Hotel Istanbul - Fritz Schaap - E-Book

Hotel Istanbul E-Book

Fritz Schaap

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Beschreibung

Unmittelbarkeit, Risiko, Authentizität

Das Hotel Istanbul und die Bar ohne Namen liegen nur einen Steinwurf von der syrischen Grenze entfernt. Dort treffen sich alle, die Interesse am Krieg haben: Wijbe, der als holländische Ein-Mann-NGO Wolldecken ins Kriegsgebiet schmuggelt. Zwei Briten, die Selfies mit Krieg posten wollen. Der Schweizer Raimondo, genannt „the Kid“, dem es zu Hause viel zu langweilig ist. In der Lobby dieser „Zentrale des Wahnsinns“ sitzt der Hacker Ahmed, der die Trips an die Front organisiert, und spielt mit einem Miniroboter.

Fritz Schaap sucht die raue, dunkle Seite unserer Gegenwart. Er findet sie an den Schauplätzen unserer Alpträume im Nahen Osten und in Nordafrika. Die Geschichten, die er dort aufspürt, erzählen von einem Leben in der Region jenseits der alltäglichen Fernsehbilder – von Kriegstouristen, denen der Erzähler an der syrischen Grenze begegnet, von „Heiligen Trinkern“ in Gaza, vom schwulen Palästinenser Saleh aus Tel Aviv. Schaap zieht mit seinem regimekritischen Freund Husam durch das Damaszener Nachtleben und trifft Menschenhändler im Sinai. Kurz vor dem Arabischen Frühling liebt, trauert und trinkt er sich durch Kairo, und in Alexandria schreibt er sich an einer Salafistenschule ein, die Nachwuchsgotteskrieger aus dem Westen ausbildet.

In sieben Stories erzählt Fritz Schaap von Menschen im Nahen Osten und von einer Region im Umbruch, die gerade das Weltgeschehen prägt.

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EPUB

Seitenzahl: 345

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Über das Buch:

Unmittelbarkeit, Risiko, Authentizität. Fritz Schaap sucht in seinen Stories die raue, dunkle Seite unserer Gegenwart. Er trifft sie an den Schauplätzen unserer Alpträume im Nahen Osten und in Nordafrika. Mit Kriegstouristen hängt er an der syrischen Grenze ab, besucht Schnapsbrenner in Gaza, zieht durch das Damaszener Nachtleben, redet mit Menschenhändlern im Sinai und trifft einen schwulen Palästinenser in Tel Aviv. Er liebt, trauert und trinkt sich durch Kairo und lebt mit Nachwuchsgotteskriegern in Alexandria. In Hotel Istanbul erzählt der preisgekrönte Reporter Fritz Schaap sehr persönlich von Begegnungen mit Menschen in einer Region, die gerade das Weltgeschehen prägt.

Über den Autor:

Fritz Schaap, 1981 in Berlin geboren, studierte erst Literatur- und Kommunikationswissenschaften, später Journalismus und Islamwissenschaften in Leipzig und Berlin, Damaskus und Alexandria. Er arbeitet als Reporter für DIE ZEIT, den Spiegel, das SZ-Magazin, die NZZ und viele andere mehr. Für seine Reportagen wurde er mit dem CNN Award, dem Deutschen Journalistenpreis, dem Medienpreis der Kindernothilfe und dem Prälat-Ungar-Preis ausgezeichnet.

Fritz Schaap

Hotel Istanbul

Stories

Knaus

Den Geschichten, die ich in diesem Band erzähle, liegen reale Ereignisse und Begegnungen zugrunde, wie ich sie auf Reisen in den Nahen Osten zwischen 2008 und 2014 erlebt habe. Anders als bei meinen Reportagen über diese Reisen, die zum Teil in der Zeit, in der Welt am Sonntag sowie im Zeit-Magazin veröffentlicht wurden, erlaube ich mir in den vorliegenden Stories fiktionale Elemente. Die Reisen fanden in folgenden Jahren statt: Damaskus – 2008; Ägypten/Kairo – 2009/10; Alexandria – Herbst 2010; Tel Aviv – Frühling 2012; Sinai – Dezember 2012; Kilis – Januar 2013; Gaza – Mai 2013.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.1. Auflage

Copyright © 2017 beim Albrecht Knaus Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Schutzumschlag: Sabine Kwauka

Schutzumschlagmotiv: © shutterstock /shootarts und © shutterstock /repina valeriya

Satz: Vornehm Mediengestaltung GmbH, MünchenISBN 978-3-641-21681-8V001www.knaus-verlag.de

Für Jessica

Inhalt

Winter in Damaskus

Café Hurreya

Gotteskrieger auf Durchreise

Nicht einmal der Tod will mich haben

Todeswüste

Hotel Istanbul

Die heiligen Trinker von Gaza

Winter in Damaskus

Nach einem späten Dinner saß ich wieder in meinem Zimmer in Bab al-Salam, in unserem Haus in der kleinen Gasse, deren Namen mir nie jemand hatte nennen können. Es war ein wenig verfallen, leider nicht sehr komfortabel, besonders im Winter. Aber ich mochte den Springbrunnen und den Orangenbaum im Hof und meine kleine schiefe Kammer an der Galerie, von der ich den Hof überblickte und von deren Dach man weit über die Altstadt schaute. Das Haus war eine vom Alter gezeichnete Schönheit, das Erbe prachtvoller Zeiten, von denen diese Stadt über die Jahrhunderte so viele kommen und gehen gesehen hat.

Husams Typ kam erstaunlich spät. Das ganze Haus schlief bereits, als ich Husams müde Schritte auf der Treppe hörte, die von seinem Zimmer hinab in den kleinen Innenhof führte. Ich hörte, wie er die niedrige Metalltür öffnete, ich wusste, wie er vorsichtig in die dunkle Gasse hinausschaute. Er würde den Mann hereinlassen, der eine Kapuze trug, tief ins Gesicht gezogen. Die Tür wurde geschlossen. Ich schaute aus dem Fenster und sah, wie sie sich in eines der alten, ehemals prunkvollen Schlafzimmer setzten, die ebenerdig vom Hof abgingen. Wir legten dort gelegentlich bei Partys Musik auf. Hohe Räume mit dunkler, fast ins Schwarze gehender Holzvertäfelung und massiven Betten, die wir in die hinteren Ecken geschoben hatten.

