Hörst du mich, Julia? - Johanna Thal - E-Book
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Johanna Thal

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Beschreibung

Mira kommt die junge Frau mit den lila bemalten Lippen und dem Piercing bekannt vor, als sie von ihr angesprochen wird. Aber bevor sie sich wundern kann, wird sie schon mit einem Messer bedroht. Mira wird in eine verlassene Berghütte verschleppt und gefesselt. Die wildfremde Frau entpuppt sich als unberechenbar. Sie quält, schlägt und erniedrigt Mira. Wird Mira jemals die Flucht gelingen?

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Johanna Thal

Hörst du mich, Julia?

Psycho-Krimi

Copyright der E-Book-Originalausgabe © 2017 bei hey! publishing, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

E-Book-Herstellung: Open Publishing GmbH

Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München

Umschlagabbildung: FinePic®, München

ISBN 978-3-95607-039-6

www.heypublishing.com

Kapitel 1

Als Mira Oltmann auf die Straße trat, fiel ihr die Sandlerin sofort auf und sie konnte nicht verhindern, dass sich ein eigenartiges Kribbeln in ihren Magen schlich. In etwa so, als habe sie eine Spinne verschluckt, die jetzt panisch in ihren Eingeweiden zappelte. Ganz sicher war es dieselbe Frau wie in der letzten Woche! Auch damals hatte die Frau auf dem Bordstein vor dem roten Haus gesessen, als Mira von der Kosmetikerin kam, den Duft der Aloe-Vera-Maske noch in der Nase hatte und die Brauen frisch gezupft waren. Und als Mira genau darüber nachdachte, glaubte sie sich zu erinnern, dass ihr die Landstreicherin sogar schon in der vorletzten Woche aufgefallen war, an exakt derselben Stelle! Weshalb hockte sie ausgerechnet hier, in dieser stillen Straße? Falls sie betteln wollte, wäre eine belebtere Gegend hundertmal besser geeignet. Mira hasste es, beobachtet zu werden, egal von wem, und diese wildfremde Frau hielt ihren Blick so stur auf sie gerichtet, als gäbe es nichts Interessanteres auf der Welt. Nur mit Mühe zwang sich Mira zur Vernunft, kämpfte ihre Nervosität nieder. Vielleicht wartete die Fremde bloß auf jemanden, und sah lediglich zu Mira, weil sie sich langweilte?

Die Augen hinter der teuren Brille zusammengekniffen – sie sollte mal wieder zum Optiker gehen, sich die Gläser anpassen lassen – musterte Mira die Fremde verstohlen. Eine Frau in ungefähr ihrem Alter, also knapp dreißig. Aber ihr Aufzug hatte nichts von Miras zurückhaltender Eleganz. Kurz geschnittene, dunkle Haare, mit Gel frech nach oben gestylt, eine riesige Sonnenbrille mit violetten Gläsern über den Augen, ein grünglitzernder Strass-Stein in der Nase, dazu ein grünkariertes Männerhemd über an den Knien abgewetzten, nicht besonders sauberen Jeans. Ihre helle Jacke hatte die Fremde achtlos neben sich auf den Gehsteig geworfen.

Was sie wohl für ein Leben führte, fragte sich Mira. Bei der Vorstellung, die Sandlerin könne nachts heimlich im Oltmann’schen Garten schlafen, rann ihr ein Schauer über den Rücken. Sie zog die dünne Jacke enger zusammen. Wie nie zuvor war ihr bewusst, dass das Haus der Kosmetikerin in einer ausgesprochen einsamen Straße lag, am Ortsende von Bayerisch Gmain, dort, wo die Wanderwege zum Dreisesselberg und Rotofen ihren Ausgangspunkt nahmen. Der Gedanke steigerte ihre Panik. Frauen wie diese Fremde waren absolut nicht Miras Fall, schüchterten sie allein durch ihre Anwesenheit ein. Andrerseits, wenn Mira ehrlich war, fühlte sie sich auch in Gesellschaft anderer Frauen nicht besonders wohl. Wie bei ihrer Schwiegermutter zum Beispiel, zu der sie gerade unterwegs war.

Gertrude Oltmanns strengem Blick entging nicht der kleinste Makel an ihrer Schwiegertochter, und wenn sie ausnahmsweise keinen entdecken konnte, konstruierte sie sich einen. Letzten Donnerstag, beim obligatorischen Nachmittagstee, hatte sie Miras Rock gerügt und Miras vorsichtigen Einwand, sie habe das Kleidungsstück in der von Gertrude empfohlenen neuen Boutique erstanden, rigoros abgeschmettert. „Du hast dich schlecht beraten lassen, warst sicher bei Juliane. Du hättest explizit nach Dorothea fragen sollen, das hatte ich dir doch erklärt!“

Ja, hatte sie. Und Mira ärgerte sich wieder über ihre Schüchternheit, die es ihr unmöglich gemacht hatte, eine Verkäuferin großspurig fortzuschicken und eine andere zu verlangen, wie ihre Schwiegermutter es ohne jeden Skrupel getan hätte.

Vielleicht, dachte Mira, war ihr die Fremde deswegen so wenig sympathisch, weil sie sie mit dem gleichen Blick musterte wie Gertrude, wenn sie etwas an Mira auszusetzen hatte? Mira war damit an zahllose schwierige Nachmittage, an zahllose Übelkeit erregend üppige Sahnetorten, zahllose ungerechtfertigte Rügen und zahllose Demütigungen vor Gertrudes versammelter Clique erinnert. Ja, bestimmt rührte die seltsame Nervosität nur daher. Und Mira tadelte sich für ihre Abneigung gegen die fremde Frau.

Trotzdem ging Mira schneller als sonst und das ungute Gefühl blieb wie ein treuer Schatten ihr Begleiter. Erst, als sie die nächste Häusergruppe erreichte, spähte Mira vorsichtig über die Schulter zurück. Von der Fremden nichts mehr zu sehen. ‚Sie ist dir nicht gefolgt, also bilde dir bloß keinen Unfug ein‘, ermahnte sich Mira. Sie wollte gar nichts von dir, diese Sandlerin. Vermutlich ruht sie sich einfach vom Betteln in der Stadt aus, weiß, dass die Polizei kaum in diese ruhige Wohngegend kommt und sie somit niemand zu vertreiben versucht. Vielleicht ist sie auch gar keine Sandlerin, sondern nur eine exzentrische Wandertouristin. Fahren ja genug Leute in seltsamer Aufmachung in die Berge.

