah er mich an und murmelte etwas in der Art, dass Grunow nun die Bewährungschance seines Lebens habe. Doch noch bevor ich darauf reagieren konnte, nahm plötzlich jenes grauenvolle, schicksalhafte Geschehen seinen Gang, das schließlich so tragisch enden sollte. Die entsetzlichen Ereignisse und Bilder der folgenden Minuten haben sich tief in mein Gedächtnis gegraben und verfolgen mich noch heute in immer wiederkehrenden Alpträumen. Denn während Golz und ich einander noch feindselig anstarrten, breitete sich um uns urplötzlich wieder jene unheilvolle, bösartige Aura aus, die sich bereits zuvor so grauenvoll eingestellt hatte. Übelkeit und panische Angst stiegen in mir empor. Mein Herz verkrampfte sich schmerzhaft, so, als ob eine Faust es umschloss und zerquetschen wollte.
Die uns umgebende Atmosphäre war um ein Vielfaches bedrohlicher und unerträglicher als vorher. Ich kann die Eindrücke, die auf mich einströmten, kaum in Worte fassen. Es war eine alles verdrängende Angst und Beklemmung, die jeglichen Hauch von Rationalität und Menschlichkeit absorbierte und den Betroffenen nackt und hilflos einer widernatürlichen, unfassbar bösen Macht auslieferte. So möchte ich es umschreiben, denn das Ganze war so unbegreiflich und surreal wie ein Alptraum. Greifbar waren allenfalls die körperlichen Reaktionen, die von einem durch vermeintliche Eiseskälte herrührenden, unkontrollierten Zittern über eine quälende Übelkeit bis hin zu Herzrasen und Atemnot reichten.
Mit einem kurzen Blick konnte ich erkennen, dass es Golz ebenso erging. Er wankte leicht und seine Gestalt wirkte irgendwie zusammengekauert, so, als ob alle Spannung aus seinem Körper gewichen sei. An der zitternden Bewegung seines Unterkiefers und noch mehr an einem hektischen, trockenen Geräusch konnte ich erkennen, dass seine Zähne unkontrolliert aufeinanderklapperten. Das Gesicht war verzerrt zu einer geradezu schmerzerfüllten Grimasse.
Die Dichte der grauenvollen Aura nahm noch an erstickender Intensität zu. Mittlerweile konnte ich das Zentrum jener Atmosphäre deutlich lokalisieren, denn die Wellen - wie soll ich es sonst nennen? - kamen von unten her auf uns eingeströmt. Sofort war mir klar, dass sich die Erscheinung im Keller unter uns materialisiert haben musste.
Unsere Blicke begegneten sich kurz, und in Golz‘ Augen konnte ich nur nackte Angst und Verzweiflung erkennen. Mit einer mühsamen, schlotternden Geste seines zitternden Arms deutete er hinunter auf die Luke zu seinen Füßen. Er war nicht in der Lage, zu sprechen, doch ich verstand ihn auch so: Wir mussten Grunow da herausholen.
Im Nachhinein denke ich, dass sich Golz‘ Leben in diesen wenigen Minuten grundlegend veränderte. Die Intensität dieser grauenvollen Aura machte es ihm vollkommen unmöglich, sie zu ignorieren oder - wie noch zuvor - zu überspielen. Er musste sich diesem Phänomen hilflos unterwerfen, war der erschütternden Erkenntnis einer übernatürlichen und übermenschlichen Macht völlig ausgeliefert. In seinem Gesicht spiegelte sich bodenlose Bestürzung und Furcht wieder - ein Ausdruck, den ich mir an ihm bis dahin nie hätte vorstellen können. In diesem Augenblick schien ihm auch schlagartig bewusst geworden zu sein, dass er eine Verantwortung für diese Situation trug. Es bedurfte keiner allzu großen Phantasie, sich die grauenvolle Lage vorzustellen, in der sich Grunow befinden musste, denn dass sich die Erscheinung unter uns im Keller ereignete, daran gab es keinen Zweifel. Golz schien mit einem Mal deutlich vor Augen zu stehen, dass er es gewesen war, der Grunow letztlich dazu getrieben hatte, allein in den Keller zu gehen. Und mit diesem Eingeständnis, mit dieser Erkenntnis übernahm er zugleich die Verantwortung für den Unglücklichen. Dies tat er ohne Zögern und Ausflüchte, und ich denke, dass ihm dies eigentlich zur Ehre - wenn auch zu einer nutzlosen, fragwürdigen Ehre - gereicht. Für Golz selbst aber begannen in diesem Moment jene Schuldgefühle und Gewissensqualen, die ihn zeitlebens verfolgen sollten.