Ich warf mir eine Jacke über. Es war eine klare Winternacht, Kälte und Feuchtigkeit hingen in meinem Zimmer, als hätte der leichte Nebel, der sich tagsüber in den Bergen gebildet hatte, die Mauern des Hauses infiltriert. Ich ging hinaus aus meiner Kammer und beobachtete meinen Atem, wie er in bedächtigen Wolken aufstieg. Das Bad mit dem defekten Boiler, die kleine baufällige Küche, die zwei großen Zimmer der Italiener und meine Kammer, wie ein Hufeisen schmiegten sie sich im ersten Stock um den Innenhof. Ich hatte gerade versucht, das Geschehen des Tages zu Papier zu bringen, als ich die leise Betriebsamkeit im Hof hörte. Ich trat auf die Galerie, welche die Zimmer umlief, und stolperte fast über die beiden Schildkröten, die mal wieder auf meiner Schwelle kopulierten.

Ein mattes Licht ging unten an und warf die zwei gebeugten Schatten der Männer auf den Springbrunnen unter dem Orangenbaum, der bis vor die Fenster meiner Kammer wuchs und der noch die alten vertrockneten Früchte des Herbstes trug. Im Hof wurde gemurmelt. Ich ging wieder hinein, zog mir einen Pullover unter die Jacke, nahm eine Kippe aus der Packung, setzte mich auf das Sofa auf der Galerie und rauchte, während Husam unten den Stoff kaufte.

Trotz der Kälte trug Husam nur ein T-Shirt. Das schlecht gestochene Tattoo zeichnete sich vage im Zwielicht auf seinem Unterarm ab. Ein fünfklauiger Drache, Symbol der chinesischen Kaiser. Seit Weihnachten war es nun kalt. So kalt, dass es Schnee gegeben hatte. Wir hatten beschlossen, den ausländischen Studenten, die die Nachmittage in ihren Zimmern neben kleinen Elektroheizern verbringen mussten, ein wenig Hasch zu verkaufen. Besser gesagt, Husam verkaufte. Er kannte sich damit aus, ich investierte.

»Es gibt keine Zukunft für dieses Land«, pflegte er zu sagen, »mir ist alles ziemlich egal.« Gute Voraussetzungen für halbseidene Geschäfte. Husam hatte damals schon jede Hoffnung für Syrien, und wie ich immer öfter fürchtete auch für sich, aufgegeben. Er lebte von Tag zu Tag, von Party zu Party, von Mädchen zu Mädchen. Ich wiederum brauchte einfach Geld, um weiter in der Stadt bleiben zu können. Mit dem mickrigen Honorar, das ich für den einen Artikel bekam, den ich monatlich für eine deutsche Tageszeitung schrieb, konnte ich gerade ein Drittel der 200 Dollar bezahlen, die meine Kammer an Miete kostete.

Husam hatte eine gute Zeit erwischt. Die Hisbollah brauchte nach dem 2006er-Krieg gegen Israel Geld und flutete den Markt mit Hasch aus dem Bekaa-Tal. Husam kaufte billig ein und verkaufte teuer an die ausländischen Studenten. Ich finanzierte den Kauf mit und machte dezent Werbung an der Uni. Mein Anteil waren 30 Prozent vom Gewinn. Das Geld reichte nicht für viel, aber für die Miete, Zigaretten und Bier. Unten verabschiedete Husam den Mann mit der Kapuze und kam zu mir auf die Galerie.

Wir setzten uns in mein Zimmer. Zwei Betten standen dort eng nebeneinander, und in die Ecke neben der Tür hatte ich einen kleinen Tisch gestellt, an dem ich schrieb. Mehr passte nicht hinein. Ich machte den neuen Elektroheizer an. In der Woche zuvor war mein altes Modell in Flammen aufgegangen, und nach langem Streit hatte mir mein Vermieter einen neuen gekauft, der nun ebenfalls keinen besonders vertrauenerweckenden Eindruck machte. Ich legte mir eine Decke um die Schultern. Durch die verzogenen Fensterrahmen drang mit dem Wind die Kälte herein. Wir setzten uns auf das Bett an der Rückwand, das mit dem gebrochenen Lattenrost, und Husam schob zwei gepresste Platten in Zellophan unter die Matratze. Dann riss er das Zellophan einer dritten Platte auf. Er hielt ein Feuerzeug an die Platte. Wir testeten den Libanesen. Es war vernünftiges Zeug. Husam aber war unruhig.

Husam. Auch wenn er gerade nicht depressiv war, seine Paranoia war immer zu spüren. Husams Fehde mit dem syrischen Staat zog sich, als ich ihn kennenlernte, bereits seit Jahren hin, durch sein ganzes Erwachsenenleben. Der Tag, an dem der Staat in sein Leben getreten war, war der Tag, an dem seine Kindheit geendet hatte.

Sie hatten ihn verhaftet, getreten, bespuckt, aber Husam hatte weitergemacht, weitergelebt. Und jedes Mal, bei jedem Aufeinanderprallen mit der Staatsmacht, ging etwas in ihm kaputt, gab es neue Risse. Er zog an der Tüte und wippte unruhig, fast manisch mit den Füßen. Es war gerade wieder einmal nicht sicher, ob er nicht doch noch zum Militärdienst musste.

Der Militärdienst war eine Abfolge von Erniedrigungen. Seinen Bruder hatten sie im vorherigen Winter so lange bei Nacht einen Berg hinauf- und hinunterrennen lassen, bis er zusammenbrach. Er hatte nur seine Unterhose tragen dürfen. Als er nach Wochen wiederhergestellt war, hatte er versucht, sich umzubringen. Husam hatte nicht vor, sich in die gleiche Situation zu begeben. Der einfachste Weg, sich dem zu entziehen, war Geld. Ein paar Tausend Dollar aufzutreiben war allerdings in Damaskus für jemanden, der das Gymnasium abgebrochen hatte wie Husam und dessen kriminelle Energie sich schon im Handel mit kleinen Mengen Drogen erschöpfte, nicht besonders einfach. Der andere Ausweg, den Wehrdienst zumindest aufzuschieben, war zu studieren. Dafür musste Husam sein Abi nachholen. Und so kam es, dass wir abends des Öfteren über Vektorrechnung, Elektrodynamik und derlei Dinge sprachen, während wir libanesisches Bier und Damaszener Arak auf unserem Sofa tranken. Besonders schnell kam er nicht voran, was ihn auch an diesem Abend, wie an so vielen anderen, stark beunruhigte.

