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Jana Oltersdorff

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Beschreibung

Zehn preisgekrönte Nachtthriller, nach deren Lektüre man nur noch schwer Schlaf findet ... »Klaustrophische Psycho-Spannung auf höchstem Niveau.« Bestseller-Autor Sebastian Fitzek über den Kurzthriller »Redrum kommt nach Hause« von Jana Oltersdorff. Außerdem in der Anthologie enthalten: - »Der schwarze Mann« von Jonas Kissel - »Maskenzeit« von Elisabeth Marienhagen - »Im Keller« von M.P. Anderfeldt - »Herz-Los« von Verena Oster - »Nachtaufnahme« von Torsten Exter - »Der Schattenjäger« von Katja Hermann - »Somnium« von Eric Boss - »Kälteidiotie« von Maria M. Lacroix - »Leben für den Tod« von Carolin Lockstein

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Katja Marie Hermann, Jonas Kissel, Verena Oster, M. P. Anderfeldt, Maria M. Lacroix, Carolin Lockstein, Elisabeth Marienhagen, Torsten Exter, Jana Oltersdorff, Eric Boss

Hüte Dich!

Zehn Nachtthriller

Knaur e-books

Über dieses Buch

Zehn preisgekrönte Nachtthriller, nach deren Lektüre man nur noch schwer Schlaf findet … »Klaustrophische Psycho-Spannung auf höchstem Niveau.«

Inhaltsübersicht

Der SchattenjägerDer schwarze MannHerz-losIm KellerKälteidiotieLeben für den TodMaskenzeitNachtaufnahmeRedrum kommt nach HauseSomnium – Wahn oder Wahrheit
[home]

Der Schattenjäger

Katja Marie Hermann

Wenn es dunkel wurde, begann seine Angst vor den Schatten. Sie wuchs, wenn in den Häusern die ersten Lichter angeknipst wurden. Sie wurde größer, wenn die Straßenlampen ihren künstlichen Schein auf den Asphalt flackerten. Sie erstickte ihn fast, wenn die Ecken der Räume vom Schwarz der Dämmerung ausradiert wurden.

Josef Peters zwang sich dann zur Normalität, machte sich auf den Weg zur Arbeit. Geduscht und gründlich rasiert, verließ er seine kleine Zwei-Zimmer-Wohnung, stieg in seinen alten VW Polo und fuhr durch die schwarzen Laken, in die sich die Stadt gehüllt hatte.

Seine Scheinwerfer durchschnitten die samtene Tintenschwärze. Manchmal, wenn Peters aus den Seitenfenstern sah, musste er an den Erlkönig denken. Er überlegte, ob dieser sich vielleicht noch für ihn interessieren könnte. Ihm wurde stets schlecht bei dem Gedanken an seine Berührungen. Laut schimpfte er im Auto mit sich selbst.

»Josef Peters, du bist zu alt, um an Übernatürliches zu glauben. Es ist nur, weil es dunkel wird«, versuchte er sich zu beruhigen und schaltete das Radio ein. »Es sind nur die Schatten.«

Dunkelheit verwässerte die Realität. Ließ mehr Spielraum für Fantastisches und Wahnvorstellungen, mit denen Peters gelernt hatte umzugehen. Dinge zu sehen, die nicht da waren, hatte ihm nur Ärger eingebracht. Sie waren der Grund, warum er nach seinem Physikstudium als Nachtwache in dieser Fabrik gelandet war.

Peters hatte sein ganzes Leben durchorganisiert und hielt sich strikt an seine Abläufe. Die kleinste Abweichung verwirrte ihn. Was andere eintönig nannten, bedeutete für Peters den Himmel auf Erden. Routine war das Seil, an dem er sich durch sein Leben hangelte.

Ein weiterer Grund für seine Flucht in die Nachtschicht waren die anderen Menschen. Er hatte nie gelernt, sie zu verstehen. Ihre Reaktionen waren für ihn eine Fremdsprache. Ihr Verhalten konnte er weder berechnen noch planen, geschweige denn deuten.

Nach seiner Ankunft folgte eine kurze Übergabe vom Vorarbeiter der Spätschicht. Ein unrasierter Typ, dessen schlechter Laune sich Peters anpasste. Kaum hatte der Brummkopf die Fabrik verlassen, atmete Peters auf. Endlich war er allein in den mit Nachtlicht versorgten Hallen.

Allein mit dem Flackern der Neonröhren und den vertrauten Geräuschen der sich von der Hektik des Tages abkühlenden Maschinen.

Allein mit den merkwürdigen, doch menschlich anmutenden Schatten.

Seine Runden waren stündlich angesetzt. Er hielt sich genau an die Vorgaben und wählte seine übliche Route durch das große Gebäude.

Selbst nach fünf Jahren hatte sich Peters noch nicht an die künstlichen Körper gewöhnt. Fast jeder Raum wurde beherrscht von Köpfen und Rümpfen, von einzelnen Armen und Beinen. Es roch beißend chemisch, nach Plastik und Gummi. Normalität in einer Fabrik für Schaufensterpuppen.

