Hundechristus - Carlo Lucarelli - E-Book

Hundechristus E-Book

Carlo Lucarelli

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Beschreibung

De Luca will Gerechtigkeit um jeden Preis, über die politischen Verhältnisse hinweg – mit einem Showdown à la Tarantino! Bologna, 1943: Bei einer Razzia im Milieu der Schwarzhändler stolpert Commissario De Luca über eine Leiche – ohne Kopf. Niemand scheint an dem Mord interessiert, wo doch der Krieg so viele tötet; einzig De Luca beißt sich an dem Fall fest und findet tatsächlich einen Schädel. Dabei stößt er auf abgründige Vernetzungen zwischen faschistischer Miliz, Lockvögeln, Kokainhändlern, Zockern und altem Adel. Da wird Mussolini abgesetzt. Eine Welle der Euphorie erfasst das Land, einige Verdächtige tauchen unter. Doch nur Wochen später stehen die alten Strippenzieher und Spurenverwischer wieder oben, obwohl das Gesetz für alle gleich sein sollte: Jetzt muss De Luca seinen eigenen Kopf retten …

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CARLOLUCARELLI

HUNDECHRISTUS

EIN COMMISSARIO-DE-LUCA-KRIMI

AUS DEM ITALIENISCHEN VONKARIN FLEISCHANDERL

Severino, meinem Freund

Inhalt

Hundechristus

Danksagungen

Textnachweise

„Il Resto del Carlino“, Samstag, 24. Juni 1943, XXI, Italien, Reich und Kolonien, 30 Centesimi

DER FEIND WURDE IN DER EBENE VON CATANIA ZURÜCKGESCHLAGEN. Im Westen ziehen sich die Achsenmächte auf frühere Positionen zurück. – JAHRGÄNGE 1907 BIS 1922 WERDEN EINBERUFEN.

Lokales aus Bologna: ZÄHLUNG DER EVAKUIERTEN – KEIN STÜCK LAND BLEIBT UNBEBAUT, Kriegsgärten werden vergrößert – LEBENSMITTEL: Verteilung von Butter, montags von Kartoffeln. 80 Gramm Huhn oder Kaninchen für Personen, die sich rechtzeitig angemeldet haben.

Radio: 20 Uhr 30. Il signor Bruschino (Lustspiel von G. Foppa)

Er fiel hin und das rettete ihm das Leben, denn das Projektil durchschlug mit einem trockenen Hustengeräusch das Fenster und streifte seine Nackenhaare, hinterließ auf seiner Haut ein leuchtend rotes Mal wie von einer Verbrennung.

De Luca fiel zu Boden, er hatte keine Zeit, die Hände auszustrecken, und plumpste mit dem Gesicht auf ein pralles Bündel, das so weich war, dass es sich nicht wie ein Sack, sondern wie ein Kissen anfühlte.

Er war in das falsche Haus eingedrungen. Es war eine mondlose Nacht Ende Juli und er hatte sich in der Dunkelheit verirrt, er hatte so sehr aufgepasst, nicht in den Kanal zu fallen, dass er gar nicht auf die dunklen Silhouetten der Gehöfte am Stadtrand geachtet hatte, wo schon das offene Land begann. Aufgrund der Verdunkelung und mehr noch aufgrund des Bombardements am Vormittag, allerdings in der Ferne, waren die wenigen Laternen ausgeschaltet, und als De Luca vor der schwarzen, schnurgeraden Mauer stand, hatte er einfach Rassettos Plan ausgeführt: Er drang von hinten ein, während sich die anderen auf der Vorderseite Zugang verschafften.

Die Tür war nicht verschlossen, allein daran hätte er erkennen müssen, dass das nicht das Haus des Schwarzhändlers war, doch die militärische Seite der Einsätze war nie seine Stärke gewesen, er war immer viel zu nervös. Deshalb war er einfach weitergegangen, und da sich hinter der Tür eine Treppe befand, war er auf allen vieren hinaufgekrochen wie eine Katze, denn die Batterie seiner Taschenlampe war schon seit geraumer Zeit leer und er sah so gut wie nichts.

Am oberen Ende der Treppe nahm ihn das intensive Summen von Fliegen in der schwülen Luft gefangen. Er hatte keine Zeit, sich an die Dunkelheit zu gewöhnen, und stolperte über etwas zu seinen Füßen.

Dann war das Glas des einzigen Fensters unter dem vorspringenden Dach gesplittert, ein Brennen im Nacken, etwas Weiches, Pralles in seinem Gesicht, doch er hatte gar nicht bemerkt, dass man auf ihn geschossen hatte, und als er aufstehen wollte, rutschten seine Hände in einer Lache aus klebrigem Zeug aus. Wahrscheinlich hatte er beim Hinfallen einen Topf mit Zuckersirup umgestoßen. Er hatte nämlich gehört, wie ein Glas über die Bodenbretter rollte, der süßliche Geruch war ihm in die Nase gestiegen und er glaubte noch immer, er befände sich in einem Lager mit geschmuggelten Lebensmitteln.

Draußen setzte ein allgemeines Geschrei ein, diesmal hörte er den Schuss und begriff, dass er aus einer anderen Richtung kam, und da zog er die Pistole aus der Jackentasche, mit seinen klebrigen Fingern konnte er sie kaum halten.

Er kehrte zur Treppe zurück und lief sie rasch hinunter, zum einen wegen des Adrenalinschubs, zum anderen, weil die erste Kugel das mit einer Staubschicht überzogene Fenster durchbrochen hatte und nun etwas Licht hereindrang.

Den Stimmen folgend lief er um das Haus herum und trat auf den dunklen Hof. Dort lag ein Junge auf dem Boden, ein weißer Fleck in Unterhose und Unterhemd. Massaron, ein noch dunklerer und massiver Schatten, hatte ihn zu Boden gestoßen. Am metallischen Klimpern erkannte er, dass er ihm gerade Handschellen anlegte.

– Kompliment, Herr Kommissar, sagte Massaron begeistert zu ihm, sobald er ihn in der Dunkelheit erkannte. – Sie hatten recht, sie haben sich wirklich hier versteckt! Sie sollten das viele Zeug sehen!

– Wer hat geschossen?, fragte De Luca. – Er?, und zeigte auf den Jungen.

– Nein, ich. Zwei Schüsse in die Luft, zur Abschreckung.

