Hundstage für Beck - Tom Voss - E-Book
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Hundstage für Beck E-Book

Tom Voss

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Beschreibung

Der gefallene LKA-Ermittler Nick Beck muss gegen sich selbst ermitteln Nordbek – der kleine Ort im Hamburger Norden hat außer Natur und Einsamkeit nicht viel zu bieten. Genau der richtige Ort für den gefallenen LKA-Ermittler Nick Beck, der sich nach einem traumatischen Einsatz in die Provinz versetzen lässt. Hier ertränkt er allabendlich seinen Frust in Alkohol. Als er eines Nachts auf einer einsamen Landstraße eine junge Frau überfährt, die nur mit einem BH bekleidet war, lässt er die Leiche in Panik verschwinden. Doch bald wird ihm klar, dass die Schäden an seinem Auto nicht darauf hindeuten, dass er die Frau wirklich überfahren hat. Sie muss schon tot auf der Straße gelegen haben. Nur was ist passiert? Kurzerhand platziert Beck die Leiche so, dass sie gefunden wird. Zusammen mit Cleo Torner vom LKA Hamburg, die ihn bei den Ermittlungen unterstützen soll, versucht Nick Beck dem Verbrechen auf die Spur zu kommen. Dabei stößt er auf menschliche Abgründe, die tiefer sind, als er sich hätte vorstellen können. Der erste Fall für Nick Beck und Cleo Torner. Der zweite Band erscheint im Dezember 2021.

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Seitenzahl: 406

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Tom Voss

Hundstage für Beck

Kriminalroman

Kriminalroman

 

 

Über dieses Buch

 

 

Nordbek – der kleine Ort im Hamburger Norden hat außer Natur und Einsamkeit nicht viel zu bieten. Genau der richtige Ort für den gefallenen LKA-Ermittler Nick Beck, der sich nach einem traumatischen Einsatz in die Provinz versetzen lässt. Hier ertränkt er allabendlich seinen Frust in Alkohol. Als er eines Nachts auf einer einsamen Landstraße eine junge Frau überfährt, die nur mit einem BH bekleidet war, lässt er die Leiche in Panik verschwinden. Doch bald wird ihm klar, dass die Schäden an seinem Auto nicht darauf hindeuten, dass er die Frau wirklich überfahren hat. Sie muss schon tot auf der Straße gelegen haben. Nur was ist passiert? Kurzerhand platziert Beck die Leiche so, dass sie gefunden wird.

Zusammen mit Cleo Torner vom LKA Hamburg, die ihn bei den Ermittlungen unterstützen soll, versucht Nick Beck dem Verbrechen auf die Spur zu kommen.

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Biografie

 

 

Tom Voss ist das Pseudonym eines deutschen Bestseller-Autors, der bereits zahlreiche Krimis und Thriller geschrieben hat. Im Fischer Verlag hat er als Pierre Lagrange bisher sechs Bände der Provence-Krimi-Reihe rund um den liebenswerten Commissaire Albin Leclerc und seinen Mops Tyson veröffentlicht.

 

›Hundstage für Beck‹ ist der Auftakt einer neuen Krimi-Reihe. In Band eins nimmt Tom Voss die Leser nun mit in den Norden von Hamburg, wo der gefallene LKA-Ermittler Nick Beck in seinen ersten Fall hinein schlittert.

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Inhalt

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

38. Kapitel

39. Kapitel

40. Kapitel

41. Kapitel

42. Kapitel

43. Kapitel

44. Kapitel

45. Kapitel

46. Kapitel

47. Kapitel

48. Kapitel

49. Kapitel

50. Kapitel

51. Kapitel

52. Kapitel

53. Kapitel

54. Kapitel

55. Kapitel

Epilog

Leseprobe aus Eiszeit für Beck von Tom Voss

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

1

Sie war schon oft gestorben. Hunderte Male. Vielleicht Tausende. Nick hatte aufgehört zu zählen. Es geschah immer wieder auf die gleiche Art und Weise, manchmal wie in Zeitlupe, gelegentlich wie im Zeitraffer oder in Standbildern. Ansonsten gab es keine Variation.

Sie stürzte.

Sie schlug auf.

Sie war tot.

Das war die einzige prägende Erinnerung, die ihm von ihr geblieben war. Nick hasste es. Man sollte bessere Gedanken an jemanden haben, der einem sehr verbunden war. Es sollte mehr übrig bleiben als ein Schatten auf der Seele, die entsetzlichen Bilder in seinem Kopf und das dumpfe Krachen in seinen Ohren. Immer wieder. Der Film und der Soundtrack seines Lebens. Jeden Tag und jede Nacht.

Wump.

Wump.

Das Geräusch vermischte sich mit dem Beat eines belanglosen Countrysongs. Weinende Gitarren und eine Sängerin, die darüber jammerte, dass ihr Liebster sie verlassen hatte. Nick starrte in die öligen Schlieren auf dem Boden des Schnapsglases. Darunter sah die Holzmaserung der Theke aus, als würde man sie durch eine Lupe betrachten. Sein Blick wanderte über die Finger, deren Brüche längst geheilt waren. Nur manchmal tat es noch etwas weh. Er sah auf, erkannte sich selbst im mit Bierwerbung bedruckten Spiegel hinter der Bar. Sein Bart war ungepflegt, die zu langen schwarzen Haare von grauen Strähnen durchzogen, die Augen matt und vom Alkohol gerötet. Er trug ein T-Shirt mit einem nichtssagenden Aufdruck, das dringend gewaschen werden musste. Der Stoff spannte über seinen kräftigen Oberarmen.

Schließlich schob sich ein anderer Körper zwischen Nick und sein Spiegelbild. Er sah die Knöpfe einer karierten Bluse, Haut, eine Kette mit einem Jadeanhänger, eine Hand mit vielen Silberringen, die eine Wodkaflasche hielt.

»Liebeskummer?«, fragte die Bedienung.

Ihr Name war Jenny. Sie hatte ihn Nick vorhin verraten, als er sich mit dem Vorsatz an die Theke gesetzt hatte, sich professionell zu betrinken.

»Nicht direkt«, erwiderte Nick, ohne aufzublicken.

»Sie hat dich verlassen?«

»Gewissermaßen.«

»Gebrochene Herzen heilen. Irgendwann.«

»Herzen schon«, sagte Nick.

»Heute ist einer dieser Tage, hm?«

»Ja«, sagte Nick. »Einer dieser Tage.«

»Der letzte geht aufs Haus«, sagte Jenny.

Ihre mit einigen Altersflecken besprenkelte Hand gefror in der Bewegung, als sie Nick nachschenken wollte.

Wump.

Da war es wieder. Doch etwas an diesem Geräusch klang anders als das in seinem Kopf, dachte Nick. Es war ähnlich, aber nicht das gleiche, und es kam auch definitiv nicht aus den Lautsprechern.

»Was war das?«, fragte Jenny.

Nicks Blick klärte sich. Er sah in Jennys wettergegerbtes Gesicht, das ihn vom ersten Moment an das einer alten Indianerin erinnert hatte – an jemanden, der in den Siebzigern auf einem Chopper die Route 66 gefahren und von dem Trip jede Menge Devotionalien mitgebracht hat, die nun die Wände und Regale ihre Kneipe zierten: Budweiser-Reklame, Werbeschilder aus den Fünfzigern, Longhornschädel, verchromte Ventilatoren und eine Wurlitzer, auf der jetzt ein Song von Johnny Cash begann. Nur der alte Mann und seine Gitarre. »Till things are brighter«, sang er, »I’m the man in black.«

Der Laden hieß passenderweise »Roadhouse« und befand sich im Niemandsland zwischen dem Hamburger Norden und Schleswig-Holsteins Süden an der Bundesstraße. Nick war schon einige Male daran vorbeigefahren. Jedes Mal war ihm die Neonwerbung aufgefallen, die das »Roadhouse« wie ein amerikanisches Diner wirken ließ. Wie einen Ort, an dem man sich gepflegt volllaufen lassen konnte und einen ordentlichen Burger bekam. Abgesehen davon handelte es sich um einen weißen Fleck auf seiner Landkarte. Die meisten Kneipen der Gegend hatte er bereits durch. Wenn es sich vermeiden ließ, suchte er keine davon ein zweites Mal auf. Er wollte nicht erkannt oder wiedererkannt werden. Andererseits trank er nicht gern vollkommen allein, weil er sich dann wie ein Alkoholiker fühlte. Es war kompliziert.

