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Ein idyllisches Gutshaus in den südschwedischen Wäldern ist Schauplatz des Romans Huller om Buller. Auf den ersten Blick ist das Haus aus dem 19. Jahrhundert von einem betagten Ehepaar, Lisbeth und Jesper sowie einem Mops und einer Katze bewohnt. Auf den zweiten Blick leben unzählige kleine Nager unter demselben Dach in einer Art Parallelwelt. Doch gibt es Momente, wo beide Kosmen aufeinander treffen. Als Lisbeth und ihre Enkelin Moa entführt werden, besteht die Gefahr, dass das Haus an eine Familie mit Maine-Coon-Katzen-Zucht verkauft wird, um die Lösesumme aufzubringen. Und so lassen die Mäuse nichts unversucht, die beiden Menschen aus den Fängen der Verbrecher zu befreien. Dabei sind sie nicht allein. Doch wird ihnen die Mission mit Hilfe zahlreicher Mäuse in der nahen und fernen Umgebung, Ratten, Dachse, Fledermäuse und Schwanzmeisen gelingen?
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Seitenzahl: 198
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Andor Schönfelder, Jahrgang 1972, lebt und arbeitet als Autor in Schweden.
Neben zahlreichen Illustrationen hat er die folgenden Bücher geschrieben und gestaltet:
Hand in Hand durchs Alphabet mit den Letterbabies
Erste Worte mit den Letterbabies - Von Apfel bis Zebra
ABC-Abenteuer im Wald mit den Letterbabies
Dieses Buch ist Alice gewidmet, die mich oft in einsamen Nächten besucht hat und mit der ich die eine oder andere Erdnuss geteilt habe.
Menschen denken, sie würden sich Häuser aussuchen.
Doch in Wahrheit suchen sich die Häuser ihre Menschen aus. Denn Häuser sind beseelt. Von uns. Den Mäusen.
Dieses Buch ist frei aus dem Mäusischen übersetzt.
Haupt-Protagonisten
Menschen verschwinden nicht einfach so
Hilfe naht
Neue Erkenntnisse
Madame Lena Rattatsky
Der Tag bricht an
Fahrt nach Karlskrona
Money, money, money
Lorem und Ipsum, bitte kommen!
Die Besucher oder…
Zwei Menschen in Not
Code Red
Die Flucht
Rettungsplan
Alles zu spät?
Der Tag der Entscheidung bricht an
Schwanzmeisenkonzert
Die Käufer sind da
Haupt-Protagonisten
Weißohr-Vincent
Spähermaus und Mitglied Ermittlerteam
Zartfuß-Molly
Gute Seele und Mitglied Ermittlerteam
König Friedrich
Exot und Mitglied Ermittlerteam
Bödel-Bertil
Die Ratte fürs Grobe
Fastfoot-Fanny
Vagabundenmaus
Garderoben-Gustav
Vagabundenmaus
Auspuff-Albin
Vagabundenmaus
Erik Einzahn
Der Archivar
Flitzer-Pelle
Die rechte Pfote des Archivars
Alpha-Klapperkralle
Morsemaus
Omega-Scharfohr
Morsemaus
Pi-Hammerzahn
Morsemaus
Mme Lena Rattatsky
Mystische Ratte und Gründerin des Ordens zum goldenen Käse
Menschen verschwinden nicht einfach so
„Da stimmt doch was nicht“, brummt Weißohr-Vincent leise vor sich hin. Aus einem Riss im Deckenbalken kann er das Geschehen im Büro unter sich beobachten.
Seit gefühlten Ewigkeiten kennt Weißohr-Vincent die Menschen, die im roten, alten Gutshaus aus dem Jahr 1842 leben. Als Spähermaus ist er für die Mäusegemeinde verantwortlich, die Menschenwelt zu beobachten und jede Veränderung unverzüglich dem Archivar – Erik Einzahn - zu melden.