Sehr gut, du Trottel, dachte De Luca, wusste jedoch nicht, ob er damit den Wachtmeister Massaron oder sich selbst meinte. Er lockerte den Krawattenknoten und knöpfte den Hemdkragen auf, damit er nicht an der Wunde im Nacken scheuerte, und ging über den Hof, wobei er sich an dem spärlichen Licht orientierte, das aus dem dunklen Schatten des zweiten Gehöfts, des richtigen, fiel. An der Tür stand Rassetto, er hatte einen schweren Vorhang beiseitegeschoben und machte ihm ein Zeichen mit der Hand.

– Bravo, De Luca!

Aufgrund des leichten sardischen Akzents sprach er das L wie ein Doppel-l aus, und sein Schnurrbart bedeckte seine Lippen, die zu einem unsichtbaren Lächeln verzogen waren. Egal ob er zufrieden oder zornig war, er bleckte immer sein Wolfsgebiss. – Wir haben Borsaro geschnappt! Woher kommst du eigentlich? Hättest du nicht oben sein sollen?

– Das ist eine lange Geschichte, sagte De Luca und betrat das Haus. Die Dunkelheit hinter dem dicken Vorhang und den geschwärzten Fenstern verschluckte ihn.

– Offenbar hatten sie mehr Angst vor Schnüfflern als vor Strafen wegen Missachtung des Verdunkelungsgesetzes, sagte Rassetto.

An der Decke befanden sich nur zwei Lampen, die die Mitte des Zimmers beleuchteten und die Ränder in der Dunkelheit beließen, aber sie reichten. Lange Würste wie knotige Finger hingen an den Deckenbalken, neben kleinen Schinken, deren Duft die Luft sättigte, sodass einem das Wasser im Mund zusammenlief. Salz- und Zuckersäckchen. Lardostücke. Mortadelle lagen übereinander wie Munition für Haubitzen. Große Korbflaschen, der fettige Strohmantel ließ darauf schließen, dass sie randvoll mit Öl waren. Klobige gelbe Seifenstücke, gestapelt wie Goldbarren. Irgendwo in der Dunkelheit war wohl auch Benzin, das erkannte man am Geruch, ein bitterer inmitten des süßen, salzigen und fetten des Fleisches, des stechenden der Seife, des intensiven Kaffeegeruchs. Es gab ja einen guten Grund, warum man Saccani Egisto als Il Borsaro, als den Schwarzhändler bezeichnete, selbst beim Sprechen fügte man immer den Artikel hinzu.

– Da drinnen liegt ein Schatz, sagte Corradini mit einem Stück Speck in der Hand, er grub die Finger ins Fett, um es festzuhalten.

Er hielt es Egisto unter die Nase, der mit den Händen am Kopf am Boden kniete. Er hatte eine Glatze und steckte in einem staubigen und fettigen Overall, sah ebenfalls aus wie ein Schinken, der vom Balken auf den Boden geplumpst war.

– Wie viel verlangst du für das Kilo? Hundert Lire? Mit Lebensmittelmarken würde er siebzehn kosten, aber wen kümmert es, dass die Leute verhungern?

Er strich über seinen Walrossbart und Egisto antwortete mit einem Zittern der Nasenflügel; seine Augen waren geschlossen und auf seinen Lippen lag noch immer das halbherzige Grinsen, das er sogar in dem Augenblick beibehalten hatte, als sie ins Haus eingedrungen und Keine Bewegung! und Polizei! geschrien hatten.

Massaron schubste den Jungen in Unterhose und Unterhemd ins Zimmer, der wegen der Handschellen das Gleichgewicht verlor und neben Egisto auf den Knien landete.

– Negroni Gianfranco, vierzehn Jahre, ohne festen Wohnsitz, sagte Massaron in bürokratischem Tonfall.

– Ein Schwarzhändler und Päderast, knurrte Rassetto. – Und vielleicht auch noch ein Jude!

– Nein, sagte De Luca, der noch immer im Dunkeln stand.

Niemand sah, dass er auf den Anhänger in Form eines Kreuzes zeigte, der aus Egistos Overall ragte, doch Rassetto hatte ihn ohnehin schon bemerkt. Er riss ihn mit einer raschen Bewegung ab, und Egistos halbherziges Grinsen ging in eine schmerzerfüllte Grimasse über.

– Das ist dein Gold für die Heimat?, knurrte er, und als er sah, dass sein Grinsen noch unverschämter wurde, versetzte er ihm einen Tritt in den Bauch, sodass er sich krümmte. Der Junge begann vor Angst zu wimmern.

De Luca machte einen Schritt nach vorne, er wusste, wie Maresciallo Rassetto drauf war, er hatte ihm zwar den militärischen Teil der Operation überlassen, doch im Grunde leitete er die Ermittlung zum König der Schwarzhändler.

Doch als er aus dem Dunkel in den Lichtstrahl trat, gab Maresciallo Corradini einen unterdrückten Schrei von sich, und auch Borsaros schiefes Grinsen verschwand. Massaron packte den Kommissar am Arm, als wolle er ihn stützen.

– Verdammt, De Luca!, sagte Rassetto, – du bist ja verletzt!

De Luca senkte den Blick und sah den dunklen Fleck auf seinem Hemd und auch die Flecken auf den Ärmeln seiner weißen Jacke.

– Beruhigt euch, sagte er, – … das ist Zuckersirup. Ich bin ins falsche Haus gegangen, ich bin gestürzt und habe ein Gefäß umgestoßen.

Er zeigte den anderen die roten Handflächen und lachte gemeinsam mit ihnen und sagte so ein Trottel zu sich, doch Massaron, der fest die Fingerspitzen aneinander rieb und noch lauter als die anderen lachte, verstummte plötzlich und packte ihn wieder am Arm.

– Um Gottes willen, Kommissar! Das ist kein Zuckersirup, das ist Blut!

– Blut?, flüsterte De Luca. – Blut? Aber …, er berührte die Wunde in seinem Nacken, die nur von Schweiß bedeckt war, – das … ist nicht von mir.

Alle starrten ihn an, alle hatten dieselbe Frage. Er formulierte sie laut, noch vor allen anderen.

– Wenn das Blut nicht von mir ist, von wem ist es dann?

Zwei Taschenlampen und drei große Kerzen. Außerdem eine alte Militär-Petroleumlampe, die in der glühend heißen Dunkelheit ein brutzelndes Geräusch verursachte. Fliegen summten. Alle beugten sich über die Leiche, die auf den Holzbrettern des Dachbodens lag. De Luca presste die Lippen zusammen, um den Brechreiz zu unterdrücken. Nachdem er gestolpert war, war er mit dem Gesicht direkt auf dem Bauch der Leiche gelandet und in diesem Kissen aus Stoff und aufgedunsenem Fleisch versunken.

Es war ein kräftiger, gut gekleideter Toter, mehr war nicht festzustellen, denn er hatte keinen Kopf.