Heute Abend, mitten in der Woche, standen nur zwei Autos auf dem Parkplatz vom »Roadhouse«, was der entscheidende Grund dafür gewesen war, dass Nick hier gestoppt hatte. Inzwischen war es spät geworden, und die beiden Fahrzeuge waren mitsamt den letzten Gästen verschwunden, was ihm gerade recht war. Er wurde nicht gern beim Trinken gesehen und ließ sich dabei noch weniger gern stören, vor allem nicht heute: Es war auf den Tag genau ein Jahr her, dass …

Wump.

Da war es wieder.

»Verdammt, was ist denn das?«, fragte Jenny erneut und blickte an Nick vorbei, um die Quelle des Geräusches zu verorten, die draußen zu sein schien.

Nick hustete, räusperte sich. »Vielleicht Donner«, sagte er träge und mit schwerer Zunge. »Es hieß, es könnte Gewitter geben.«

Jenny schüttelte langsam den Kopf. »Nein«, sagte sie. »Es kam vom Parkplatz.«

Sie klang besorgt und reckte den Hals, um durch das große Fenster sehen zu können, erkannte aber offenbar nichts.

Nick schob sich vom Barhocker. Im Stehen überragte er Jenny um einen Kopf, obwohl sie hinter dem Tresen auf einem Podest stand. Mit einer Hand hielt er sich an der Theke fest, wartete einen Augenblick, bis er das Gefühl hatte, wieder festen Boden unter den Füßen zu haben.

Jetzt hörte er ein Rufen von draußen. Dann wieder das dumpfe Geräusch.

»Ich sehe mal nach«, sagte Nick.

»Besser nicht«, sagte Jenny und griff nach ihrem Handy. »Es klingt nach Ärger, und du bist ziemlich blau.«

»Ich kenne mich mit beidem aus«, erwiderte Nick, deutete auf Jennys Handy und machte eine beschwichtigende Geste, worauf sie das Telefon in der Hand behielt und Nick fragend ansah.

Nick drehte sich um und bewegte sich in Richtung der Tür, an deren Innenseite ein gerahmtes Plakat der großen AC/DC-Tour von 1980 hing, damals noch mit Bon Scott als Sänger, der im selben Jahr gestorben war. Entweder, Jenny war selbst dabei gewesen, oder sie hatte eine Stange Geld für das Sammlerstück hingeblättert.

Er öffnete die Tür und trat ins Freie, wo ihn Dunkelheit und schwüle Hitze empfingen. Seit Tagen herrschten in diesem Juli Temperaturen von mehr als dreißig Grad. Nachts sank das Thermometer nur unwesentlich. Das Klima machte die Leute verrückt. Zum Beispiel die beiden Kerle, die ihr Motorrad neben Nicks Wagen abgestellt hatten – und insbesondere den einen, der mit voller Wucht gegen die Fahrertür trat. Dort befand sich bereits eine respektable Delle.

Es gab zwei Dinge, von denen man aus Nicks Sicht stets die Finger lassen sollte: von der Frau und vom Auto eines Mannes. Insbesondere dann, wenn es sich um einen 280 SE Coupé von Mercedes Benz, Baujahr 1971, handelte, schwarz wie die Nacht, ein fast zwei Tonnen schwerer Traum aus Stahl, Chrom und Blech mit leicht angedeuteten Heckflossen, von dem nur viertausendfünfhundert Exemplare gebaut worden waren. Niemand vergriff sich an diesem Auto. Und doch geschah es gerade.

Nick ging die drei Stufen herab und trat auf den Asphalt des Parkplatzes, der noch die Wärme des Tages abstrahlte. Mit einem Schlag war er stocknüchtern.

»Wusste ich es doch!«, blaffte der Kerl, der die Beifahrertür bearbeitete. »Wusste ich doch, dass es deine Karre ist, Scheißbulle!«

Nick fragte sich, wer die beiden sein mochten. Er hatte keine Ahnung. Er wusste nur, dass er dem Mann das Bein brechen würde, wenn er nochmals gegen die Tür trat. Vielleicht auch beide, nur um sicherzugehen.

Nick blieb neben dem schweren Motorrad stehen, dessen Fahrer sich aufrichtete und ihm in den Weg trat. Er war kein Riese, aber auch kein Zwerg, trug eine Lederweste und war bis unter das Kinn tätowiert. Nick erkannte keine Clubabzeichen auf der Kutte. Auch nicht auf der Jacke, die der bleiche Typ mit den dünnen Haaren trug, der mit dem rechten Bein erneut ausholte, um gegen den Mercedes zu treten.

Nick hob die rechte Hand. »Schluss damit«, sagte er und fragte: »Was soll das?«

Der Bleiche war nach wie vor bereit zum nächsten Kick. »Das weißt du nicht einmal, he? Hast dir den Rest Gehirn weggesoffen, Dorfbulle! Deine Fahne rieche ich bis hierher!«

Die zwei Kerle lachten. Nick lachte nicht.

An die Bezeichnung »Dorfbulle« hatte er sich in den vergangenen Monaten gewöhnt. Es machte ihm nichts aus, wirklich nicht, es war ihm völlig gleichgültig. Schließlich hatte er sich auf eigenen Wunsch in den Bezirksdienst auf dem Land versetzen lassen, in ein Kaff weit vor den Toren Hamburgs, das nicht einmal über ein eigenes Ortseingangsschild verfügte. Das Kommissariat hatte entschieden protestiert, aber schließlich klein beigegeben und zugestimmt.

»Keine Ahnung, wer du bist«, sagte Nick.

»Du hast mir vor einem Monat den Führerschein abgenommen!«

»Ausgezeichnet. Dann habe ich ja deine Personalien.«

»Ich habe meinen Job als Fernfahrer verloren und meine Wohnung! Ich habe dich gebeten, ein Auge zuzudrücken! Hat dich nicht interessiert!«

Der Bleiche untermalte seinen Vortrag mit großen Gesten und sich überschlagender Stimme. Er fühlte sich in Gesellschaft seines Kumpels stark, der die Figur eines professionellen Wrestlers hatte.

»Und vor fünf Minuten«, redete er weiter, »kommen wir auf dem Motorrad vorbei und sehen deine Karre hier stehen. Wer fährt mit so einem auffälligen Auto durch die Gegend, frage ich mich? Natürlich, der Blödmann von Dorfbulle Nick Beck, von dem jeder weiß, dass er mit dieser Karre fährt, wenn er nicht gerade vollstramm durch die Gegend torkelt! Und ich denke mir: Ruiniere ich doch mal den Schlitten von dem Drecksbullen, der mein Leben ruiniert hat!«

»Ziemlich dämlich«, sagte Nick, »sich am Auto eines Polizisten zu vergreifen.«

Der Bleiche, dessen Name Nick einfach nicht einfallen wollte, lachte auf. Er fragte: »Was willst du dagegen tun? Du bist nicht im Dienst und wieder voll wie eine Haubitze. Jeder weiß doch, dass du säufst – und ich habe einen Zeugen, der belegen wird, dass ich nichts damit zu tun habe, dass deine Scheißkarre …«

Nick sagte: »Sattelt auf und verschwindet.«

»Sonst was?«, fragte der Bleiche.