Schon bald war Mira gezwungen, ihr ungewohnt rasches Tempo zu verlangsamen, denn ihre übliche Kurzatmigkeit machte es ihr schwer, über längere Strecken hinweg flott zu marschieren. Da fiel ihr auf, wie warm und sonnig der Tag sich präsentierte, wie geschäftig Meisen und Rotschwänzchen in den Gärten längs der Straße hin- und herflogen, genauso, wie es sich für den Juni gehörte. Der perfekte Tag, um einen Ausflug zu unternehmen, an einem Badesee im Schatten von Weiden oder Birken ein leichtes Picknick zu genießen und sich anschließend auf der Liegewiese in einen neuen Roman zu vertiefen. Wie lange mochte es her sein, dass Mira sich ein solches simples Vergnügen gegönnt hatte? Wieder drängte sich die fremde Frau in Miras Gedanken. Vielleicht lief sie nach ihrer wie auch immer begründeten Rast am Bordstein zurück in die Stadt, baggerte ohne jede Scheu wildfremde Männer an, die sie ins Café einluden, in der Hoffnung, es könne mehr daraus werden. Sicher gab es Männer, denen solch burschikose Frauen gefielen. Mira spürte einen unerwarteten Stich. Die fremde Frau hatte frei gewirkt, selbstbewusst. Wie schön musste es sein, sich so selbstsicher zu fühlen, dass man sich traute, auf Gehsteigen zu hocken und ungeniert Passanten anzustarren. Ungehobelt schien sie zwar, ein bisschen unverschämt sogar, diese andere, aber trotz allem ein klein wenig beneidenswert.

Als die strichdünne blonde Tussi immer schneller davontrabte, stand Sanne auf und stapfte in der entgegengesetzten Richtung fort. Besser wäre es, nicht zu lang am Haus der Gesichtsrenoviererin rumzulungern. Die Bender könnte was spitzkriegen und sich möglicherweise später erinnern. Den Bullen eine tolle Story aufdrängen. Oder ihre Beobachtungen an irgendwelche Zeitungsschmierer verscherbeln. Also lieber kein Risiko eingehen, nicht jetzt, wo alles perfekt vorbereitet war. Naja, wenigstens fast alles. Sanne blickte auf ihre Plastik-Armbanduhr und stellte fest, dass ihr bis zu dem Treffen mit Ronny beinahe zwei volle Stunden Zeit blieben. Gemächlich wanderte sie über die Hofbauernstraße und den Bergweg von Bayerisch Gmain nach Bad Reichenhall hinein, bummelte durch die Straßen im Zentrum, vorbei an Geschäften mit teuren Dirndln, Wanderstöcken, Bierkrügen, Postkarten und allem, was die Herzen der Touristen begehrten. Und Touris gab es hier massenhaft, mindestens so viele wie die berühmten Tauben am Markusplatz von Venedig. Jetzt im Frühsommer, wo die Wandersaison in den bayrischen Bergen begonnen hatte und auch die letzten Hütten für den Sommerbetrieb öffneten, fielen sie in Scharen im Voralpenland ein. Die Predigtstuhlbahn verhalf sogar den faulsten Säcken zum Eins-a-Bergerlebnis, so dass die Typen ihre Ärsche nicht einmal bewegen mussten.

Sanne fand die Touris mit ihren Sonnenhüten und den umgehängten Fotoapparaten lächerlich. Trotzdem hatte sie bereits vor Jahren erkannt, dass die Touristenschwemme gewisse Vorteile bot: Vor allem am Gedränge in den Läden von Bad Reichenhall erfreute sich Sanne, denn es erleichterte manches.

Hinter einer vergnügt lärmenden Gruppe junger Amerikaner betrat Sanne die Confiserie Candyplanet in der Fußgängerzone. Während die Übersee-Touris angesichts der Vielzahl hausgemachter Pralinen in bewundernde „Fantastic! Marvelous!“- und „Look here!“-Rufe ausbrachen und die Verkäuferinnen im Akkordtempo Dutzende Zellophantütchen mit den Köstlichkeiten befüllten, schob Sanne unbemerkt drei Tafeln Schokolade unter ihre dünne Jacke. In überfüllten Tante-Emma-Läden funktionierte so was besser als in den Supermärkten, in denen an den Waren dämliche elektronische Sicherungen befestigt waren und gemietete Ladendetektive kontrollierten. Erfahrene Langfinger wussten das. Ohne Hast wartete Sanne, bis sich die eine Hälfte der Amerikaner mit ihren Tüten um die Kasse drängelte und das ungewohnte Eurogeld abzählte, während der Rest der Gruppe die Kameras wie Waffen schwenkte und den Raum in eine Blitzlichtgewitterzelle verwandelte. Erst dann verließ sie das Geschäft, so unauffällig, wie sie es betreten hatte. Eigentlich hatte sie gar nicht beabsichtigt, die Schokolade zu „besorgen“; die Süßigkeitenvorräte, die sie in ihrem Privatversteck hortete, würden locker für die nächsten paar Tage reichen. Aber man konnte nie wissen, und überhaupt wäre es frevelhaft, eine derart günstige Gelegenheit ungenutzt verstreichen zu lassen.

„Glaubst, dir gehört die Straß’n allein?“ Die Bubenstimme ließ Sanne automatisch zur Seite treten. Der Junge, der auf dem Gehweg angeradelt kam, mochte zwölf oder dreizehn Jahre alt sein und zeigte ihr den Stinkefinger. „Bist besoffen, Pennerin, oder was?“

Im nächsten Moment sprang Sanne vor und trat so kräftig gegen die vordere Rahmenstange seines Rads, dass er das Gleichgewicht verlor und auf den Asphalt stürzte. Als er sich hochrappelte, starrte er abwechselnd auf seinen heftig blutenden Unterarm und auf Sanne, die seinen entsetzten Blick ungerührt zurückgab.