Die beiden Menschen, die dieses einsam im Wald gelegene Holzhaus im Småland bewohnen sind Lisbeth und Jesper. Zwei Pensionäre mit Interesse für Kunst und Geschichte. Lisbeth sieht mit ihren kraus abstehenden, schwarzen schulterlangen Haaren und ihren knorpeligen Fingern ein wenig hexenhaft aus, aber in Wahrheit ist sie eine tierliebe und harmlose Frau, die ihre Freizeit mit Vogelfüttern, alten-Mops-füttern, alte-Katzefüttern und Bestücken von Lebendmausefallen mit bester Bioerdnussbutter verbringt. Ansonsten hält sie sich stundenlang in einem alten Steinhaus auf, das sich auf dem großen Grundstück befindet und das sie als Atelier nutzt. Dort malt sie großformatige Blumenbilder, die sie auf regelmäßigen Ausstellungen für ein Heidengeld verkauft. Oder besser: verkaufen will. Käufer hat sie bislang für ihre teuren Schätzchen nicht gefunden. Dafür ist der gemeine Småländer einfach zu geizig. Aber das ist ein anderes Thema.
Ihr Mann Jesper ist ein echter Riese. Nicht nur für Mäuse, sondern auch für Menschen. Mit seinen 2,01 m Körperlänge ist er drei Köpfe länger als seine Frau. Ein Bäuchlein zeugt von seiner Vorliebe für Kochen, Backen und Essen. Durch seine Körpergröße bewegt er sich für Menschen verhältnismäßig langsam, während seine Frau meist quirlig umherflitzt. Neben lukullischen Genüssen liebt Jesper Bücher über alles und hat dieses Haus mit zahllosen Metern Bücherregalen versehen, dass es für den Mäuse-Archivar Erik Einzahn ein wahres Paradies ist. Denn auch er liebt Bücher und Geschichte – wie Jesper. Es ist daher auch kein Wunder, dass Jesper die meiste Zeit in seinem Büro bzw. seiner Bibliothek verbringt und neuste alte Kamellen herauskramt, über die er dann abends beim – von ihm kreierten – Drei-Gänge-Menü seiner Frau berichten kann, die gewöhnlich nur halb hinhört, um dann sofort von ihren neusten Gemäldeideen zu erzählen, für die Jesper wiederum kein Ohr hat, wie der Mensch bildhaft sagt. Trotz dieser Kommunikationsdefizite sind beide ein Herz und eine Seele.
So jedenfalls sieht ihr Leben für gewöhnlich aus. Seit sechs Tagen ist hier deutlich mehr Trubel eingekehrt, da die neunjährige Enkeltochter Moa aus Florida ihre Ferien bei ihren Großeltern verbringt. Seit dieser Zeit sind Oma und Opa nur damit beschäftigt, Moa jeden Wunsch von den Augen abzulesen. Die Mäuse haben sich mit dem Neuzugang trotz regelmäßiger Geigen-Übungsstunden arrangiert, zumal dieser ja nur temporär hier ist. In zwei Wochen geht es wieder nach Hause zu ihrer Mutter Grace und ihrem Vater Oscar, dem Sohn und einzigen Kind von Lisbeth und Jesper.
Die zierliche Moa ist wie ihre Eltern und Großeltern ausgesprochen tierlieb und daheim in Florida ist sie stolze Besitzerin eines Nymphensittichs „Herman“, der die meiste Zeit auf Moas Kopf verbringt und sich in ihren blonden Locken versteckt. Kein Wunder, dass bei Oma und Opa daher deren alter Mops Pontus und die ebenfalls in die Jahre gekommene Katze Amanda klar im Fokus stehen.
Von beiden Vierbeinern geht keine unmittelbare Gefahr aus. Der schwarze Mops ist mittlerweile dreizehn Jahre alt, hat einen weißen Bart und nur noch vier Zähne. Aber da er nie einen Jagdtrieb innehatte war auch sein früherer Komplettsatz an Kauwerkzeugen kein Mäuserisiko. Man kann ihn gar nicht übersehen oder besser überhören, weil er alles, wirklich alles, lautstark vollführt – egal ob Schlafen, Laufen oder Futtern. Alles ist von einem Grunzen, Schnarchen, Schlurfen oder Furzen überschattet, manchmal auch alles gleichzeitig. Pontus´ Mundgeruch ist zwar grenzwertig, aber nicht lebensbedrohlich. Das größte Ärgernis sind seine Hinterlassenschaften, die er ungeniert im gesamten Garten verteilt und die Jesper nur entfernt, wenn der Großteil unter seinen Sohlen ins Haus getragen wird – Lisbeth interessiert sich gar nicht dafür, typisch Künstler. Aber hat sich schon mal ein Mensch Gedanken gemacht, was das für den Eingangstunnel einer Maus bedeutet, wenn … naja, lassen wir das.
