how to be happy: Winterrose (New Adult Romance) - Kim Leopold - E-Book
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how to be happy: Winterrose (New Adult Romance) E-Book

Kim Leopold

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Beschreibung

Manche Fehler macht man besser nur einmal ... Als Rose nach zwei Jahren unerwartet wieder auf ihre Affäre Jérôme trifft, reißt es ihr den Boden unter den Füßen weg. Denn Camilles Bruder ist immer noch verdammt heiß, und sein grüblerischer Blick lässt ihr Herz immer noch schneller schlagen – und doch ist er immer noch ein großer Fehler. Heute mehr denn je, immerhin hat er ein Menschenleben auf Gewissen. Bei einem Winterurlaub mit den Freunden schneidet ein Blizzard Rose und Jérôme von der Außenwelt ab und zwingt sie, sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen. Doch Rose weiß genau: Wenn ihre Dämonen auf seine treffen, entbrennt ein Inferno … und es könnte sie beide verschlingen. *Leserstimmen* Zwischen den beiden liegt so was von was in der Luft das ich gar nicht aufhören konnte zu lesen. Kim hat mich fast von der ersten Seite abgeholt und bis zum Ende mit vielen Emotionen und einen traumhaft flüssigen Schreibstil begleitet. - Sandra Klug Ich habe die Geschichte an zwei Tagen verschlungen. Es war mir unmöglich vorher aufzuhören, bevor ich nicht alle Geheimnisse und Gefühle erfahren hatte. Eine wunderschöne winterliche Geschichte, die man ohne Vorkenntnisse der anderen Büchern aus der Reihe, lesen kann. - Irina Die Story hat mich von Anfang an in ihren Bann gezogen, so musste ich sie in einem Rutsch durchlesen und konnte sie nicht aus der Hand legen. Dabei geht es spannungsgeladen und abwechslungsreich zu. Man darf mit Rose und Jerome mitfiebern und die verschiedensten Emotionen erleben. Es gibt einiges zum schmunzeln aber auch die ein oder andere Träne zu vergiessen. Haltet Taschentücher bereit. - Amazon-Kunde Nisowa *Die New-Adult-Reihe im Überblick:* Band 01 | Liliennächte Band 02 | Ascheblüte Band 03 | Vergissmeinnicht Band 04 | Winterrose Band 05 | Veilchensturm Extra | Glücksklee

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KIM LEOPOLD

how to be happy

Winterrose

 

Für Tatjana, ohne die Rose und Jér niemals ihr verdientes Happy End bekommen hätten.

»Storms are the poetry of the earth. The intensity, the emotion, the honesty, the music. The language of darkness and light.«

- Victoria Erickson

 

[triggerwarnung]

Dieses Buch enthält Beschreibungen und Gedanken, die bei manchen Personen traumatische Erinnerungen auslösen könnten. Mehr Details zu den Themen dieser Geschichte findest du auf dieser Seite. Bitte nimm diese Warnung ernst und lies das Buch nur, wenn du mit den dort genannten Themen umgehen kannst.

 

 

[playlist]

Raise Hell – Dorothy

You've Got the Love – Florence + the Machine

Zuhause – Fynn Kliemann

Everyone Goes Your Way – Ella Eyre

Waiting All Night – Ella Eyre

Helpless – Phillipa Soo

NO EXCUSES – NEEDTOBREATHE

A Winter's Coat – Ryan McMullan

Growing Pains – Maria Mena

I Can't Go On Without You – Kaleo

Notion – Tash Sultana

Young & Free – Dermot Kennedy

Grace – Lewis Capaldi

The Boy You Knew – Jack Vallier

Intro

Tief atme ich ein, schnuppere an seinem Shirt und inhaliere den Duft, den ich in zahlreichen Parfümerien gesucht, aber doch nie gefunden habe.

[1]

»Last Christmas …«

»Gott, kannst du das bitte ausschalten?« Ich lehne mich nach vorne und wuschle Lily durch die Haare. Sie kreischt empört auf, macht jedoch keine Anstalten, den Sender umzustellen. Stattdessen weicht sie aus und grölt lauthals mit.

Ihre Stimme hört sich grauenvoll an. Nicht nur, dass sie nicht singen kann, die Erkältung gibt ihr den Rest. So schlimm klingt nicht einmal das Kratzen von Kreide auf einer alten Schultafel.

»Jamie!«, quengle ich und verfluche mich innerlich, dass ich mit ihnen gefahren bin. Ich hätte selbst fahren sollen. Dann könnte ich jetzt wenigstens meine eigene Playlist anschmeißen. »Tu etwas! Das ist Folter für meine Ohren!«

Er lacht und schaltet um, doch Lily drückt sofort wieder auf den Sender, der den Weihnachtsstimmungstöter spielt. Die beiden liefern sich ein Klickduell, bis Lily schließlich aufgeben muss, weil ihre Nase läuft. Geschieht ihr recht.

»Himmel«, stöhne ich und lasse mich zurück in den Sitz fallen. »Nächstes Mal nehme ich mein eigenes Auto.«

Lily schnieft geräuschvoll in ihr Taschentuch und dreht sich dann in ihrem Sitz um, um mich hinterlistig anzugrinsen. »Ich prophezeie dir, dass du dieses Lied in den kommenden zwei Wochen noch einige Male hören wirst«, erklärt sie mit heiserer Stimme.

Ich verdrehe die Augen. »Ich hab’s befürchtet. Vielleicht sollte ich mich nächstes Jahr einfach in meinen eigenen vier Wänden verbarrikadieren. Dann komme ich wenigstens nicht mit Erkältungsviren, kleinen Kindern und Wham! in Kontakt.«

»Du liebst Lilou doch«, protestiert Lily und dreht sich wieder nach vorne, weil ihr sonst schlecht wird. Das weiß ich, weil sie mir schon mal ins Auto gekotzt hat, als wir auf dem Weg in die Hamptons gewesen sind und sie zu viel mit Jamie herumgealbert hat, der auf der Rückbank saß.

»Ich weiß nicht, ob man jemanden genug lieben kann, um mit ihm rund um die Uhr zusammen zu sein.« Für einen winzigen Moment denke ich an den einzigen Mann, mit dem ich mir das vorstellen konnte. Achtundvierzig Stunden, in denen ich glücklich war. Achtundvierzig Stunden, in denen ich begonnen habe, an eine gemeinsame Zukunft zu denken.

Doch dann hat er eine falsche Entscheidung getroffen und mir bewiesen, dass ich immer wieder auf die falsche Sorte Mann hereinfalle.

»Ich glaube ganz fest daran«, wirft Jamie ein und legt seine Hand auf Lilys Oberschenkel. Sie schiebt ihre über seine und drückt sie leicht.

Urgh.

Was hab ich mir nur dabei gedacht, mit zwei Paaren in einen romantischen Ski-Urlaub zu fahren? Tagsüber werden sie mir mit ihrem Gesülze auf die Nerven gehen und nachts … Glücklicherweise habe ich meine Kopfhörer eingepackt und klammere mich immer noch an die Hoffnung, dass Lilou und ich uns schon die Zeit vertreiben werden. Irgendwer muss Ashs und Camis Tochter schließlich die wichtigen Sachen des Lebens beibringen.

Ich wende den Blick ab und schaue aus dem Fenster in die Eislandschaft, die uns mittlerweile umgibt. Dass die Straßen überhaupt frei sind, ist nach dem Schneefall der letzten Tage ein Wunder. In New York war das Wetter noch angenehm, hier - mitten in Kanadas Wildnis - bin ich froh um die neuen, wasserfesten Winterstiefel und die Skisachen, die ich mir vor ein paar Tagen im Internet bestellt habe.

Immerhin hat unsere Hütte einen Kamin, vor dem ich es mir jederzeit mit einer heißen Tasse Kakao und meinem Notizbuch bequem machen kann. Sollen die anderen sich ruhig auf der Piste vergnügen. Ich freue mich auf die Auszeit von der Arbeit und darauf, endlich wieder an neuen Songs arbeiten zu können.

Bei La Malbaie biegen wir vom Highway ab und nähern uns dem Ort. Zehn Stunden Fahrt haben bald ein Ende, und die Aufregung steigt. Obwohl ich mit Lily und Greg nun schon einige Male Urlaub gemacht habe, ist das kleine Mädchen in mir jedes Mal wieder nervös, wenn es eine neue Welt zu entdecken gibt.

Ich drücke meine Nase an die Scheibe und sauge die neuen Eindrücke gierig in mir auf. Der kleine Ort La Malbaie wimmelt nur so von Touristen, die in den winzigen Boutiquen nach letzten Weihnachtsgeschenken suchen oder sich an einer der zahlreichen Holzhütten amüsieren, die auf dem Marktplatz stehen. Glühwein, Flammkuchen, kanadische Spezialitäten wie Ahornsirup oder Nanaimo Bars, Schals und Mützen, Schmuck und jede Menge Kunst … hier gibt es alles, was in einem Touristenort nicht fehlen darf. Sogar eine Schlittschuhbahn entdecke ich.

Ein paar Straßen weiter kommen wir an einem großen Supermarkt und einem Kino vorbei.