In dieser Nacht, in meinem kalten Zimmer, während der Nordwind Wolken über die Stadt fegte, erzählte mir Husam das erste Mal von Laila. Jener Frau, mit der alles enden sollte. Ein Mädchen der Oberschicht, das er manchmal traf. »Man könnte sagen, dass sich Laila meldet, wenn sie Bewunderung braucht«, sagte er, nachdem er mir einen groben Abriss ihrer Affäre gegeben hatte, und es fiel ihm sichtbar schwer, sich einzugestehen, dass er nicht genug Stolz aufbringen würde, daraus die richtigen Schlüsse zu ziehen. Sie waren letzte Nacht im Marmar gewesen, erzählte er dann, und später noch im Abu George, dann waren sie zu ihr gefahren, in die riesige Wohnung hinten in Mezze, hatten gevögelt und ein bisschen Opium geraucht. Bei Sonnenaufgang hatte sie ihn rausgeschmissen.

Husam litt. Er hatte den halben Tag geschlafen, und die Postdrogendepression war wie ein Aufputschmittel für seinen Liebeskummer.

»Vergiss sie«, sagte ich zum wiederholten Mal. Und versuchte ihn mit weiteren Allgemeinplätzen auf andere Gedanken zu bringen. Dass er ihr von unserem kleinen Geschäft erzählt hatte, beunruhigte mich. Ich sagte aber nichts dazu. Später setzten wir uns trotz der Kälte aufs Dach meiner Kammer und rauchten. Ich schaute auf die grünen Neonröhren der Minarette der Umajaden-Moschee, die im Südwesten aus den labyrinthartigen Gassen ragten. Husam blickte gedankenverloren in Richtung des Berges. Seine strengen Gesichtszüge, die im Gegensatz zu seinen milden, müden braunen Augen standen, wirkten erschöpft. Er sah blass und ausgezehrt aus. Ein zunehmender Mond stand hoch über dem Jabal Qasiun, dem mächtigen braunen Berg, an dessen Hang sich Damaskus schmiegt. Wir rauchten noch eine Zigarette, schwiegen und schauten über die Stadt, die ruhig und klar unter uns lag, wie Drohung und Versprechen zugleich.

Am nächsten Morgen wartete ich, bis die Italiener ihren Espresso getrunken hatten, und stand dann auf. Ich sah sie nicht oft, meist waren sie in der Uni, oder sie saßen irgendwo und lernten. Wenn sie zu Hause waren, hörte man sie eher, als dass man sie sah. Husam saß mit einer abgegriffenen Kopie der Fleurs du mal auf dem Sofa in der Sonne, als ich gerade das Haus verlassen wollte, um mit Tom die Party am Abend zu organisieren.

*

Husam war nicht immer so fatalistisch gewesen. Er hatte das ehemalige französische Gymnasium besucht, eine der besten Schulen des Landes. Auch Bashar al-Assad hatte es als Jugendlicher besucht. Eine kleine fortschrittliche Blase, so beschrieb er es gerne, in dem großen, mit eiserner Faust bewachten Gefängnis namens Syrien. Eine Oase der Freiheit. Als Kind kannte er nur diese heile Welt der Oberschicht. Der Rest des Landes war ein surrealer Ort für ihn gewesen, der hinter den Scheiben des Schulbusses vorbeizog. Bis zu diesem einen Wintertag, als der Schulbus auf offener Straße hielt. Männer in Lederjacken, Männer, die er später schon auf große Distanz zu erkennen lernte, Männer eines der unzähligen Geheimdienste, stoppten den kleinen Bus. Husam wusste nie zu sagen, wo die Szene genau stattgefunden hatte. Alles verschwamm in seinen Erinnerungen. Nur an den Mann, der an einem Laternenmast hing, und seine Beine, die in einem verzweifelten und doch aussichtslosen Kampf zappelten, an die erinnerte er sich genau. Eine der Lederjacken schrie den Fahrer an, das wusste Husam noch, wenn er die Vorhänge des Busses nicht auflasse, damit die Kinder sehen könnten, was man mit Verrätern mache, würde er direkt nach dem Mann am selben Mast hängen. Alles andere an diesem Tag und so vielen Tagen davor und danach wurde verschlungen von dieser Erinnerung. Durch sie war Husam geworden, was er war: ein Mann ohne Heimat. Doch statt sich zu ducken, entwickelte Husam den Drang, sich den Regeln dieses Staates zu verweigern. Er stellte sich ihnen entgegen. Immer wieder.

*

»Wo willst du hin?«, rief er mir hinterher.

»Zu Tom. Der will heute Abend hier auflegen.«

»Oh ja, die Party. Stimmt, habe ich ganz vergessen. Warte, ich komme mit.«

Wir liefen hinüber in Richtung Bab Touma, wo auf halbem Weg Tom in einer kleinen Seitengasse wohnte. Wir hasteten vorbei an dem gutaussehenden Scherenschleifer mit dem profunden Bariton, dem die Frauen gern heimliche Blicke zuwarfen, und vorbei an dem alten Mann, der im libanesischen Bürgerkrieg sein Augenlicht verloren hatte und Chips und Zigaretten aus einem winzigen Kabuff heraus verkaufte. Die Gassen waren eng, die windschiefen Balkone in den ersten Stockwerken berührten sich fast. Hier, wo kein Sonnenlicht hinfiel, war die Luft noch kalt, und wir wickelten uns unsere Schals noch enger um den Hals. Ein Eselskarren voll Gemüse kreuzte unseren Weg, und wir beschlossen, einen Abstecher in Richtung Jupiter-Bogen zu machen und ein paar Biere zu kaufen.

Tom wohnte in einem alten, herrschaftlichen Haus mit großem Hof. Seit Jahren verrottete es, wurden die Risse in den Wänden größer und die Kakerlaken zahlreicher. Eine alte hysterische Frau verwaltete das Haus. Meist hörte ich sie im Zimmer eines der anderen Bewohner lautstark vor sich hin zetern. Es lebten hauptsächlich Flüchtlinge aus dem Irak hier, die ihre Tage schachspielend im Hof, im Schatten der altersschwachen Palme, verbrachten, da sie in Syrien nicht arbeiten durften. Tom saß in seinem kargen Zimmer auf dem Bett neben einem kleinen Ölofen. Den Kopf hatte er fast gänzlich in das braune Metallgerät gesteckt. Sein Irokese lugte zur Hälfte heraus, wie eine unter Strom gesetzte Bürste. Der Ofen war wieder einmal explodiert, und Tom versuchte ihn zu reparieren. Er fluchte, als wir das Zimmer betraten. Tom war Arabist, und Tom war DJ. Vor allem aber war Tom ein grundanständiger Kerl.