Amanda hingegen hat bereits zahlreiche Mäusebücher gefüllt. „Amanda, die Schreckliche“ oder „Amanda, die Wahnsinnige“ sind da nur zwei von vielen Titeln. Denn dieses alte Katzen-Weibsbild war in ihren jungen Jahren die Inkarnation des Bösen. Unvergessen der „Krallensalto-Mortale“: Eine Maus, aufgehängt an der Kralle schießt durch die Luft, überschlägt sich und landet im vollen Proseccoglas der kreischenden Lisbeth. Kaum ein Mäuse-Bewohner des Hauses hat nicht Freunde oder Verwandte durch Amanda verloren. Doch das ist schon lange her. Heute kann es aber immer noch geschehen, dass sie wie ein Stein auf der Terrasse liegt und eine nichtsahnende Maus an ihr vorbeischlendert und plötzlich in Amandas Todesrachen landet… Vor Katzen – egal, wie alt sie sind, wie sie aussehen, ob sie schlafen, wie agil, wie dick, wie „kuschelig süß“ sie sind - muss maus ständig auf der Hut sein.
Apropos auf der Hut sein:
Weißohr-Vincent beobachtet jede Handbewegung Jespers, der zitternd nach weiteren Telefonnummern in seinem Adressbuch sucht. Jetzt ruft er wieder jemanden an.
„Barbro… Ja, entschuldige, dass ich in der Mittagszeit störe, aber ich wollte fragen, ob Lisbeth mit unserer Enkelin bei dir ist?“ Weißohr-Vincent schiebt ein Öhrchen durch den Balkenriss, um die Antwort zu hören. Nichts.
„Nein, nicht? Ja…. Ich kann Lisbeth nicht erreichen. Ich mache mir solche Sorgen!“, sagt Jesper leise.
„Nicht nur du“, flüstert Weißohr-Vincent. Jesper berichtete Barbro, was geschehen war und was er nun schon zehnmal wiederholt hatte, weil er bei sämtlichen Freunden in der Umgebung angerufen hatte: dass sie zusammen mit deren Enkelin Moa verschwunden ist.
Weißohr-Vincent hatte von Anfang an alles beobachtet: Morgens um 09:07 Uhr verabschiedeten sich Lisbeth und Moa mit geschätzten dreihundert leeren Einkaufsbeuteln und wollten nach Växjö zum Einkaufen fahren. Normalerweise - wenn Lisbeth allein war - war sie dann maximal dreieinhalb Stunden unterwegs und kam mit ihrem alten Volvo Amazon nach Hause, den Jesper dann entladen durfte. Wie gesagt: normalerweise.
Nun waren sie aber schon seit über fünf Stunden weg. Jesper hat seit zwei Stunden beinahe ununterbrochen versucht, seine Frau auf dem Handy zu erreichen. Ohne Erfolg. Seine Enkelin hatte ihr Telefon daheim gelassen. In Absprache mit den Eltern sollte es in Schweden Internetfrei geben… Auch Anrufe bei verschiedenen Krankenhäusern, ob etwas passiert sei, ergaben keine weiteren Erkenntnisse. Verkehrsunfälle konnten nach Polizeiaussage auch ausgeschlossen werden.
Was ist passiert?
Hilfe naht
Weißohr-Vincent schluckt schwer, als er beobachtet, wie Jesper zitternd den Telefonhörer in die Aufladeschale zurückstellt. Jesper geht zum Fenster und blickt sorgenvoll in den Garten. Pontus schläft und bekommt gar nichts von alledem mit und Amanda schaut blinzelnd von ihrem Sessel zu Jesper auf. Irgendetwas stimmt nicht, das merkt auch sie, aber sie ist doch zu müde, um sich tiefere Gedanken zu machen. Ihr Haupt senkt sich und mit einem tiefen Schnurren begibt sie sich in das Reich der Träume.