»Woah, die zeigen ja Schwarz-Weiß-Filme«, stellt Jamie aufgeregt fest. »Das ist was für Ash.«

»Vielleicht können wir uns einen ansehen«, schlage ich vor und sehe aus der Heckscheibe, um einen Blick auf das Programm zu erhaschen, doch wir sind schon zu weit weg, als dass ich auf den Filmplakaten noch etwas erkennen könnte.

Wir verlassen La Malbaie wieder, und schon sehr bald werden die Straßen schlechter, weil sie nicht mehr so regelmäßig geräumt werden. Das Pelletier Spa & Resort ist bereits ausgeschildert. Sich auf dem Weg dorthin zu verfahren ist allerdings nahezu unmöglich, denn vom Weg zweigen kaum weitere Straßen ab.

Als wir um die nächste Kurve biegen, atme ich erstaunt ein. Vor uns liegt ein offenes Tal, und in dessen Mitte thront das Hauptgebäude des Resorts. Mit seinen Türmen und Fenstern wirkt es wie ein Relikt aus dem 19. Jahrhundert. Auf den Bergen und Hügeln drum herum sieht man vereinzelte Schneisen zwischen den Wäldern, die auf die zahlreichen Ski-Pisten hindeuten. Laut Internet ist hier für jeden Schwierigkeitsgrad etwas dabei.

Seit ich mir vor drei Jahren beim Snowboarden fast das Genick gebrochen hätte, traue ich mich sowieso nicht mehr aufs Board. Ich werde mir wohl eher einen Schlitten ausleihen und mit dem Baby-Hügel vorliebnehmen.

Sicher ist sicher.

»Château-Stil«, referiert Lily und deutet auf das Gebäude. Seit sie als Restauratorin arbeitet, lässt sie uns mit ihrem Wissen nicht mehr in Ruhe. »Es ist wunderschön, oder?«

»Oh ja.« Jetzt beuge ich mich doch wieder nach vorne, um aus der Windschutzscheibe zu sehen, während wir uns den Weg hinunterschlängeln. Ab und zu verschwindet das Hotel hinter Bäumen und anderem Gewächs, aber die Fahrt lässt uns genug Zeit, den mehrstöckigen Bau zu bewundern. Bis man sich in diesem Gebäude zurechtfindet, dauert es sicher eine Weile. Fast bedauere ich, dass wir uns für eine der verschiedenen abseitigen Holzhäuser entschieden haben. Aber nur fast.

»Wo ist denn unsere Hütte?«, frage ich neugierig, denn obwohl das Hotel wirklich toll aussieht, freue ich mich noch mehr darauf, unseren Rückzugsort zu entdecken. Auf den Bildern im Internet sah sie großartig aus. Viel Holz, Leder und Felle, eine richtige Jagdhütte eben, die man für wohlhabende Gäste zu einem luxuriösen Aufenthaltsort gemacht hat. Zwar hängen hier keine Geweihe an den Wänden, aber der urige Touch ist immer noch vorhanden und hat gleich dafür gesorgt, dass wir Feuer und Flamme waren.

»Versteckt in den Wäldern.« Jamie wirft mir durch den Rückspiegel einen Blick zu. »Weit weg von den ganzen Touristen, die dieses Hotel belagern werden. Ich glaub nicht, dass man sie von hier aus sehen kann.«

»Schade«, murmle ich und widme mich wieder dem Ausblick auf das Hotelgebäude, bis wir den Parkplatz erreichen.

Wir steigen aus dem Wagen. Jamie holt unsere Jacken aus dem Kofferraum und reicht sie uns. Während ich in meinen Mantel schlüpfe, schaue ich mich nach Ashs rotem Mustang um, aber dann fällt mir ein, dass sie ihn kurz vor Lilous Geburt schweren Herzens gegen einen langweiligen Familienwagen von Cadillac ausgetauscht haben.

Ich entdecke das charakterlose Gefährt relativ nah bei uns und kann nur anhand des Kennzeichens ausmachen, dass sie es sind. Es ist nämlich nicht der einzige Cadillac dieser Art und Farbe auf dem Parkplatz, und irgendwie bricht es mir das Herz, dass Ash sich von seinem Mustang trennen musste.

»Sie sind schon da«, stoße ich dennoch freudig hervor und schnappe mir meine Handtasche vom Rücksitz, bevor Jamie den Wagen abschließt und wir uns auf den Weg ins Innere des Gebäudes machen.

Pelletier Spa & Resort steht mit goldenen Lettern auf einem blauen Schild neben der Tür. Daneben prangen fünf goldene Sterne und zeugen davon, dass wir hier bestens aufgehoben sind.

Das Foyer des Hotels ist groß, aber trotzdem gemütlich. Rote und blaue Farbtöne wechseln sich mit dunklem Holz und hellem Kalkstein ab. Auf der rechten Seite hat man ein paar Chesterfieldsofas und -sessel zu Sitzgruppen zusammengestellt, links befinden sich die Fahrstühle und ein offenes Treppenhaus, das in die anderen Etagen führt.

Mein Blick fällt auf die kleine Familie, die an der langgezogenen Rezeption vor uns steht, und mein Herz füllt sich mit Freude.

»Cami! Lilou!«, rufe ich aufgeregt. Cami dreht sich mit Lilou auf dem Arm um und winkt mit ihrer freien Hand.

»Das nenne ich mal Punktladung.« Sie lacht und gibt mir Küsschen links und rechts. Das sechs Monate alte Mädchen auf ihrem Arm gähnt und blickt verschlafen durch die Gegend. »Wir sind gerade erst angekommen.«

Cami begrüßt Jamie und Lily, während sich Ash um unsere Hütte kümmert. Sie erzählt von der Fahrt, und davon, wie Lilou gerade erst aufgewacht ist. Mitten im Gespräch erhellt sich plötzlich ihr Blick, und sie deutet an uns vorbei. »Und schaut mal, wen wir noch mitgebracht haben.«

Ich erstarre für einen Moment, bevor ich mich langsam umdrehe und dem Grund meiner schlaflosen Nächte in die Augen sehen kann.

Mir stockt der Atem.

Jérôme.

Ich schlucke und blicke zur Tür, aber jetzt wegzurennen wäre das, was eine Dreijährige machen würde. Ich bin dreiundzwanzig und damit wohl offiziell alt genug, um mich den Fehlern meiner Vergangenheit zu stellen.

So ein Mist.

Er hebt verlegen eine Hand und winkt, obwohl er uns schon beinahe erreicht hat, und als wäre ihm das selbst aufgefallen, unterbricht er seine Geste, um sich stattdessen übers Haar zu fahren.

»Hi«, stößt er nervös hervor.

»Das ist Jérôme, mein Bruder«, stellt Cami ihn vor und löst damit die Anspannung - zumindest zu einem winzigen Bruchteil. Lily, die eindeutig die herzlichere von uns beiden ist, beginnt zu strahlen und fällt dem Mann vor uns um den Hals.

Wenigstens habe ich so einen Moment Zeit, um ihn zu betrachten. Er ist noch genauso muskulös wie beim letzten Mal, wohlgeformt allerdings, nicht so wie die Kerle, die rund um die Uhr im Fitness-Studio pumpen gehen. Jérs Muskeln kommen eindeutig von körperlicher Arbeit. Die graue Jeans sitzen ihm lässig auf der Hüfte, und der dunkelblaue Pullover verdeckt einen großen Teil seiner Tätowierungen, aber die feinen Linien ziehen sich auch über seinen Nacken und die entblößten Unterarme.

Seine Haare sind raspelkurz. Nichts mehr zu sehen von den kurzen Locken, in denen ich ...

Nach Lily begrüßt auch Jamie ihn, als wäre er ein Familienmitglied, und mir wird klar, dass mir das Unausweichliche bevorsteht. Schnell setze ich ein Lächeln auf. Er soll schließlich nicht glauben, ich würde ihm nicht Hallo sagen wollen, weil er … ja, weil er jemanden umgebracht hat. Ungewollt fliegt mein Blick zu seinen Händen, und bevor ich mich versehe, zeigt mir mein Kopfkino Bilder, die ich nicht sehen will. Blutige Bilder.

Scheiße.

So viel zum Thema Verurteilen.

Reiß dich zusammen, fahre ich mich an, da bin ich auch schon an der Reihe und bleibe dicht vor Jér stehen. Ich hebe den Blick und tauche in seine graublauen Augen ab. Wenn er doch wenigstens nicht so verdammt heiß wäre.

»Hi«, bringe ich hervor und könnte mich selbst dafür schütteln, dass ich so unsicher klinge.

»Rose?« Er runzelt besorgt die Stirn.

Ach, scheiß doch drauf! Ich mache den letzten Schritt und falle ihm in die Arme. Ein überraschter Laut entweicht ihm und auch einigen anderen um uns herum. Es dauert keine fünf Sekunden, da schließen sich seine Arme um mich. In meinem Hals bildet sich ein verdächtiger Kloß.

Ich bin sowas von verloren.

Verloren.

Verloren.

Shit.

Tief atme ich ein, schnuppere an seinem Shirt und inhaliere den Duft, den ich in zahlreichen Parfümerien gesucht, aber doch nie gefunden habe. Dann reiße ich mich abrupt von ihm los. Was mache ich hier eigentlich? Ich kann ihm doch nicht einfach um den Hals fallen! Was sollen denn die anderen denken?