Der Wrestler machte einen Schritt auf Nick zu. Es war klar, worauf das hier hinauslaufen würde, dachte Nick. Die Kerle suchten Ärger und fanden Nick verwundbar vor, hielten ihn für einen Trinker und ein leichtes Opfer. Sie gaben einen Dreck darauf, dass er Polizist war. Und er gab einen Dreck auf Leute, die sein Auto demolierten.

Nick stellte die Beine etwas auseinander, brachte sich in eine stabile Position.

»Besser auf dem Motorrad«, antwortete Nick, »als im Krankenwagen.«

Im nächsten Moment spürte er einen Stoß gegen die Brust. Normalerweise hätte er ihn im Ansatz abgefangen. Unter dem Einfluss von mehreren Wodkas und Tequilas war das aber etwas anderes. Deswegen reagierte Nick leicht verzögert.

Vor seiner Kripo-Zeit war er einige Jahre beim SEK gewesen, wo er Krav Maga gelernt hatte – ein sehr effektives, kompromissloses Selbstverteidigungssystem. Es setzte auf Schnelligkeit und Funktionalität sowie auf die Erkenntnis, dass in einem Kampf nach fünfzehn Sekunden klar war, wer Gewinner und Verlierer sein würde, sowie darauf, dass man diese Entscheidung mit der richtigen Technik erheblich beschleunigen konnte. Fünf Sekunden waren deutlich besser als fünfzehn.

Nick schnellte nach vorn, fasste nach dem Handgelenk des Mannes, machte gleichzeitig einen weiteren Schritt, legte seine ganze Kraft und das Körpergewicht in die Bewegung und drückte den Arm nach oben. Gleichzeitig stieß er die Schulter vor, die unter den Kiefer des Kerls traf. Mit der freien Linken platzierte er einen kräftigen Schlag halb unter die Achselhöhle und halb gegen den inneren Bizeps. An der Stelle gab es bestimmte Nervenknoten, die praktisch wie ein An/Aus-Schalter funktionierten. Traf man sie, überluden sie die Muskeln mit einer Art elektrischem Schock und machten das entsprechende Körperteil nutzlos, nachdem eine Nanosekunde zuvor das Gehirn von der Schmerzwelle gegrillt worden war.

Die Reaktion des Wrestlers zeigte Nick, dass er den richtigen Punkt erwischt hatte.

Der Kerl keuchte auf, ging japsend in die Knie und hielt sich seinen Oberarm. Nick wusste, dass es sich anfühlen musste, als habe jemand mit einem Hammer auf den Musikantenknochen geschlagen. Taub, aber trotzdem so, als ströme Lava durch die Adern.

Nick wandte sich zu dem Bleichen, der die Augen so weit aufriss wie seinen Mund und abwehrend die Hände hochnahm.

»Ich wiederhole«, sagte Nick. »Besser, ihr verschwindet jetzt.«

Obwohl der Wrestler nicht so wirkte, als könne er in den nächsten Stunden ein Motorrad lenken.

»Das ist«, schrie der Bleiche, »Körperverletzung! Ich bin Zeuge!«

Nick deutete zu dem einzigen Laternenmasten, der den Parkplatz spärlich beleuchtete. »Die Überwachungskamera dort ist ein besserer Zeuge«, sagte Nick. »Sachbeschädigung und tätlicher Angriff auf einen Polizisten, der sich zur Wehr setzt. Sieht nicht gut für euch aus.«

Der Bleiche blickte zu dem Pfeiler und der kleinen Box mit dem Objektiv daran, dann zu Nick, dann zu seinem Kumpel, wieder zu dem Pfeiler, dann zum Motorrad.

»Ich fürchte«, sagte Nick, »du musst statt deinem Kumpel fahren. Kann allerdings schlimm ausgehen, wenn du ohne Führerschein erwischt wirst. Ach, und …« Nick deutete mit einer Kopfbewegung auf den Bleichen. »Wir beide sind noch nicht fertig miteinander.«

Nick bewegte sich wieder in Richtung Eingang und ließ die beiden stehen. Er öffnete die Tür, trat ins »Roadhouse«, wo immer noch Johnny Cash lief und Jenny am Fenster stand. Sie blickte zu Nick, hinter dem die Tür ins Schloss fiel. Er ging zurück zur Theke, zog den Barhocker heran und setzte sich hin. Jenny folgte ihm.

»Was Persönliches?«, fragte sie.

»Scheint so«, erwiderte Nick und leerte den letzten Drink. Er zog das Portemonnaie und hörte, wie draußen das Motorrad aufröhrte. Er wartete, bis das Geräusch leiser wurde, legte dann einige Scheine vor Jenny, die wieder hinter die Theke getreten war.

»Soll ich dir ein Taxi rufen?«, fragte sie.

Nick winkte ab. Es waren höchstens zehn Kilometer bis zu seiner Bleibe, und er wollte den Wagen nicht hier stehen lassen. Der Bleiche und sein Wrestlerkumpel könnten zurückkommen, Brechstangen und ein paar Freunde mitbringen und sich den Wagen dann richtig vornehmen.

»Du hast viel zu viel getrunken«, sagte Jenny. »Du darfst nicht mehr fahren.«

»Ich sollte nicht«, sagte Nick. »Aber ich kann noch.«

»Besser nicht.«

Nick zuckte mit den Schultern. Er stand auf, griff in seine Jeanstasche, zog eine zerknüllte Tüte starker Minzbonbons heraus und ließ zwei davon im Mund verschwinden – das Beste, was man nach dem Trinken machen konnte: Scharfes mit Scharfem übertünchen, damit man den Alkohol beim Sprechen nicht roch. Fighting fire with fire.

Jenny wollte etwas einwenden, ließ es dann aber sein und steckte die Scheine ein. Das Trinkgeld war hoch genug.

»Wo hast du gelernt, so zu kämpfen?«, wollte sie wissen. »Ich habe nicht einmal richtig sehen können, was du gemacht hast, da lag der Typ schon auf dem Boden. Und das war ein ziemlicher Koloss.«

Der Wrestler war ein Koloss, ja, aber das musste nichts heißen. Es gab einen Unterschied zwischen Muskeln, die man vom Pumpen bekam, und denen, die man durch körperliche Arbeit erworben hatte. Pure Masse hatte nichts zu bedeuten. Die meisten Mitglieder von Spezialeinheiten waren mittelgroße, drahtige Typen, denen man nicht ansah, was in ihnen steckte.

»Beim israelischen Militär«, sagte Nick, steckte seine Sachen ein und suchte nach dem Autoschlüssel, den er in der Hintertasche fand.

»Du bist Soldat?«

»Polizist«, erwiderte Nick mit einem schwachen Lächeln.

»Siehst nicht aus wie einer.«

»Nein, eher nicht. Vielleicht bin ich auch keiner mehr. Ist kompliziert.«

Nick hob die Hand zum Gruß, gab sich einen Moment, bis der Holzboden sich nicht mehr so anfühlte wie die Planken eines wankenden Dreimasters.

»Komm besser nicht in eine Kontrolle«, sagte Jenny.

»Ich weiß, wo die heute Nacht stehen«, erwiderte Nick.

Jenny lachte. »Wohl ist mir nicht dabei, aber: Fahr vorsichtig! Und komm gerne wieder.«

»Werde ich«, sagte Nick im Gehen und dachte, dass er das vielleicht tatsächlich tun würde. Ihm gefiel die Atmosphäre im »Roadhouse«. Die Drinks und die Musik ebenfalls.

Beim Einsteigen fiel ein Lichtreflex auf die Windschutzscheibe. Als ob etwas daran vorbeisauste. Nick blinzelte und wischte sich über die Augen. Da war nichts. Nur das Licht der Bierwerbung und Jenny, die sich am Fenster entlang zur Tür bewegte. Wahrscheinlich, um den Laden abzuschließen. Nick starrte mit brennenden Augen durch das Glas, ließ den Motor an und legte den Rückwärtsgang ein. Für einen Moment schloss er die Augen.