„Ich muss das berichten! Oder ist es noch zu früh? Vielleicht überreagiert Jesper? Hat er heute schon seine Blutdrucktabletten genommen?“, fragt sich Weißohr-Vincent leise selbst, denkt kurz nach und eilt den Kabelkanal entlang zur Nische vom Archivar Erik Einzahn. Ohne Anzuklopfen springt er in dessen Büro. Zwischen den Deckenbohlen des Untergeschosses und den Bodenbohlen des Obergeschosses hat sich Erik Einzahn ein gemütliches Kontor aus Dämmwolle und Moos geschaffen, in dem sich tausende kleiner Papierschnipsel und Zettelchen türmen. Mitten im Raum befindet sich sein Schreibtisch – eine umgedrehte, leere Camembert-Holzschatulle. Um den Tisch verteilt sind lauter Weinkorken, die normalerweise als Sitzgelegenheiten dienen. Aber alles ist voller Papierschnipsel, sowohl der Tisch als auch die Korken… Der Archivar blickt schweigend zu Weißohr-Vincent, durch dessen hastiges Springen sämtliche Papiere von den Korken auf den Boden geweht sind.
„Ups… ´tschuldigung!“, sagt Weißohr-Vincent und atmet aufgeregt.
Der Archivar ist nicht einfach eine Maus… Der Archivar ist der Senior unter den Mäusen im Haus. Niemand weiß genau, wie alt er ist. Manche Maus mutmaßt, dass er unsterblich sei und das Haus bereits seit Baubeginn bewohnte, ist er vielleicht in Wahrheit ein Vampir? Er ist eine kleinwüchsige Hausmaus und sehr belesen. Er kennt alle, wirklich alle Erzählungen von früher. Er verfasst zu sämtlichen Geschehnissen Aufzeichnungen, die im Archiv auf dem Dachboden gelagert werden. Er ist außerdem Lehrer in der Mäuseschule, speziell für Geschichte, Menschenkunde und Humanphilosophie. Sein strenges, etwas furchterregendes Äußeres, sein Blick aus seinen milchig glänzenden Augen, der gebückte Gang und sein vorstehender Zahn bringen ihm Respekt bei. Kein Mäuseschüler wagt einen Mucks … ebenso wenig Weißohr-Vincent, normalerweise.
Der Archivar fixiert ihn, Weißohr-Vincent blickt auf Eriks einen Zahn. Entgegen erster Mutmaßungen stammt sein Name nicht von seinem durch sein hohes Alter entstandenen lückenhaften Gebiss. Ein Zahn stand von Geburt an vor, daher heißt er schon seit vielleicht wahrhaftigen Ewigkeiten Erik Einzahn. Ähnlich entstand auch übrigens Vincents Name, der mit einem schneeweißen Ohr auf die Welt kam, während sein anderes Ohr – wie sein übriges Fell – dunkelgrau war und noch ist.
Weißohr-Vincent will gerade fortsetzen: „Es ist so…“, als der Archivar sein Schweigen beendet und ihn unterbricht:
„Ich habe einen Termin. In exakt dreizehn Sekunden kommen König Friedrich und Zartfuß-Molly. Geh am besten zu meinem Assistenten und mach einen Termin. Er ist gerade im Archiv und macht einen Botengang für mich. Danach kommt er wieder. Solange musst du warten!“
Seine graue Eminenz weiß gar nicht, worum es geht!, denkt Weißohr-Vincent, als just in dem Moment Zartfuß-Molly und König Friedrich in den Raum eintreten. Beide begrüßen ihn und den Archivar.
König Friedrich fragt Weißohr-Vincent: „Bist du auch mit dabei? Das ist ja klasse.“
„Bei was dabei?“, fragt Weißohr-Vincent verwirrt.
„Wir eruieren ja gerade das Thema, wie die Beschaffenheit von Dämmmaterial die Mäusepopulation im Laufe der letzten fünfzig Jahre beeinflusst hat im direkten Vergleich zur Menschenpopulation. Ganz interessant. Früher lebten in diesem Haus sage und schreibe siebenundzwanzig Menschen, das muss man sich mal vorstellen. Heute leben nur noch zwei Menschen hier. Molly vermutet, dass dieses Phänomen mit dem Wechsel der Dämmstoffe zusammenhängt. Was meinst du?“, fragt König Friedrich den völlig verdutzten Weißohr-Vincent, dessen markantes helles Ohr nun schon das dreiundvierzigste Mal aufgeregt hin und her zuckt.