„Lass dich morgen von der Mama zum Kindergarten bringen! Zum Allein-Radeln bist noch zu doof.“ Mit voller Absicht knallte sie ihren Absatz auf sein bis dahin noch intaktes Vorderlicht und verschwand in einer Seitengasse.

Kaum fünf Minuten später verfluchte sie sich dafür, dass sie ihr Temperament nicht besser im Griff hatte. Was, wenn der junge Depp seinen Eltern erzählte, wie sie ihm das Rad ruiniert hatte? Das wahrhaft Letzte, was sie im Moment brauchen konnte, wären die Bullen im Nacken.

Eine halbe Stunde später hockte Sanne auf einer Bank in dem schattigen Rondell vor der Saalachbrücke und knabberte an einer Tafel Luxus-Pistazienschokolade, obwohl sie nicht hungrig war. Ronny entdeckte sie schon aus der Ferne, tat aber, als habe sie ihn nicht bemerkt. Das Ego dieses Sauhunds war ohnedies aufgeblasen genug. Und wenn Sanne irgendeine andere Möglichkeit gehabt hätte, an den Krempel zu kommen, hätte sie Ronny mit Freuden links liegen gelassen. Aber dummerweise war sie erstens obdachlos und hatte infolgedessen zweitens keinen privaten Zugang zum Internet.

„Hast du die Kohle?“ Einen Gruß hielt Ronny für überflüssig.

„Und du? Hast du die Ware?“ Betont unbeeindruckt kaute Sanne weiter.

„Logo.“ Er warf ihr die Plastiktüte, in der zwei flache Schachteln steckten, zu. „Willst du’s dir erst anschauen?“

Sanne schüttelte den Kopf. Sorgfältig verstaute sie die Schokolade in der Jackentasche und holte ihr Geld heraus.

„Wissen möcht ich ja schon, wozu du den Kram brauchst.“ Grinsend steckte Ronny das Geld ein. „Willst du ’ne neue Karriere als Domina starten?“

„Wenn du dich als Übungsobjekt zur Verfügung stellst, denk ich drüber nach.“ Sanne stand auf. Ronny packte ihr Handgelenk.

„Hab ich Recht mit der Vermutung, dass du was planst, das nicht sämtliche Glocken vom Kirchturm läuten sollen?“

„Wüsste nicht, was ausgerechnet dich Arsch meine Pläne angehen!“, schnappte Sanne.

„Schweigen ist teuer.“

„Ich hab den ausgemachten Preis bezahlt und mehr gibt’s nicht.“ In Sannes Augen funkelte es gefährlich. Ronny grinste.

„Den Preis für die Ware, ja. Versiegelte Lippen kosten extra.“

„Vergiss es!“, fauchte Sanne, doch sie steckte ihre Börse nicht ein. Sie durfte nicht zulassen, dass der Scheißkerl möglicherweise plauderte, bloß aus Wut oder Rache. Auf keinen Fall! Sie starrten einander an, Ronny siegesgewiss, Sanne vor Zorn glühend.

„Ich warte“, sagte Ronny.

„Glaubst du, ich bin ’n Ölscheich? Ich hab keine Kohle mehr“, log Sanne.

„Umso besser.“ Ronny zog sie ruckartig ein Stück näher an sich heran. „Ich will sowieso kein Geld. Sondern … Naturalien, gewissermaßen …“ Und seine zweite, freie Hand fasste frech nach Sannes Hintern.

„Hau ab! Arschloch!“ Sanne riss sich los, brüllte ihm ins Gesicht, ohne Rücksicht auf zwei Passanten, die entsetzt herübersahen und schnell weitergingen. „Verpiss dich oder ich kratz dir die Augen aus!“ Die Finger der Linken zu Krallen gekrümmt, zog sie ihm die Hand über die Wange, bis er aufschrie.

Kochend vor Wut drehte sie sich um und marschierte fort, ohne ihren blutenden Geschäftspartner auch nur eines einzigen weiteren Blickes zu würdigen. Und so entging ihr die obszöne Geste, die Ronny hinter ihrem Rücken machte. Ebenso wie sein gieriger und zugleich hasserfüllter Blick, sowie sein zwischen zusammengepressten Lippen hervorgestoßener Schwur: „Du kommst mir nicht aus, Mädel! Eines Tages wirst du bezahlen, das garantier ich dir!“

Liebe Julia, schrieb Mira, kannst du verstehen, dass ich mich überhaupt nicht auf die zwei Wochen Urlaub freue? Wahrscheinlich bin ich nicht normal. Alle meine Bekannten meinen, ich hätte das große Los gezogen. Wellness-Hotel Parisia, meine Friseurin konnte es kaum glauben! Fünf Sterne, französischer Gourmet-Koch, eine Spa-Landschaft von der gefühlten Größe des Mittelmeers – und das alles mit einer Kreditkarte, die einen Freibrief für jede Anwendung bietet, die ich mir gönnen will. Niemand würde mir glauben, dass ich ein einfaches Quartier vorziehen würde.

Ich hab die Friseurin – Elke heißt sie und wird so Mitte zwanzig sein – gefragt, wo sie ihren nächsten Urlaub verbringen wird. In Lignano, sagte sie, am Meer. Zusammen mit ihrem Freund. Auf einem Campingplatz mit einer fetzigen Disco. Fetzig, so hat sie sich ausgedrückt, obwohl ich vermute, dass das Adjektiv besser auf die in dem Etablissement gespielte Musik passen würde. Sie beneidet mich, hat sie behauptet, aber ich glaube nicht, dass das stimmt. Ich hab ihre Augen nur im Spiegel gesehen, aber ich hatte den Eindruck, dass sie glücklich war, als sie von Lignano erzählte. Sie muss schon vier oder fünf Mal dort gewesen sein. Sie weiß genau, in welche Pizzeria sie am ersten Abend gehen möchte, welches Antimückenmittel am besten gegen die winzigen italienischen Mücken hilft, und dass sie auch wieder den Zoo in der Nähe der Stadt besuchen will. Es klang alles, als wäre sie sicher, dass sie eine tolle Zeit erleben wird.