»Jungs!«

»Hey Tom! Was geht?«

»Gut, dass ihr kommt. Der Armenier will mein Zimmer gleich haben.«

Der Armenier war irgendeine Bekanntschaft von Tom. Wir hatten ihn zwei- oder dreimal gesehen. Ein introvertierter, kleiner Mann, dessen Gesicht etwas Diabolisches ausstrahlte, weswegen er nicht viele Freunde hatte. Tom, der Menschenfreund, hatte sich, aus Gründen, die nur er kannte, seiner angenommen.

»Er scheint ’ne Freundin zu haben und braucht ein Bett.«

»Deine Güte ist schon fast sprichwörtlich, Tom.«

»God knows, you gotta give to get back«, trällerte er und begann den El Perro del Mar-Song leise vor sich hin zu pfeifen. Dann fiel ihm die schwarze Plastiktüte mit den libanesischen Bieren auf. Er schaute auf eine imaginäre Uhr an seinem Handgelenk, sagte »kein Bier vor vier« und machte sich eine Flasche mit einem zerfurchten Feuerzeug auf. Ich kannte Tom flüchtig aus Deutschland, wir waren einige Semester auf dieselbe Uni gegangen. Wir setzten uns in den Hof, wo es in der Sonne einigermaßen auszuhalten war, tranken das lauwarme Almaza und warteten auf den Armenier.

Es dauerte nicht lange, und er klopfte an das Tor. Tom öffnete und ließ ihn herein. Ein schiefes Grinsen zog sich über sein Gesicht. Er griff sich, wie immer ohne zu fragen, ein Bier und strahlte.

»Woher die Freude?«, fragte Husam.

»Meine Freundin kommt gleich. Ich hab sie noch nie gesehen.«

Wir schauten uns an. Er schien unsere Verwunderung nicht wahrzunehmen und sabberte an seiner Zigarette herum.

»Hab sie im Internet kennengelernt. Aber sie hatte kein Bild in ihrem Profil.«

Wir schauten uns wieder an, Tom konnte sich ein Lachen kaum verkneifen. »Keiner macht auch nur einen Spruch, wenn sie kommt«, sagte er, als der Armenier aufs Klo ging. »Zumindest nicht, wenn sie aussieht, wie ich denke, dass sie aussieht.«

Zehn Minuten später kam eine 1,50 Meter große Frau, die schätzungsweise 100 Kilo auf die Waage brachte, und wir beschlossen, zügig in den Hamam zu gehen. Husam und ich nahmen unsere Jacken und ließen dem Armenier ein paar Biere stehen.

Am Tor zur Gasse drehte Tom sich um und schaute noch schnell in den kleinen Raum neben seinem Zimmer. Er hielt dort seit einigen Wochen eine gehbehinderte, cholerische Echse, die er im Souq auf das Drängen einer Frau gekauft hatte. »Gerettet«, wie er sie gerne zitierte. Die Frau war kurz darauf aus seinem Leben verschwunden. Seitdem lebte die Echse meist im Hof. Bei Besuch aber sperrte Tom sie weg, wie man auf Bali seine geisteskranken Verwandten wegsperrt.

Im Nureddin-Hamam am Gewürzmarkt saßen wir einige Stunden in den Dampfräumen und lagen auf den Polstern im großen Kuppelraum, in den die Lampen alter Leuchter durch Glasperlenschnüre orangenes Licht warfen. Wir redeten über Dahab, wo Tom vorhatte, einige Wochen in der Hütte eines Freundes abzusteigen, und rauchten Wasserpfeife, deren Rauch sich oben in der Kuppel sammelte, wo Sonnenstrahlen durch die Fenster fielen.

Entspannt und für die Nacht gewappnet machten wir uns auf den Rückweg. Wir liefen hinaus aus der Altstadt, und in einer Seitenstraße, vor einem Fleischer, in dessen Auslage sich Fliegen auf den Schafshirnen tummelten, zogen ein paar Polizisten einen Mann aus seinem Auto. Tom und ich gingen schnell weiter, nur Husam blieb stehen und schaute der Verhaftung zu.

*

Der Tag, an dem Husam den Mann am Laternenmast hatte sterben sehen, war der Beginn eines langsamen Abstiegs. Im selben Jahr mussten seine Eltern ihr Haus verkaufen. Sie zogen in ein kleineres und dann in ein noch kleineres. Eines Tages nahmen sie Husam vom französischen Gymnasium und meldeten ihn in einer öffentlichen Schule an. Die Menschen in dieser Vorhölle waren anders gewesen, erzählte er oft. Die Schüler, die Lehrer, es waren Menschen aus einem Syrien, das er bis dahin nicht gekannt hatte.

Er marschierte jeden Morgen in das gefängnisgleiche Gebäude, wild entschlossen, seinen Eltern finanziell zu helfen und nicht zu klagen. Er saß in einem schummrigen Klassenraum, ließ sich von Männern in Militäruniformen anschreien, von Mitschülern verarschen, auf dem Hof verprügeln, baute im Militärunterricht Gewehre auseinander und zusammen und würgte den Fraß in der Kantine hinunter. Sein Sitznachbar zur Rechten war besessen davon, ihm sein Taschengeld zu geben, um dafür seinen Schwanz sehen zu dürfen. Der andere Sitznachbar wiederum klaute alles, was er in die Finger bekommen konnte.

Husam fing an, mit Schulabbrechern von besseren Schulen rumzuhängen, er trank mit ihnen, rauchte mit ihnen, und sie waren es, die seine Angst vor dem Militärdienst weckten. »Natürlich sind generell alle Armeen schlecht«, sagte er einmal zu mir, »aber diese Armee, die syrische Armee, ist nicht dafür gemacht, das Land zu verteidigen oder die Golanhöhen zurückzuerobern. Nein, diese Armee ist dafür gemacht, das eigene Volk zu unterjochen, seinen Willen zu brechen, es zu quälen.«

Mit 15 war Husam ein politischer junger Mann geworden. Aber Syrien war kein Land, in dem politisierte junge Männer besonders gute Chancen hatten, wenn sie nicht gerade die Agenda des Assad-Clans verfolgten. Husam bestach deswegen einen Beamten in der Bezirksverwaltung, fälschte die Unterschrift seines Vaters, die er als Minderjähriger brauchte, um das Land zu verlassen, und floh in den Libanon. Dort schlug er sich auf der Straße durch, schlief am Strand in Raouché und schrieb. Schrieb schnell so gut, dass der Daily Star begann, seine Polemiken zu drucken. Doch obwohl er unter Pseudonym schrieb, setzte nach drei Monaten erstmals die Paranoia ein. Er sah syrische Geheimdienstmänner in Cafés, in Sammeltaxis, auf der Straße, im Treppenhaus – er sah sie fast überall. Er ging zurück nach Syrien. Er schlief in Parks, trank billigen syrischen Schnaps, rauchte libanesisches Hasch und las die französischen Existenzialisten, die er in Beirut in der Librairie Antoine gekauft hatte.