»Ich hoffe, dir geht’s gut«, bringe ich mit rasendem Herzen hervor und spiele verlegen mit einer Strähne meines Haars, bevor ich seinem Blick ein weiteres Mal begegne. Da ist es! Dieses Lächeln, mit dem er sich damals gleich einen Platz in der ersten Reihe erschlichen hat. Zumindest die Erinnerung daran. Bis er wieder so lächeln kann, wird es sicher noch eine Weile dauern.

»Danke«, erwidert er höflich. »Mir geht es gut.«

»Gut. Das ist gut.« Ich überlege fieberhaft, was ich sagen könnte, um unser Gespräch zu verlängern. Oder zu beenden. Ich kann mich nicht entscheiden, was mir lieber wäre.

Ash hustet und klimpert mit den Schlüsseln. »Wenn ihr fertig seid, können wir los.«

Die Hitze breitet sich in meinen Wangen aus und ich wende mich ab, um aus der Lobby zu gehen, ohne dass die anderen mir ins Gesicht sehen können. Hinter mir höre ich, wie Lily Jér in ein Gespräch verwickelt und stelle entsetzt fest, dass sie ihn scheinbar schon in ihr Herz geschlossen hat, obwohl sie ihm gerade zum ersten Mal begegnet ist. Ich hätte sie niemals in unsere gemeinsame Geschichte einweihen dürfen. Jetzt wird sie sich die nächsten zwei Wochen lang benehmen, als wäre er bereits Bestandteil unserer Familie.

 

[2]

Zwei Wochen.

Der Gedanke daran, vierzehn Tage auf engstem Raum mit Jér zu verbringen, hebt meine Stimmung nicht gerade. Was hat sich Cami nur dabei gedacht, ihren Bruder einzuladen? Und wieso ist er überhaupt schon draußen? Sollte er nicht eigentlich noch ein paar Wochen im Gefängnis sitzen?

Mir wird klar, dass ich überhaupt nichts über ihn weiß, weil ich in den letzten Monaten immer fleißig weggehört habe, wenn Cami von ihm erzählt hat. Verdrängung - meine Lieblingsbeschäftigung, wenn die Auseinandersetzung mit einer Sache zu schmerzhaft ist. Tja … Hätte ich mich vor knapp zwei Jahren mit dem Thema auseinandergesetzt, wüsste ich heute, wie ich mich um ihn herum verhalten soll.

So fühle ich mich, als hätte man mich ins kalte Wasser geworfen. Und das wird nicht besser, während ich vor unserer Hütte aus dem Jeep steige, mit dem uns ein Fahrer des Hotels hergebracht hat. Jér, Cami und die anderen sind uns ein Fahrzeug voraus und tragen gerade ihr Gepäck ins Haus. Jér hebt einen grünen Seesack aus dem Kofferraum und schultert ihn sich, bevor er sich umdreht und sein Blick an mir kleben bleibt.

Ich lächle ihn unsicher an und trete mir in den Hintern, weil ich die Bad-Ass-Heldin in mir nicht mehr wiederfinde. Wo ist die Frau, die Männer zur Vorspeise verschlingt und zum Nachtisch wieder rauswirft, wenn sie nicht gut genug sind? Wo ist die Frau, die in der Firma ihres Vaters dafür sorgt, dass die Anteile an der Börse steigen?

»Ich sollte mal …« Ich deute auf unseren Kofferraum und drehe mich um, bevor es noch seltsamer zwischen uns wird. Hinter meinem Rücken höre ich seine Schritte durch den Schnee knirschen, während er seine Sachen in die Hütte bringt.

Ich schultere meine Handtasche und hole den roten Rollkoffer aus dem Kofferraum des Jeeps, bevor ich selbst durch den schmalen Pfad im Schnee stapfe und meinen Koffer hinter mir herziehe. Er rumpelt so sehr über den unebenen Boden, dass ich befürchte, seine Rollen könnten jeden Moment abfallen.

Die Hütte hat zwei Geschosse und eine weite Veranda, auf der man in den Sommermonaten sicher ein entspanntes BBQ machen kann. Im Winter sind der große Grill allerdings abgedeckt und die Gartenmöbel weggeräumt. Wie eine waschechte Jagdhütte ist auch diese hier überwiegend aus Holz gebaut, bloß der Schornstein ragt steinern in die Luft und zeigt an, dass jemand den Kamin im Inneren schon angezündet haben muss.

Ächzend schleife ich meinen Koffer die Treppe zur Veranda hoch und ziehe ihn dann in die Hütte. Dort stelle ich ihn an eine Wand und schaue mich in diesem Mix aus modern und rustikal um. Das Erste, was mir ins Auge fällt, ist dann wirklich der große steinerne Kamin, in dem ein fröhliches Feuer prasselt. Die Sitzgruppe mit Sofalandschaft und zwei Sesseln drum herum sieht gemütlich aus, aber das Highlight im Wohnbereich ist der geschmückte Tannenbaum, der mich daran erinnert, wieso wir überhaupt hier sind. In meiner Magengrube entzündet sich ein Funken Vorfreude.

Den Winter habe ich schon immer geliebt und Weihnachten ganz besonders, denn es ist die einzige Jahreszeit, in der Familien es nicht übers Herz bringen, ihr Pflegekind wegzugeben.

Neben dem großzügigen Esstisch führt eine Wendeltreppe aus schwarzem Metall auf eine schmale Galerie, von der mehrere Türen abzweigen. Unter den oberen Räumen befindet sich eine moderne Küche, in der gut mehrere Personen gleichzeitig kochen können. Eine weitere Tür führt in den unteren Schlafraum, ein Badezimmer und den kleinen Wellnessbereich mit Sauna und Whirlpool, den Ash und Jamie unbedingt haben wollten.

Ich bin jetzt schon begeistert, dabei habe ich noch nicht einmal die Schlafräume gesehen.

Bevor ich mich allerdings meinem Zimmer widmen kann, muss ich noch meine Gitarre aus dem Kofferraum des Jeeps holen, damit der Fahrer wieder zum Hotel zurückkehren kann. Ich schultere die schweineteure Fender, die ich mir erst vor ein paar Wochen zugelegt habe, und bezahle dem Fahrer ein großzügiges Trinkgeld. Dann gehe ich wieder hinein und schließe die Tür hinter mir, weil alle anderen längst drin sind und damit angefangen haben, die Zimmer zu okkupieren.

Nur Jér steht wie bestellt und nicht abgeholt im Wohnzimmer rum und wartet auf etwas. Da wird mir klar, dass sich in dieser Hütte nur drei Schlafzimmer befinden. Zwei davon mit Doppelbetten und eins mit zwei Einzelbetten.

Verdammt.

Cami erwartet doch wohl nicht, dass ich mir mein Zimmer mit ihrem Bruder teile, oder?

»Ich nehme die Couch«, sagt er, bevor ich weiter drüber nachdenken kann, und wirft seinen Seesack neben die Sofalandschaft.

»Okay«, gebe ich möglichst cool zurück und bin ahnungslos, was ich sonst sagen soll. Ich werde ihm bestimmt nicht anbieten, bei mir im Zimmer zu schlafen. Dann könnte ich auch gleich einen Pakt mit dem Teufel eingehen.

Auch wenn ein richtiges Bett sicher bequemer ist, denke ich und spüre, wie das schlechte Gewissen in mir aufkeimt. Ganz schnell drücke ich es zurück in die dafür vorgesehene Schublade, schnappe mir meinen Koffer und ziehe ihn hinter mir her durch den schmalen Flur. Ich drücke die Tür zum dritten Schlafzimmer auf und jauchze begeistert.

Es sieht so einladend aus, dass ich meine Sachen direkt neben der Tür ablade und mich auf das weiß bezogene Bett fallenlasse. Die Matratze ist so weich, dass ich am liebsten nie wieder aufstehen würde. Ich vergrabe meine Finger in dem unechten Fell am Bettende und atme tief ein. Es riecht nach Kiefernnadeln und Orangen. Herrlich!

Ich öffne die Augen und sehe mich weiter um. Neben meinem Bett steht ein zweites in der Größe und mit dem gleichen Bezug, den ich Jér später rausgeben werde. Dazwischen befindet sich ein Nachttisch, der aussieht, als wäre er verdammt teuer gewesen.

An einer Wand hängt ein großes Bild von der schneebedeckten Natur Kanadas, an der anderen steht eine lange Kommode, die Platz genug bietet, um all meine Kleidung dort unterzubringen. Nur einen Kleiderschrank, in dem ich ein paar Sachen aufhängen könnte, gibt es nicht.

Seufzend stehe ich auf und nehme meine Gitarre, um sie auf der Kommode in Sicherheit zu bringen. Es ist das erste Mal, dass ich so viel Geld für ein Instrument ausgegeben habe. Da möchte ich nicht, dass es gleich kaputt geht.

Danach hieve ich meinen Koffer auf das Bett und ziehe mein Handy aus der Handtasche, um die Playlist des Monats einzuschalten. Zur Musik von Dermot Kennedy und Ella Eyre räume ich meine Sachen in die Kommode. Als ich bei den Weihnachtsgeschenken angelangt bin, fällt mir auf, dass ich kein Geschenk für Jér habe.

»So ein Mist«, murmle ich und unterdrücke die Wut, die in mir aufsteigen will, weil mich niemand vorgewarnt hat. Gerade Lily, die weiß, was geschehen ist, hätte mir wirklich eine Warnung mit auf den Weg geben können.