Wieder sah er sie fallen.

Direkt an sich vorbei, nur für einen Wimpernschlag.

Wie vor einem Jahr, dachte er. Wie heute auf den Tag genau vor einem gottverfluchten Jahr während der Hundstage.

Nick hatte sich zig Male ausgemalt, wie er es hätte verhindern können – zum Beispiel selbst ins obere Geschoss gehen und ihr die andere Etage zuweisen. Dann würde sie jetzt noch leben. Und vielleicht wäre er dann tot. Oder der andere.

Der Mann, hinter dem sie her gewesen waren, war in ein altes Industriegebäude eingedrungen. Nick war ihm gefolgt, hatte im Inneren aber die Spur verloren. In der ersten Etage wollte er in eine Halle laufen. Dort gab es eine schwere Stahltür. Sie war nicht ganz geschlossen, was Nick auffällig fand. Er griff durch den Spalt, um sie zu öffnen. In dem Moment wurde sie von innen zugeschlagen.

Ein fürchterliches Knacken. Dann die neue Definition von Schmerz. Zwei Finger der rechten Hand waren gebrochen, so dass Nick die Pistole nicht mehr halten konnte.

Er hatte auf die linke Hand gewechselt. Keine gute Alternative. Dann war seine Partnerin zu ihm gestoßen, Betty Duschkow, hatte ihn fragend angesehen, die Dienstwaffe in beiden Händen, den Lauf auf den Boden gerichtet. Nick hatte die Zähne zusammengebissen, mit der Stirn zur Treppe gedeutet, die in die nächste Etage und zum Dach führte.

Sie war hochgelaufen. Und das war das Letzte, was er von ihr gesehen hatte, als sie noch lebte: ihren Rücken, darüber gekreuzt die Klettbänder der Schutzweste, ihren wippenden Pferdeschwanz und das Haargummi mit dem Emblem einer Sonnenblume.

Dann stieß er die Tür mit der Schulter auf, kontrollierte das Stockwerk, schlich Meter für Meter voran. Schließlich gelangte er an ein Fenster. Er hörte dumpfe Geräusche von oben. Zwei Schüsse. Ihren Schrei. Schließlich stürzte ihr Körper am Fenster vorbei, drei Geschosse tief. Genau an Nick vorbei. Es war nur der Bruchteil einer Sekunde, aber er hatte sich für immer in Nicks Gehirnwindungen und in seine Netzhaut eingebrannt. Einen Moment später hörte er den Aufschlag.

Es klang dumpf, blechern, etwas splitterte, und Nick musste sich entscheiden: nach oben laufen, damit der Mann nicht entkam – oder nach unten zu ihr. Er entschied sich für unten, wo er sie auf einem Auto liegend vorfand. Das Dach war eingedrückt, die Frontscheibe in einem Spinnennetzmuster zersplittert. Ihr Körper war verdreht, die toten Augen offen und tiefrot unterlaufen. Blut sickerte aus ihrem Ohr und den Nasenlöchern.

Nick hörte sich selbst schreien und spürte die dumpfen Schläge der Walther P99 in seiner linken Hand, als er das ganze Magazin in Richtung Dach entleerte. Aber er stanzte nur Löcher in die Luft. Der Scheißkerl war längst nicht mehr da. Er war verschwunden wie ein Phantom, verblichen wie ein Nebel.

Elbripper. Diesen Namen hatte die Polizei dem Mann gegeben, den sie jagten.

Hamburgs schlimmster Serienmörder der Nachkriegszeit. Er war seither wie vom Erdboden verschluckt.

Seit einem Jahr.

Nick steuerte den Wagen vom Parkplatz auf die Bundesstraße und kurbelte das Fenster herunter. Vor ihm funkelten die verchromten Instrumente des Armaturenbretts. Er versuchte, sich auf die Straße zu konzentrieren. Sie war leer, nirgends war ein Auto unterwegs. Es wurde noch einsamer, als er auf die schmale Landstraße abbog.

Er dachte über die Tempofallen nach, die Blitzer, und fragte sich, ob er den Plan der Verkehrskontrollen wirklich so genau im Kopf hatte oder besser einen Schleichweg nehmen sollte. Es könnte außerdem sein, dass die Stationen kurzfristig geändert worden waren. Wenn man ihn stoppte und er pusten musste – sehr schlecht. Fraglos lag sein Pegel erheblich über der erlaubten Grenze.

Aber der Alkohol beruhigte ihn. Er war ein Betäubungsmittel, das es ohne Rezept gab. Er lenkte ab. Man verlor sich darin und konnte in einem Glas ertrinken. Doch er half nicht immer. Zum Beispiel heute Nacht. Oder, dachte Nick, oder er hatte einfach noch nicht genug und brauchte mehr.

Nick setzte den Blinker nach rechts und entschied sich für eine Nebenstrecke. Er trat aufs Gas, um schneller zu Hause zu sein. Die Tachonadel zeigte etwa achtzig Stundenkilometer an.

Die Straße war sehr eng. Kaum vorstellbar, dass hier zwei Fahrzeuge im Gegenverkehr aneinander vorbeipassen würden. Aber sie war zum Glück leer. Hier war niemand unterwegs, vermutlich auch nicht tagsüber, ausgenommen des landwirtschaftlichen Verkehrs. Links und rechts lagen Felder, darüber spannte sich ein stockdunkler Himmel, an dem es manchmal leuchtete, als gäbe es Explosionen hinter den Wolken. Für einen Sekundenbruchteil ließen die Lichter am Horizont die Umrisse von riesigen Windrädern erscheinen. Mit ihren gigantischen Flügeln wirkten sie wie am Boden stehende Engel. Die Warnlichter für den Flugverkehr leuchteten wie rote Zyklopenaugen.

Es könnte tatsächlich ein Gewitter geben, dachte Nick. Vielleicht auch nicht. In den vergangenen Tagen hatten sie dauernd Regen vorausgesagt. Und es war nichts passiert. Stattdessen war es nur noch schwüler und drückender geworden. Als ob ein heißer, feuchter Waschlappen über dem Land lag. Immerhin eine Abwechslung zu der trockenen Wüstenluft davor.

Zu beiden Seiten war die pfeilgerade verlaufende Straße jetzt mit Bäumen und Büschen bewachsen. Nick konzentrierte sich auf den Mittelstreifen, den immer gleichen Rhythmus – Streifen, kein Streifen, Streifen, kein Streifen – sie stürzt vom Dach, sie stürzt nicht vom Dach, sie stürzt vom Dach, sie stürzt nicht vom Dach …

Verdammt, es war seine Schuld gewesen. Alles war seine Schuld gewesen. Deswegen war er jetzt hier und nirgends anders: weil er die Welt vor sich schützen und nie wieder einen Partner oder eine Partnerin an die Seite gestellt bekommen wollte, für deren Tod er irgendwann verantwortlich wäre. Daher hatte er sich versetzen lassen. Er zog das verdammte Unglück an wie ein Magnet, machte alles um sich herum kaputt, nicht nur seine Ehe vor einigen Jahren.

Scheiße, dachte Nick, er brauchte dringend was zu trinken. Er beugte sich zur Seite und etwas nach vorne, öffnete das Handschuhfach, in dem ein Flachmann lag. Die Beleuchtung war spärlich. Er musste sich strecken, um die Flasche zu erreichen, stieß mit den Fingerspitzen dagegen und spürte, dass der Wagen etwas nach rechts driftete. Nur noch einen Zentimeter. Schließlich hatte Nick die Flasche und richtete sich wieder auf, hoch ans Steuer, um …

Er sah etwas Helles im Scheinwerferlicht unmittelbar vor sich.

Etwas Großes.

Im nächsten Moment gab es ein Krachen und einen brutalen Schlag unter dem Mercedes. Es fühlte sich an, als ob die Stoßdämpfer durch den Radkasten und die Motorhaube gerammt würden. Der Wagen geriet aus der Spur. Nick umklammerte das Lenkrad, brachte den Benz wieder unter Kontrolle, blickte in den Rückspiegel.