Die Lache aus dickflüssigem und geronnenem Blut stammte wohl aus dem Hals, der mit einem scharfen Schnitt direkt über dem steifen Kragen mit dem noch intakten Krawattenknoten durchtrennt worden war.

– Ein Bombensplitter?, sagte Corradini wenig überzeugt, und auch De Luca schüttelte den Kopf.

Abgesehen davon, dass gerade mal der Rand dieser Region bombardiert worden war, gab es am Dachboden keine Spur von einem Bombensplitter, der Kopf war mit einem großen Beil oder einer kleinen Axt abgetrennt worden.

– Eine Axt, sagte De Luca zu sich und zog mit der Spitze des Zeigefingers eine deutlich sichtbare Furche in den Bodenbrettern nach, genau einen Fingerbreit über dem Hals.

Der Brechreiz hatte nur eine Sekunde gedauert, Ekel und Abscheu waren von der Neugier abgelöst worden, die er immer bei solchen Fällen empfand, gemeinsam mit Erregung und plötzlichem Fieber.

Er machte Corradini ein Zeichen, er solle mit der Öllampe näher kommen, und dann auch Rassetto, der langsam wie auf Eis ging, um auf der Lache aus geronnenem Blut nicht auszurutschen. Massaron, der unter solchen Umständen keine große Hilfe war, war unten bei Borsaro und dem Jungen in Unterhose geblieben.

De Luca hatte sich ohnehin schon mit Blut besudelt und eventuelle Spuren bei seinem Sturz auf die Leiche zunichtegemacht, also kniete er sich neben ihr auf den Boden und fuchtelte mit den Armen, um die Fliegen zu verscheuchen. Er steckte die Finger in die Westentasche, kramte in den Vordertaschen der Hose, dann packte er den Gürtel und hob das Becken der Leiche an, um zu den Gesäßtaschen zu gelangen, zuerst zu der einen, dann zu der anderen. Ein schmatzendes Geräusch, Corradini hustete, um einen stärkeren Brechreiz zu unterdrücken. Er trug als Einziger einen Hut. Ohne ihn anzublicken, bat De Luca ihn mit einer Handbewegung, ihn ihm zu geben.

– Er ist noch neu, flüsterte Maresciallo Corradini, die Stenotypistinnen auf dem Präsidium sagten über ihn, er sei so schön wie ein Filmstar und lege Wert auf gute Kleidung.

De Luca legte das spärliche Zeug, das er fand, in den Hut, Geldbörse mit Ausweisen war keine dabei.

– Wo ist die Jacke?, fragte Rassetto. – So ein eleganter Typ würde doch auch ein Sakko tragen, oder nicht?

– Es ist heiß, sagte Corradini. – Es ist Sommer. Er trägt eine Weste, vielleicht ist er ohne Sakko ausgegangen.

De Luca hob die Hand und schob die Rassettos weg, um mit der Taschenlampe auf die Füße des Mannes zu leuchten.

– Kann jemand bitte einen Blick auf die Schuhsohlen werfen?, bat er, da ihm das Aufstehen sicher Mühe bereiten würde, er kniete ja schon lange in dieser glitschigen Pfütze.

– Abgenutzt, müssen besohlt werden, ein kleines Loch.

– Aber ordentlich poliert, sagte De Luca. – Schaut euch die Schnürsenkel an. Eine Spur heller als die Schuhe, sehr elegant.

– Was heißt das?

– Das heißt, er zieht wie ich die Schnürsenkel heraus, wenn er die Schuhe putzt, sagte Corradini.

– Irgendwo muss die Jacke sein, sagte De Luca, mehr zu sich selbst als zu den anderen. – Jemand, der so sorgfältig gekleidet ist, würde doch niemals nur in Weste außer Haus gehen. Obwohl, und er nahm ein Stück Stoff zwischen die Fingerspitzen, – das ist ein Wollanzug, ein Winteranzug, tatsächlich war er zu dunkel für die Jahreszeit, – entweder fröstelte er leicht oder er hatte nur den einen.

Ein Arm des Mannes lag neben dem Körper in der Blutlache und der andere auf dem Bauch. De Luca hob ihn hoch, um die Manschette zu betrachten, sie war sauber, aber zerschlissen vom vielen Waschen. Er hatte die Totenstarre brechen müssen, das war ihm schon davor aufgefallen, als er die Leiche angehoben hatte, um in der Gesäßtasche zu kramen. Während er den Arm mit Mühe in die ursprüngliche Position zurückschob, fiel ihm etwas auf.

– Leuchte mal hierher.

Corradini kam mit der Petroleumlampe näher, die Fliegen stürzten sich wütend gegen das Glas. De Luca drehte die Hand des Mannes um, um seine Finger zu betrachten. Die Fingerspitzen und die Ränder der Nägel waren schwarz.

– Was ist das für ein schwarzes Zeug?

– Schwarzes Zeug, sagte De Luca.

Es ging nicht anders, er musste jetzt aufstehen. Er breitete die Arme aus wie Christus am Kreuz, und die anderen zogen ihn hoch. Er nahm die Taschenlampe und leuchtete damit auf die dunklen Wände des Dachbodens. Er entfernte sogar die Verdunkelungsblende, um mehr Licht zu haben. Er hätte auch warten können, bis es Vormittag war und die Sonne schien, doch er brannte innerlich wie im Fieber.

– Los, sagte er. – Wir sind nun mal da, also schauen wir uns um. Wir suchen eine Axt und eine Jacke. Und einen Kopf.

Sie fanden nichts, weder eine Axt noch eine Jacke, noch einen Kopf.

Nur einen alten Jutesack, einen leeren Metalleimer, eine Glasflasche. De Luca hatte geglaubt, eine ähnliche mit Zuckersirup umgestoßen zu haben.

Und außerdem einen Stuhl in einer Ecke und eine Matratze.

Aber keine Jacke, keine Axt. Und auch keinen Kopf.

Als sie ins andere Haus zurückkamen, war Borsaro das Grinsen vergangen, und zwar nicht nur, weil Massaron eine Wurst von einem Dachbalken genommen und ein Stück mit seinem Klappmesser abgeschnitten hatte. Sein Blick besagte, dass er gern gefragt hätte, was in dem Gehöft auf der anderen Seite des Hofs war. Nachdenklich betrachtete er den großen dunkelroten Fleck auf dem Anzug des Kommissars, der jetzt auch auf den Knien und den Beinen rot war. Irgendwo in der Dunkelheit hörte man das Schluchzen des Jungen, tief und regelmäßig wie das Atmen im Schlaf.

