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In diesen Erzählungen lässt uns der Autor an Momenten der Freude und des Glücks ebenso teilhaben wie an Augenblicken der Enttäuschung, Verstörtheit und des Abschiednehmens. Mit halluzinatorischer Schärfe blickt er in die menschlichen Abgründe, die der soziale Mikrokosmos Hotel bereithält und entführt uns in die Welt der Freundschaft, des Betrugs, der Süchte und Begierden. Christian Thomas Wolff hält uns den Spiegel vor, unsere Phantasie wird in Gang gesetzt und wir werden zum Nachdenken eingeladen. Ganz nebenbei erhält der Leser tiefe Einblicke in die tunesische Mentalität und Kultur.
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Veröffentlichungsjahr: 2022
Christian Thomas Wolff
Hotelgeschichten
aus
Tunesien
Erzählungen
Impressum:
© 2022 Christian Thomas Wolff
Umschlag, Illustration: Christian Thomas Wolff
Lektorat, Korrektorat: Christian Thomas Wolff
Bildnachweis: ©Christian Thomas Wolff: Coverbild, Seiten 17, 35, 123 und Autorenbild
Verlag & Druck: tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg
Printed in Germany
ISBN
Paperback: 978-3-3474-5503-0
Hardcover: 978-3-3474-5504-7
e-Book: 978-3-3474-5505-4
Pflichtabgabe an die Deutsche Nationalbibliothek, Berlin
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Für meine geliebte Mutter
… in gemeinsamer,
aufrichtiger und ewig währender
Liebe zu einem Land, das wir Tunesien
nennen und zu seinen
Bewohnern.
Inhalt
Gedanken
1. Das ungleiche Paar
2. Herausgerissen aus einer heilen Welt
3. Der Fahrschullehrer
4. Annette, Thorsten und Christiane oder lehrreiche Unterhaltungen in entspannter Atmosphäre
5. Kampfzone
6. Eine fleischliche Begierde
7. Bargespräche
8. Schnee an Silvester
Gedicht
Autorenporträt
Meine Leseempfehlung
Gedanken
Der soziale Mikrokosmos „Hotel“ hält viele Gesichter bereit. Hier zeigt sich auf komprimiertem Raum, und zumal in exotischer Umgebung, der Urlauber in seinem ganzen Wesen: in seinen Sehnsüchten, in seinen Motiven, in seinen Schwächen, in seinem Charakter, in seinen Bedürfnissen, in seinem Streben nach Glück – in seiner Menschlichkeit. Wie unter einem Brennglas wird sein Inneres nach außen gekehrt und so unmittelbar sichtbar. Im Bewusstsein seines zeitlich befristeten Aufenthaltes mag manches Verhalten zudem rascher oder intensiver hervortreten. Es scheint, als fühle er sich in einem nur geringen Maße der sozialen Kontrolle ausgesetzt oder er wähnt sich sicher, weit weniger die negativen Folgen seines Verhaltens befürchten zu müssen, als dies auf alltäglichem Terrain der Fall wäre – wenn er den Reaktionen und Urteilen seiner Mitmenschen überhaupt eine herausgehobene Bedeutung beimisst.
Hier kann er ein Stück weit er selbst sein. Er ist ausgelassener, braucht sich weniger beherrschen; seine Menschlichkeit tritt hervor. Dabei mag manche Verhaltensweise auf andere, und möglicherweise auch auf ihn selbst, verstörend wirken – und wirkt doch so befreiend…
Christian Thomas Wolff
Das ungleiche Paar
Das Hotel in Mahdia bot eigentlich gute Voraussetzungen für einen entspannten Urlaub – einen Urlaub, bei der auch alleinstehende Gäste, zumindest zeitweise, ihren Aufenthalt durch Urlaubsbekanntschaften bereichern könnten.