Etwas lag auf der Fahrbahn.

Er trat auf die Bremse, stoppte den Wagen mit quietschenden Reifen und blieb mitten auf der Straße stehen. Er gab sich einen Moment. Dann schnallte er sich ab, öffnete die Tür und stieg aus. Der schwere Motor blubberte. Am Himmel grollte dumpfer Donner.

Im roten Schein der Rücklichter konnte er auf den ersten Blick nicht erkennen, was dort lag. Ein Tier vielleicht, ein Reh oder Wildschwein, das aus den Büschen auf die Fahrbahn gesprungen war. Aber ein Wildschwein oder ein Reh waren dunkler, nicht so hell. Verlorene Ladung? Ein Sack? Vielleicht etwas, das von einem Trecker gefallen war.

Es gab eine weitere Möglichkeit.

Eine eiskalte Hand griff nach Nicks Nervensträngen und schien sie aus dem Körper herausreißen zu wollen. Er ging auf das Bündel zu. Spürte den Puls in den Schläfen hämmern. Mit jedem Schritt zog sich sein Herz stärker zusammen. Schließlich zersprang etwas in ihm.

Zu Nicks Füßen lag der Körper einer Frau. Sie war nackt. Nein, nicht ganz. Sie trug einen verrutschten BH. Sonst nichts.

Nick taumelte.

Bei der Geschwindigkeit, mit der er unterwegs gewesen war, hatte die Fußgängerin keine Chance gehabt. Er zog das Handy aus der Hosentasche. Schaltete die Taschenlampen-App ein, leuchtete nach unten. Blickte in tote Augen, die nach oben starrten. Seine Hand zitterte. Alles zitterte. In seinem Magen glühte es. Er musste würgen. Der Mix aus Magensäure und scharfem Alkohol ätzte in seiner Speiseröhre. Die Straße schien sich zu bewegen, zu wanken wie die Planken eines Schiffes im Sturm, sich unter ihm zu öffnen. Nirgends gab es Halt, und er stürzte in den Abgrund, in die Hölle, wo ihn flüssiges Feuer in Empfang nahm und in jede seiner Poren drang.

Nicks Beine knickten ein. Er fiel auf die Knie, leuchtete mit dem Smartphone über den Körper. Die Haut war weiß, teilweise mit Blut besprenkelt, die blonden Haare breiteten sich wie eine wirre Korona um den Kopf aus.

Die Frau war jung. Um die zwanzig Jahre. Die Gliedmaßen waren verdreht, standen in falschen Winkeln vom Körper ab. Sie sah aus wie eine Puppe, die auf die Straße geschleudert worden war, nachdem ihr die Kühlerhaube eines Mercedes das Leben herausgerammt hatte. In einem Oberschenkel klaffte eine Wunde. In einem Schienbein ebenfalls. Der Knochen war zu erkennen. Die Wange war aufgeschürft, die Unterlippe aufgeplatzt.

Sie musste aus den Büschen gekommen sein oder war auf der Straße herumspaziert, bevor Nick sie erwischt hatte. Er streckte die Hand aus, fühlte an ihrer Halsschlagader nach einem Puls. Er erwartete nicht, noch Leben zu spüren und tat es auch nicht.

Er hatte sie umgebracht.

Getötet.

Eine halbnackte Frau mitten in der Nacht im Nirgendwo.

Warum war sie …?

Nick leuchtete mit der Taschenlampe über die Fahrbahn, den Bewuchs an den Rändern. Er sah nichts Auffälliges. Kein Auto, das irgendwo hielt. Kein Mann, der nur in Unterhosen dort stand und nach seiner Freundin rief, mit der er in einer schwülen Sommernacht in den Feldern herumgemacht hatte. Alles war still. Totenstill. Nur das Tuckern des Motors, ein paar einsame Grillen und das dumpfe Murmeln des vorbeiziehenden Gewitters.

Nicks Gedanken rasten im Kreis. Was jetzt?

Es gab drei Möglichkeiten.

Die Polizei anrufen. Die Kollegen würden Nick einkassieren und eine Blutprobe nehmen, die sicherlich mehr als zweieinhalb Promille nachweisen würde. Er würde wegen fahrlässiger Tötung in den Knast gehen. Eine Bewährungsstrafe würde er nicht bekommen. Weil er selbst Polizist war, würde ihn die volle Härte des Gesetzes treffen. Mindestens ein bis zwei Jahre Bau, wahrscheinlich mehr. Keine Frage. Alles wäre zerstört. Er könnte sich auch gleich hier eine Kugel verpassen.

Oder sich ins Auto setzen und wegfahren. Das wäre Fahrerflucht in Verbindung mit fahrlässiger Tötung. Man würde die Leiche finden und untersuchen, aber nicht feststellen können, ob die Frau sofort tot oder gestorben war, nachdem er sich vom Unfallort entfernt hatte. Also käme unterlassene Hilfeleistung obendrauf. Die Polizei würde auf der Straße Spuren von einem Fahrzeug finden, ebenfalls am Körper der Frau – und seien es nur kleinste Lacksplitter, die ins Fleisch oder in die Knochen eingedrungen waren. Die Forensiker würden recht schnell ermitteln, zu welchem eher außergewöhnlichen Fahrzeugtyp die Spuren auf der Straße und die Lacksplitter gehörten. Der Weg würde mit blinkenden und grell leuchtenden Hinweisschildern zu Nick Beck führen. Ihn würde eine noch härtere Strafe treffen. Er würde für mindestens drei Jahre oder mehr in den Knast gehen. Finito.

Möglichkeit drei: Er könnte die Leiche verschwinden lassen. Irgendwann würde eine Person als vermisst gemeldet. Man würde nach ihr suchen, sie aber nicht finden. Eventuell führte dann doch der Weg zu dieser Straße, aber bis dahin wären keine Spuren mehr zu erkennen, weil Nick in der Zwischenzeit alle beseitigt hätte. Abgesehen davon lag die Unfallstelle in seinem Bezirk. Er hielt somit einige Fäden in der Hand. Die Chancen, heil aus der Sache herauszukommen, waren bei dieser Variante weitaus besser als bei den anderen beiden.

Doch Nick war immer noch Polizist. Er musste das Richtige tun. Leichen verschwinden lassen war nicht das, was Polizisten machten. Andererseits ließen Polizisten nicht ihre Partner sterben, soffen nicht wie ein Loch und fuhren nicht stockbetrunken Auto. Keine Frage: Die Frau würde noch leben, wenn er eine andere Route genommen hätte. Sie wäre noch am Leben, wenn er nicht nach der Flasche gegriffen hätte, wenn er nüchtern gewesen wäre. Der Bruchteil einer Sekunde, nur ein Wimpernschlag, entschied über ein ganzes Leben, dachte Nick. Ein weiteres Mal hatte das Schicksal gegen ihn gewürfelt. Und gegen diese Frau.

Er starrte auf die Leiche, zitterte immer noch am ganzen Körper und war wieder kurz davor, sich zu übergeben. Ein paar dicke Regentropfen fielen vom Himmel, zerplatzten im Gesicht und auf den offenen Augen der Frau.

Sie war schön. Irgendetwas musste passiert sein, bevor er sie angefahren hatte, dachte Nick. Eine Frau lief nicht grundlos nur im BH nachts über die Landstraße. Aber es war müßig, darüber nachzudenken. Nick musste eine Entscheidung fällen.

Jetzt.