De Luca nahm einen Holzstuhl und stellte ihn vor dem am Boden knienden Egisto hin. Er blieb stehen und stützte sich auf die Lehne, widerstand dem Wunsch, sich den Nacken zu kratzen, der unter dem Schweiß juckte. Mit einer Geste lehnte er die Wurstscheibe ab, die Massaron ihm reichte, er hatte zwar Appetit und Hunger, doch die Neugier verschloss ihm die Kehle.

– Wir sind von der Kriminalpolizei, sagte er. – Eigentlich jagen wir keine Schwarzhändler, doch irgendwann ist ein Wettkampf zwischen uns, der Lebensmittelabteilung der Polizei und jener der Miliz entstanden. Weißt du, warum die dich nicht gefunden haben?

Borsaro sagte nichts, sondern kniff die Augen zusammen. Die Geste konnte sowohl ja als auch nein bedeuten.

– Weil du dem Hauptmann der Miliz immer ein bisschen was zukommen lässt …

– Er hat Schinken auf den Ohren, wie es so schön heißt, sagte Corradini, – oder Mortadella, die ist dem Kameraden Hauptmann Baldelli wahrscheinlich lieber.

Corradini schlug die Hacken zusammen und deutete einen römischen Gruß an, während Rassetto die Lippen über dem Wolfsgebiss zusammenkniff.

– Warte, bis wir die Alliierten ins Meer geworfen haben und es machen wie die Deutschen, knurrte er. – Dann räumen wir mit Verrätern wie dem da auf, dabei zeigte er auf Borsaro, – und auch mit Arschlöchern wie Baldelli.

De Luca zuckte mit den Achseln. – Die Lebensmittelabteilung der Polizei ist zwar tüchtig, aber eben auf der Suche nach Nahrungsmitteln. Das war ein Fehler, denn du wanderst von Ort zu Ort und findest gottverlassene Orte wie diesen.

– Die Case Morri, sagte Corradini. – Seit Kriegsbeginn verlassen.

De Luca fing den besorgten Blick Borsaros auf und schüttelte den Kopf.

– Nein, Fürst Morri hat dich nicht angezeigt, ich bitte dich. Der weiß wahrscheinlich nicht einmal, dass es dich gibt … aber deine Würste kennt er natürlich, denn die Kollegen von der Lebensmittelpolizei haben mir erzählt, bei der Hochzeit seiner Nichte wurden Würste, Schinken und Mortadella wie diese hier gereicht, De Luca ließ den Finger in der Luft kreisen, – ein Fürst schert sich ja nicht um die Rationierung, oder?

Corradini schlug wieder die Hacken zusammen und hob halbherzig den Arm.

– Hör auf, flüsterte Rassetto. – Wir werden auch mit den Fürsten abrechnen.

Beim Reden über die Würste hatte De Luca noch mehr Hunger bekommen, also nahm er die Scheibe, die Massaron gerade mit dem Messer abgeschnitten hatte, und als er versuchte, die Haut abzuziehen, zerbrach sie, weil sie noch frisch und weich war. Sie schmeckte süß, trotz des Pfefferkorns, das er zerbiss. Sein Magen knurrte, doch das Fieber, das in ihm brannte, verschloss seine Kehle.

De Luca nahm die Stuhllehne, drehte den Stuhl um und setzte sich rittlings darauf.

– Weißt du, wie ich dich gefunden habe?, fragte De Luca und Borsaro schloss aufs Neue die Augen, doch diesmal sagte er eindeutig nein.

De Luca zeigte auf das rote Mal auf Egistos Hals, der griff sich an die Stelle, wo davor die Kette mit dem Kreuz gewesen war, wahrscheinlich hatte er begriffen.

– Ich dachte, wenn man einen wie dich, der ganz Bologna beliefert, nie bei einer Polizeisperre erwischt, dann benutzt er vielleicht nicht die Straßen, um zu den Läden und Verkaufsstellen zu gelangen, sondern den Kanal. Tatsächlich hat dich das da verraten, und er zeigte aufs Neue auf Borsaros Hals. Der rührte sich nicht, denn diesmal hatte er wirklich begriffen.

– Unter dem Vorwand, Dünger in die Kriegsgärten zu bringen, kutschiert dich der Fährmann durch die ganze Stadt, hättest du ihm das Mehl nicht gratis geben können? Weißt du, wie viele Häuser entlang des Kanals wir hätten durchsuchen müssen, wenn er uns nicht den Hinweis gegeben hätte? Musstest du dir ausgerechnet die Kette unter den Nagel reißen, die sein Sohn zur Firmung bekam?

Corradini lachte. – Er ist halt gläubig, sagte er.

– Nein, knurrte Rassetto, – zu gierig.

De Luca musste ihn zurückhalten, sonst hätte er ihm noch einen Tritt in den Bauch gegeben.

– Es geht jedoch um was anderes, sagte De Luca und spreizte die Beine wie ein Cowboy in einem Vorkriegswestern. – Ich weiß, warum du davor immer gegrinst hast. Wir haben dich zwar geschnappt und du hast einen Haufen Geld verloren, doch Schwarzmarkt ist nur Schwarzmarkt, manche sagen, was würden die Menschen ohne euch machen, außerdem hast du Freunde wie Baldelli, vielleicht springt auch für uns was raus, das uns den Wettlauf zwischen den Abteilungen vergessen lässt, wer weiß, vielleicht macht sich auch der Fürst für dich stark und schon bist du wieder im Amt. Doch nein, denn in dem anderen Haus liegt was, das macht nicht nur uns von der Kriminalpolizei, sondern auch einem Hauptmann und sogar dem Fürsten Angst.

– Was ist denn in dem anderen Haus?

Zum ersten Mal vernahmen sie die Stimme Borsaros, aufgrund des langen Schweigens war sie noch heiserer.

– Eine Leiche ohne Kopf.

Borsaro wollte aufstehen, doch er kniete schon zu lang und seine Knie versagten. Er stützte sich mit einer Hand auf den Boden, um nicht zu schwanken.

– Ich war’s nicht, keine Ahnung, hab nichts damit zu tun, stieß er fast gleichzeitig hervor.

Das hatte De Luca schon in dem Augenblick begriffen, als er blutverschmiert zurückgekommen war und Borsaro eher verwirrt als ängstlich zu grinsen aufgehört hatte. Doch jetzt hatte er tatsächlich Angst.

– Wir werden sehen. Fürs Erste bist du der Hauptverdächtige. Benutzt du das Haus auf der anderen Seite des Hofes?

– Nein.

– Weißt du, wer es benutzt?

– Nein.

– Hast du jemanden oder etwas gesehen?

– Nein.