Ich reiße die Kopfhörer aus meinen Ohren, werfe das Handy auf das Bett und stapfe aus dem Zimmer, um ihr einen Besuch abzustatten. Ich spüre Jérs Blick auf mir, während ich die Treppe hinaufgehe und nach Lily und Jamie suche. Sie liegen auf dem Kingsize-Bett und rollen auseinander, nachdem ich - ohne zu klopfen - die Tür geöffnet habe.

»Mann, Rose!«, schimpft Lily und fährt sich über die geschwollenen Lippen. Ihre Stimme klingt nasal und lässt mir die Nackenhaare aufstellen. »Kannst du nicht einmal klopfen?«

Ich schließe die Tür hinter mir. »Und kannst du mich nicht einmal vorwarnen?«, entgegne ich sauer.

»Ich wusste ja nicht mal, dass er hier ist.«

Jamie steht auf und macht ein unbeteiligtes Gesicht, während er sich dem Gepäck widmet. Aber ich bin mir sicher, dass er Lily später ausquetschen wird, um zu erfahren, wovon wir reden.

»Ihr hättest es mir sagen sollen«, jammere ich und lasse mich neben Lily aufs Bett fallen. »Ich weiß gar nicht, wie ich die zwei Wochen überstehen soll.«

»Du machst das schon.« Die Furche zwischen Lilys Brauen glättet sich, und sie sieht mich mitleidig an. »Du solltest einfach mit ihm reden. Wenn ihr alles geklärt habt, ist es bestimmt nicht mehr komisch zwischen euch.«

»Reden wir hier gerade von dir und Jérôme?«, erkundigt sich Jamie nun doch.

»Nein«, erwidere ich grimmig. »Lily und ich reden von Jérôme. Du bist von diesem Gespräch ausgeschlossen.«

Er lacht auf und streckt mir die Zunge raus, ich antworte mit meinem Mittelfinger, seufze und stehe wieder auf, um die beiden allein zu lassen.

»Ich werd nicht ihm reden«, erkläre ich an Lily gewandt. »Das kann ich nicht. Er ist gerade erst wieder frei, da hat er sicher andere Sachen im Kopf.«

»Und wenn nicht?«

 

»Wo ist Lilou?« Ich verstecke mein Gesicht zwischen den Händen, nur um sie kurz darauf wieder davon zu lösen. »Da ist Lilou!«

Lilou kichert und deutet mit einem Finger auf mein Gesicht, dabei strampelt sie voller Freude mit den Beinen. Ich wiederhole mein Spiel noch ein paar Mal und werde nicht müde, sie so viel lachen zu sehen. Dann kitzle ich sie, auch wenn sie nicht wirklich kitzelig ist, sondern nur gluckst, weil sie sieht, wie sehr ich mich darüber freue. Wenn sie wirklich kitzelig wäre, würde sie sich viel mehr winden.

Ich hebe sie vorsichtig hoch und presse sie an mich. Sie verströmt diesen unverkennbaren Duft nach Baby und etwas, das mich an Zuhause erinnert. Ihre Händchen vergraben sich in meinem Haar und zupfen an den Strähnen. Ich verziehe das Gesicht, sage aber nichts.

Ich liebe sie viel zu sehr, als dass ich jemals mit ihr schimpfen könnte.

»Ein Baby steht dir wirklich gut«, meint Ash, der beobachtet hat, wie ich mit seiner Tochter spiele.

»Lass mal lieber«, erwidere ich und schiebe den altbekannten Schmerz weit genug fort, um nicht länger darüber nachzudenken. »Es reicht mir schon, wenn ich euren Engel ausleihen darf.«

Er grinst und lehnt sich auf dem Sofa zurück, um die Augen für einen Moment zu schließen. Ich trage Lilou durch die Hütte, um ihr alles zu zeigen. Der Weihnachtsbaum fasziniert sie am meisten. Wir zählen die Kugeln, während sich Jamie, Jér und Cami fertigmachen, um den Fahrdienst anzurufen, der sie zum Parkplatz bringen soll, damit sie anschließend mit dem eigenen Auto Einkaufen fahren können.

Ich bin erleichtert, dass Jér mit ihnen fährt und das Gespräch mit ihm noch für eine Weile aufgeschoben ist. Ihn einfach ignorieren kann ich nämlich nicht besonders gut - das musste ich in der letzten Stunde schon feststellen, weil mein Blick immer wieder auf ihm lag, als würde er mich magisch anziehen …

Allein der Gedanke lässt mich aufschnauben, was Lilou total witzig findet.

Im Gefängnis ist er älter geworden. Die Falte zwischen seinen Augenbrauen war damals noch nicht da, genauso wenig wie die Augenringe. Er sieht erschöpft aus. Was vor allem neu ist, ist der grimmige Zug um seine Lippen. Schon vor zwei Jahren brauchte er eine Weile, um aufzutauen, aber da konnte man wenigstens in seinem Gesicht lesen. Heute habe ich das Gefühl, in ein verschlossenes Buch zu schauen. Eins von der Art, wie man sie in der verbotenen Bibliothek von Hogwarts finden würde.

Ich will gar nicht wissen, was er in den letzten zwei Jahren durchmachen musste.

Lilou strampelt auf meinem Arm und erinnert mich daran, mich wieder um sie zu kümmern, statt ausgiebig die Christbaumkugeln zu betrachten und über Jér nachzugrübeln. Ich wackle mit ihr durch die Hütte, zeige ihr die sternförmige Dekoration an den Fenstern und den sanften Schneefall, der vor ein paar Minuten eingesetzt hat. Irgendwann kommt Lily hinunter und lässt sich neben Ash auf die Couch fallen.

»Liebe Grüße von Dad«, bestellt sie uns. »Ich hab gerade noch mit ihm telefoniert. Er hat immer noch keine Pläne für Weihnachten.«

»Ich dachte, Liz und Toby sind dort?«, frage ich nach und setze mich mit Lilou in einen der beiden großen Sessel.

»Sind sie. Aber auch nur für einen Tag. Den Rest der Zeit …« Lily hebt die Schultern. Ich sehe ihr an, dass sie ein schlechtes Gewissen hat. Eigentlich wollte sie Dad über die Feiertage nicht allein lassen, aber seine Freundin Melanie und er haben sie so lange bequatscht, bis sie schließlich zugestimmt hat, zu verreisen.

»Er kommt schon klar«, meine ich. »Das hat er doch auch geschafft, bevor wir da waren. Außerdem hat er immer noch Melanie.«

Sie seufzt und zieht die Beine an den Körper, bevor sie zu Ash blickt.

»Schläft er?«, fragt Lily leise und betrachtet ihn mit großen Augen, bevor sie eine Hand ausstreckt und ihn vorsichtig anstupst. Er reagiert nicht, sondern schlummert selig weiter.

»Müssen anstrengende vier Wochen gewesen sein.« Jeden Abend woanders aus seinem Buch zu lesen und gleich im Anschluss daran zwei Wochen Urlaub bei Camis Mutter zu machen, stelle ich mir zumindest furchtbar anstrengend vor.

Aber die Lesereise war ein voller Erfolg. Sein Buch ist direkt auf der New York Times Bestsellerliste eingestiegen.

»Ich hab’s immer noch nicht gelesen«, gestehe ich flüsternd. »Schande über mein Haupt. Dabei bin ich so neugierig, über wen er dieses Mal ein Buch geschrieben hat.«

Sein erstes Buch handelt von zwei Schwestern, die sich in einer New Yorker WG wiedergefunden haben, und einem jungen Mann, der irgendwie beide geliebt hat. Im zweiten geht es um einen Autor und seine Lektorin, die unter merkwürdigen Umständen in Irland gelandet sind, um dort den Ring of Kerry entlangzuwandern.

Geschichten, die er direkt aus seinem Leben gegriffen hat.

Lily lacht leise. »Eindeutig Toby und Liz. Die Protagonisten sind dieses Mal deutlich jünger und haben eine Fernbeziehung.«

»Du hast es schon gelesen?« Ich reiße erstaunt die Augen auf. »Du liest doch sonst keine Bücher.«

Sie zuckt mit den Schultern. »Es ist Ashs Buch«, antwortet sie, als würde das alles erklären, und irgendwie tut es das auch. »Und es sind unsere Geschichten.«

»Das stimmt allerdings.« Ich wiege Lilou sanft hin und her. Ihre Augen werden schon ganz schwer, während sich ihre winzige Hand um meinen Zeigefinger schließt. »Wie gut, dass ich mein Exemplar dabei habe. Meinst du, er wird es mir signieren?«

Lily grinst. »Meins hat auch eine Signatur bekommen.«

»Wie unfair!«, beschwere ich mich. »Ich hab Vergiss mich nie direkt am Erscheinungstag gekauft und immer noch keine Signatur.«

»Du musst zu einer Lesung gehen, wenn du es signiert haben willst.«

»Pff«, mache ich belustigt. »Ich hab fast jeden Abend auf Lilou aufgepasst, und das ist nicht mal eine Signatur wert?«

Natürlich weiß ich, dass er mir jederzeit etwas in mein Exemplar schreiben würde, wenn ich ihn darum bäte. Ich hab nur nicht dran gedacht, bevor er auf Lesereise gegangen ist. Also nehme ich mir vor, ihn direkt zu fragen, wenn er wieder wach ist.