Während ich in einer Art Schock oder Trance wie gelähmt an der Wand lehnte, begann Golz zu handeln. Mit zitternden Händen zog er eine Kerze und ein Feuerzeug aus seiner Hosentasche. Angestrengt und in fieberhafter Eile versuchte er, den Docht zu entzünden. Als endlich die Kerze in seiner linken Hand hell aufleuchtete und er sich schon bücken wollte, um die Luke anzuheben, setzte plötzlich ein rasant lauter werdender Lärm ein, der innerhalb weniger Sekunden zu einem ungeheuerlichen Klanginferno anschwoll. Wie versteinert lauschten wir erschrocken und fassungslos jenem furiosen, schrillen und qualvollen Gewirr an Frauenstimmen, das uns schon früher an jenem Abend so entsetzt hatte. Diesmal jedoch kam der Lärm nicht von allen Seiten um uns herum, sondern schallte von unten her zu uns empor. Golz schien in seiner Bewegung erstarrt zu sein. Unbeweglich stand er halb gebückt da, die Augen angstvoll aufgerissen. Nur die leicht flackernde Flamme der Kerze in seiner Hand durchbrach die eingefrorene Statik der Szene. Ich selbst stand nach wie vor paralysiert unter dem rückwärtigen Fenster und wagte weder mich zu rühren, noch zu atmen. Ich kann mich nicht mehr genau erinnern, doch ich glaube, in jener Situation machte ich mich unbewusst auf das Ende gefasst.
Plötzlich erklang in der unsere Sinne marternden Kakophonie aus Leid und Grauen ein langgezogener, unartikulierter Ruf, ein dumpfes, monotones Johlen, das langsam abebbte und zuletzt ganz erstarb. Es klang nach einem Menschen, der keine Kontrolle mehr über seinen Körper und seinen Verstand besaß und der einen letzten, verzweifelten Hilferuf ausstieß, der aber nicht mehr war als das sinnlose, animalische Gejohle eines hilflosen Wahnsinnigen. Augenblicklich war uns klar, dass dies Grunows Stimme war, dass es dort unten im Keller um Leben und Tod ging. Plötzlich traten die grauenvolle Atmosphäre und der entsetzliche Lärm in den Hintergrund - unser ganzes Denken drehte sich um Grunow. Wir mussten ihn dort rausholen - koste es, was es wolle. Ein minimiertes, mechanisches Denken dirigierte ab diesem Augenblick mein Handeln. Die Angst und die Lähmung wichen einem Pragmatismus, der auf dem Überlebenstrieb basierte und die Wahrnehmung soweit reduzierte, dass es zu keinem Schock oder keiner erneuten Erstarrung kommen konnte. Ich denke, ohne diese Betäubung und mechanische Steuerung wäre es mir nicht möglich gewesen, die folgenden Minuten durchzustehen.
Als wären wir beide - wie ein angehaltener Film, der plötzlich wieder weitergespielt wird - in Bewegung gesetzte Roboter, so abrupt begannen Golz und ich zu handeln. Mit einem Satz sprang ich an Golz‘ Seite, der mir, ohne aufzuschauen, die Kerze in die Hand drückte, den Ring an der Luke ergriff und diese schwungvoll in die Höhe riss. Wir standen zu beiden Seiten der dunklen Öffnung und starrten angstvoll hinunter. Der flackernde Schein der Kerze enthüllte zu unseren Füßen das Bild, das ich, solange ich lebe, nicht werde vergessen oder verdrängen können. Wie die anderen, widernatürlichen Geschehnisse jener Nacht hat es sich unauslöschlich in mein Gedächtnis gebrannt.
Wir sahen Grunow, der Länge nach ausgestreckt, auf dem Boden des Kellers liegen. Genauer gesagt, wir sahen nur seine Beine und seinen Unterleib. Der Rest seines Körpers dagegen war vollkommen unsichtbar, in einer reinen, undurchdringlichen Schwärze absorbiert. In Sekundenbruchteilen begriff ich die surreale, unirdische Szenerie. Denn spätestens, als sich jenes schwarze Nichts leicht bewegte, waren darin die Umrisse eines Wesens zu erkennen, das, von uns abgewandt, über dem unseligen Grunow hockte und tief über ihn gebeugt war. Es war jene grauenvolle Erscheinung, die die böse, grausame Aura ausstrahlte und die von den Stimmen menschlicher Qualen und Torturen begleitet wurde.