„Ich…“, stammelt er, bis er sich endlich zusammenreißt und laut ruft: „Lisbeth ist verschwunden!“ Alle drei blicken ihn eindringlich an.
„Wer ist Lisbeth?“, fragt König Friedrich. Nun blicken alle zu König Friedrich.
So eine Frage kann nur von König Friedrich kommen. König Friedrich ist ein attraktiver Mäuserich und gleichzeitig völlig verkopfter Theoretiker. Dass schöne Mäuse also automatisch einfältig sind passt absolut nicht. Er weiß unglaublich - im wahrsten Sinne des Wortes - viel, denkt ausgiebig nach, verknüpft, hat die intelligentesten Ideen und sprunghaftesten Einfälle, fügt die entferntesten Möglichkeiten zusammen und verknotet sie, dass man fast den Eindruck haben kann, er sei ein Genie. Man könnte aber auch sagen: er ist verrückt. Wenn man jetzt noch seine Erzählung hört, wie er nach Schweden kam und ausgerechnet bei Lisbeth und Jesper landete, die er (sic!) nicht kennt, gibt es kaum Zweifel: Über Umwege kam er im letzten Sommer in einem Wohnmobil aus Deutschland an, hatte sich während einer Pause an der A4 bei Värnamo unter dem Wagen die Beine vertreten und ehe er es sich versah, fuhr der Wohnwagen davon. Das Haus von Lisbeth und Jesper war das erste Gebäude nach tagelangem Umherirren und den waghalsigsten Abenteuern im Wald (die können ein ganzes Buch, ach was, ganze Bände füllen, wirklich!). Seine Geschichte, dass er angeblich ein von einer bösen Hexe verwunschener König aus Deutschland sei, der ins Exil geschickt wurde, war zwar seltsam, konnte aber wahr sein, oder? Nun denn, er hat meist ein verschmitztes Lächeln im Gesicht und seine Tasthaare haben an den Enden einen markanten Schwung nach oben, so dass sie beinahe wie ein preußischer Schnurrbart aussehen. Er legt allergrößten Wert auf Körperpflege und Ästhetik.
Ein wenig verzweifelt kratzt sich Weißohr-Vincent am Kopf.
„Also…“, will er gerade beginnen, als Zartfuß-Molly, die mit ihren rosafarbenen, weichen Füßen ihrem Namen alle Ehre macht, beginnt:
„Lisbeth und ihrem Mann Jesper gehört das Haus, in dem wir wohnen. Das alles hier…“, sie gestikuliert wild und blickt zur Decke, zum Boden und an die Wände, „gehört den beiden Menschen. Und wenn Vincent sagt, dass Lisbeth verschwunden ist, dann stimmt etwas gewaltig nicht. Es gibt nun mal keine Maus, die sich besser mit den beiden Menschen auskennt, als Vincent. Und wenn Lisbeth verschwunden ist, dann sollten wir…“, als sie vom Archivar unterbrochen wird: „nichts tun!“
Erik Einzahn blickt die drei durchdringend an.
„Es sind Menschen. Wir sollten ihr Verhalten nicht zu sehr vermäusischen. Menschen kommen und gehen. Sie machen Ausflüge, treffen sich mit anderen Menschen, machen Spaziergänge mit ihren Hunden, haben Autopannen, verlaufen sich, schlafen auf dem Abort ein, oder was auch immer…“
Weißohr-Vincent unterbricht ihn: „Mit Verlaub. Lisbeth ist extrem zuverlässig. Und man sollte nicht so leichtfertig über sie reden, als wäre sie IRGENDEIN Mensch. Sie ist uns gegenüber stets loyal gewesen, hat nie irgendjemandem von uns etwas Böses gewollt, keine einzige Maus kam durch sie ums Leben. Wie viel Erdnussbutter und Bio-Kekse sind durch deinen Verdauungstrakt gewandert? Bei euch allen?" Weißohr-Vincent blickt alle drei eindringlich an.
„Nur durch sie! Sie kauft extra Delikatessen nur für uns!!! Die Lebendfallen heißen sogar Mäuse-Villa! Können wir uns irgendwie beklagen??? Erik, muss ich ausgerechnet dich darauf hinweisen, wie viele Voreigentümer die schrecklichsten Fallen aufgestellt haben und unsere Vorfahren ohne mit der Wimper zu zucken massakriert haben??? Nie jedoch Lisbeth!“ Weißohr-Vincent redet sich allmählich in Rage. Er mag Lisbeth. Auch wenn sie ein Mensch ist.