Sie fiel ihm schon seit einigen Tagen auf: eine Frau etwa mittleren Alters, mit ihren pechschwarzen, leicht struppigen Haaren und ihren schwerfälligen, behäbig wirkenden, Bewegungen. Meist saß sie irgendwo in der Hotellobby in einer jener Sitzgruppen, welche vor der Lobbybar angeordnet sind. Es war eines Abends, das Abendessen hatte er bereits eingenommen, als Jochen, ein gut aussehender Mann von Anfang vierzig mit kurzen, mittelblonden Haaren, sie auf dem Weg zur Bar erneut erblickte. Gedankenverloren beschäftigte sie sich mit ihrem Smartphone. Mit einem Glas Mineralwasser in der Hand sprach er sie an: „Entschuldigen Sie, darf ich mich zu Ihnen setzen?“ Ihre stechend hellblauen Augen starrten ihn an, bevor sie in langsamer Sprache freudig einwilligte. Es war offensichtlich, dass ein gewisser Alkoholkonsum ihren Sprechfluss beeinträchtigte. Jochen verwies auf die gleiche Sprache, der sie sich bedienten und welche er bereits am Vortag bei ihr bemerkt habe. Freudig erregt über die freundliche Bekanntschaft, stellte sie sich ihm vor. Sabine bediente sich eines fränkischen Dialekts, den sie recht laut und für die umliegenden Gäste gut hörbar vortrug. Er sprach eher leise, in einem nahezu dialektfreien Deutsch und hörte ihren Ausführungen aufmerksam zu. „Darf ich dich mit etwas belasten?“ Jochen reagierte gleichgültig zustimmend. „Ich habe heute fast den ganzen Tag geweint!“ „Warum denn das?“ Langatmig schilderte sie die, aus der Schwangerschaft ihrer dreißigjährigen Tochter resultierenden Probleme, welche sie auf ihre Mutter abzuladen versuche. Der Mann ihrer Tochter sei ein farbiger Amerikaner und die Tatsache, dass es nun ein Mädchen werde, das unter ihrem Aussehen zu leiden haben würde, bringe ihre Tochter an den Rand der Verzweiflung. Jochen hörte ihr geduldig zu, fragte nach. Ihre Tochter würde sie mit permanenten Nachrichten überhäufen. Er verwies auf das Alter ihrer Tochter und auf die Notwendigkeit, dass sie versuchen müsse, ihr eigenes Leben zu meistern.
„Du hast wohl recht.“ Seine ruhig vorgetragenen Worte mussten Eindruck auf sie gemacht haben, denn sie beabsichtigte spontan, die Nachrichten ihrer Tochter nicht mehr zu beantworten. Offenbar um Missverständnissen zu entgegnen, erklärte sie ihm die Herkunft ihrer Narben, welche deutlich an ihrer linken Schulter und ihrem Oberarm zu erkennen waren. Sie habe vor einigen Jahren einen Selbstmord- versuch unternommen und sich von einer Brücke gestürzt. Auf Jochens Gesicht setzte sich blankes Entsetzen. Er, ein optimistischer und lebensfroher Mensch, konnte nicht wirklich verstehen, warum sie dies unternommen hatte. Offenbar spielte Liebeskummer eine Rolle. Er bestand darauf, dass sie solche Aktionen nicht mehr unternehmen dürfe.
Draußen vor der Lobby war Tanzmusik zu hören. Jochen, um rasche Ablenkung bemüht, entführte sie in Richtung Musik, welches ihr ausgesprochen leicht fiel. Ein leichter, lauer Wind strich durch die Anlage und wirbelte ihr Haar auf. Das Rascheln der Palmwedel erfüllte die Hotelanlage. Die Geräusche wurden nur übertönt durch die Klänge einer Hammondorgel, auf der ein Alleinunterhalter eifrig klimperte. Sabine behauptete, leidenschaftlich gerne zu tanzen. Ihr fehlendes Rhythmusgefühl sowie ihre unkoordinierten Bewegungen machten ein gemeinsames Tanzen zu einer, zumindest für ihn, anstrengenden Angelegenheit. Während er die Schrittfolgen sicher beherrschte, stampfte sie barfüßig ausgelassen auf dem Boden herum; ihre Augen leuchteten. Es war offensichtlich, dass ihm bald immer mehr die Lust aufs Tanzen mit ihr verging. Für ihn wurde es zusehends zur Qual; sie hingegen schien geradezu aufzublühen. Bald lehnte er weitere Aufforderungen von ihrer Seite zum Tanz freundlich ab. Da ihm ihre unbändige Freude am Tanzen keineswegs entgangen war, gab er den Animateuren entsprechende Signale, die sich dann in der Folgezeit ihrer annahmen. Sabine und Jochen schienen sich gut zu verstehen. Sie erzählten von ihren Berufen: sie, die selbstständige Fußpflegerin, welche ihre Kunden hauptsächlich in einer Einrichtung für Behinderte rekrutierte – er, der Verwaltungsbeamte. Bald setzten sie sich zu zwei Paaren, welche ebenfalls in ihrer Altersklasse angesiedelt waren. Da Sabine und Jochen für ein Paar gehalten wurden, sahen sie sich zu Erklärungen genötigt. „Oh nein, wir haben uns erst heute Abend kennengelernt.“ Noch immer fiel Jochen Sabines langsamen Reaktionen und behäbigen Bewegungen auf, für die er bald eine Erklärung bekam. Sabine nahm am Morgen regelmäßig stimmungsaufhellende und am Abend dämpfende Mittel ein. Für Sabine war es nun an der Zeit, zu Bett zu gehen.