2

Mit der Waffe in Bereitschaftshaltung, den Finger neben dem Abzug, betrat Cleo das Haus. Die Nacht war sternlos, der Himmel über Hamburg von schweren Wolken verdunkelt, die wie zähe Lakritze vor dem Mond hingen und die Stadt zu ersticken drohten. Das T-Shirt klebte ihr unter der Schutzweste am Körper wie eine zweite Haut. Unter der Basecap mit dem Polizeiaufdruck waren die zusammengebundenen dunkelblonden Haare klamm, ihr Nacken feucht. Neben ihr ging ihr Kollege Jörn Frantzen, ebenfalls vom LKA 6 für Rauschgift und Organisierte Kriminalität, sowie zwei bewaffnete Beamte in grünen Westen mit »Zoll«-Aufdruck.

Alle vier folgten einer Spezialeinsatzgruppe, die bereits die Treppe gesichert hatte. Die Männer trugen Titanhelme mit Visier, ballistische Schutzwesten, Bodycams, MP5s eng am Körper. Aber in engen Räumen waren ihre Maschinenpistolen nicht zu gebrauchen. Sie hielten deswegen Glocks in den Händen, die mit Taschenlampen ausgestattet waren. Die LED-Lichter tanzten im Halbdunkel.

Frevert, der Teamleiter, gab das Zeichen zum Anhalten. Cleo stoppte, die anderen ebenfalls, ließen das SEK bis zur nächsten Etage vorangehen, um diese zu sichern. Cleos Nerven waren auf eine ultrafeine Frequenz gestimmt, ihr Blut von Adrenalin geschwängert.

In dem heruntergekommenen Mehrparteienhaus roch es nach einer Mischung aus Reinigungsmitteln, Urin und Gefahr. Es lag in einer Gegend, in der man abends nicht alleine unterwegs sein wollte. Die Wände waren schäbig, draußen mit Graffiti besprüht. Die Stufen abgewetzt. Irgendwo bellte ein Hund. Ein lauter Fernseher lief. Jemand schrie seine Frau an.

Alle hofften, dass niemand überraschend seine Wohnungstür öffnen würde und damit den Einsatz gefährdete. Draußen konnten die uniformierten Kollegen von der Streife verhindern, dass jemand das Haus betrat und sehen würde, was gerade im Treppenhaus vor sich ging. Aber hier drinnen hatte das niemand unter Kontrolle. Trat jemand aus seiner Wohnung ins Treppenhaus und veranstaltete ein Spektakel wegen der vielen Polizei, würden womöglich die Zielpersonen gewarnt. Das konnte keiner brauchen.

Falls, dachte Cleo, die Gesuchten überhaupt da waren. Eine OEZ, eine Observationseinheit vom Zoll, hatte zwar an den Fersen ihres Hauptverdächtigen Ramis Fino gehangen und ihn vor einer halben Stunde mit einer Einkaufstüte ins Gebäude hinein- und nicht wieder herausgehen sehen. In Finos Wohnung brannte außerdem Licht, und die technische Einsatzgruppe hatte bestätigt, dass sein Handysignal stationär war. Daher sprach viel dafür, dass er in seinem Apartment war. Aber ganz sicher sein konnte man sich nie. Die Einsatzleitung vermutete, dass sich drei weitere Personen in seiner Wohnung aufhielten. Es könnten jedoch auch mehr oder weniger sein. Zudem war unklar, um wen es sich handelte und ob sie womöglich bewaffnet waren.

Die Informationslage war somit etwas diffus.

Ein stationäres Signal bedeutete lediglich, dass das Handy sich nicht bewegte. Dass das Signal aus dem Gebäude kam, jedoch nicht auf den Meter genau, wo es sich in der Wohnung befand. Es könnte auch auf einem Tisch liegen, und der Besitzer war schon wieder verschwunden. Oder in den Waschkeller gegangen.

Oder, oder, oder …

Cleo war skeptisch. Etwas stimmte nicht. Es lag in der Luft wie die Elektrizität vor einem Gewitter. Vielleicht stimmte auch nur mit ihr etwas nicht. Möglicherweise lag es daran, dass sie sich schlecht vorbereitet fühlte. Cleo war akribisch in allem, was sie tat, aber mit der Einsatzplanung nur am Rande befasst gewesen. Sie war erst gegen Ende dazugestoßen, weil sie vor drei Tagen von einer FBI-Fortbildung zurückgekommen war. Wichtige Details kannte sie daher nur aus dem Briefing. Frantzen, der neben ihr schwitzte, erkannte hingegen kein Problem. Er gab sich locker und hatte von einer Routinesache gesprochen.

So oder so war das hier kein astreiner LKA-Einsatz. Der Zoll hatte auf dem Zugriff bestanden. Er hoffte auf mehrere Kilo Kokain. Es war seit einiger Zeit ein neuer Stoff im Umlauf, und sie wollten wissen, woher der stammte. Ehrlich gesagt: Jeder wollte das. Alles andere in der Wohnung, einschließlich der dort vermuteten Personen, spielte für den Zoll keine Rolle. Er war scharf auf das Koks. Die Menschen hingegen waren Futter für Cleos Crew.

Die Einsatzgruppe ging voran. Zweite Etage. Dann die dritte. Am Ende jeder Treppe öffnete sich ein Flur zu beiden Seiten. Dort gab es jeweils vier Wohnungstüren. Cleo hörte die Meldungen vom SEK über den Knopf in ihrem Ohr. Links sicher. Rechts sicher. Schließlich die Anweisung, dass Zoll und LKA zurückbleiben sollten. Was sie taten und sowohl den Flur als auch das Treppenhaus nach oben und unten absicherten.

Cleo hielt die Waffe nach rechts, blickte aber nach links. Das gepanzerte Team baute sich neben einer Tür auf. Einer schwang die Ramme gegen das Schloss. Der verlässlichste Dietrich aller Zeiten. Dann gingen die Männer rein. Cleo hörte aus der Entfernung Rufe, Kreischen, männliche und weibliche Stimmen, dann auch Babygeschrei, schwere Schritte, Poltern, Anweisungen und zum Glück keine Schüsse. Nach etwa einer Minute war der Job erledigt.

»Wohnung gesichert«, hörte sie, und »zwei verdächtige männliche Personen, aber nicht die Zielperson.«

Fuck.

Cleo registrierte, wie die beiden Kollegen vom Zoll einander fragend ansahen. Dann erschien Frevert an der Wohnungstür, klappte sein Helmvisier hoch und gab ein »Okay«-Zeichen. Die Jungs vom Zoll hatten den Vortritt. Frantzen und Cleo blieben zurück, sicherten weiterhin das Treppenhaus und den Flur.

Cleo hörte immer noch das Baby schreien. Es kam nicht aus der Wohnung von Fino. Es kam von der anderen Flurseite. Ein Gedanke schoss ihr durch den Kopf. Vage, aber sie musste ihn loswerden.

»Die Zielperson«, fragte sie. »Was hat er eingekauft? Was hatte er dabei?«

»Eine Einkaufstüte vom Drogeriemarkt«, hörte sie über Funk von der Einsatzleitung. »Eine Packung Windeln unterm Arm.«

»Mist«, sagte Cleo.

Im linken Flur sprang eine Tür auf. Fünf Meter vor Cleo. Ramis Fino kam heraus, der Albaner, den der Zoll und das SEK verfolgt hatten. Der Mann, der eigentlich in seiner Wohnung hätte sein sollen. Er hielt ein kreischendes Baby auf dem Arm und eine Waffe in der anderen Hand. Weit aufgerissene Augen. Er nutzte das Kind als Schutzschild.

»Polizei!«, rief Cleo.

Sie nahm die Pistole hoch, Frantzen neben ihr ebenfalls.

Fino schoss dreimal in kurzer Folge. Frantzen stöhnte und fiel neben Cleo zu Boden. Dann glitt Fino zurück in die Wohnung. Cleo ging ihm sofort hinterher, duckte sich und schob den Fuß zwischen die zufallende Tür und den Rahmen. Es krachte. Ein weiterer Schuss. Über ihr splitterte Holz. Auf der anderen Seite schrie eine Frau in einer unverständlichen Sprache. Fino schrie ebenfalls. Dazu Dauerfunkverkehr in Cleos Kopfhörer. Chaos.