Der Archivar nickt und sagt: „Nur die Dümmsten!“
„Bitte?“, fragt Zartfuß-Molly verdutzt.
„Nur die Dümmsten wurden getötet. Wie oft habe ich in der Mäuseschule vor der Gefahr der Todes-Fallen gewarnt? Aber nein. Das Stück Käse roch doch so gut! Gratis-Käse, der einfach so herumliegt, wie durch Zufall… Wie oft habe ich…“
„Wir driften doch total ab! Es geht um Lisbeth! Und nicht nur um sie, ihre Enkeltochter Moa ist auch verschwunden!“, unterbricht Weißohr-Vincent hastig.
„Das Kind?“, fragt Zartfuß-Molly entsetzt. Weißohr-Vincent nickt. Dass Moa auch verschwunden ist hat er bislang unerwähnt gelassen. Durch die besagten Geigen-Stunden, die ein Dröhnen im gesamten Haus verursachten und für die zarten Mäuseohren echte Folter bedeuteten, befürchtete er, dass seine Mäusekollegen deren Verschwinden willkommen heißen würden. Und ein Blick auf das grinsende Gesicht des Archivars, der unter den kakophonischen Einheiten besonders litt, bestätigt ihn in seinen Befürchtungen.
Rasch führt er aus: „An sich bin ich hierhin gekommen, weil ich wissen wollte, ob das schon mal vorgekommen ist und ob du in deinem reichen Wissen eine Idee hast, was wir machen können!“
„Dass jemand verschwindet kommt vor, auch hier. Jetzt wo du es sagst: Vielleicht ergeht es Lisbeth und ihrer Enkelin so, wie der früheren Witwe und Hauseigentümerin Gunnhild Björnsdotter vor einhundertsiebenunddreißig Jahren!“
„Was ist da passiert?“, fragt Zartfuß-Molly aufgeregt.
„Auf einem Spaziergang wurde sie von einer Horde Wildschweine gefressen. Da konnte man gar nichts machen“, antwortet der Archivar trocken.
Hier muss man gerechterweise hinzufügen, dass der Archivar durch sein umfassendes Wissen, auch vor allem über das menschliche Wesen und die teils brutalen Verhaltensweisen des Homo sapiens gegenüber der Mus musculus, der gemeinen Hausmaus, mit seiner Empathie gegenüber Lisbeth eher sparsam umgeht. Auch wenn er weiß, dass sich Lisbeth deutlich anders verhält als die Menschen vor ihr. Die Papierberge im Archiv lassen grüßen. Aber aus seiner Sicht bleibt Mensch halt Mensch.
„Ich denke, wir müssen ihnen helfen!“, sagt Weißohr-Vincent unvermittelt.
„Ich bin dabei!“, strahlt König Friedrich.
„Ich auch“, sagt Zartfuß-Molly.
„Meinetwegen! Der Mäuse Willen ist ihr Himmelreich“, murmelt der Archivar, „ich muss jetzt auch weitermachen. Der Termin ist beendet!“, und zeigt den dreien den Ausgang.
Beim Hinausgehen fügt König Friedrich an: „Das ist dann mein erster Menschenfall. Vielleicht wurden sie entführt. Vielleicht auch von Außerirdischen. Das ist dann auch mein erster Außerirdischen-Fall! Das wird aufregend!“
Zartfuß-Molly blickt vorsichtig zu Weißohr-Vincent, der die Augen verdreht und sie anlächelt. Trotz Friedrichs merkwürdiger Ideen ist er vor allem froh, dass er mit der Sorge um Lisbeth und Moa und der Suche nach ihnen nicht allein ist.
Die drei gehen zu Weißohr-Vincents Aussichtsposten über Jespers Büro. Der Mops und Amanda schlafen. Aber Jesper ist weg. Weißohr-Vincent gerät in Panik und läuft sämtliche Kabelkanäle ab, um nach ihm zu suchen. Friedrich und Molly bleiben in ihrem Versteck über dem Büro.