An nächsten Nachmittag waren sie gemeinsam am Strand zu sehen. Es war ein nahezu wolkenloser Tag und die Sonne hatte noch immer jene Kraft, um die Luft angenehm zu erwärmen. Sie lagen dicht nebeneinander auf jenen obligatorischen Kunststoffliegen, wie man sie in tunesischen Strandhotels häufig antrifft. Die Auflagen wiesen bereits deutliche Gebrauchsspuren auf – doch sie waren für ein angenehmes Liegen unverzichtbar und so störten sie sich auch nicht groß daran. Während sie sich eng an ihn schmiegte, streichelte er sie zeitweise am Rücken und Po, was ihr ein wohliges Schnurren entlockte. „Nicht hier; es sind noch andere da“, schien ihr die Situation unangenehm. Sabine stand auf und lief gemächlich zum Wasser. Es war, als sei sie einer ungewollten oder zumindest unangenehmen Situation entflohen. Bedächtig stieg sie immer weiter ins Meer, bis nur noch ihr Hals aus dem Wasser ragte. Sie tauchte kurz unter und schwamm einige Meter, bis sie an einer Stelle verweilte. Die erfrischende Abkühlung bereitete ihr sichtlich Genuss. Als sie zurückkam, überraschte Jochen sie mit einer Frage: „Wollen wir etwas am Strand spazieren gehen?“ „Ja, es ist wunderschön jetzt in der Abendsonne. Ich gehe gerne spazieren. Aber nicht weit, ja?“, meinte sie ernst, ja beinahe besorgt. Der Strand war voller Leben. Urlauber schlenderten gemütlich am Wasser entlang, Einheimische, Familien mit Kindern, welche herumtobten oder im Sand spielten. Der Schein der goldenen Abendsonne hüllte alles ein in einen samtig schimmernden Glanz: die Gesichter der Menschen, der Sand, die Erde, die umliegenden Gebäude, die sanften Gebirgszüge im Hintergrund. Langsam schlenderten sie am Ufer entlang und wateten im warmen, seichten Wasser. Sie sprachen nicht viel miteinander. Als sie sich einige hundert Meter vom Hotelstrand entfernt hatten, meinte sie unvermittelt: „Kehren wir um?“ Er meinte eine innere Unruhe bei ihr gespürt zu haben und obwohl er gerne weitergegangen wäre, gab er ihrem Drängen nach. Noch am gleichen Abend saßen sie beim Abendessen gemeinsam an einem Tisch. Sie hatten sich für den folgenden Morgen an der Lobbybar verabredet und einen Strandaufenthalt ins Auge gefasst. Als Jochen ihr am folgenden Tag, kurz vor dem vereinbarten Zeitpunkt, auf dem Weg zur Bar begegnete, gab sie ihm kurz und knapp zu verstehen, dass sie nicht zum Strand gehen könne, da sie einen Massagetermin habe. Es folgten keine weiteren Erklärungen ihrerseits. Jochen war sichtlich verwirrt und auch enttäuscht - eine Unternehmung mit ihr, auf die er sich gefreut hatte. Er selbst, ein verlässlicher Zeit- genosse, konnte ihr Verhalten nicht wirklich verstehen und erklären. Sichtlich verärgert verbrachte er den Vormittag alleine am Strand.
Sabine und Jochen waren nicht mehr gemeinsam zu sehen, bis es eines Abends im Restaurant am Buffet zu einer weiteren Begegnung kam. Sabine tippte Jochen von hinten mit dem Finger auf seinen Oberarm. Er drehte sich leicht erschrocken herum und fragte sie mit ernster Miene: „Was willst du?“ Sie blickten sich für einen kurzen Moment lauernd an, ehe sie sich lautlos von ihm abwandte. Spätabends trafen sie ein letztes Mal vor der Bar aufeinander. Sie saß in einer Sitzgruppe und er war auf dem Weg zur Bar, als sich ihre Blicke streiften. Er hielt an und fragte ernst: „Möchtest du mir etwas sagen?“ „Nein“, erwiderte sie ruhig, „ich möchte dir nichts sagen.“
Er dachte einen kurzen Augenblick nach und ging dann weiter zur Bar.