De Luca seufzte. Er warf Rassetto einen Blick zu, der warf Massaron einen Blick zu, der versetzte Borsaro einen Faustschlag auf das Jochbein. Der Arm, mit dem er sich abstützte, knickte ein, Massaron packte ihn am Kragen des Overalls und zog ihn hoch. Irgendwo in der Dunkelheit hörte der Junge zu schluchzen auf und begann so leise zu wimmern, dass man es fast nicht hörte.

De Luca rückte mit seinem Stuhl näher. Als er der Polizei beigetreten war, hatte ein älterer Kollege, sein Mentor, zu ihm gesagt, ein Verbrecher hätte immer ein paar Ohrfeigen verdient, und Borsaro war zweifellos ein Verbrecher: ein gieriger Ausbeuter, ein Kinderschänder, der Junge in Unterhose war gewiss aus Hunger und nicht aus freien Stücken bei ihm. Doch De Luca wollte sich auf eine Ohrfeige, höchstens zwei oder drei, beschränken. Deshalb kippte er den Stuhl nach vorne, um ihm beim Sprechen ganz nahe zu sein.

– Beginnen wir von vorne. Hast du dort drüben irgendwann jemanden gesehen oder ist dir was Seltsames aufgefallen?

– Nein.

Massaron verpasste ihm wieder einen Faustschlag und Egisto stöhnte. Massaron war Linkshänder und schlug mit der schwächeren Rechten zu, nicht einmal fest, doch immer auf dieselbe Stelle unterhalb des Jochbeins, die allmählich gelb wurde und anschwoll.

De Luca seufzte und ließ den Stuhl wieder zurücksinken. Der durch den Faustschlag ausgelöste Luftzug hatte seine Haare durcheinandergebracht.

– Ich kann mir nicht vorstellen, dass du die vielen Schätze hier unbewacht liegen lässt. Du wirst mir doch nicht weismachen wollen, dass du hier deinen Tätigkeiten nachgegangen bist, ohne nachzusehen, was rundherum los ist. Ich frage dich noch einmal …

Borsaro schüttelte den Kopf und Massaron schnellte los, noch bevor De Luca den Satz zu Ende gesprochen hatte, und diesmal traf er ihn nicht auf das Jochbein, sondern auf den Mund. Borsaro spuckte einen Zahn aus, hustete Blut und Schleim.

Der Junge in der Dunkelheit hörte einen Augenblick lang zu weinen auf, fing jedoch sofort wieder an. De Luca blickte sich nach dem weißen Unterhemd um, das in der Dunkelheit bebte, Corradini war seinem Blick gefolgt und wollte den Jungen schon holen, doch er gebot ihm Einhalt. Es war nicht notwendig, ihm noch mehr Angst zu machen, da hinten fühlte er sich wahrscheinlich sicher.

– Ich wette, du bleibst hier, wenn dein Freund auf Verkaufstour ist. Stimmt’s?

– Franchino! Sag nichts!

De Luca drehte sich nicht einmal um, er hörte nur den Aufprall des Schlags.

– Es reicht, sagte er zu Massaron, und leise zum Jungen: – Hast du was gesehen? Sag es mir bitte.

Franchino nickte, aber keiner sah es.

– Bitte, sagte er noch leiser.

Ein tiefer Seufzer, von einem Schluchzen unterbrochen, wie von einem Kind, dann begann der Junge zu reden, schnell und in starkem Bologneser Dialekt, seine Zähne klapperten. De Luca verstand so gut wie nichts.

– Er hat gesagt, heute Vormittag hatte er Angst wegen der Bomben, übersetzte Corradini, der Einzige, der aus Bologna war, – er dachte, sie würden auch hier fallen, und ist davongelaufen. Er ist bis zur Schleuse gelangt und auf die andere Seite des Kanals gelaufen, doch dann ist er umgekehrt, weil er etwas gesehen hat … Was hast du gesehen?

Der Junge wiederholte piepsend, was er gesehen hatte, und weil Corradini nicht verstand und noch einmal eindringlich Was hast du gesehen? fragte, trat er aus der Dunkelheit, seine Augen, sein Mund standen vor Entsetzen weit offen, seine Nasenflügel bebten, und er schrie so laut und so verstört, dass es allen kalt über den Rücken lief.

– Al Crest d’i càn. A io’ vest’ al Crest d’i càn!

– Er hat den Hundechristus gesehen, sagte Corradini.

– Den Hundechristus?, wiederholte De Luca, und auch Rassetto, – den Hundechristus? Was zum Teufel soll das denn sein?

– Wir schicken Borsaro nach San Giovanni in Monte und den Jungen zu den Klosterschwestern. Sie sollen ihn jedoch gut behandeln, sonst sagt er gar nichts mehr.

Trotz De Lucas Beharrlichkeit und der fragenden Blicke der anderen, auch der Borsaros, war der Junge gleich darauf verstummt. Die zusammengekniffenen, zitternden Lippen würden an diesem Abend nicht mehr preisgeben, wer der Hundechristus war.

– Was machen wir damit?, fragte Rassetto.

Er spielte mit dem Schlüssel von Borsaros Auto, eines 1100er mit Benzinmotor, den er im Stall des Bauernhofes gefunden und auf den Hof gebracht hatte. Neben dem gasbetriebenen Balilla mit dem Generator auf dem hinteren Gepäckträger wirkte er wie ein Aprilia-Sondermodell.

– Das ganze Zeug hat in den Autos keinen Platz, wir brauchen mindestens einen Lastwagen. Sollen wir die von der Lebensmittelabteilung rufen?

De Luca schüttelte den Kopf. Allein bei dem Gedanken daran, dass Polizisten, der Gerichtsarzt, der Leiter der Kriminalpolizei, der Richter und vielleicht sogar der Quästor auf diesem Tatort herumtrampelten, schauderte es ihn.

– Massaron und Corradini bleiben hier. Wir fahren mit den Festgenommenen aufs Präsidium und schicken euch ein paar Wachen, um euch abzulösen.

Corradini warf Massaron einen Blick zu, der starrte auf die Schinken. Er hatte sogar schon einen schwungvollen Schritt nach vorn gemacht, doch der Blick seines Kollegen gebot ihm Einhalt.

– Nicht notwendig. Wir schlafen hier, wir sehen uns morgen. Macht euch keine Sorgen.

Rassetto grinste und bleckte sein Wolfsgebiss.

– Esst nicht alles auf, und zu De Luca gewandt, – seid ihr sicher, dass der Chef einverstanden ist?

De Luca schaute auf die Uhr und nickte entschieden.