Nach einer Minute kehrt Vincent zurück: „Er macht sich auf den Weg. Ich glaube, er will mit seinem Motorrad los!“
„Jesper hat ein Motorrad?“, fragt Friedrich.
„Ja, mit Beiwagen!“, antwortet Molly und läuft unvermittelt los.
„Wir können doch mitfahren!“, meint König Friedrich. Ein Motorengeräusch erschallt. König Friedrich und Weißohr-Vincent springen durch eine Lücke auf die Bodenbohlen des Obergeschosses und von dort klettern sie über einen Stuhl hinauf auf die Fensterbank des großen Halbmondfensters. Nun können sie Jesper beobachten.
„Dafür ist es zu spät, fürchte ich. Wollen wir hoffen, dass die drei Vagabundenmäuse im Beiwagen schlafen und uns später berichten können!“, sagt Weißohr-Vincent. Das Motorrad fährt los. Jesper ist weg.
Kurze Zeit später kommt Molly zurück. Völlig aus der Puste meint sie, dass nur Fastfoot-Fanny mitgefahren sei. Garderoben-Gustav sei gestern Abend im Kartoffelkeller versackt und scheint noch immer in seinem Schrank zu schlafen… und wo Auspuff-Albin sei wüsste sie auch nicht, vermutlich sei auch er im Kartoffelkeller.
„Okay, dann bin ich gespannt, was Fastfoot-Fanny nachher erzählt“, meint Vincent, „parallel dazu sollten wir alle Mäuse im Haus befragen, ob von denen irgendwer etwas gesehen hat oder weiß oder ahnt.“
„Gute Idee, aber wir sollten auch eine eigene Suchanfrage aufgeben“, meint Molly, „wir müssen den Morsemäusen Bescheid geben, dass sie die Nachbarschaft informieren sollen!“
„Super, dann lern ich ja mal endlich Alpha-Klapperkralle kennen!“, meint König Friedrich lachend und reibt sich die Pfötchen.
„Absolut“, lächelt Zartfuß-Molly und meint, „es wird jetzt ein wenig beschwerlich.“
Durch die Kabelkanäle geht es wieder hinab bis ins Erdgeschoss, von dort führt eine Lücke in der Bodenbohle im Eingang zur Kelleretage. Auf dem Weg dorthin erläutert Weißohr-Vincent, wie die Morsemäuse über spezielle Klick- und Hammergeräusche Schall entwickeln und über teils unterirdische Steine sowie vorhandene Kanäle und Schächte Vibrationen hervorrufen und den Schall über Kilometer hinweg tragen können. Hinzu kommt, dass sie regelmäßig Kontakt zu Fledermäusen haben, die die Mitteilungen teils über Ultraschall weiterreichen. Hier können schier unglaubliche Entfernungen erreicht werden zu anderen Morsemäusen, die die Informationen weitergeben bzw. selbst Informationen an diesen Knotenpunkt schicken.
„Dieses Netz ist quasi ein paralleles Internet, nur nicht digital wie bei Menschen sondern analog. Aber dementsprechend wundere dich nicht, die drei Morsemäuse sind auch leicht nerdig wie IT-Experten in der Menschenwelt“, führt Weißohr-Vincent seine Ausführungen vorerst zu Ende.
Nun stehen sie direkt an der Bodenbohle. Hier heißt es Obacht, dass man vor lauter Überschwang nicht vergisst, dass Amanda und Pontus in der Nähe sein könnten. Zartfuß-Molly hält inne und spitzt ihre Öhrchen. Mit dem Zeigefinger vor dem Mund gibt sie Weißohr-Vincent und König Friedrich zu verstehen, dass sie keinen Laut verursachen dürfen. Der Mops liegt in der Küche unweit der Halle. Sie hören sein lautes Schnarchen, die Bodenbohlen geben den Klang vibrierend weiter bis in die Eingangshalle. Von der Katze ist nichts zu hören und zu sehen. Zartfuß-Molly gestikuliert winkend, dass es nun weiter geht.