Lily und ich quatschen noch eine Weile weiter, doch irgendwann steht sie auf, um sich mit der Küche vertraut zu machen. Bereits im Vorfeld hat sie angekündigt, uns mit viel Liebe zu bekochen und einen Plan für unsere Mahlzeiten gemacht, mit dem jeder glücklich ist. Wenn Lily in der Küche steht, geht niemand hungrig nach Hause. Ich koche zwar auch gerne, aber noch lieber lasse ich mich von ihr bekochen.

Seit sie YouTube für sich entdeckt hat, gibt es für sie keine Fertiggerichte mehr. Selbst Pizzateig macht sie neuerdings immer selbst, obwohl es so guten im Supermarkt zu kaufen gibt. Und da sie oft genug so viel kocht, dass Jamie und sie es nicht allein aufessen können, lädt sie mich ständig zum Abendessen ein.

»Sag mir, wenn ich dir helfen kann, ja?«, bitte ich sie, doch sie winkt ab. Also mache ich es mir ein bisschen bequemer in meinem Sessel und betrachte die mittlerweile schlafende Lilou ausgiebig, während ich mir für einen Moment die Vorstellung erlaube, sie könnte meine Tochter sein.

 

[3]

Vor zwei Jahren

 

»Das ist nicht so, wie es aussieht.«

Oh, Ash. Innerlich schüttle ich den Kopf über so viel Talent, Dinge zum Schlimmeren zu wenden. Er sagt genau die Dinge, die ich sagen würde, um jemanden loszuwerden. Normalerweise würde ich mich entspannt zurücklehnen und das Schauspiel genießen, aber nach all dem Drama in den letzten Tagen bin ich froh, wenn die beiden sich endlich finden und er aufhört, diese Miene zu ziehen.

Ich trete hervor und nehme den großen Kerl neben der Blondine in Augenschein, die mich immer noch verwirrt mustert.

»Also, Jérôme.« Ich lasse seinen Namen über meine Lippen gleiten, koste davon, als wäre er der Nektar einer Blüte … einer Blüte, die himmlisch schmecken könnte, so wie sie aussieht. »Ich schätze, wir sollten die beiden Turteltauben jetzt wirklich allein lassen. Ich bin am Verhungern.«

Seine graublauen Augen blitzen amüsiert auf. Er verschränkt die tätowierten Arme vor der Brust, lässt seinen Blick über meinen Körper gleiten, als hätte er ähnliche Gedanken wie ich.

Ich drehe mich um, um meine Schuhe und den Mantel zu holen, und wackle dabei etwas mehr mit dem Hintern, als ich es normalerweise tun würde. Wenn Ash mir gesagt hätte, dass Camille einen so heißen Bruder hat, hätte ich mir etwas Hübscheres angezogen. Aber seine Aufmerksamkeit habe ich ohnehin schon. Ich kenne diese Art Mann, und ich weiß, dass selbst unter der härtesten Schale ein weicher Kern schlummert. Diese Schale zu knacken - das ist die Art von Spiel, die ich gerne mag.

Ich schlüpfe in meine Sachen und dränge mich an Ash vorbei, der immer noch wie angewurzelt im Türrahmen steht. »Wartet nicht auf uns«, zwitschere ich fröhlich und schiebe meine Hand unter Jérômes Ellbogen, um ihn mit mir durch den Flur zu ziehen. Er ist überrascht von so viel Körpereinsatz, lässt sich aber nicht zweimal bitten. Noch ein Zeichen dafür, dass ihm offensichtlich gefällt, was er sieht. Wusste ich es doch.

»Also, italienisch oder chinesisch?«, frage ich ihn, als wir im Treppenhaus angelangt sind. Er wirft mir einen Blick von der Seite zu und fängt an zu lachen. Seine Augen funkeln, sein Lächeln nimmt mir für einen Moment den Atem. Jackpot, schießt es mir durch den Kopf.

»Französisch«, erwidert er mit dunkler Stimme und einem starken Akzent, der davon zeugt, dass er genauso flüssig französisch wie englisch spricht. Sein verschmitzter Gesichtsausdruck macht seinen Vorschlag zweideutig. In meinem Magen flirrt es aufgeregt. »Du bezahlst.«

[4]

Nachdem die anderen zurückgekehrt sind, kommt Leben in die Hütte. Ash wacht auf und bittet mich, Lilou in ihr Reisebett zu legen und das Babyfon anzustellen, damit sie in Ruhe weiterschlafen kann. Ich bringe das Baby hoch und stelle das Gerät auf den Esstisch, damit wir sie jederzeit hören können. Dann geselle ich mich zu Lily und schneide das Gemüse für das Abendessen klein.

»Kann ich euch helfen?« Jérs dunkle Stimme kribbelt in meinem Nacken. Ich würde mich am liebsten umdrehen und ihm sagen, er solle sich eine andere Beschäftigung suchen, doch das wäre unhöflich, doch bevor ich eine Antwort finde, ist Lily schneller.

»Na klar«, zwitschert sie fröhlich. »Du kannst die Kartoffeln schneiden und Rose danach mit dem Gemüse helfen.«

Ich drehe mich entsetzt zu ihr um. Sie grinst und wedelt gebieterisch mit dem Kochlöffel. Im nächsten Moment zucke ich zusammen, weil Jér meine Schulter berührt und an mir vorbei nach der Schublade greift, um sie aufzuziehen und ein Messer rauszuholen.

»Entschuldige«, murmelt er und breitet sich neben mir aus. Sein herber Duft macht es sich in meiner Nase bequem und sorgt dafür, dass ich nicht mehr klar denken kann.

Ich blicke zu ihm und kann das dämliche Lächeln auf meinen Lippen nicht unterdrücken. Mein Körper ist so ein Verräter. »Nichts passiert.«

Einen Moment lang schneide ich schweigend die Aubergine in kleine Würfel, aber dann kommt es mir komisch vor, nicht mit ihm zu reden. Wir sind erwachsen, wir müssen nicht über die beiden Nächte sprechen. Wir können auch einfach so tun, als wäre nie etwas geschehen, oder?

»Schöner Schnee heute«, werfe ich in den Raum und gebe mir innerlich einen Klaps auf den Hinterkopf. Das Wetter, Rose? Wirklich?

»Schön?« Ich höre das Grinsen in seiner Stimme und würde am liebsten im Boden versinken. Nicht nur, dass ich ausgerechnet übers Wetter rede, ich erzähle auch noch vollkommenen Blödsinn. »Nur, wenn man nicht raus muss.«

»Ich hätte gedacht, du fährst gerne Ski.«

»Snowboard«, erwidert er und greift nach einer neuen Kartoffel. Mein Blick bleibt an seinem tätowierten Unterarm hängen. Drei Würfel und der Beginn einer Rose, die sich auf die Unterseite zieht. Mehr kann ich nicht erkennen, bevor er den Arm zurücknimmt, um die Kartoffel zu schälen. »Ich bin aber schon eine halbe Ewigkeit nicht mehr gefahren. Keine Ahnung, ob ich es noch kann.«

Ehe ich mich versehe, erzähle ich ihm, wie ich vor drei Jahren mal gestürzt bin und dabei fast mein Bein gebrochen hätte, weil das Board an einem Baum hängengeblieben ist und ich mit einem Fuß noch in der Bindung steckte, während das andere Bein munter in alle Richtungen schlackerte. »Kreuzbandriss und eine ausgekugelte Schulter. Da war für mich klar, dass ich mich nie wieder auf ein Board stelle.«

»Autsch.« Jér verzieht das Gesicht. »Das hört sich nach einem üblen Unfall an.«

»Oh ja«, mischt sich Jamie nun ein, der mit einem riesigen Karton von der Treppe kommt und ihn auf dem Esstisch abstellt. »Ich hab für einen Moment gedacht, sie hätte sich das Genick gebrochen. Ab sofort nur noch der Kinderhügel für dich, Rose.«

Ich strecke ihm die Zunge raus, auch wenn mir die Erinnerung an den Unfall immer noch in den Knochen sitzt. Jamie war der Erste, der bei mir war, weil wir uns ein Wettrennen geliefert haben und ich ihn kurz zuvor überholt hatte. »Und keine Wettrennen mit Jamie«, gebe ich den anderen den Tipp, den ich damals gebraucht hätte. Wenn ich nicht so sehr aufs Gewinnen aus gewesen wäre, wäre ich mit Sicherheit vorausschauender gefahren.

»Ich glaub, du bist die Einzige hier, die unnötige Risiken eingehen würde.« Cami lacht und wackelt mit den Füßen. Sie hat sich mit Ash auf die Couch gekuschelt und sieht uns beim Kochen zu. »Mit Ausnahme von Jér. Ich glaube, seine Einsätze für die Air Force kann keiner übertrumpfen.«

»Will auch keiner«, grummelt er. »Das war schon hart an der Grenze.«

»Tja, Leben am Limit.« Ich grinse ihn an. Er erwidert es mit einem sanften Lächeln und katapultiert mich für einen Moment zurück in unsere gemeinsame Zeit. Der Augenblick reicht, um meinen Widerstand ein Stück weit zu schmelzen. Also wende ich mich schnell wieder den Auberginen zu.

»Wo soll das hin, Lily?«, fragt Jamie und deutet ratlos auf den Karton.

»In die ganze Hütte«, erklärt sie lächelnd. Jamie runzelt die Stirn und öffnet den Karton, bevor er stöhnend eine rot-weiß-grüne Wimpelkette rauszieht.