– Sobald wir auf dem Präsidium sind, rufen wir den Polizeiarzt an. Der wird sowieso fuchsteufelswild, weil wir ihn aus dem Schlaf reißen. Los, sagte er und dann wiederholte er los, denn plötzlich war das Feuer, das stumm und ständig in ihm brannte wie siedendes Wasser auf einer Feuerstelle, eine unerträgliche Last.

Plötzlich spürte er die Brandwunde im Nacken, er roch das schwere, klebrige Blut auf seinen Kleidern, den fettigen Geruch der Lebensmittel, sogar den Schweiß und die Schwüle der Sommernacht. Er wollte sich bewegen, nur raus hier, und in Ruhe all das ordnen, was in seinem Kopf rumorte.

Er hatte eine Idee, doch er wollte sie gut durchdenken, sie nicht nur erahnen.

– Wir lassen euch den Balilla, sagte Rassetto, – und nehmen den 1100er. Ich fahre.

„Il Resto del Carlino“, Sonntag, 25. Juli 1943, XXI, Italien, Reich und Kolonien, 30 Centesimi

KAMPF AN DER SIZILIENFRONT. Erbitterte Kämpfe der Achsenmächte gegen feindliche Panzertruppen, Palermo evakuiert, Bomben auf Bologna und Salerno. Eine Handvoll Helden gegen den übermächtigen Feind – RUHMREICHER SIEG ZWISCHEN DON UND DONEZ, mit Hieb- und Stichwaffen kämpfen Bersaglieri aus Caretto gegen die Mongolen.

Lokales aus Bologna: SCHWERE SCHÄDEN IM ZENTRUM BOLOGNAS AUFGRUND DER GESTRIGEN BOMBENANGRIFFE, der Furor des Feindes hat zahlreiche Opfer gefordert. Schnelle Erste Hilfe; OBST- UND GEMÜSEPREISE: Knoblauch (weiß und rot) 4 Lire, Spargel 3,30 Lire, Salat unterschiedlicher Qualität 2,80 Lire, Melonen 1,50 Lire.

Radioprogramm: 17 Uhr 45, Orchestermusik, dirigiert von Maestro Cinico Angelini

– Woran denkst du?, fragte Lorenza.

Er dachte daran, dass er auch am Tag darauf nichts gefunden hatte, weder eine Jacke noch eine Axt, noch einen Kopf.

Im Morgengrauen war De Luca in einem sauberen, tabakbraunen Anzug und einem Fiat 618 der Lebensmittelabteilung zum Gehöft gefahren, darin saßen ein Maresciallo und zwei schlaftrunkene Wachen, die sich überwinden mussten, aus dem Kleintransporter auszusteigen.

Auf dem Hof des Gehöfts stand bereits ein alter Fiat 18BL der Miliz voller Schwarzhemden, die rasch und behände aus dem Lastwagen sprangen, als handle es sich um eine Übung. Massaron stand an der Tür und versperrte mit ausgebreiteten Armen den Eingang, während Corradini mit einem Offizier diskutierte, der wütend vor ihm auf und ab hüpfte. Mit seiner schwarzen Uniform, den wie Flügel auf und ab schlagenden Armen und der krummen Nase ähnelte er einer Krähe.

„Sind Sie der Chef dieser Bande?“, sagte er zu De Luca, und offenbar krächzte er auch, oder vielleicht erwartete man das einfach aufgrund seines Äußeren. Er hatte Tressen auf den Ärmeln, De Luca zählte drei gelbe Streifen unter dem Stern. Ein Konsul, fast ein hohes Tier.

„Ich bin Amedeo Martina, Konsul der Miliz. Sagen Sie Ihren Untergebenen, sie sollen verduften, wir beschlagnahmen alles im Namen der Lebensmittelabteilung der Miliz.“

„Die Polizei war vor Ihnen da“, sagte De Luca.

„Das ist mir scheißegal!“, schrie der Konsul und De Luca dachte, dass es im Grunde auch ihm scheißegal war. Sobald es hell war, wollte er wieder das andere Gebäude betreten, deshalb hatte er eine schlaflose Nacht verbracht, auf dem Bett gelegen und die feuchten Flecken an der Decke betrachtet, auf der Suche nach einem Zwischenraum, der groß genug war, dass er dort seine Gedanken unterbringen konnte. Also machte er dem Hauptmann der Lebensmittelabteilung ein Zeichen, er solle mit der Krähe diskutieren, dann schnappte er sich Corradini und ging.

„Die reißen sich alles unter den Nagel“, knurrte Corradini. Er stank nicht nur nach Wurst, sondern auch nach Rauch, und etwas Kantiges beulte seine Taschen aus. De Luca dachte, dass er und Massaron in der Nacht wohl auch Zigaretten gefunden hatten.

„Hauptsache, sie unterschreiben die Empfangsbestätigung“, sagte De Luca und Corradini zuckte mit den Achseln.

– Ist gut, murmelte er leise wie ein Kind. – Aber die reißen sich alles unter den Nagel.

– Hörst du mir zu? Woran denkst du?

– An nichts, sagte De Luca und Lorenza lächelte, weil er den Kopf hatte schütteln müssen, um sich von seinen Gedanken loszureißen. – An die Arbeit, gab er dann zu.

– Vergiss jetzt die Arbeit. Du bist bei mir. Wir sind am Strand, an der Copacabana.

Laggiù a Capocabana, sang Lorenza leise und ließ dabei die offene Hand kreisen; wenn man nur diesen kleinen Flecken mit den Reflexen des Sonnenlichts auf dem Wasser und die Abdrücke von Lorenzas nackten Füßen im Sand sah und man hörte, wie die Kinder kreischend mit dem Hintern voran und angelegten Armen ins Wasser sprangen, hätte man wirklich glauben können, am Meer zu sein, vielleicht nicht gerade in Brasilien oder in der Karibik, aber immerhin in Riccione, oder vielleicht sogar in Forte dei Marmi oder Venedig. Obwohl es ein grauer, aufgeschütteter Strand war, der Fluss Reno hier von Betonmauern gesäumt wurde und der Junge nicht von einem Felsen, sondern von der Schleuse aus eine Arschbombe gemacht hatte, wurde dieser Abschnitt des Kanals Lido di Casalecchio genannt.

Sie hatten einen abgelegenen und wie durch ein Wunder menschenleeren Winkel gefunden, fast einen Privatstrand, obwohl es an diesem glühend heißen Sonntag Ende Juli von Menschen nur so wimmelte. Lorenza und ihre Freunde waren schon am Vormittag mit dem Fahrrad gekommen, mit Lunchpaket und Sonnenschirm, er war am Nachmittag mit der Dampfeisenbahn nachgekommen, im Abteil war er mit dem Kopf am Fenster eingeschlafen, auf dem schief aufgesetzten Hut lehnend wie auf einem Kissen, und der Schaffner hatte ihn an der Schulter rütteln müssen, Signore, wir sind an der Endstation, Signore!