Gestern habe ich im Café zufällig zwei fremde Frauen über ihre Urlaubspläne reden hören. Ich hab so getan, als würde ich lesen, aber mein Buch war keine spannende Geschichte, sondern eine Lovestory mit einer ziemlich vorhersehbaren Handlung. Also habe ich lieber gelauscht, obwohl der Anstand das Lauschen verbietet.

Die erste Frau wollte mit ihren Kindern Ferien auf dem Bauernhof machen, im Allgäu. Naja, etwas Derartiges käme bei meinen Allergien sowieso nicht in Frage, das ist klar. Aber es hörte sich irgendwie reizvoll an. Gemütlich. Die andere hat erzählt, dass ihr Mann unbedingt nach Schweden wolle. Ihr sei das Land eigentlich zu kalt, aber im Süden wären sie im letzten Sommer gewesen, also würde sie ihrem Mann zuliebe in den Norden fahren.

„Schweden …“ Die Stimme der Frau wurde leiser, Julia, während die Bilder in meinem Inneren immer deutlicher wurden. Bilder, wie ich sie aus Filmen und Büchern kenne: Rote Häuschen in grüner Landschaft. Schneebedeckte Berge, die sich in stillen Seen spiegeln. Lange Küsten und felsige kleine Inseln. Elche, die gemächlich einsame Straßen überqueren. Rentiere, die in riesigen Herden weiden, von samischen Hirten bewacht. Schweden muss schön sein, so schön!

Aber Gerhard will nicht nach Schweden. Weil dort keins seiner Lieblings-Golfreviere liegt. Und er infolgedessen keinen seiner Golf-Kumpel dort treffen kann.

Dabei sehne ich mich danach, einfach in die Natur zu fahren! Am liebsten Hunderte von Kilometern weit weg. Nach Schweden oder nach Norwegen, zum Beispiel. Oder gar bis in die Sahara. Ich hab neulich einen Film gesehen, über die perfekt angepassten Tiere, die in der Wüste leben. Füchse mit langen Ohren, die man Fenneks nennt, etwa. Solche möchte ich gern mal sehen.

Aber natürlich wäre ich auch mit Lignano hochzufrieden. Ich stelle es mir hübsch vor, an einem Strand entlangzulaufen und Muscheln zu suchen. Das würde mir reichen, Muscheln zu sammeln, tagelang. Weiße Muscheln, rosafarbene, graue. Schwimmen? Ich weiß nicht, vielleicht ist mir das im Meer zu gefährlich, wegen der Haie und Feuerquallen und so. Aber andrerseits, alle Leute gehen an der Adria schwimmen. Wahrscheinlich bin ich zu schwarzseherisch und ängstlich. Dr. Lutz meint, das könne mit meiner Depression zusammenhängen, aber davon habe ich dir schon oft genug erzählt.

Fast jede Frau aus meiner Bekanntschaft macht tolle Urlaube, solche, auf die sie sich freut, und von denen sie hinterher ewig erzählt. Nur ich weiß nie, was ich erzählen soll. Je mehr wir in diese Wellness-Hotels fahren, umso ähnlicher kommen sie mir alle vor. Und langweiliger. Warum ist das so, dass ich nie woanders hinkomme, dahin, wo ich wirklich hinfahren möchte? Weshalb darf ich nie frei und beschwingt durch die Meeresbrandung laufen, nie den nassen Sand eines Strandes unter meinen Füßen spüren? Das Geld dafür hätte Gerhard doch. Ich weiß, ich sollte mich nicht beklagen, andere Frauen haben keine Möglichkeit, mal aus ihrem Alltagstrott zu kommen. Aber ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass das alles sein soll, was das Leben mir bieten kann, jetzt und in alle Ewigkeit: Spaziergänge und Kosmetikerinnen. Tee mit der Schwiegermutter und ihrer Kartenspiel-Clique. Angst vor den Tagen, Angst vor den Nächten. Und Träume. Solche, die nie in Erfüllung gehen. Es muss mehr geben, auch für mich, aber wie soll ich es finden?

Ich wünschte, du wüsstest eine Antwort, Julia. Aber ich fürchte, dass du mir nicht helfen kannst. Trotzdem. Wenigstens darf ich mit dir über alles reden, ohne dass du lachst.

Alles Liebe

Mira

„Spiel was von Bach“, sagte Gerhard vom Sofa her. Mira hasste Bach. Viele mochten ihn für einen großartigen Musiker halten, aber sie bevorzugte Vivaldi und Chopin. Doch sie sagte nichts, sondern setzte sich gehorsam an den weißen Flügel, eins der teuersten Geschenke, die Gerhard ihr jemals gemacht hatte.

„Meine Schwiegertochter weiß gar nicht, was sie an Gerhard hat“, erzählte Gertrude Oltmann regelmäßig bei ihren Donnerstags-Teestunden. Und Mira senkte dann den Kopf, weil die ganzen alten Frauen sie missbilligend anstarrten und die Köpfe mit den perfekten Dauerwellen schüttelten. „Mein Sohn trägt sie auf Händen“, sagte Gertrude, „manchmal kann ich gar nicht mit ansehen, wie er sie verwöhnt.“

„Nicht so schnell“, mahnte Gerhard. „Bach muss man zelebrieren, nicht durchhetzen.“

„Entschuldige“, murmelte Mira. Bestimmt hatte Gerhard Recht. Sie neigte dazu, Bach zu flott zu spielen, um den Flügel rascher schließen zu können. „Gerhard hat das absolute Gehör und ein Gespür für Rhythmen wie kein zweiter.“ Auch einer von Gertrudes Sprüchen. ‚Warum kann er nicht selbst spielen‘, fragte sich Mira insgeheim. ‚Wenn er angeblich früher so perfekt am Klavier war?‘

„Dir zuzuhören ist entspannend. Zumindest, solange du die Tempi einhältst.“ Es war das größte Lob, das sie von Gerhard erhoffen durfte.