»Polizei!«, rief Cleo wieder und ging in Deckung. »Weg mit der Waffe! Fino! Legen Sie das Kind zu Boden und ihre Waffe ebenfalls!«

Cleo atmete hektisch. Sie war kurz davor zu hyperventilieren. Frantzen regte sich am Boden. Es schien ihn am Bein erwischt zu haben. Das SEK-Team kam aus der anderen Wohnung gelaufen. Ein Kollege blieb bei Frantzen. Drei gepanzerte Polizisten standen neben Cleo, sahen sie an.

»Eine bewaffnete Person«, keuchte sie. »Identifiziert als der gesuchte Ramis Fino. Er nutzt ein Baby als Schutzschild, verdammt! Mindestens eine weitere Person in der Wohnung, weiblich.«

Die Männer fackelten nicht lange, traten die Tür auf und drangen ein. Wieder hörte Cleo Rufe und Anweisungen, dazwischen das Geschrei des Babys und das der Frau, vielleicht die Mutter. Cleo musste etwas tun. Sie stand auf, nahm die Pistole in Anschlag und ging rein, positionierte sich zwischen den drei anderen, die sich eng an die Wand eines schmalen Korridors pressten, der unmittelbar ins Wohnzimmer führte.

Es war brüllend heiß in der Wohnung, stickig. Cleo sah eine Babydecke auf dem Boden, ein altes Sofa voller Stofftiere, eine Einrichtung wie aus dem Secondhandladen. Fino stand mit dem Rücken zu einer Balkontür, das Kind auf dem Arm, die Waffe in der freien Hand, Panik in den Augen. Neben ihm kniete die Mutter wie eine flehende Madonna und bettelte ihn in einer osteuropäischen Sprache an.

»Fino«, sagte Cleo, um Ruhe bemüht. »Geben Sie der Frau das Kind.«

Fino schüttelte den Kopf, fuchtelte mit der Waffe herum, atmete hektisch.

»Dem Baby darf nichts geschehen«, sagte Cleo. »Sie wollen doch nicht, dass etwas passiert? Ist es Ihr Kind? Das Kind Ihrer Schwester? Ist sie eine Freundin?«

Finos Adamsapfel hüpfte auf und ab. Die Frau zu seinen Füßen wimmerte, die Wangen von Tränen nass.

»Schwägerin«, sagte Fino. »Nicht mein Kind.«

Das Baby wand sich auf seinem Arm, kreischte mit hochrotem Kopf und streckte sich der Mutter entgegen. Es war ein Mädchen.

»Sie kümmern sich um beide«, sagte Cleo. »Sie waren sogar noch Windeln kaufen. Sie wollen bestimmt nicht, dass etwas passiert.«

Fino sagte nichts, blickte nur hektisch hin und her.

»Legen Sie die Pistole ab! Geben Sie der Mutter das Kind! Bitte.«

Er schüttelte wieder den Kopf.

»Sie kommen hier nicht raus, Fino«, sagte Cleo. »Niemand wird die Sicherheit des Babys aufs Spiel setzen wollen, verstehen Sie? Selbst wenn wir Sie gehen lassen würden, wird keiner zulassen, dass Sie ein Baby als Geisel nehmen. Die Scharfschützen verpassen Ihnen vorher einen gezielten Kopfschuss.«

Es gab keine Scharfschützen. Aber das brauchte Fino nicht zu wissen, der sich ruckartig von der Fensterscheibe fortbewegte, um eine Wand im Rücken zu haben.

»Was ist«, fragte Cleo, »wenn Sie sich plötzlich bewegen und das Kind getroffen wird? Damit können Sie nicht leben, Mensch! Es ist ein Baby. Es ist Ihre kleine Nichte. Seien Sie vernünftig!«

Wieder sagte die Mutter etwas. Fino antwortete in derselben Sprache. Cleo bemerkte, dass die SEK-Männer unruhig wurden. Sie hörte weitere Personen hinter sich. Gleich würde etwas geschehen.

»Fino!«, herrschte sie ihn jetzt an. »Fino! Geben Sie der Mutter das Kind! Sofort! Dann legen Sie die Waffe nieder und nehmen die Hände hoch!«

»Ich will … einen Wagen und freies Geleit …«, stammelte Fino.

»Wo wollen Sie damit hin?«, fragte Cleo. »Glauben Sie im Ernst, die werden Sie einfach wegfahren lassen?«

»Ich … Ich wollte nicht auf den Polizisten schießen … Ist er …«

»Er ist am Bein verletzt. Tut bestimmt weh, ist aber nicht so schlimm«, sagte Cleo. Sie wusste nicht, ob das stimmte. Fino beruhigen. Darum ging es. Keine zusätzliche Panik schüren.

Fino wirkte etwas erleichtert. »Ich will einen Deal.«

»Ich setzte mich dafür ein. Aber erst müssen Sie Ihre Nichte in Sicherheit bringen. Geben Sie sie der Mutter.«

Er zögerte.

»Fino! Die ziehen mich gleich ab! Wenn Sie etwas erreichen wollen, dann tun Sie jetzt, was ich sage, verdammt nochmal! Hier übernehmen gleich andere das Kommando, und die verhandeln nicht! Sie sind doch kein Babykiller! Das ist Ihre Nichte! Wenn ihr etwas passiert, ist das Ihre Schuld! Kapieren Sie: Es ist aus! Von jetzt an wird es entweder besser oder schlimmer. Das liegt ganz an Ihnen.«

Finos Lider flackerten. Sein Adamsapfel hüpfte wie ein Jo-Jo.

»Ich will einen Deal«, wiederholte er.

»Ich setze mich dafür ein«, bestätigte Cleo erneut.

Fino sagte etwas zu seiner Schwägerin, neigte sich zu ihr. Die Frau sprang weinend auf, nahm ihm das Kind ab, presste das Baby an sich und wich zurück. Cleo atmete auf.

Einer der SEK-Beamten sagte: »Jetzt die Waffe fallen lassen. Langsam die Hände über den Kopf. Gesicht zur Wand.«

Fino folgte der Anweisung.

Der ganze Rest ging dann sehr schnell.

Etwa zehn Minuten später sah Cleo, wie ein Mann und eine Frau aus dem Haus geführt und in einen Streifenwagen gesetzt wurden, der rasch wegfuhr. Kurz darauf wurde Fino in Handschellen nach draußen gebracht, ebenfalls in ein Auto gesetzt, das sich schnell entfernte.

Am Straßenrand standen jede Menge weiterer Streifenwagen und ein Rettungsfahrzeug, in dem Frantzen lag. Vor dem Haus gab es eine Absperrung. Menschen standen auf den Balkonen und gafften. Andere bevölkerten den Bürgersteig und filmten mit ihren Handys.

Cleo leerte eine Wasserflasche fast in einem Zug. Sie lehnte an der Motorhaube eines zivilen Polizeiwagens, die Schutzweste lag vor ihr. Ihr Shirt war durchgeschwitzt. Es musste immer noch über fünfundzwanzig Grad warm sein. Tropisch. Verdammte Hundstage. Am Himmel hörte sie Grollen, sah Wetterleuchten.

Sie zog das Smartphone aus der Vordertasche ihrer Jeans und checkte ihre Mails.

»Mist«, murmelte sie und blätterte durch die WhatsApps von Chris. Er wollte wissen, wann sie zum Essen zu Hause wäre, hatte dann erkannt, dass es wohl später werden würde, und am Ende sehr knapp angemerkt, dass er jetzt ins Bett gehe. Chris war Meeresbiologe und arbeitete an Forschungsprojekten über die Elbe. Sein Takt war ein vollkommen anderer als der von Cleo. Dennoch waren sie schon seit mehr als fünf Jahren ein ziemlich glückliches Paar und würden sehr bald heiraten.

C & C – Cleo und Chris, machte sich doch sicher super auf der Einladungskarte.