»Du hast unseren gesamten Hausstand an Weihnachtsdeko eingepackt?« Ungläubig holt er weitere Dinge aus dem Karton und stellt sie auf dem Tisch ab. »Manchmal frag ich mich schon, wen ich da eigentlich geheiratet habe.« Er zwinkert ihr zu.

Ich ignoriere den Stich in meiner Magengrube und gebe die gewürfelte Aubergine in eine Schüssel, bevor ich mit den Zucchini weitermache. Es ist nicht so, dass ich Lily und Jamie ihr Glück nicht gönnen würde. Ganz im Gegenteil. Aber nachdem bei mir vor zwei Jahren so ziemlich alles schiefgegangen ist, was hätte schiefgehen können, fällt es mir immer schwerer, mich für andere zu freuen, ohne dabei über meine eigene Situation nachzudenken.

Ich bin dreiundzwanzig und habe noch nie eine Beziehung wie diese gehabt. Jedes Mal, wenn sich etwas in die Richtung anbahnt, kommt etwas Unaufhaltsames dazwischen. Fast so, als ob mir die wahre Liebe nicht gegönnt wäre.

Nachdem wir alles fertiggeschnitten haben, reichen wir Lily die Sachen in der gewünschten Reihenfolge an, bevor sie uns die nächste Aufgabe gibt: den Nachtisch.

»Ich dachte mir, wir machen Blaubeermuffins mit Crumble-Kruste«, erklärt sie uns und legt ein Rezept neben uns auf die Kücheninsel. »Kriegt ihr das hin?«

Ich sehe zu Jér, der mit den Schultern zuckt und aussieht, als hätte er nicht besonders viel Erfahrung in der Küche. Aber das macht nichts, meine eigene reicht für uns beide.

»Ich verstehe die Frage nicht«, erwidere ich belustigt und schnappe mir das Rezept, um die Zutaten zusammenzusuchen. Jér besorgt uns zwei Schüsseln, während Lily sich um den Gemüseauflauf kümmert und die anderen die Hütte schmücken. Ich rühre den Teig an und gebe Jér die Anweisung, sich auf die Kruste zu konzentrieren.

»Kannst du mir kurz das Mehl reichen?«, fragt er mich nach einiger Zeit. Ich nehme die Tüte und gebe sie ihm. Dabei berühren sich unsere Finger. Ein angenehmes Kribbeln jagt durch meinen Körper. Beinahe hätte ich die Mehltüte fallen gelassen, aber da hat er sie auch schon entgegengenommen. Seine graublauen Augen funkeln mich neugierig an.

Ich beiße mir auf die Unterlippe und wende den Blick ab, um mich wieder mit dem Teig auseinanderzusetzen. Ich muss dringend aufhören, mich von ihm aus dem Konzept bringen zu lassen und ihn stattdessen nur wie einen Freund behandeln.

Einen, mit dem ich nicht vor zwei Jahren den besten Sex aller Zeiten hatte.

 

Der Tisch ist bereits gedeckt, die Getränke verteilt und Lily muss bloß noch den Auflauf aus dem Ofen holen, bevor wir uns dem Essen widmen können. Die Platzwahl beschränkt sich auf neben Jér oder ihm gegenüber. Ich trage eine der beiden Schalen zum Tisch und entscheide mich für gegenüber, damit ich wenigstens nicht immer seinen Duft in der Nase habe.

Lily setzt sich zwischen ihn und Jamie und wirft mir einen verstohlenen Blick zu, bevor sie anfängt, den Auflauf auf unseren Tellern zu verteilen.

Während des Essens erzählt Ash von seiner Buchtour und gewährt uns einen Einblick in die Zahlen, die man als New York Times Bestseller Autor erreichen muss. Wenn ich mir vorstelle, dass so viele Menschen meine Songs hören würden, stellen sich mir die Haare auf den Armen auf. Es muss toll sein, eine so große Reichweite zu haben und so viele Menschen beeinflussen zu können.

»Auf der letzten Lesung in New York war da ein Mann«, erzählt er. »Er kam zu mir, um sich ein Buch signieren zu lassen, und gab mir einen Schlüsselanhänger, den seine Frau gebastelt hatte. Er hat mir erzählt, wie viel meine Bücher ihr bedeuten und dass sie vor ein paar Monaten an Brustkrebs erkrankt ist. Eigentlich wollte sie selbst zur Lesung kommen, aber es ging ihr nicht gut genug. Also kam er, um wenigstens ein signiertes Buch für sie zu holen.« Ash lächelt. »Er kam aus Atlanta und ist extra für die Lesung hergeflogen. Ich hab mir seine Handynummer geben lassen und dachte, vielleicht könnte ich nach unserem Urlaub hinfliegen und seiner Beth etwas vorlesen.«

»Aw, Ash, das ist so süß!« Lily strahlt ihn an. »Da wird sie sich sicher freuen.«

Cami wuschelt ihrem Mann durch die Haare. »So ist er. Weiberheld.«

Ash fängt ihre Hand auf, um einen Kuss auf die Innenfläche zu hauchen. Ich schaue zu Jér und stelle überrascht fest, dass er mich ansieht. Sein Blick ist unergründlich, und ich würde am liebsten wegsehen, aber irgendwas hält mich davon ab. Ich schaffe es erst, mich loszureißen, als mich Cami aus Versehen mit dem Ellbogen anstößt und eine Entschuldigung murmelt.

»Nichts passiert.« Ich lächle sie an und widme mich wieder meinem Essen, während Ash ein paar weitere Geschichten von seiner Lesereise zum Besten gibt und das Thema schließlich auf die Ski-Pisten im Umkreis schwenkt. Irgendwann wacht Lilou auf, weil sie Hunger hat, und Cami verabschiedet sich, um ihre Tochter zu stillen. Jér holt die Muffins und verteilt sie.

Ich öffne eine weitere Flasche Wein und schenke allen ein, die noch etwas möchten. Vor meinem Glas mache ich Halt und stelle die Flasche wieder weg, ohne mir Nachschub zu geben.

Ein Glas muss reichen.

Ein Glas reicht.

Die Blaubeermuffins sind großartig geworden. Der Teig zergeht auf der Zunge, die Blaubeeren geben ihre perfekte Süße ab. Ich schließe die Augen und seufze, weil sie so lecker sind.

Als ich meine Augen wieder öffne, starrt Jér mich mit einem Schmunzeln auf den Lippen an, und ich fühle mich für einen Moment an Toronto zurückerinnert. Ganz automatisch lecke ich mir über die Lippen, was ihm ein echtes Lächeln ins Gesicht ruft. Erstaunt darüber, dass ich es so schnell geschafft habe, ihn zum Lächeln zu bringen, lache ich leise auf. Dabei fallen mir ein paar Krümel des Muffins in den Schoß und reißen mich aus dem Blickkontakt. Eilig sammle ich sie wieder auf und trinke etwas von meinem Wasser.

Den ganzen Abend über beobachte ich ihn immer wieder heimlich, aber das Lächeln schafft es nicht noch einmal an die Oberfläche. Irgendwann bin ich mir sogar nicht mal mehr sicher, ob ich es mir nicht doch eingebildet habe. Aber dann strecke ich die Beine unter dem Tisch aus, weil ich langsam nicht mehr sitzen kann, und stoße gegen seine Füße. Ein Blitz zuckt durch meinen Magen, und ich hebe erschrocken den Blick. Jér sieht aus, wie ich mich fühle.

Erst einen Moment später bewegt er seine Füße, um zurück zu stupsen.

Mein Herz bleibt stehen, um gleich darauf in doppeltem Tempo loszugaloppieren. Als er mir dann noch ein weiteres Mal sein Lächeln zeigt, ist es um mich geschehen.

Wie soll ich diese zwei Wochen überstehen, ohne über ihn herzufallen?

 

»Was stimmt mit dir nicht?«, schreitflüstert Lily, nachdem sie die Flurtür hinter uns zugezogen hat und die Türklinke festhält, damit ich nicht einfach gehen kann.

Ich verschränke die Arme vor der Brust. »Ich weiß nicht, was du meinst.«

Sie schnaubt. »Als ob. Mann, Rose, da steht ein verdammt heißer Typ im Wohnzimmer, und es ist so offensichtlich, dass er auf dich steht. Was hast du für ein Problem?«

»Pssst, nicht so laut«, flehe ich sie an und hoffe, dass niemand sie gehört hat. Ich schnappe mir ihre Hand und ziehe sie durch den schmalen Flur in mein Zimmer. Hier sollten wir vor neugierigen Ohren geschützt sein, und ich kann die Karte ziehen, die ich vor ihm niemals ziehen würde, weil ich weiß, dass er das nicht verdient hätte. »Er hat jemanden umgebracht, Lily.«

»Er hat es nur getan, um seine Schwester zu beschützen.«

»Woher willst du das wissen? Warst du dabei?« Es ist so leicht, diesen Grund vorzuschieben, auch wenn es der letzte wäre, wegen dem ich nichts mit ihm anfangen würde. Natürlich weiß ich, dass es Notwehr war, und so wie ich ihn kenne, muss es wirklich ernst gewesen sein, sonst hätte er niemals die Hand gegen Mick erhoben. Aber gerade kommt mir die Ausrede wirklich gelegen, damit Lily endlich die Klappe hält.