‚Warum hören die Leute zu, wenn ich spiele, aber niemand hört, wenn ich weine?‘, fragte sich Mira, doch wie so vieles sprach sie es nicht aus. Gesprochene Worte beschworen nur Konflikte herauf, und Mira mochte keine Konflikte. Sie machten sie nervös. Erneut legte sie die Finger auf die Tasten und konzentrierte sich auf Bach.

Später stand sie am Fenster und strich über die samtigen Blätter ihrer geliebten Alpenveilchen auf dem Blumentisch. Gerhard war vor dem Fernseher eingeschlafen, und Mira hatte das Gerät vorsichtig leiser gestellt, um ihn nicht zu wecken. Vielleicht, mit viel Glück, würde es ein friedlicher Abend werden.

Sanne liebte den Juni. Weil er der Monat war, in dem sich die Tage am längsten dehnten und der gesamte Sommer wie das Versprechen künftiger Freuden vor ihr lag: Baden im Thumsee, Wandern im Naturpark Untersberg oder Klettern am Watzmann-Massiv. ‚Endlose Stunden auf einer grünen Alm liegen und Mond und Sterne aufgehen sehen … Sommer ist megaklasse‘, dachte sie, während sie aus der Stadt wanderte und einen der wenigen Pfade einschlug, der von den Touri-Schwärmen verschont blieb, weil er nicht markiert war. Im Gegensatz zu den dämlichen Touris fand sich Sanne auch ohne Farbkleckse, Wanderroutennummern, Magnetkompass oder piepsenden GPS-Kästchen in den Bergen zurecht – sie verlief sich nie. Wahrscheinlich hatte sie den ausgezeichneten Orientierungssinn ihres Vaters geerbt, der angeblich, also seinen eigenen Worten nach, früher ein begehrter Bergführer gewesen war. Früher. Vor dem Unfall. Vor dem Absturz an der Südspitze-Ostwand des Watzmanns, der ihn das rechte Bein gekostet hatte. Seither ging der Vater nicht mehr in die Berge, hockte tagaus, tagein in der unaufgeräumten Wohnung, in der sich das dreckige Geschirr in der Küche auf dem Fußboden stapelte, und soff. Oder er beschimpfte seine Tochter, wenn sie ihn, was selten genug vorkam, besuchte. Früher, in ihrer Kindheit, hatte er sie gelegentlich geprügelt, bis sie mit dreizehn Jahren endgültig abgehauen und schließlich im Heim gelandet war.

Gemächlich stieg Sanne zu der Schutzhütte oberhalb der Stadt hinauf und dachte dabei an die blonde Tussi, die sie vor dem Kosmetiksalon beobachtet hatte. ‚Mira Oltmann, High Snobiety. Beruf: Ehefrau. Hobby: Geldrauswerfen. Wie viele Kreditkarten die wohl im Handtäschchen mit sich schleppte? Die kaufte bestimmt jeden Scheiß, den man in der Werbung sehen konnte. Oder nein, der Kram war ihr wahrscheinlich nicht edel genug.‘ Sanne versuchte sich vorzustellen, wie Mira Oltmann in der teuersten Boutique der Stadt Kleider anprobierte, und zwischendurch die verschiedensten Erfrischungen angeboten bekam, bis hin zum Gläschen Sekt, damit die Schwerstarbeit des An- und Ausziehens ihre zarte Konstitution nicht überforderte. Verächtlich kräuselte Sanne die Lippen. Die Oltmann war genau die Sorte Zicke, die Sanne hasste. Und Hass war die einzige Disziplin, in der Sanne absolute Perfektion erreichte. Weil sie im Hassen Übung hatte, tonnenweise Übung.

Als Sanne die Schutzhütte erreichte, ließ sie ihren Rucksack von den Schultern gleiten. Ein teurer Marken-Backpack, aber der Typ, dem das Ding ursprünglich gehört hatte, verdiente mit Sicherheit genug Kohle, sich Ersatz zu beschaffen. Hoch über dem Saalachsee war er rumgeklettert, am Waxries, die Angeber-Videokamera in der Hand und total high von dem Bergpanorama ringsum. Immer weiter hatte er sich von seinem Backpack entfernt, auf der gierigen Suche nach dem nächsten, dem ultimativen Motiv. Sanne war ganz cool hinspaziert, hatte sich den Rucksack mit dem darüber geschnallten Schlafsack aufgeladen und war mit ihrer Beute über die Berg-Rückseite abgestiegen, Richtung Rötelbach-Alm. Nicht einmal besonders schnell.

Seither besaß sie nicht bloß einen wunderbar warmen Daunenschlafsack und einen stabilen, wetterfesten Rucksack, sondern zudem eine ganze Latte weiterer nützlicher Dinge, die sie im Innern des Backpacks gefunden hatte: eine zu große Regenjacke etwa, und einen wunderbar warmen, grauen Kaschmir-Herrenpullover, dessen Ärmel so lang waren, dass Sanne selbst im frostigsten Winter oft keine Handschuhe brauchte, wenn sie ihn trug. Zudem ein klappbares, überraschend leistungsstarkes Fernglas, einen Höhenmesser, ein Erste-Hilfe-Set und ein Schweizer Taschenmesser mit einundzwanzig Funktionen. Säge, Feile, Dosenöffner, Minischere zum Nägelschneiden – Sanne hütete das Ding wie einen Schatz. Wann immer sie in die Stadt hinabstieg, verbarg sie Schlafsack und Rucksack in einer niedrigen Höhle unter einem Felsen, deren ohnehin im Gestrüpp kaum sichtbaren Eingang sie sorgfältig mit Ästen tarnte. Denn im Gegensatz zu dem bescheuerten Touri, der ihr den Backpack unfreiwillig vererbt hatte, achtete Sanne auf ihre Sachen.