*

»Die Mischung aus Alkohol, Drogen, Rebellion, Politik und Obdachlosigkeit muss mich interessant gemacht haben«, hatte er mir einmal erklärt. Ich erzählte Tom davon, als wir am Abend das Bier für die Party kauften. In der plötzlichen Kälte, die nach Sonnenuntergang hereinbrach, stapften wir nach Bab Touma. In den kleinen Geschäften leuchteten Gas- und Elektrolampen. Eine geschäftige, aber zutiefst friedvolle Atmosphäre lag über den Straßen. Wir hielten an einem Saftstand und bestellten zwei frische Granatapfelsäfte.

»Immer öfter schlief er damals in fremden Betten, und immer öfter neben Frauen«, erzählte ich Tom, der interessiert zuhörte und seinen Saft trank. »Husam betrachtete das als eine Art Tauschhandel. Er bekam ein Bett, Essen und Sex im Tausch gegen die Illusion, dass in diesem Land nicht nur gleichgeschaltete Idioten herumliefen.«

»Es hätte ihn auch schlimmer treffen können«, sagte Tom.

Ich war mir da nicht so sicher. Wir kauften zwei Kästen Almaza und machten uns auf den Rückweg nach Bab Salam.

Als wir zu Hause ankamen, setzten wir uns in den Hof, verkabelten Mischpult, Anlage und Boxen. Ich schüttete Eis in den Springbrunnen und legte die Biere darauf. Husam kam auf den Hof, zwei Flaschen Rum in den Händen. Der Mann, der auf dem Rückweg vom Hamam ins Auto gezerrt worden war, war fahnenflüchtig gewesen, hatte er herausgefunden. Er saß da und beobachtete Tom und mich, wie wir vorsichtig in dem Wust aus Kabeln, das für die Stromversorgung im ersten Stock verantwortlich war, nach dem Grund für den Kurzen suchten, der mal wieder die Sicherung hatte rausfliegen lassen.

Husam wusste, wie es ist, wenn sie hinter einem her waren. Er war deswegen schon einmal nach Ägypten geflohen, hatte wegen Problemen mit seinem Pass zurückkehren müssen und war wieder bei seinen Eltern eingezogen. Er bekam dann drei Dollar Taschengeld am Tag, was genau für eine Flasche lokalen Wodka und eine Flasche Saft zum Mixen reichte. Jede Nacht, wenn er nach Hause kam, stand ein kleines Glas frischgepresster Limettensaft neben dem Waschbecken, damit er den Schnaps besser auskotzen konnte. »Mehr konnte meine Mutter nicht für mich tun, mehr ließ ich sie nicht für mich tun«, erzählte er. »Ich wurde zu einem Abbild dieses Landes, weißt du? Hilflos und machtlos gegenüber seiner Regierung, die dafür sorgt, dass Millionen Mütter ihren Söhnen beim Verkümmern und Dahinsiechen zusehen müssen.« Tom zog los, um bei einer Freundin zu duschen, da weder bei uns noch bei ihm das Wasser warm wurde. Ich blieb mit Husam in unserem Hof sitzen.

Er hatte es bisher, mit viel Geschicklichkeit und Glück, geschafft, nicht eingezogen zu werden. Erst hatte ihm jemand genug Geld geliehen, um die richtigen Männer zu bestechen, dann war sein Bruder beim Militär gewesen, was ihm Ruhe verschafft hatte. Denn wer einen Bruder beim Militär hat, wird nicht eingezogen. Husam aber wurde zu dem Zeitpunkt, an dem sein Bruder zur Armee kam, bereits seit mehr als zwei Jahren gesucht. Er hatte sich etwas ausdenken müssen. Er musste schauspielern. Er musste dafür sorgen, dass diese zwei Jahre ihn weder in den Knast noch zur Armee brachten. Er erfand einen Charakter, den er gern den dummen Syrer nannte.

»Ich habe sie all die Jahre studiert, die verschiedenen Typen. Ich habe immer geschaut, wer die beste Wirkung auf Staatsangestellte hat. Es ist ein ganz besonderer Typus, unterwürfig, naiv, von himmelschreiender Dummheit.« Husam angelte sich ein erstes Bier aus dem Springbrunnen. »Du musst ihnen die Gelegenheit geben, sich schlauer zu fühlen als du, überlegen, als etwas Besseres.« Wir gingen hinaus, um etwas zu essen. Die Party würde erst nach acht Uhr beginnen. Blätterloser Wein rankte sich über die Gasse, auf der sich DVD-Shops, Souvenir- und kleine Gemischtwarenläden aneinanderreihten. Wir kauften ein paar Fladen Brot bei der kleinen Bäckerei an der Ecke und wärmten uns kurz am Ofen, aus dem rot die Flammen schlugen. Eine Gruppe schwarzverschleierter Frauen kauerte an der Ecke unseres Hauses. Sie verstummten, als wir vorbeikamen, aber als wir die Tür hinter uns geschlossen hatten, hob das Gewirr ihrer Stimmen wieder an. Wir gingen nach oben, während Husam immer weitererzählte. Es war, so scheint es mir im Nachhinein, als hätte er das alles noch jemandem erzählen müssen, bevor es zu spät war.

»Ich inszenierte ein herrliches Drama«, sagte er und beobachtete den aufgehenden Mond über dem Berg. Unten im Hof leuchtete eine kleine Mosaiklampe über dem Brunnen, an der rote Perlenschnüre herunterhingen. Ich ging in meine Kammer, um Zigaretten zu holen. Als ich wieder hinauskam, starrte Husam in das grelle, harte Licht des Mondes und sagte für einige Augenblicke nichts, bevor er wieder anhob.