Am liebsten wäre er in dem Gehöft am Kanal geblieben und hätte in allen Winkeln geschnuppert wie ein Jagdhund, doch sein Vorgesetzter, Doktor Cesarella, hatte ihn buchstäblich hinausgeschmissen.

„Es reicht, De Luca. Du hast hier nichts mehr zu suchen. Geh nach Hause, auch für dich ist Sonntag, oder?“

Er hatte gut daran getan, den Leiter der Kriminalpolizei nicht aus dem Bett zu holen, schlaftrunken hatte er zu ihm gesagt: Ich komme morgen, es eilt nicht.

Um neun war er aufgetaucht, nach Kaffee und Kölnischwasser duftend, da waren De Luca und Corradini schon auf dem Dachboden und stöberten inmitten der Fliegen. Auch im Tageslicht hatten sie nichts gefunden, was sie nicht schon in der mondlosen Finsternis der Nacht davor gesehen hatten.

Auf Zehenspitzen trat Cesarella an den Rand der Blutlache, in der die Leiche lag, mit an die Nase gepresstem Krawattenzipfel. Man nannte ihn Scimmino – Affe –, denn er war klein, dünn und nervös. Ein paar Haarsträhnen klebten auf seinem faltigen Schädel; mit vor Ekel weit aufgerissenen Augen sah er wirklich aus wie ein Pavian.

Er hielt ein paar Sekunden durch, dann machte er De Luca ein Zeichen, er solle ihm folgen.

„Was willst du mir sagen, mein Junge?“, fragte er, sobald sie draußen waren und Atem schöpften.

„Ich glaube, er ist hier enthauptet worden, das beweist die Spur auf dem Boden, und ich glaube, er ist post mortem enthauptet worden, das Blut ist zwar reichlich geflossen, hat aber nicht gespritzt.“

„Und wo ist der Kopf?“

„Keine Ahnung. Wir haben ihn noch nicht gefunden.“

„Ich glaube, ich denke, keine Ahnung … Warum sollte man den Kopf entfernen?“

„Um die Identifizierung des Opfers zu verhindern. Aus demselben Grund sind meiner Meinung nach wohl auch die Jacke und die Dokumente verschwunden.“

„Deiner Meinung nach … ist gut. Liest du den Corriere dei Piccoli, mein Junge? Da gibt es eine Figur, die immer eine Million Lire gewinnt, wie heißt sie doch schnell? Ach ja, Signor Bonaventura. Also, De Luca, eine Eine-Million-Frage … Hast du eine Ahnung, wer es sein könnte?

„Nein.“

Lorenza vergrub ihre Füße bis zu den Knöcheln im Sand, klopfte ihn mit der Handfläche fest und dann wackelte sie mit den Zehen, um die Füße wieder zu befreien.

– Ferragamo-Sandalen, der letzte Schrei des Frühlings und Sommers, sagte sie mit dem etwas affektierten nasalen Tonfall einer Radiosprecherin. Die anderen lachten, doch sie blickte De Luca an, der diesmal nicht den Kopf schütteln musste, um sich von den Gedanken zu befreien, sondern beinahe überzeugend lächelte.

Die anderen waren alle im Badekostüm: Lorenza, ihre Cousine Maria, Ciccione, ein dicklicher Blonder, dessen richtigen Namen er nicht kannte, und Giovannino Marani, Marias Verlobter. Lauter Studenten, die jünger waren als sie, er war der Älteste. Unter dem Sonnenschirm saß er auf einem flachen Stein, die Jacke gefaltet neben sich, davor hatte er sich gedankenverloren das Hemd aufgeknöpft.

– So eine Affenhitze, sagte Maria.

– Gehen wir schwimmen!, sagte Ciccione.

– Kommst du mit?, fragte Lorenza und De Luca zuckte mit den Achseln.

– Tut mir leid. Ich habe keine Badehose mitgenommen.

– Dann schwimm in Unterhose, sagte Maria, sie und Giovannino lachten, während Ciccione De Luca fragend ansah.

– Komm schon …, flüsterte Lorenza, sie war rot geworden.

– Schau dich um, das machen doch alle. Wenn du bis zur Dämmerung wartest, kannst du auch ohne gehen.

– Maria!

– Nein, nein … deine Cousine hat recht. Der Herr Doktor ist ein angesehener Polizeibeamter und muss die Würde wahren. Verzeihen Sie ihr, Exzellenz!

De Luca knöpfte lächelnd sein Hemd auf. Giovannino war ein Revoluzzer im Kleinformat, er stammte aus einer Notarsfamilie und schrieb in der Universitätszeitung unter Pseudonym Artikel über die Verbürgerlichung der faschistischen Revolution. Aber er war so aufmüpfig und kindlich frech, dass er ihm nicht böse sein konnte.

– Zuerst esse und trinke ich mal was, sagte er, – dann überlege ich es mir. Ich bin gerade gekommen, vielleicht gehe ich etwas später ins Wasser. Vielleicht sogar in Unterhose.

Die Jungs sprangen auf und liefen zum Fluss, Ciccione flüsterte Giovannino Übertreib es nicht ins Ohr. Lorenza blieb stehen und sah ihn an, De Luca glaubte sie seufzen zu hören.

– Lauf ihnen nach, los.

– Macht es dir nichts aus?

– Nein, wirklich nicht …

– Ich bleibe bei dir.

– Nein, geh schon. Ich ruhe mich ein wenig aus, dann komme ich. Ich hatte am Vormittag viel zu tun, im Zug bin ich sogar eingeschlafen.

Lorenza warf ihm ein Luftküsschen zu und lief den anderen nach, wobei sie sich den Badeanzug an den Schenkeln zurechtzupfte. Lorenza war ein schönes Mädchen, sie war auf unspektakuläre und ruhige Weise schön, ein alter Badeanzug mit Röckchen und breiten Trägern wirkte an ihr wie ein Abendkleid.

De Luca schaute ihr zu, wie sie kreischend wie ein kleines Kind in das hoch aufspritzende Wasser lief, er hatte das Hemd schon fast aufgeknöpft, als er sich aufs Neue in seinen Gedanken verlor. Und schon war er wieder unten im Gehöft bei dem Mann ohne Kopf.

Der Gerichtsmediziner war gegen zehn Uhr gekommen und nicht einmal über die Schwelle des Dachbodens getreten.