An diesem Abend breitete sie den Schlafsack vor der Schutzhütte aus; wann immer das Wetter es erlaubte, schlief sie lieber unter dem samtenen Himmel als in jedem Gebäude. Im lichten Bergwald schimmerten einzelne Sterne durch die Bäume. Erst hier, fernab der Stadt, fernab der Menschen, löste sich die Spannung in Sannes Körper und sie bemerkte, wie sich ihre den Tag über verkrampften Muskeln lockerten. In der Stadt hieß es ständig wachsam sein, aufpassen. Achtgeben, dass man den Bullen nicht unangenehm auffiel, achtgeben, wenn man Ronny und dessen dämliche Kumpel traf, achtgeben, dass man nicht selbst beklaut wurde. Sie musste achtsam sein wie ein gejagtes Tier. In den Bergen dagegen … Sanne lächelte den Sternen zu und dachte bei sich, dass sogar das Lächeln in der Stadt anders war. Härter. Kälter. Wenn die Leute denn überhaupt lächelten. Meistens hetzten sie nur von einem bescheuerten Termin zum nächsten: Friseur, Business-Konferenz, Grippeimpfung, Geschäftsessen, Autoinspektion, Fortbildungskurs. Und plötzlich Herztod und Friedhof. Sollte das das Leben sein? Da wusste Sanne Besseres mit ihrer Zeit anzufangen. Zeitgleich mit der Dunkelheit breitete sich der nächtliche Friede des Waldes über sie und als Sanne endlich einschlief, verharrte ein Rest des Lächelns auf ihrem Gesicht.

Mira fragte sich, warum sie überhaupt ein Geschenk kaufen musste. Gerhard würde seiner Mutter ohnehin wieder eine Perlenkette, einen Smaragdanhänger oder sonst etwas Teures mitbringen. Aber Gertrude erwartete an ihrem Geburtstag immer zusätzlich eine „Kleinigkeit“ von ihrer Schwiegertochter, wenn auch nur, um hinterher daran herumkritteln zu können. Letztes Jahr hatte Mira ihr ein Buch geschenkt, einen Roman, der Mira ausgezeichnet gefallen hatte. Er handelte von drei Freundinnen, die gemeinsam zu einem Töpferkurs in die Provence aufbrachen. Mira hatte das Buch vor allem wegen der unverbrüchlichen Freundschaft der drei Protagonistinnen geliebt, die auch die diversen im Buch erscheinenden Männer letztendlich nicht zerstören konnten. Doch ein halbes Jahr später stand das Buch nach wie vor ungelesen in Gertrudes oberem Flur, als ständige Anklage an die Schwiegertochter, die das absolut falsche Geschenk ausgesucht hatte.

Ob sie diesmal einfach einen üppigen Blumenstrauß besorgen sollte? Mira blieb vor dem Laden ihres Lieblingsfloristen stehen. Oder wie wäre es mit einer Orchidee? Die blaue etwa, die sie durch das Fenster sehen konnte, war einfach zauberhaft. Aber Gertrude und Orchideen? Mit einem Anflug von Humor dachte Mira, dass sie das der zarten Pflanze nicht antun durfte. Die würde Gertrude tagaus, tagein ertragen müssen.

„Mira! Mira Oltmann! Wie schön, dich zu treffen!“

Langsam wandte Mira den Kopf. Sie hatte die Stimme sofort erkannt. Die Stimme von Kati Hellmeier. Kati war die Tochter von Gertrudes Busenfreundin und hatte Mira nie besondere Zuneigung entgegengebracht, was auf Gegenseitigkeit beruhte. Im Gegensatz zu Mira war Kati allerdings Single und hatte einen Beruf. Sie arbeitete für ein Tagungshotel, das diverse Firmenevents organisierte, und war in ihrer Freizeit vor allem eins: unendlich neugierig.

„Stimmt’s, dass ihr Urlaub im Parisia machen werdet?“, fragte sie gleich, um sich das neueste Gerücht bestätigen zu lassen. Dabei hängte sie sich bei Mira ein, als seien sie die allerbesten Freundinnen. „Wollen wir zusammen einen Cappuccino trinken? – Übrigens, kennst du meinen Cousin? Simon ist der neue Filialleiter von der Buchhandlung in der Rinckstraße.“ Vage wedelte sie in Richtung eines jungen Mannes, der mit ihren Einkaufstüten beladen hinter ihr her trottete.

Normalerweise hätte sich Mira mit einer Ausrede vor dem gemeinsamen Kaffeetrinken gedrückt, aber da die Alternative war, weiter nach einem Geschenk für ihre Schwiegermutter zu suchen, schüttelte sie verlegen die Hand des fremden Mannes und ließ sich von Kati zu einem der zierlichen weißlackierten Stühle vor dem Eiscafé dirigieren.

„Das Parisia muss ein Traum sein, du musst mir unbedingt erzählen, wie’s war! Angeblich gibt’s da Suiten mit eigener Sauna und allem!“ Kati war bestens informiert.

„Sauna ist nichts für mich“, hörte Mira sich sagen. „Das hält mein Kreislauf nicht aus.“

Kati brach in wie immer so lautes Lachen aus, dass die anderen Gäste irritiert herübersahen. Simon Hellmeier, ein unscheinbarer junger Mann mit großen Händen, sandte Mira einen mitfühlenden Blick.

„Sag bloß, du willst da gar nicht hin!“ Mit befehlsgewohnter Geste winkte Kati den Kellner herbei.

„Ich war noch nie in der Sahara“, sagte Mira, mehr zu sich selbst. „Und nicht einmal in Schweden.“

Kati klappte den Mund auf und gleich wieder zu. Ausnahmsweise verschlug es ihr die Sprache.

„Du würdest lieber nach Schweden als ins Parisia?“, vergewisserte sie sich endlich. „Mensch, in Schweden ist’s das ganze Jahr kalt und wenn du Pech hast, schüttet’s auch noch wie aus Badewannen. ’Ne Freundin von mir ist grade von dort zurück, die hat gesagt, sie will nie wieder nach Schweden, duschen kann sie daheim billiger. Und wärmer.“

„Ich möchte trotzdem dorthin.“ Mira hatte plötzlich die Bücher ihrer Kindheit im Kopf. Wir Kinder aus Bullerbü. Ferien auf Saltkrokan. Und natürlich Pippi Langstrumpf. Verdankte sie es Astrid Lindgren, dass sie in Schweden ein Paradies vermutete, dass es nirgendwo sonst auf der Erde gab?