Mahdia, Juni 2016
Herausgerissen aus einer heilen Welt
Du bist dran!“, rief ihre Mutter ruhig und auffordernd zugleich. Marie war leicht gedankenversunken, wie sie es oft war - aber trotzdem ein fröhliches Mädchen von elf Jahren. Sie spielte gerne Karten mit ihren Eltern, meistens UNO. Es waren die einfachen Regeln des Spiels, die ihr vertraut waren und einen unkomplizierten Zeitvertreib garantierten.
Sie saßen in einer bequemen Sitzgruppe mit einem Tisch in der Mitte, welche leicht erhöht einen Blick auf die benachbarte Hauptbar des Hotels zuließ. Marie und ihre Eltern hatten sich bereits gut im Hotel eingelebt. Meistens verbrachten sie die Zeit gemeinsam mit Aufenthalten am Pool - Marie hatte sich dort schon mit einem Mädchen aus Deutschland angefreundet - oder unternahmen kleinere Ausflüge in die nahe gelegene Stadt. Am liebsten hielten sie sich jedoch in der Hotelanlage auf, denn das Wetter war jetzt im Frühling noch sehr launisch und außerdem wollten sie sich auch nicht allzu weit vom Hotel entfernen.
„Ich hol mir noch was zu trinken; solle ich dir was mitbringen?“ wandte sich der Vater an Marie, als er bemerkte, dass ihr Glas leer war. „Ja, ein Sprite“, entgegnete Marie freudig. Während der Vater sich an der Bar aufhielt, unterhielten sich Mutter und Tochter leicht gelangweilt, als Tobias zu den beiden stieß und sie begrüßte. Tobias und die Familie hatten sich am Tag zuvor in der Lobby kennen gelernt und bereits gemeinsam Karten gespielt. Er setzte sich zu den beiden und rasch wurden Neuigkeiten ausgetauscht. Erste Blicke schweiften in Richtung Bar, um nach Maries Vater Ausschau zu halten.
Es war früher Nachmittag und an der Bar hielten sich nur wenige Gäste auf. Fast beiläufig fiel Maries Mutter eine attraktive, junge Frau von wohl Mitte zwanzig auf, die an der Bar saß. Sie hatte noch einen kleinen Jungen bei sich, ganz offensichtlich ihr Sohn. Nachdem Maries Vater mit seinen Getränken wieder zurückgekehrt war, setzten sie ihr Kartenspiel fort. Tobias Blicke wandten sich jetzt verstärkt Richtung Bar. Zwei junge, einheimische Männer hatten sich zu der jungen Frau an der Bar gesellt. Eine anregende, wenn auch leise geführte, Unterhaltung zwischen ihnen setzte ein. Tobias war von Beruf Psychologe und ein ausgeprägtes Interesse am Erleben und Verhalten von Menschen war ihm anzumerken. Den Kopf zur Bar wiegend und an die Spielrunde gerichtet, flüsterte er: „Dort an der Bar, die Frau!“ „Mir ist sie auch schon aufgefallen“, entgegnete Maries Mutter. Schnell waren sie sich einig, dass die junge Frau bisher noch nicht im Hotel gesehen worden war und erst heute angereist sein müsse. Die junge Frau an der Bar stand einige Male auf und schaute nach ihrem Sohn. Dieser saß etwas abseits, aber noch in Sichtweite, in der Lobby und spielte ein Computerspiel. Sie sprach leise und kurz mit ihm. Dann liebkoste sie ihn. Einmal kam der Junge auch von sich aus zu seiner Mutter. Er war ein ruhiger Junge, der nicht viel sprach und etwas gelangweilt schien. Die ganze Szene zog jetzt verstärkt die Aufmerksamkeit der Kartenspieler auf sich. „Sie lässt ihn allein spielen - dort im Sessel“, meinte Maries Mutter leicht vorwurfsvoll. „Sie hat wohl ein schlechtes Gewissen, dass sie sich nicht mit ihm beschäftigt; wenigstens schaut sie ab und zu nach ihm“, bemerkte Tobias, der seine ablehnende Haltung gegenüber der jungen Frau nicht verbergen konnte. Maries Vater verfolgte aufmerksam die Unterhaltung, mischte sich aber zunächst nicht ein. Marie war leicht verwirrt über die Situation an der Bar. „Wie alt ist der Junge wohl, sieben oder acht vielleicht?“ Die Stimme von Maries Mutter war erfüllt von Verärgerung und Mitleid. „Ja, so um den Dreh, da kann man den Jungen schon mal alleine lassen“, murmelte Tobias, ohne dass er von dem, was er gesagt hatte, überzeugt war.