„Er ist tot“, sagte er.

„Und wie ist er gestorben?“, fragte ihn Scimmino.

„Enthauptet.“

Cesarella wechselte einen Blick mit De Luca. Professor Boni, der Leiter der Fakultät der Gerichtsmedizin an der Universität Bologna, hatte angeblich aufgrund seiner accardemischen Verdienste Karriere gemacht, er war nämlich der Schwager des Sekretärs des Bildungsministers Stefano Accardi. Vor nicht allzu langer Zeit war ihm bei Autopsien noch übel geworden. Er rümpfte die Nase und machte einen Schritt zurück, und dabei zog er die Hose hoch, weil ihm der Gürtel immer wieder unter den Bauch rutschte. Er sagte, er sei zu einem wichtigen politischen Treffen unterwegs, deshalb trüge er die Uniform eines Seniors der Miliz, es war deutlich zu sehen, dass er unter der dicken schwarzen Jacke stark schwitzte.

„Wenn ich ihn untersucht habe, kann ich euch mehr sagen. Montag, Dienstag, spätestens Mittwoch. Ich werde mich persönlich darum kümmern.“

De Luca und Scimmino wechselten noch einen Blick.

„Das ist nicht notwendig. Ihr Assistent kann ja auch …“

„Ich habe gesagt, ich kümmere mich darum. Bringt ihn direkt ins Institut. Die Leichenschauhäuser der Spitäler sind wegen des Bombenangriffs voll.“

Sie standen jetzt im Hof, doch sowohl der 618er der Lebensmittelpolizei als auch der Lastwagen der Miliz waren weg. Nur die Krähe war noch da und verabschiedete sich mit ausgestrecktem Arm; Boni und Cesarella erwiderten den Gruß, und schließlich auch De Luca, der in Gedanken versunken war.

„Wo ist das Abzeichen?“, fragte der Konsul. Er nahm seinen Jackenkragen zwischen zwei Finger und zog daran, als wolle er ihn abreißen, und dabei hob er zweimal hintereinander das Kinn in Richtung De Lucas. – Haben Sie keines? Sollte ein Polizeibeamter nicht das Parteiabzeichen im Knopfloch tragen?

Die Wanze, dachte De Luca und wollte es auch schon sagen, biss sich jedoch auf die Zunge. Er kramte in seiner Jackentasche und zog das Abzeichen mit dem Liktorenbündel auf dem Hintergrund der Trikolore heraus und flüsterte dabei, Heute Morgen habe ich mich umgezogen, doch der Konsul Martina beachtete ihn ohnehin nicht mehr. Er hatte sich bei Scimmino eingehängt und ihn ein paar Schritte weggezogen – eine vertrauliche Geste, die die anderen aufgrund der Haltung und nicht so sehr aufgrund der Entfernung ausschloss.

„Hören Sie mir zu, Herr Doktor. Mit dem Toten da lassen wir uns Zeit“, und er hob wieder zweimal das Kinn, diesmal in Richtung des Gehöfts. „Wir sind im Krieg, das ist eine schwierige Zeit, die Leute müssen Zuversicht tanken, Hoffnung schöpfen. Ein enthaupteter Leichnam, ein verschwundener Kopf … das ist eine hässliche Geschichte, das macht Angst. Doch die Festnahme eines Blutsaugers, der das Volk ausgebeutet hat, die Beschlagnahmung eines geheimen Lagers voller Schätze – das sind Nachrichten, die in der Presse ziehen. Geben Sie mir recht?“

„Ich gebe Ihnen recht!“, sagte Cesarella.

„Wer weiß, vielleicht ist der Fall ja schon gelöst, vielleicht waren es Borsaro und sein verrückter Freund, der Jesus sieht.“

Die Krähe lachte und auch Scimmino lachte. De Luca beobachtete sie von hinten, er dachte an die Sache, von der er sich davor hatte ablenken lassen. Genauer gesagt waren es zwei Sachen.

Ein berühmter Universitätsprofessor, der zwar die ganze Arbeit seinen Assistenten überlässt, jedoch darauf besteht, eine schwierige Autopsie auf sich zu nehmen.

Und ein Konsul der Miliz, der eine einfache Lebensmittelabteilung befehligt. Im Morgengrauen.

Er erwachte gerade rechtzeitig aus seinen Gedanken, um sich vom Konsul und vom Professor mit ausgestrecktem Arm zu verabschieden, dann rief er Massaron.

„Wie ist es da drinnen gelaufen?“

Massaron hätte am liebsten mit den Achseln gezuckt, doch unter seiner Jacke befand sich eine Ausbuchtung: ein Achselhalfter, die Pistole trug er allerdings in der Tasche.

„Sie haben halbe-halbe gemacht. Die Polizei hat sich mehr Mortadelle und die Miliz mehr Salami genommen. Der Konsul hat jedoch auch eine Tasche an sich genommen.“

„Eine Tasche?“, fragte De Luca neugierig. Auch Scimmino kam näher.

„Eine Tasche, einen kleinen Koffer“, Massaron beschrieb mit den Händen etwas ziemlich Großes, „einen von der Sorte, die Metallecken haben. Er war im Hinterzimmer. Der Konsul hat einen seiner Untergebenen hineingeschickt …“ Und er machte mit der Fingerspitze eine Geste, zeichnete ein Dreieck mit zwei Strichen darunter.

„Bist du taubstumm geworden?“, fragte Scimmino.

„Einen Scharführer“, sagte De Luca.

„Genau. So einen. Er hat den Koffer gefunden und der Konsul hat gesagt, er solle ihn wegbringen. Keine Ahnung, was drin war.“

Dann kam der Untersuchungsrichter, doch der stieg nicht einmal aus dem Auto, hörte sich Cesarellas Bericht an, nickte wortlos und fuhr wieder davon. Inzwischen hatte Corradini einen Bauern genötigt, mit einem Pferdewagen zu kommen, denn es waren keine Ambulanzen verfügbar, er und Massaron hoben die Leiche vom Boden des Dachbodens auf und legten sie auf den Karren.

De Luca ging wieder in das Gehöft und betrachtete die weißen Konturen rund um die kopflose Leiche in der Lache aus geronnenem Blut, und Scimmino musste ihn buchstäblich hinauswerfen.

„Mein Junge, es reicht. Du hast hier nichts mehr zu suchen. Geh nach Hause, auch für dich ist Sonntag, oder? Du hast doch eine Frau, eine Verlobte?“

„Eine Verlobte.“

„Na also. Geh zu ihr.“

– Schade, dass du nicht mitgekommen bist. Das Wasser ist wunderbar kühl!