„Und Sie haben Recht, hören Sie nicht auf meine Cousine.“ Simon Hellmeier bestellte einen Latte Macchiato; er hatte eine angenehm warme Stimme. „Schweden ist wundervoll. Ich verbringe fast jeden Sommer ein paar Wochen in Skandinavien. Mitternachtssonne, stille Seen … das Land ist ein Traum!“

„Wenn dir der Voucher fürs Parisia lästig ist, kannst du ihn mir jederzeit rüberwachsen lassen“, kicherte Kati. „Aber alle werden dich für verrückt halten. Hast du im Internet die Liste der Massagen gesehen, die die anbieten? Und die Bäder! Ich würd als erstes das Rosenbad buchen, oder das Kleopatra-Bad. War das nicht eins mit Eselsmilch?“

Mira schwieg und ließ die anderen reden. Stillhalten. Schweigen. Unauffällig sein. Es war die einzige Strategie, über die sie verfügte, um unangenehme Situationen zu ertragen. Auch bei ihrer Schwiegermutter. Und überhaupt. Stillhalten und schweigen, bis alles Hässliche, Angsteinflößende vorüberging. Aber es waren ärmliche Waffen, soviel wusste sie.

Erst als der Kellner die Getränke brachte, sah Mira wieder auf – und direkt in Simon Hellmeiers graue Augen, in denen sie zweierlei las: amüsierte Nachsicht gegenüber Katis losem Mundwerk und etwas, das Mira nicht definieren konnte. Oder nicht zu definieren wagte.

Kapitel 2

Sanne beobachtete aus der Ferne, wie die blondgelockte Zicke im Haus der Gesichtsrenoviererin verschwand. Nun hatte Sanne eine Stunde Zeit. Eine letzte Stunde, in der sie noch einmal überlegen konnte, ob sie den Plan wirklich durchziehen wollte. Eigentlich war alles längst entschieden. Und bis ins Detail vorbereitet. Sanne rief sich die dunkelsten Stunden ihres Lebens in Erinnerung, die Todesangst im letzten Winter, und ihr Hass loderte auf wie ein heiliges Feuer, dessen gierige Flammenzungen nach einem Opfer schrien. Nach Vergeltung. Rache. Auge um Auge, Zahn um Zahn, Blut um Blut. Stand das nicht sogar in der Bibel?

Warm brannte die Sonne vom Himmel. Sannes Jacke war zu dick für den Tag. Nachdenklich sah Sanne sich um. Sie hatte wenig Lust, in der prallen Sonne zu warten. In dem Haus, das dem der Kosmetikerin schräg gegenüber lag, dem einzigen anderen Gebäude in dieser Einöde, waren die grünen Jalousien herabgelassen, Restmüll- und Papiertonne standen in der Einfahrt, obwohl die Abfuhr erst in der nächsten Woche kommen würde. Alles sichere Zeichen dafür, dass die Bewohner in die Pfingstferien aufgebrochen waren. Eine kurze Weile noch blieb Sanne sitzen und beobachtete die stille Straße, ehe sie flink über das niedrige Tor in den Garten des verlassenen Hauses kletterte.

Drinnen, unter halbhohen Apfelbäumen mit vollem Laub, war es schattig und kühl. Sanne legte sich ins Gras und beobachtete die Ameisen, die die Hitze nicht zu spüren schienen und einem nur für sie sichtbaren Pfad folgten. Nach einer Viertelstunde jedoch wurde ihr das Liegen langweilig – oder war sie vielleicht nervös? Jedenfalls stand sie auf und begann, ihre Umgebung genauer zu untersuchen. Der hölzerne Gartenpavillon hinter dem Haus war nicht abgesperrt. Sanne trat hinein und zog die Tür vorsichtig hinter sich zu. Offenbar gehörte das Haus einer Familie mit kleinen Kindern:

Ein Trettraktor mit schmutzigen Rädern ruhte sich im Dämmerlicht aus, an einem Nagel hing eine Dartscheibe, daneben eine Kappe mit dem aufgedruckten Logo einer Fast-Food-Kette. Am Boden ein Rasenmäher, im Eck aufgereiht Bambusstäbe, Tomatenspiralen, Spaten, Rechen und weitere Werkzeuge. Sanne entdeckte eine Rolle grünen Blumendraht, die sie in die riesige Leinentasche schob, die sie über der Schulter trug. Nach kurzem Nachdenken steckte sie auch die Kappe ein. Und ein paar der Dartpfeile. Die Scheibe war fast zu sperrig, doch mit einiger Mühe schaffte es Sanne, sie in die Tasche zu zwängen. Mit dem Zeug konnte man eine Menge Spaß haben und es würde ihr in den nächsten Tagen die langen Stunden bei der Almhütte verkürzen. Versuchsweise zielte Sanne mit einem der übrigen Pfeile auf eine Gießkanne und warf. Zitternd blieb die Metallspitze in dem grünen Plastik stecken. Zufrieden zog Sanne den Pfeil heraus und versenkte ihn ebenfalls in der Tasche.

Sie verließ die Gartenhütte und wanderte weiter um das Haus, zu der mit grauweißem Marmor belegten Terrasse, die eine Vielzahl Blumenkübel mit mediterranen Pflanzen zierte: Zitronenbäumchen, Bougainvillea, Rosmarin, Lavendel, Thymian. Sanne kannte die Namen der Pflanzen, seit sie vor zwei Jahren aushilfsweise im örtlichen Gartencenter gearbeitet hatte. Es war einer der wenigen Jobs gewesen, an denen sie Spaß gefunden hatte, obwohl sie fast nichts verdient und der knurrige Chefgärtner kaum drei Worte pro Tag an sie gerichtet hatte. Fast liebevoll zupfte Sanne ein paar verwelkte Blüten von der Bougainvillea und warf sie unter die Ligusterhecke. Wer Blumenkübel auf der Terrasse stehen lässt, wenn er in Urlaub fährt, beauftragt normalerweise jemanden, gelegentlich vorbeizuschauen und die Pflanzen zu gießen, fiel ihr dabei ein. Putzfrau, Freund, Arbeitskollege, irgendwen halt. Sanne richtete sich auf und fasste unter die Fußmatte vor der Terrassentür: nichts. Nachdenklich schob sie die Unterlippe vor und blickte sich um. Rattan-Stühle, zwei Liegen ohne Auflagen, in einem leeren Kübel ein paar grüne Handschuhe aus robustem Baumwollstoff. Sanne fühlte in die Handschuhe und hätte fast gelacht: natürlich! Die Hausschlüssel. Leider hatte sie nicht genug Zeit, in das Haus hineinzugehen und die einzelnen Zimmer nach Wertsachen zu durchstöbern, aber vielleicht war das besser so. Wegen ein paar verschwundener Dartpfeile würde niemand die Polizei einschalten. Wegen Einbruchs schon.