Das Kartenspiel geriet bald zur Nebensache, denn das, was alle an der Bar zu Gesicht bekamen, konnten sie nicht unkommentiert lassen - sprach jetzt mehr und mehr ihre Gefühle an, wühlte sie auf. Mit übereinander geschlagenen Beinen und kokettem Blick war die junge Frau, eingerahmt von den beiden Männern, weiterhin in eine anregende Unterhaltung mit ihnen vertieft. Behutsam führte sie jetzt ihre Hand in Richtung Gesicht des einen Mannes und streichelte ihn zärtlich an seiner Wange. Ein liebkosendes Streicheln im Gesicht des anderen Mannes folgte. Tobias machte auf den Gesichtern der Männer ein Hauch von wohligem Grinsen aus, während ansonsten ihre Gefühle nicht erkennbar waren. „Kennen sie sich vielleicht aus früheren Begegnungen oder haben sie sich erst jetzt kennen gelernt?“, dachte er sich. „Nein, widerlich“, giftete jetzt Maries Mutter sichtlich erregt und richtete sich auf. „Ob sie weiß, dass sich der Austausch von Zärtlichkeiten in der Öffentlichkeit hier nicht gehört? Das geht gar nicht!“, entrüstete sich Tobias ebenfalls, der jetzt aufstand. „Das sind eindeutige Signale, die Männer hier anders deuten!“, erklärte Tobias jetzt etwas breitspurig. „Sie muss wissen, was sie tut“, schaltete sich jetzt auch Maries Vater ein. „Nein, so etwas gehört sich nicht!“, entgegnete seine Frau scharf. Ihre durchdringenden Blicke Richtung Bar waren vorwurfsvoll. Plötzlich waren alle von ihren Plätzen aufgestanden. Sie blickten stark erregt und wütend in Richtung Bar. Am liebsten wären sie weiter vor zur Bar gegangen und hätten sich vor der jungen Frau aufgebaut. Doch diesen Schritt wagten sie nicht.
Die junge Frau lief jetzt zu ihrem Sohn und besprach etwas mit ihm. Plötzlich war sie mit einem der jungen Männer verschwunden. Nach einiger Zeit kamen sie wieder an die Bar zurück und tranken etwas. Die Frau schaute erneut nach ihrem Sohn, der die ganze Zeit über in der Lobby spielte. Leicht theatralisch und freudig erregt zugleich liebkoste sie ihn. Kurz darauf verschwand sie mit dem anderen Mann an der Bar. Es vergingen dreißig Minuten, als sie wieder an der Bar auftauchten. Ihr aufreizendes Verhalten den beiden Männern gegenüber hatte sie unterdessen keineswegs abgelegt. Die Runde war erneut aufgestanden. Ihre vorwurfsvollen Blicke fixierten die Frau und ließen nicht von ihr ab. Sie rückten jetzt ein Stück weiter Richtung Bar vor, wohl unbewusst mit der Absicht, dass die junge Frau ihre ablehnende Haltung ihr gegenüber, ihre ganze Empörung, bemerken würde. Während Marie nicht recht wusste, was sie sagen sollte, war ihre Mutter außer sich: „Ekelhaft – und der Junge kriegt das doch alles mit! Wir sollten zu ihr gehen!“ „Gerda, das geht uns nichts an“, meinte ihr Mann ruhig aber bestimmt. Marie stand verunsichert da. Sie wuchs behütet auf, war rein; alle Abgründe menschlichen Verhaltens hatten ihre Seele, ihr Herz noch nicht erreicht. „Also es soll ja jeder machen was er will, aber wenn ein Kind darunter leidet - dann ist es etwas anderes!“, ergänzte Tobias sichtlich wütend, wobei er das Wort „Kind“ stark betonte, „später, wenn er älter ist, wird er sich an diese Situationen erinnern und der Tag wird kommen, an dem er seine Mutter damit konfrontieren wird. Tränen werden fließen, doch das muss seine Mutter sich dann anhören!“
Auch an den beiden folgenden Tagen wurde die junge Frau mit den beiden Männern nachmittags an der Bar gesehen. Die Gefühle von Abscheu und Verachtung, die Maries Familie und Tobias der jungen Frau entgegenbrachten, waren nicht verschwunden -doch es war alles gesagt. Marie wirkte in diesen Tagen verstört, konnte all dies wohl noch nicht richtig einordnen.
Einige Tage später war die junge Frau nicht mehr gesehen. Marie und ihre Eltern verlebten noch eine unbeschwerte Urlaubswoche und die junge Frau war bald vergessen.
Hammamet, März 2012