Lily reißt die Augen auf. »Denkst du wirklich, er hätte das absichtlich gemacht? Hast du Cami in den letzten anderthalb Jahren auch nur ein einziges Mal zugehört?«

Ich hebe entschuldigend die Hände. »Ich mein ja nur. Stell dir doch mal vor, was das auslösen würde, wenn ich zurück in New York wäre. Dad wäre alles andere als glücklich. Die Schlagzeilen könnten einen großen Teil der Geschäfte kaputtmachen.«

»Das ist sowas von bescheuert.« Lily lässt sich auf mein Bett fallen und fährt sich mit den Händen durchs Gesicht. Insgeheim weiß sie, dass ich recht habe. Als kleine Berühmtheit in New York eine Beziehung zu einem verurteilten Mörder zu pflegen ist eine Katastrophe. »Dad würde wollen, dass du glücklich bist.«

»Ich bin glücklich, wenn er glücklich ist.«

»Du redest so einen Blödsinn, Rose.« Sie setzt sich auf und funkelt mich wütend an. »Du weißt ganz genau, dass das nicht stimmt. Ich merke doch, wie du ihn ansiehst. Klär das mit ihm, und dann seht ihr weiter. Hör auf, dir Gedanken um alle anderen zu machen und denk ausnahmsweise mal an dich selbst.«

Innerlich schüttle ich den Kopf. Wenn Lily mich wirklich kennen würde, wüsste sie, dass ich genau das mache, in dem ich das tue, was alle von mir erwarten. Ich hatte noch nie eine Familie wie diese und ich will sie nicht verlieren, also verzichte ich lieber und schütze uns somit vor negativen Schlagzeilen. Mal ganz abgesehen davon, dass ich sowieso nicht mit Jér über das reden möchte, was in Toronto geschehen ist. Es gibt Dinge, die behält man lieber für sich.

Lily atmet laut aus, und damit verpufft ihre Wut. Sie lächelt mich an, steht auf und legt mir einen Arm um die Schulter. »Komm, Risiko spielt sich nicht von allein.«

 

First Verse

Er blickt mir tief in die Augen, und es fühlt sich an, als würde ich am Rand einer Klippe stehen und hinabschauen. Als würde dieser Mann auf den Grund meiner Seele sehen. Beängstigend, aber gleichzeitig berauschend.

[5]

Ich wache mit trockener Kehle auf und wälze mich im Bett herum, verärgert darüber, dass ich mir keine Flasche Wasser ans Bett mitgenommen habe. Eine Weile versuche ich weiterzuschlafen, aber das Gefühl in meinem Hals macht mich irre. Also ergebe ich mich schließlich und grabe zwischen den Kissen nach meinem Handy, um die Taschenlampe einzuschalten. Ich kneife die Augen zusammen, für einen Moment vom Licht geblendet, und setze mich auf, um nach meinen plüschigen Hausschuhen zu leuchten.

Im Haus ist es ruhig, nachdem Lilou vor einiger Zeit so laut geweint hat, dass ich davon wieder wachgeworden bin. Aber jetzt scheinen alle zu schlafen, sogar Jér hat es sich auf dem Sofa gemütlich machen können und merkt nicht, dass ich an ihm vorbei in die Küche schleiche. Dort hole ich mir ein Glas aus dem Schrank und suche nach dem Kasten, den die Jungs hier irgendwo abgestellt haben müssen. Neben dem Kühlschrank werde ich fündig, lege mein Handy beiseite und gieße mir etwas Wasser ins Glas, bevor ich es mit gierigen Zügen austrinke und neben mich stelle.

In dem Moment raschelt es auf dem Sofa, und Jérs Schatten erhebt sich. Ich erstarre, hoffe für einen Augenblick, dass er mich nicht sieht, aber wahrscheinlich bin ich diejenige, die ihn geweckt hat, in dem sie ihm mit der Taschenlampe ins Gesicht geleuchtet hat.

»Hast du auch so einen Durst?«, fragt er, als wäre es nichts Besonderes, dass wir uns mitten in der Nacht in der Küche treffen. Er stapft an mir vorbei zum Schrank und holt sich ebenfalls ein Glas raus, bevor er sich an meiner Flasche bedient und etwas davon einschüttet. Er füllt mein eigenes Glas auch noch einmal auf und packt die leere Flasche zurück in den Kasten.

»Eh, ja«, entgegne ich mit reichlich Verspätung und lehne mich gegen die Küchentheke. »Keine Ahnung, was Lily ins Essen getan hat.«

»Lecker war es jedenfalls.« Ich erkenne nicht viel von ihm. Dafür reicht die Taschenlampe an meinem Handy dann doch nicht aus. Aber seine Zähne blitzen in der Dunkelheit auf und ich weiß, dass er lächelt. In meinem Magen breitet sich ein warmes Gefühl aus.

Wir schweigen einen Moment, und ich weiß nicht, woran es liegt, aber irgendwie verspüre ich plötzlich den Drang, mit ihm zu reden. Wenn es nämlich so weitergeht wie bisher, halte ich das keine zwei Wochen mehr aus.

»Tut mir leid, dass ich mich nicht gemeldet habe«, sage ich, während er ein »Tut mir leid, dass ich ohne große Ankündigung mitgekommen bin« in den Raum wirft.

Ich lache verlegen auf und bedeute ihm weiterzusprechen, froh darum, noch ein paar Minuten Schonfrist zu bekommen.

»In Montreal habe ich es nicht ausgehalten«, erklärt er und schaut zur Seite. »Ich bin vor zwei Wochen rausgekommen, und die Presse kocht den Fall wieder auf. Da sind einige unschöne Dinge geschehen.«

»Oh«, mache ich und wundere mich, dass ich davon überhaupt nichts mitbekommen habe, obwohl Cami und ich regelmäßig miteinander schreiben. Ich kann mir nur vage vorstellen, was er mit unschönen Dingen meint, und denke, dass ich es lieber nicht so genau wissen will, aber er erläutert es trotzdem.

»Die Leute beschmieren das Haus meiner Eltern.« Seine Stimme nimmt einen dunkleren Ton an. »Die Presse ist immer da, wenn man das Haus verlassen will. Nicht mal vor Ash und Lilou machen sie Halt … Cami hat das echt fertiggemacht, also hat sie vorgeschlagen, dass ich mitkomme, bis sich die Wogen geglättet haben. Ich hätte nicht gedacht, dass du auch hier bist.«

Ich spüre seinen Schmerz, als wenn es mein eigener wäre, und bin wütend auf die Menschen, die meinen, sich ein Urteil bilden zu können, obwohl sie nicht dabei gewesen sind. Wenn sie sehen würden, was ich sehe, dann … Ich schließe die Augen und atme tief durch. Wieso, du verdammtes Herz? Wieso lässt du dich nur von ihm weichkochen?

»Das tut mir leid«, erwidere ich rau. »Ich kann mir kaum vorstellen, wie schlimm das für dich sein muss. Die Presse kann wirklich aufdringlich sein. Die Erfahrung habe ich jetzt auch schon ein paar Mal gemacht.«

Er fährt sich seufzend mit einer Hand durchs Haar. »Wenn’s nur die Presse wäre, käme ich damit noch irgendwie zurecht. Aber wohin ich auch gehe, überall erkennen mich die Leute und haben Angst vor mir. Das ist …« Er ringt nach dem richtigen Wort und findet keins.

Ich glaube nicht, dass es dafür ein Wort gibt. Manche Gefühle lassen sich einfach nicht beschreiben.

»Ich hab keine Angst vor dir«, flüstere ich, bevor ich überhaupt über meine Worte nachdenken kann. Aber es stimmt. Ich war zwar nicht dabei, aber ich vertraue Cami, und ich bin mir sicher, dass sie die Wahrheit sagt, wenn sie sagt, es war Notwehr. Dafür musste ich nicht einmal mehr die Geschichte von Ashs Zusammenprall mit Mick hören.

Jér trinkt etwas und lässt sich mit seiner Antwort Zeit. »Ach ja? Irgendwie wirkst du … anders.«

»Anders muss nicht unbedingt schlecht sein«, versuche ich zu witzeln, aber er lacht nicht. Natürlich nicht. Er muss längst gespürt haben, dass ich ihm am liebsten aus dem Weg gehen würde. Nur hat das andere Gründe, aber das weiß er ja nicht.

»Also … was wolltest du eben sagen?«

Ich atme tief ein und wieder aus. Soll ich? Soll ich nicht? Seufzend gebe ich mich geschlagen. »Es tut mir leid, dass ich mich nicht gemeldet habe. Ich hätte … Ich hätte wenigstens einen Brief schreiben können.«

»Ist schon okay.« Er winkt ab, aber die Enttäuschung ist ihm trotzdem anzusehen. Vielleicht hat er all die Zeit auf einen Brief von mir gewartet und mit jedem Tag, der verstrichen ist … Stop, Rose, ermahne ich mich, bevor mein Kopfkino daraus eine tragische Romanze spinnen kann. »Ich mein, es war ja nur ein One-Night-Stand.«

»Two«, korrigiere ich ihn, erleichtert darüber, das Thema wieder in sichere Gefilde lenken zu können. »Ein Two-Night-Stand. Einer von der richtig guten Sorte.«

Jetzt lacht er wieder. Leise und rau wie ein Winter in Kanada. Das Geräusch jagt mir einen wohligen Schauer über den Rücken.