Trotzdem verspürte Sanne den Wunsch, den Hausbesitzern wenigstens zu zeigen, wie idiotisch sie ihr Versteck gewählt hatten. Die Schlüssel in der Hand ging sie zu dem hübschen, mit Miniaturbambus eingefassten Teich, aus dem ihr drei fette Goldfische erwartungsvoll entgegenblickten. Ein Lächeln umspielte Sannes Lippen, als sie den Arm ausstreckte und die Schlüssel in das trübe Wasser plumpsen ließ.

„Jetzt seid ihr zu Gralshütern geworden“, erklärte sie den enttäuschten Fischen, die gewiss auf Futter gehofft hatten. Zehn Minuten später saß sie wieder auf dem Gehsteig der stillen Straße und wartete.

„Schönen Urlaub, Frau Oltmann“, rief die Kosmetikerin hinter der letzten Kundin des Tages her, aber Mira gab vor, nicht zu hören.

‚Von wegen schöner Urlaub‘, hätte sie am liebsten zurückgeschrien. ‚Nicht schön für mich, jedenfalls. Gerhard wird von morgens bis nachmittags Golf spielen, und abends darf ich mir haarklein anhören, wie sich jeder einzelne Ball bei jedem einzelnen Abschlag verhalten hat, und welcher Spieler mit welchem Handicap antritt. Zwischendurch langweile ich mich in den Schönheitsbädern oder auf der Sonnenterrasse. Und wenn ich ganz viel Pech habe, kommt sein alter Schulfreund mit dieser redseligen Frau. Gerhard wird erwarten, dass ich mich mit der dummen Gans anfreunde, die nie über etwas anderes redet als über ihre Prunkvilla am Starnberger See und die antiken Möbel darin. Ich wünschte bei Gott, die würde alle der Holzwurm fressen!‘ Mira fühlte sich so kreuzunglücklich, dass sie die fremde Frau diesmal gar nicht bemerkte. Doch plötzlich klopfte ihr jemand von hinten auf die Schulter. Erschrocken fuhr Mira herum.

Da stand sie wieder, die Fremde. Diesmal mit einem halben Lächeln auf den mit Lila bemalten Lippen. Trotzdem trat Mira vorsichtshalber einen Schritt zur Seite. Man hörte und las so viel über geschickte Trickdiebe, die einen anrempelten oder ansprachen und einem nebenbei die Geldbörse stahlen. Gerade jetzt, in der Urlaubszeit, trieben sich solche Typen wieder verstärkt in der Gegend herum. Vielleicht war die Fremde auch eine Diebin? Mira senkte den Kopf und wollte stumm weitergehen, doch die fremde Frau verstellte ihr den Weg.

„Tag, Frau Oltmann“, sagte sie munter.

‚Woher weiß sie meinen Namen?‘, fragte sich Mira. Ich kenne sie nicht. ‚Oder hab ich sie vielleicht früher mal getroffen, als sie ganz anders aussah?‘

„Haben Sie ’nen Augenblick Zeit? Bloß kurz?“ Katzengrüne, leicht schräg stehende Augen zeigten sich, als die Fremde die Sonnenbrille abnahm und in ihr Haar steckte. Mira hatte sich immer solche Augen gewünscht. Ihre eigenen waren langweilig grau. Wie Beton, der jede Menge Geheimnisse unter sich begrub, gute und schlechte, für immer und ewig.

Mira schwieg weiter, unsicher, wie sie sich verhalten sollte.

„Ach so, ich hab nicht mal gesagt, wie ich heiße. Ich bin die Sanne. Sanne Reitler.“ Der dicke Strass-Stein in der Nase der Fremden funkelte im Licht. Er erinnerte Mira an indische Märchen, die sie gelesen hatte, an anmutige Frauen, die durch Palastgänge huschten, geschmückt für die Begegnungen mit ihren Prinzen. Fasziniert starrte Mira auf das grüne Glitzern, obwohl die fremde Frau ansonsten weder indisch noch märchenhaft wirkte.

„Was wollen Sie von mir?“ Mira hasste es, wie furchtsam ihre Stimme klang. ‚Nervös. Wie das Quaken eines Frosches, der darauf wartet, seziert zu werden‘, dachte sie.

„Ich mach da dieses Projekt. Für eine Obdachlosenzeitung. Eine Fotocollage, lauter Bilder von Mädchen und Frauen. Ich hab Sie ein paar Mal dort drüben rauskommen sehen.“ Sanne gestikulierte in Richtung von Frau Benders Haus. „Sie haben exakt die Ausstrahlung, die ich suche. Ich würd gern ein paar Fotos von Ihnen schießen.“

Ungläubig starrte Mira die Sandlerin an. Ausstrahlung? Was für ein Quatsch! Mira hatte null Ausstrahlung, hatte nie welche gehabt, das wusste sie genau. Sie, mit dieser starken Brille, die ihre Augen zu Schweinsäuglein verkleinerte, mit den dürren Beinen, dem knabenhaft mageren Körper, der kaum den Ansatz eines Busens zeigte. Und mit ihrer Schüchternheit und den dauernden Depressionen schaffte sie es auch nicht, körperliche Mängel durch Witz und Charisma auszugleichen. Machte diese Frau sich über sie lustig? Mira fühlte, wie Sanne ihren Arm packte.