»Sechs Wochen lang! Drei Auftritte die Woche. Es war grandios. Ich ließ mich auf Amtsstuben anbrüllen, ich spielte den Idioten von morgens bis abends, selbst zu Hause. Meine Geschichte war, dass ich aus einer armen Familie komme und, um Geld zu verdienen, nach Ägypten gegangen bin, um auf dem Bau zu arbeiten. Es funktionierte hervorragend. Ein Mann, der dumm genug ist, in einem Land auf dem Bau zu arbeiten, wo die Löhne ein Drittel von denen in Syrien betragen. Das beeindruckt die Idioten auf dem Amt. Natürlich tat ich so, als ob ich nicht lesen und nicht schreiben kann. Zwei Vernehmungsoffiziere gaben sich ganze drei Wochen lang Mühe, stellten Fragen, bohrten, sie machten ihren Job wirklich gut. Aber irgendwann kauften sie mir ab, dass meinem Fernbleiben die ganzen zwei Jahre lang keine Berechnung, sondern nur Dummheit zugrunde gelegen hatte, und sie taten, was alle hier tun, wenn sie auf diese Sorte Mensch stoßen: Sie machten sich über mich lustig, sie beschimpften mich, sie freuten sich an meiner Dummheit und meinem Elend und ihrer Überlegenheit. Ich wusste, ich hatte es geschafft. Und schließlich ließen sie mich gehen.«

Es klopfte an der Tür. Die ersten Gäste kamen. Husam lächelte jetzt, führte hier ein kurzes Gespräch und machte dort einen Witz, war sarkastisch und wortgewandt, als gäbe es keine Vergangenheit mehr und keine bedrohliche Zukunft. Ich fragte mich immer, wie er das hinbekam.

Gegen neun, die Party füllte sich langsam, saß Firas, ein Bekannter von einer kleinen NGO, schweigsam auf der Treppe. Er sah traurig aus, aber er zwang sich zu lächeln, als er mich kommen sah. Er räumte seine Jacke zur Seite. Ich setzte mich neben ihn. Wir redeten ein wenig über Politik, als er plötzlich innehielt und mich ernst ansah. »Weißt du«, hob er an, »es ist alles zu viel. Das Land ist zu einem monströsen Dröhnen in meinem Kopf geworden. Es wird leiser, wenn ich mich darauf konzentrieren muss, meinen täglichen Scheiß auf die Reihe zu bekommen, aber es ist immer da. So wie ein ganz langsamer Zahnarztbohrer. Dieses Geräusch ist Syrien. Du kommst nie davon los. Du bist in einem der brutalsten Polizeistaaten der Moderne. Du merkst das nur nicht, weil dein Pass rot ist. Aber lass dich nicht täuschen. Die ganzen ausländischen Studenten haben einen Riesenspaß hier, und die jungen Syrer freuen sich, dass sie hier sind, aber du kannst sicher sein, dass sie gerade jetzt jemanden zu Tode foltern, der nicht ihrer Meinung ist. Erst haben sie alte SS-Schergen ins Land geholt, die ihnen das Foltern beigebracht haben, dann die Stasi.«

Firas wartete nicht auf eine Antwort. Er stand auf, nickte mir zu und verschwand über den Hof in der Dunkelheit. Ich ging hinauf aufs Dach. Hier oben, wo es fast still war, hörte ich leise den Klang einer Oud. Ich folgte der Musik über die Dächer. Drei Männer saßen im Nachbarhof um einen Jungen herum, der leise, aber mit steigender Ekstase auf dem Instrument spielte. Sie aßen Orangen, diese süßen Orangen Syriens, und der Saft lief ihnen aus den Mundwinkeln. Ich ging hinunter, und sie fragten mich, von wo ich kam. Ich erzählte es ihnen. »Als Europäer das erste Mal in Damaskus«, sagte der junge Oudspieler nach einer Pause, »das muss schön sein. Sie gehören ja nicht dazu, also bleiben Ihnen der ganze Schmerz und das Leid erspart. Sie sehen hier nur das Schöne.« Es war mir, als hätte er sich mit Firas und Husam abgestimmt. Ich setzte mich auf eine kalte, marmorne Treppenstufe, lauschte der Musik und bedauerte, keinen Drink dabeizuhaben.

Als ich nach einer Weile in unseren Hof zurückkehrte, hatte Tom eine Feuertonne auf die Galerie geschafft. In einer Ecke stand Wael, ein vermeintlicher Waffenschmuggler, und unterhielt zwei blonde Schwedinnen. Husam stand neben Tom hinter den Laptops. Sie spielten ein paar Indie-Rock-Nummern, die damals gerade angesagt waren, Balkan-Beats und manchmal ein wenig Minimal. Ein paar Amerikaner hatten sich ein paar Trips eingeworfen, lagen auf den kalten Mosaikfliesen unter dem Orangenbaum und schauten auf die Schatten, die das Feuer unter das Vordach der Zimmer der Italiener warf.

Ich mixte mir einen Gin Tonic und ging zu dem Mann hinüber, den wir den »Korrespondenten« nannten. Er war ein junger, für sein Alter beeindruckend verlebt aussehender Typ. Das Verlebte aber trug er wie einen Orden. Er war ein sentimentaler und meist liebeskranker Typ. Er war vor Monaten in der Stadt aufgetaucht. Als ich zu ihm hinüberging, stürmte er plötzlich die Treppe hinunter, über den Hof, an dem Brunnen und dem Orangenbaum vorbei, und trat auf die kleine Gasse, die vom Bab Salam auf die Qaymaria führt. Ich lief ihm hinterher. Der Mond, der unter einer Glocke aus Abgasen tief über der Stadt stand, schien ihm ins Gesicht. Ich holte den Korrespondenten an der Ecke ein. Er war keinesfalls ein richtiger Korrespondent; in Wirklichkeit war er ein Pariser Barkeeper und selbst ernannter Dichter, der hier versuchte, eine Art Robert Fisk oder Graham Greene darzustellen, um eine Frau zu beeindrucken, die, wie wir alle wussten, bereits vor Monaten wieder abgereist war. Er redete gern über seine zukünftigen großen Geschichten. Assads Chemiewaffen, die angeblich in Stollen im Qasiun lagen, der Kokainhandel der Hisbollah, das waren die Dinge, über die der Korrespondent bald zu schreiben gedachte.

Er setzte sich vor mir in den Staub, zog mit zitternden Fingern eine Lucky aus der Tasche und zählte sein restliches Geld. Er schien mich nicht zu beachten, und so lehnte ich mich neben ihn an die Hauswand und rauchte ebenfalls. 4000 Syrische Pfund zählte er in seine Hand. »Mehr nicht«, sagte er zu sich selbst. Er begann von seiner Verflossenen zu erzählen, saß dort zu meinen Füßen, lamentierte und rauchte. Ich kannte die Geschichte, wir alle kannten die Geschichte, aber die Party war noch recht leer, es war noch früh, und der Korrespondent schien heute einen besonders üblen Tag erwischt zu haben. Ich blieb neben ihm stehen. Sein Geld würde für zwei Flaschen Whisky reichen. Ich wusste, dass das seine Gedanken waren. Er hatte eine Zeitlang bei uns gewohnt. Ich wusste, der Korrespondent war in seiner Unberechenbarkeit sehr berechenbar. »Alles ist braun hier«, sagte er dann plötzlich, nachdem er eine Weile geschwiegen hatte. Er war bereits recht angeschlagen von den Gin Tonics, die er sich bei uns gemixt hatte. »Selbst der Berg, der unheilvoll über uns, über der Stadt thront! Mit all seinen Militärantennen, wie Luzifers Hörner! Schau dort oben! Schau!« Über uns knarzten die Holzbalken, welche die Erker der ockerbraunen Häuser stützten, und ich tat ihm den Gefallen und schaute in Richtung Berg.