»Ich schätze, das war ein Kompliment.« Er trinkt sein Glas aus und stellt es auf die Küchentheke, und irgendwie ist diese noch so kleine Geste der Startschuss für das Feuer zwischen uns. Sein Schatten bewegt sich auf mich zu, bis sein Gesicht vom Schein der Taschenlampe erleuchtet wird. Seine Augen mustern mich intensiv, seine Lippen sind leicht geöffnet und glänzen feucht.

Er ist mir so nah, dass ich den markanten Duft inhalieren kann, der mir so sehr gefehlt hat. Nächtelang habe ich wachgelegen und über das Bild nachgegrübelt, das er von mir gezeichnet hat. Wochenlang seinen Prozess verfolgt und Cami ausgefragt, um zu erfahren, wie es ihm geht. Briefe geschrieben, die ich niemals abgeschickt habe. Weil ich es irgendwann nicht mehr konnte.

Irgendwann war ich endlich soweit, dass ich weitermachen wollte.

Und nun steht er vor mir, zum Greifen nah, und die Gefühle der letzten zwei Jahre prasseln in einem Augenblick auf mich nieder.

»Jér«, wispere ich, und in diesem einen Wort steckt so viel Sehnsucht, dass ich es selbst kaum glauben kann. Ich stelle mein eigenes Glas hinter mich und mache einen Schritt vor, ihm entgegen, weil ich ihn so dringend spüren will, um zu wissen, dass er es wirklich ist. Dass er wirklich frei ist.

Ich schließe den geringen Abstand zwischen uns und stelle mich auf die Zehenspitzen, um ihn zu küssen. Es ist ein zaghafter Kuss, einer von denen, die man sich geben würde, wenn man zum ersten Mal jemanden küsst. Aufregung und Unsicherheit wechseln sich ab, während ich auf seine Reaktion warte. Die Sekunden vergehen, in denen sein Atem meiner ist und meiner seiner. In dem wir so dicht beieinander stehen, dass wir eins sein könnten. In dem uns unzählige Szenarien durch die Köpfe gehen, wieso wir es nicht tun sollten.

Und wir tun es trotzdem. Im nächsten Augenblick erobert sein Mund meinen, seine Hände finden ihren Weg an meine Hüften, meine Finger ihren Weg in seinen Nacken, um ihn zu mir zu ziehen. Die Wucht unseres Kusses treibt mich rückwärts, bis ich plötzlich die Küchentheke im Rücken habe.

Er schmeckt nach Zahnpasta und der Erinnerung an vergangene Nächte in einem Hotelzimmer, und er fühlt sich auch genauso an. Als hätte niemals Zeit dazwischen gelegen. Als würden wir einfach da weitermachen, wo wir aufgehört haben.

Mir entweicht ein kehliges Stöhnen, weil er mich auf die Küchentheke hebt und meine Beine auseinanderdrängt. Ich verhake die Füße hinter seinen Hüften und drücke mich an ihn, um das zu spüren, wonach ich mich so sehr gesehnt habe.

Sein Mund verlässt meinen und hinterlässt stürmische Küsse auf meiner erhitzten Haut. Seine Zähne kratzen über die empfindlichen Stellen an meinem Hals. Ich erschaudere und klammere mich an ihn, weil ich merke, wie ich in seinen Armen dahinschmelze. Ich lasse meine Finger unter sein T-Shirt gleiten, spüre das Zusammenspiel aus harten Muskeln und weicher Haut.

Er atmet scharf ein, weil ich mit dem Finger den Bund seiner Hose entlangfahre, und zieht sich zurück. Ich protestiere schwach, weil ich denke, dass er sich einfach nur sein T-Shirt ausziehen will, aber stattdessen löst er sich aus meiner Umklammerung und weicht soweit zurück, dass er die Kücheninsel im Rücken hat.

»Rose, wir sollten das nicht tun«, wispert er atemlos. »Das ist keine gute Idee.«

Verwirrt und irgendwie verletzt gleite ich von der Theke hinunter und zupfe an meinem Oberteil. Wie kann er sich jetzt zurückziehen? Wieso hat er mich überhaupt geküsst, wenn er so empfindet?

»Ich … es tut mir leid.« Er hebt entwaffnend die Hände. »Ich will dich da nur nicht mit reinziehen. Schlimm genug, was meine Familie durchmachen muss.«

Ich will ihn anschreien. Ihm sagen, dass mir das alles egal ist, solange er einfach der Mann ist, wie ich ihn kennengelernt habe, aber insgeheim weiß ich, dass er recht hat. Es wäre keine gute Idee. Zu viele Geheimnisse stehen zwischen uns, zu viel Presse beobachtet jeden unserer Schritte.

Wir sind nicht dafür gemacht, zusammen zu sein.

»Okay«, gebe ich mich geschlagen. Was soll ich auch sonst sagen? Anflehen werde ich ihn bestimmt nicht, auch wenn das Brennen zwischen meinen Beinen gerade nichts lieber als das tun würde. Stattdessen schnappe ich mir mein Handy und eine Flasche Wasser und gehe in Richtung Schlafzimmer. Bevor ich die Tür zum Flur öffne, bleibe ich nochmal stehen und lausche einen Moment in die Stille. Mein Herz hat sich immer noch nicht wieder beruhigt. »Gute Nacht, Jér«, wispere ich und gehe zurück in mein Zimmer, um mich mit einer neuen Playlist von den Gedanken abzulenken, die mich ansonsten die ganze Nacht wachhalten würden.

 

[6]

Vor zwei Jahren

 

Ich lasse meinen Blick über die nackten Glühbirnen über der Bar gleiten, nehme die ledernen Barhocker auf, die ganze Reihe an Spirituosen, die Spiegel und schwarzen Tafeln, die mit weißer Kreide beschrieben sind und einen großen Teil der roten Backsteinwand bedecken. Im Hintergrund wird leise Jazz-Musik gespielt.

Es ist nicht so voll, wie es vermutlich am Wochenende wäre, aber trotzdem mussten wir einen Moment warten, bevor man uns an diesen kleinen Tisch geführt hat. Ich nutze die Zeit, die Jérôme auf der Toilette verbringt, um meine Nachrichten zu checken und noch mal in den Spiegel zu schauen. Er kehrt sehr bald zurück und setzt sich mir gegenüber auf den Stuhl. Er wirkt entspannt, streckt die Beine von sich, legt eine Hand auf den Tisch, um nach der Karte zu greifen.

»Weißt du schon, was du isst?«, fragt er mich und widmet sich dem Menü, so dass ich ihn ungestört betrachten kann. Er sieht überhaupt nicht aus wie Camille. Vielleicht sind sie Halbgeschwister, vielleicht ist sie auch nur seine Adoptivschwester? Das Einzige, was ihnen gemein ist, sind die Sommersprossen und die vollen Lippen. Ansonsten sieht er aus wie von einem anderen Kontinent. Die dunkle Haut, das braune Haar, das er kurz geschoren hat, die eleganten Brauen und das sexy Lächeln, das er mir auch jetzt wieder schenkt, weil er merkt, dass ich ihn betrachte.

»Gefällt dir, was du siehst?«, fragt er belustigt.

»Hm«, mache ich und grinse ihn an, bevor ich mit den Brauen wackle. »Vielleicht. Ich bin noch ein bisschen unentschlossen, ob dich deine Sommersprossen niedlich oder sexy machen.«

Seine Augen weiten sich, aber dann lacht er. »So, niedlich oder sexy also. Ich denke, damit kann ich mich anfreunden.«

Er will mir die Karte reichen, aber ich winke ab. »Bestell du etwas für mich. Ich lass mich gerne überraschen«, erkläre ich ihm. In Wahrheit brauche ich ewig, um eine Karte zu studieren, weshalb ich oft genug vorher im Internet schaue, was das Restaurant anbietet. Aber das muss er ja nicht wissen. So denkt er vielleicht, ich wäre abenteuerlustig, und das scheint ihm zu gefallen - seinem Blick nach zu urteilen.

Der Kellner kommt und nimmt unsere Bestellung auf. Ich gönne mir einen Cocktail, weil ich schon ewig keinen mehr getrunken habe. Jérôme entscheidet sich für ein Bier, bevor er in einem Schwall Französisch etwas zu essen für uns bestellt. Ich verstehe kein Wort, aber das ist okay, weil ich ihm trotzdem gerne zuhöre. Seine Stimme nimmt diese Tonlage an, die direkt in meinen Unterleib schießt. Unwillkürlich stelle ich mir vor, wie er mir nachts französische Dinge ins Ohr flüstert. Er könnte mich vermutlich aufs Wildeste beschimpfen, und ich würde es trotzdem scharf finden.

»Also«, setzt Jérôme an, nachdem der Kellner wieder verschwunden ist. »Was führt dich nach Toronto?«

»Meine Schwester«, erwidere ich. »Sie und ihr Freund waren Ashs beste Freunde, als er noch in New York gewohnt hat. Nun haben sie sich verlobt, und was ist schon eine Verlobung, wenn der beste Freund sie nicht mit ihnen feiert?«

Jérôme legt den Kopf schief. »Man sollte meinen, ein erwachsener Mann würde von allein auf die Idee kommen, seinen besten Freunden zur Verlobung zu gratulieren.«