Die drei eilen auf Zartfuß-Mollys Zeichen unter die Bohle, klettern durch einen engen Mäuseschacht hinab zum Fundamentstein unterhalb des Haupteingangs. König Friedrich klopft sich regelmäßig den Staub und Schmutz vom Pelz. ZartfußMolly und Weißohr-Vincent eilen vor und springen aus einer kleinen Luke hinein in eine Halle aus Steinen. Es sieht beinahe aus wie ein Iglu aus Steinen, kuppelförmig. Von außen betrachtet sieht dieses Konstrukt wie ein kleiner Steinhaufen aus, der bündig am großen Fundamentstein unterhalb des Erdgeschosses liegt, doch ist er hohl. Und bewohnt, nämlich von den Morsemäusen. Zartfuß-Molly klopft sich nun auch den Schmutz aus dem Fell, Weißohr-Vincent blickt zurück in den Schacht und sucht nach König Friedrich, der nun auch endlich ankommt. Auf seinem Kopf befindet sich noch Staub und an seinen Tasthaaren haben Spinnenweben einen voluminösen Bart gezaubert. König Friedrich ist von dem Raum aber so abgelenkt, dass er seine Verwandlung kaum registriert. Nur Zartfuß-Molly und Weißohr-Vincent schauen ihn an und grinsen.
Drei wohlgenährte Mäuse stehen schwer beschäftigt und voll konzentriert an einem Metalltrichter, der wiederum mit einem Kanal durch die Wand mit der Außenwelt verbunden ist. Die dickste von den drei Mäusen hat zwei mit einem Draht verbundene Fingerhüte auf den Ohren zur Lautverstärkung. Die drei sind so in ihre Arbeit vertieft, dass sie nicht einmal den Besuch bemerken. Erst als sich einer von den dreien zum Raum bewegt und sich ein Stück aus einem Keksvorrat genehmigt, blickt dieser zu den Besuchern.
„Darf ich vorstellen?“, fragt Weißohr-Vincent König Friedrich.
„Das sind unsere Morsegenies Alpha-Klapperkralle…“ Alpha-Klapperkralle genehmigt sich ein Stückchen Keks und sagt mit vollem Mund: „Tachchen!“
Weißohr-Vincent führt aus: „Das ist Pi-Hammerzahn!“ Der zweite im Bunde, der die ganze Zeit gebannt in den Trichter schaute, blickt auf und grüßt schweigend die Gäste. „Und der mit den Kopfhörern ist Omega-Scharfohr!“ Omega-Scharfohr reagiert nicht.
„Sorry, wir sind gerade in einer Versuchsreihe, die Frequenzen über Eisenfäden durch das Maulwurf-Kanalsystem zu verstärken. Einen Moment noch…“, meint Alpha-Klapperkralle und geht kauend zu seinen beiden Kollegen.
König Friedrich blickt fasziniert zu den Tüftlern und schaut sich alle Details in deren „Studio“ an. Man kann nicht sagen, dass die Morsemäuse große Freunde der Sauberkeit und Ordnung wären. Überall liegen Utensilien auf dem Boden, unterschiedlichste Metallteile, Holzteilchen, Drähte, Fäden, Essensreste. Und doch, trotz des Chaos findet sich eine gewisse Symmetrie im Ganzen.
„Ich hör was! Ich glaub, es klappt!“, schreit plötzlich Ome-ga-Scharfohr auf, „jaaa, eindeutig, es klappt!!!“, und reißt sich freudestrahlend die Kopfhörer herab, dreht sich um und blickt erschrocken zu Alpha-Klapperkralle, der laut kauend an seinem Keks nagt.
„Du warst das? Das darf doch nicht wahr sein!“ Alpha hört erschrocken auf zu kauen. Wieder setzt er sich die Kopfhörer auf und hört gebannt in den Trichter. Nichts. Enttäuscht blickt er zu seinen beiden Kollegen. Alpha kaut wieder.
„Tja, dann hat es noch nicht so funktioniert, wie erwartet. Wo sind die Chips?“, fragt er genervt und beachtet nach wie vor keinen der Gäste.
König Friedrich räuspert verlegen.
„Wer bist du denn?“, fragt Omega-Scharfohr und hebt die Augenbrauen.
„Hi Molly und Vincent!“, führt er noch an, „habt ihr hier zwei Kartoffel-Chips gesehen?“
„Mein Name ist König Friedrich und ich freue mich ausgesprochen, Sie alle kennen zu lernen. Ich habe so viel über Sie gehört und bin stolz, …“,