Er stand dann auf und schwankte Richtung Christenviertel, wo die kleinen, auch bei hellstem Tageslicht immer schummrig und dunkel wirkenden Alkoholläden lagen. Er lief mit unsicheren Schritten die Qaymaria entlang, während er mir von der Frau in Paris erzählte, und wie doch alles hätte anders laufen müssen. Er stolperte an den kleinen Läden vorbei, die Raubkopien ausländischer Filme verkauften, versuchte, Haltung zu bewahren, und übergab sich plötzlich unter einer an die Hauswand geschraubten Laterne. Ich entschuldigte ihn bei dem alten Mann, der daneben Gemüse von einem Eselskarren verkaufte. Der arme Ausländer, sagte ich, habe verdorbenes Fleisch vorgesetzt bekommen. Der Alte nickte verständnisvoll. Der Korrespondent schaute an sich herab, sein beigefarbener Sommeranzug von Yves Saint Laurent war fleckenübersät, das Hemd hing ihm aus der Hose. Wir liefen weiter in Richtung Bab Touma. Er kaufte sich eine Cola und schluckte eine Alprazolam, die er in seiner Tasche gefunden hatte, dann lehnte er sich an eine Hauswand und schien warten zu wollen, bis die Tablette anfing zu wirken. Es war unmöglich, noch ein klares Gespräch mit ihm zu führen, aber ich konnte ihn so auch nicht dort sitzen lassen. Niemand schien uns zu beachten. Ein paar Meter vor uns lag eine schmutzige, zerfetzte israelische Flagge quer über der Gasse, sodass die Leute sie beim Einkaufen mit Füßen treten konnten.

Irgendwann musste das Benzodiazepin sein Hirn erreicht haben und entfaltete die paradox aufputschende Wirkung, die es in Kombination mit Alkohol bei manchen Menschen hatte. Der Korrespondent stieß sich von der Wand ab, lief erstaunlich souverän zur Straight Street und betrat einen kleinen Laden am Mushroom Park. Der alte Mann hinter dem hölzernen Ladentisch schaute ihn traurig an. Ich musste an Lowry denken. Der abgehalfterte Franzose in seinem 1000-Euro-Anzug erinnerte mich schon seit Langem an den Konsul. Ich verschwieg ihm das, befürchtete ich doch, dass ihn das nur anspornen würde, noch mehr in diese bizarre Rolle zu verfallen, die er sich hier zurechtgelegt hatte. Der Korrespondent zählte 2000 Pfund für eine Flasche Black Label auf den Tresen.

Er könne nur schreiben, was er selbst erlebt habe, verkündete er mir voll Pathos vor der Tür, als ich ihm beschied, sich gefälligst zusammenzureißen. Da er sich aber wieder gefangen zu haben schien, ließ ich ihn schließlich auf einer Bank des kleinen Parks sitzen, auf der er mit einem alten Mann ins Gespräch gekommen war, und ging zurück nach Hause.

Husam stand oben auf der Galerie und winkte mir zu. Gegenüber lehnte einer der Amerikaner, die vorhin im Hof gelegen hatten. Einer hatte ein warmes, breites, zustimmendes Lächeln im Gesicht, das ein generelles Einverständnis vorwegzunehmen schien, mit allem, was ihm in seinem zugedröhnten Zustand widerfahren könnte. »Diese naiven Idioten machen bloß Ärger hier«, murmelte Husam, als ich neben ihm stand.

Husam nickte in Richtung Hof. Ich schaute hinunter. Auf dem Sofa saß ein Mann, den ich noch nie gesehen hatte. Er war um die 30, hatte ebenmäßige Züge, öliges kurzes Haar und eine Narbe, die sich hellrot über die linke Schläfe zog. Er trug einen braunen, schlecht geschnittenen Anzug. Er sah aus wie ein zwielichtiger Hochstapler. Wenig später saß ein zweiter Mann neben ihm, in einem ebenso schlecht geschnittenen Anzug. Es waren Geheimdienstler. Sie hatten es sich zur Gewohnheit gemacht, auf den Partys der Ausländer aufzutauchen und schweigend in einer Ecke zu sitzen, um zu überwachen, dass hier keiner einen Umsturz plante.

An nächsten Morgen, einem kalten Donnerstag mit einer traurigen grauen Sonne, lief ich durch die Qaymaria, wo es zu dieser Uhrzeit das beste Brot der Altstadt gab. Flache Fladen mit schwarz gebrannten Sesamkörnern. Im Labyrinth der Gassen herrschte eine Atmosphäre, in der mir selbst die simpelsten Dinge von großer Bedeutung schienen. Ein fernes Flüstern, ein leise gemurmeltes Gebet, ein Esel, der alleine an einer Ecke schrie, ein altes Gesicht hinter einem trüben Fenster, alles wirkte wie unter einem Vergrößerungsglas.

Ich blieb vor einem dunklen, niedrigen Bogen stehen, in dem die Tür nur noch an einer Angel im Rahmen hing. Ich drückte sie zur Seite und trat in einen kleinen Hof. Wilder Wein wucherte über Säulen und einen Springbrunnen. Ein knorriger Feigenbaum streckte erste Knospen der trüben Sonne entgegen, zu seinen Füßen brachen Wurzeln den Boden auf. In einem der oberen Stockwerke hörte ich ein Geräusch. Ich suchte die Treppe und fand in einem entfernten Winkel des Hofes Stufen aus altem Marmor. Oben in einem kleinen, aufgeräumten Zimmer saß ein Mädchen. Es war vielleicht zwölf oder dreizehn Jahre alt.

Es blickte mich mit großen, mandelförmigen Augen an. Nicht ängstlich, eher fragend. Wir schauten uns eine Weile an, dann zeigte sie mit der rechten Hand auf ein Kissen, das ihr gegenüber in der Ecke lag. Ich setzte mich. Sie hatte einen alten, zerlesenen Band der Alf Laila wa Laila dabei, zwei kleine Fladenbrote und eine Dose Pepsi, die sie mir anbot. Ich brach ein kleines Stück vom Brot ab. Es war frisch und roch nach der Kohle des Ofens, in dem es gebacken worden war. Dann begann sie zu erzählen, als würden wir uns schon Jahre kennen.