Darum ging es in einer weiteren Mail, die von ihrer Freundin Susann stammte. Sie wollte wissen, ob wegen morgen alles klar wäre. Morgen, natürlich, morgen! Cleo hatte über dem Einsatz ganz vergessen, dass sie verabredet waren. Susann war Künstlerin und kümmerte sich um das gesamte Artwork für das bevorstehende C & C-Event. Cleo wollte sich ein paar Entwürfe ansehen und danach ins Brautmodengeschäft gehen. Sie tickerte Susann ein »Daumen hoch«-Symbol und dahinter einen Kussmund zurück.

Cleo überlegte, ob sie auch Chris schreiben sollte, ließ es aber bleiben. Wenn er schon schlief, war eine Antwort sowieso überflüssig. Was sollte sie auch erwidern? Dass sie noch nicht wüsste, wie lange es dauern würde? Wäre eher kontraproduktiv, denn das würde Chris noch saurer machen. Abgesehen davon konnte sie sowieso nicht schlafen. Sie hatte immer noch einen Jetlag. Ihr gesamter Biorhythmus war aus dem Gleichgewicht geraten. Und so aufgeputscht, wie sie jetzt war, war an Schlafen ohnehin nicht zu denken. Schließlich schrieb sie doch etwas zurück, weil sie ihren Verlobten nicht ignorieren wollte.

Sorry, etwas dazwischengekommen. Erkläre ich dir morgen.

Die Tür vom Rettungswagen ging auf. Bernd Erhardt kam heraus. Er trug eine Anzughose, die so grau wie seine Haare war, ein kurzärmliges, weißes Hemd, das Sakko hielt er in der Hand. Im Gehen steckte er sich eine Zigarette an und ging auf Cleo zu.

»Kriminalhauptkommissarin Torner«, sagte er zu Cleo und nickte ihr zu. Christin Torner – das war Cleos eigentlicher Name. Aber jeder nannte sie nur Cleo, in der Schule schon. Die Abkürzung kam von Cleopatra, weil sie früher auf dicke Lidstriche stand. Heute schminkte sie sich fast gar nicht mehr. Bis auf den Lidstrich, dezenter jedoch als damals.

»Wie geht es Frantzen?«, fragte sie.

Erhardt fuhr sich mit der Hand über den kahlen Schädel, der mit einem Schweißfilm bedeckt war. Erste Altersflecken waren auf der Haut zu erkennen. »Oberschenkeldurchschuss und ein Steckschuss in der Schutzweste. Der dritte Schuss ging daneben. Er hatte Glück.«

Cleo atmete auf, lächelte ein wenig.

»Sie hatten Glück«, fügte Erhardt hinzu.

»Ja«, erwiderte Cleo.

Erhardt sah sie durchdringend an. Ein Blick wie ein Eispickel direkt ins Gehirn. Dann fragte er: »Sind Sie denn komplett verrückt geworden???«

»Es …«

»Torner. Ich bin Ihr Abteilungsleiter und für Sie verantwortlich.«

»Ich weiß, aber …«

Cleo wusste, worauf er hinauswollte. Sie war vor drei Tagen aus den USA zurückgekommen, hatte sich dann bei der Personalabteilung gemeldet und über alles Nötige informiert, aber Erhardt hatte freigehabt. Mit ihm hatte sie nicht reden können. Er hatte alles erst kurzfristig von den Personalern erfahren und noch kein Gespräch mit Cleo führen können. Anscheinend wollte er das nun nachholen.

»Ich hatte noch nicht die Zeit, mich darum zu kümmern. War zu kurzfristig«, unterbrach er sie, schnippte die Zigarette weg und neigte sich zu ihr. »Aber. Mensch. Cleo. Sie müssen doch selbst wissen, dass Sie kürzer treten müssen.«

»Ja, aber es hatte sich so ergeben, dass …«

»Es gibt bei Ihnen immer ein Aber.«

Cleo schwieg.

»Ab morgen sind Sie in einer anderen Abteilung. Schluss mit Fronteinsatz. Keine Diskussion. Ist Vorschrift. In Ihrem Interesse und auch in meinem. Wenn Ihnen bei Aktionen wie heute etwas zustößt, wird mir der Kopf abgerissen – und das nur, weil Sie Ihren unbedingt durchsetzen mussten.«

Cleo schluckte und wollte protestieren, ließ es dann aber.

»Sie hätten heute nicht hier sein dürfen«, sagte ihr Chef. »Das wissen Sie ganz genau. Es wurde auf Sie geschossen, meine Güte.«

Cleo sagte nichts.

»Sie melden sich morgen beim LKA 1 bei Schuddebohm. Die haben kurzfristig einen Platz für Sie …«

»Oh, bitte!«, sagte Cleo. »Ernsthaft?«

»Ab jetzt Schreibtischjob, Torner. Vielleicht ein paar kleine Sachen, damit Ihnen nicht langweilig wird. Keine Diskussion. Für Sie greift der Arbeitsschutz. Sie müssen sich schonen.«

Das LKA 1 war für regionale Kriminalitätsbekämpfung zuständig, und Hanka Schuddebohm als Zicke mit Haaren auf den Zähnen verschrien. Cleo sah ihre Karriere den Bach hinuntergehen und sich selbst mit Verkehrsdelikten und verschwundenen Ehefrauen oder weggelaufenen Teenagern herumschlagen.

»Herr Erhardt, ich bin topfit. Ich bin nicht krank, ich bin bloß …«

»Schwanger«, sagte Erhardt und sah sie so an wie ihr Vater, wenn er ihr als Kind etwas wirklich Ernstes erklärt hatte. »Vielleicht denken Sie mal darüber nach, was das für Sie bedeutet. Vor allem, was es für Ihr Kind heißt.«

Cleo kaute auf der Unterlippe.

Ihr Kind.

Das hatte bisher noch niemand so konkret ausgesprochen.

Ihr Kind.

Wie das klang. Nicht einmal sie selbst hatte das bisher gesagt.

Mein Kind.

Cleo blinzelte, nickte.

»Werde ich«, sagte sie dann.

3

Nick fand im Kofferraum, wonach er gesucht hatte, und ging damit zurück zu der toten Frau. Er fühlte sich wie betäubt, wie in einem Traum. Er musste die Sache beenden und sich darauf konzentrieren, schnell und effizient zu sein. Und er durfte keinen Fehler machen. Die Leiche musste von der Straße verschwinden, er selbst ebenfalls, und er durfte nicht auch noch zusätzliche Spuren hinterlassen.

Nick streifte die Latexhandschuhe aus dem Verbandskasten über. Er griff nach der Rolle Müllsäcke. Der Kunststoff war stark. Er hatte die Säcke gekauft, als er vor einigen Monaten aus der Stadt gezogen war, um seine Sachen darin zu verstauen. Ebenfalls das Paketklebeband – drei Rollen zum Preis von einer. Das Zeug lag noch immer im Wagen, weil er nicht gewusst hatte, wohin damit.

Er riss den ersten Sack ab und legte ihn zur Seite. Unbrauchbar. Könnte sein, dass sich daran Fingerabdrücke befanden. Dann riss er gut zwei Meter ab, breitete die Folie wie ein Bettlaken neben der Leiche aus, wickelte nochmals drei Säcke ab, platzierte sie neben den anderen und verklebte die Nahtstelle zwischen beiden Flächen. Er ging auf die gegenüberliegende Seite, benutzte den langen Stiel vom Wagenheber, setzte ihn seitlich in der Rippengegend der Toten unter dem BH an und rollte den Körper auf das fast schwarze Plastikrechteck. Er riss weitere Müllsäcke ab, deckte sie über den Körper und verklebte alles mit dem Paketband, bis die Leiche schließlich in einem improvisierten Bodybag lag.

Nick vergewisserte sich, dass alle Stoßkanten dicht waren. Dann ging er in die Knie, schob die Hände unter das Bündel und hob es an.