Ich muss Stunden bei dem Mädchen gesessen haben, denn als ich irgendwann aufstand, weil auch sie aufstand, kündigte die Luft bereits den nahen Abend an. Sie komme, so erzählte sie, nach der Schule in die alte Ruine, wann immer sie könne, seitdem ihre Mutter gestorben sei. Ihre Mutter hatte hier einmal beim Ballett getanzt. Nur hier könne sie in ihren Büchern lesen, so lange sie wolle. Die neue Frau des Vaters konnte mit dem Mädchen nichts anfangen und quälte sie, wo sie nur konnte. Wir hatten uns wieder gesetzt. Als sie mit ihrer Lebensgeschichte fertig war, las sie mir noch aus Tausendundeiner Nacht vor. Ihre Stimme war zart und doch selbstbewusst. Solange ich in Damaskus wohnte, ging ich fortan immer wieder in das verfallene Haus, brachte dem Mädchen ein wenig Baklava und ließ mir Geschichten vorlesen.

Später, als die Nacht kalt über der Stadt lag, saß ich bei Husam im Zimmer, während er Hasch in kleine Portionen aufteilte, die er gleich auszuliefern gedachte. Mich fröstelte. Eine kleine Lampe stand auf einem wackeligen Holztisch, darauf mehrere Notizbücher. An der Wand hing eine kleine, mit Bleistift gezeichnete Skizze von I like America and America likes me: die Filzrolle, in der Beuys vor sich hin schwitzte, und Little John, der Kojote. Ein Mädchen aus Berlin namens Lisa hatte sie ihm einst gezeichnet. Er hatte sie mit einem Nagel in den Holzbalken hinter seinem Bett geschlagen. An der Wand gegenüber hing eine Karte des Nahen Ostens. Das Papier hatte sich nach all den feuchten Wintern und heißen Sommern in seinem Rahmen gewellt, und ein bleicher Schimmer hatte sich darübergelegt.

Ich begleitete Husam auf seiner Tour, die auf einer Party neben der Umajaden-Moschee endete. Das Haus war mondän, aber heruntergekommen. Im großen Innenhof, der jetzt im Winter mit einem Plastikdach überspannt war, gedieh die Farnsammlung des Bewohners dank eines importierten Luftbefeuchters prächtig. Er war einer dieser dubiosen Botschaftskontakte, an die Husam zu einem guten Preis lieferte und die er Gott weiß woher hatte. Husam konnte sehr verschwiegen sein, wenn er es für angebracht hielt. Wir stellten uns auf die Terrasse und schauten in die Menge.

Fisher war da, und ich redete kurz mit ihm über die jüngsten Entwicklungen im Irak. Ich hatte ihn zuvor schon mehrmals auf Partys getroffen. Er war mir aufgefallen, weil er auf unbeschreiblich direkte Art und Weise ein französisches Mädchen angehimmelt hatte, das ihn aber nie zu beachten schien. Fisher war höchstens dreißig, was es mir schwermachte, ihm zu glauben, dass er einmal Manager bei Pepsi gewesen sein wollte. Ich hielt mein Bier zum Gruß nach oben und schlenderte weiter. Wenig später hörte ich, wie Fisher auf ein paar Syrer einredete. Freiheit und Demokratie waren seine Lieblingsthemen. Er hatte sehr entschiedene Ansichten darüber, wie die USA das Gute in die Welt zu bringen hatten. Licht ins Dunkel, wie sein Präsident einmal formuliert habe. Husam war überzeugt, Fisher arbeite für die CIA.

Ich ging weiter, nahm mir einen Gin Tonic und hörte dann Husams erregte Stimme aus einem Zimmer. Er saß mit einer Europäerin auf einem schwarzen Ledersofa.

»Diese ganze abartige Gesellschaft, diese total kaputte Wirtschaft, das beschissene Erziehungssystem, dieser ganze beschissene Mix aus Pseudosozialismus, Nationalismus und jetzt wieder Religion, der sich an jeder Ecke zeigt. Dieser ganze Nebel der Unterdrückung, der über diesem Land hängt, diese ganze Paranoia, die in ihm wabert, die beschissene Baath-Partei von Hafez al-Assad, seinen Clan, seine verfickten Geheimdienste. Das alles findest du geil?«

Dem Mädchen stand ihr Unverständnis ins Gesicht geschrieben. Sie musste Husam erzählt haben, wie toll sie Syrien finde, Damaskus, Aleppo, die vieltausendjährige Geschichte, das prima Essen. Er reagierte meist recht abweisend darauf.

»Blöde Schlampe«, murmelte er, ging auf die Terrasse und tippte mir im Vorbeigehen auf die Schulter. Ich folgte ihm.

»Alter, krieg dich wieder ein. Was weißt du, wer hier mithört.«

»Nee, was die Alte da von sich gibt, ist doch nichts anderes als eine perfide Form von Neo-Orientalismus. Die kommt her, hat was mit ’nem Syrer, findet alles toll und so aufregend, dann fährt sie nach drei Monaten wieder weg, und für alle anderen ist das hier immer noch die gleiche große Scheiße.«

»Du erwähntest das bereits, Husam.«

»Nee, Mann, diese ganzen europäischen Islamwissenschaftsstudentinnen, die nur herkommen, weil ihnen der kleine Hassan sofort den Hof macht, weil ja alles so abenteuerlich ist, die gehen mir so furchtbar auf den Sack.«

»Auch das erwähntest du bereits, mehrmals.«

»Ich kann das nicht oft genug sagen. Das ist kein Abenteuerspielplatz hier. Leute werden hier zu Tode gefoltert. Keine zehn Kilometer weg von hier.«

»Ich weiß, ich weiß. Und was war das mit der kleinen Französin, die du neulich bei uns hast wohnen lassen?«

Wir schauten uns an und lachten.

Vor uns auf der Terrasse stand eine Gruppe betrunkener Amerikaner. Sie trugen Kapuzenpullover mit Ivy-League-Aufdrucken und bauten einen Beamer samt Laptop auf. Husam und ich standen am Geländer und schauten auf die Außenmauern der Umajaden-Moschee. Dieses prachtvolle Gotteshaus, das zuerst römischer Tempel, dann Kirche gewesen war, das nun als Moschee diente und in dessen Hallen noch immer der Schrein für Johannes den Täufer stand. Sollte Jesus einstmals wieder vom Himmel steigen, so hatte mir kürzlich ein alter Mann auf dem marmornen Innenhof der Moschee erklärt, würde er das am vierten Minarett tun.