Die Atmosphäre schien für andere gespenstisch, sobald die Dunkelheit das abgelegene Fabrikgelände umzingelte.

Peters war es gewohnt, der einzige, wirklich menschliche Schatten zu sein.

Der einzige Schatten, der in der Lage war, sich in dieser bizarren Armee zu bewegen.

Leere, starrende Augen, gespielt freundliches Grinsen und kalte Arme, die sich nach ihm auszustrecken schienen.

Manchmal nahm er sich vor, einen Nachtwächterjob in einer anderen Firma zu suchen, aber hier kannte er sich aus. Die ganzen Veränderungen hätten ihn fertiggemacht.

Er sah sich nie Horrorfilme an.

Las keine Thriller.

Diese wären ohnehin nicht heilsam für ihn gewesen. Kontraproduktiv zu Therapie und Medikamenten.

 

Wie fast jeden Abend saßen sie zusammen. Unschlüssig, wie sie die Nacht mit Sinn füllen sollten. Draußen gab es nur dieses Dorf, das sie längst einzwängte, wie Kleidung, aus der sie herausgewachsen waren. Besonders eng war es, wenn es dunkel wurde.

Dann fühlten sie den Puls der Nacht, der woanders zu ticken schien. Die Abenteuer, die ihnen als junge Männer zustanden, fanden fern ihres Aufenthaltsorts statt.

Kein Szenario, das sie aus Hollywoodfilmen gewohnt waren, schien wirklich für sie verfügbar. So erweiterten sie sich ihre Welt mit Cannabis.

Martin nahm einen tiefen Zug und behielt den trägen Rauch in den Lungen, ehe er den Joint an seinen besten Freund Kai weitergab.

»Stell dir das mal vor, Alter. Ein riesiges, altes Gebäude weit draußen. Tausende von Puppen und nur eine Wache«, er grinste breit in doppeltem Sinn.

»Mein Vater kennt den Kerl. Der is’ krass drauf. Hat einen am Sträußchen«, hauchte Kai, und sein zugedröhnter Blick hing am Display seines Handys. Unablässig tippte er darauf ein.

»Der ist harmlos. Nicht die hellste Kerze auf der Torte, aber harmlos«, hauchte Martin und entließ aus seiner Lunge eine geisterhafte Qualmwolke. »Wir wollen doch nur ein bisschen Spaß haben. Der rafft das bestimmt eh nicht. Erfährt doch niemand.«

Kai sah vom Handy auf. Das Leuchten des Displays erlosch, und ihre Blicke trafen sich.

»Du meinst, wir besuchen ihn mal kurz?«

»Wir sagen Hallo auf unsere Art.«

Beide brachen in ein übermütiges Lachen aus. Sie begannen, sich lebendig zu fühlen. Plötzlich schien sie ein Hauch von Abenteuer zu streifen. Die Langeweile hatte sich für eine Nacht verzogen.

»Aber nimm die Nachtsichtgeräte von deinem Bruder mit.«

»Na klar doch.«

 

Auf seiner Zwei-Uhr-Runde waren die Schatten plötzlich anders als sonst. Peters brauchte mehr Licht, nahm seine Taschenlampe und leuchtete damit durch das Skelett der Fabrikhallen.

Sein Therapeut hatte ihm geraten, die Eindringlinge in seiner Wahrnehmung auszuschalten.

Sie mussten sterben, um ihm ein normales Leben zu gestatten.

Seine Taschenlampe flackerte. Zeigte kurz eine Horde von falschem Plastiklächeln und gab dann auf. Batterien leer. Peters konnte diese Art von Überraschungen gar nicht leiden und suchte seine Hosentasche nach den Ersatzbatterien ab. Seine zitternden Finger fanden sie und zerrten ungeschickt an der Taschenlampe. Die neuen Batterien fielen ihm aus der feuchten Hand. Sie rollten, als seien sie so panisch wie er, unter eines der Regale. Schweiß trat auf Peters’ Stirn.

Zu allem Übel hörte er das Klacken der Neonröhren in den Hallen und Gängen hinter sich. Ungläubig sah Peters der nahenden Katastrophe ins Auge. Eine Lampe nach der anderen erlosch. Eine Kettenreaktion wie bei umkippenden Dominosteinen. Dann stand er in der Dunkelheit und hielt den Atem an. Aus all seinen Poren trat der Schweiß. Die schwarze Wand vor seinen Augen nahm ihm das Gefühl für seinen Körper. Raubte ihm die Kontrolle.

Er wusste um die verstümmelten Plastikleiber um sich herum.

Nur halb fertig.

Nur rein optisch menschlich.

Er hörte sich selbst laut atmen.

Spürte seinen Herzschlag.

Die Dunkelheit zerrte an Peters’ Nerven, schürte die Bilder in seinem Kopf, bedrängte ihn.

Peters spannte den Körper einmal ganz fest an, zählte bis drei und ließ wieder los. Das hatte ihm sein Therapeut gezeigt. Ein Trick gegen seine Panikattacken.

Seinen Atem zwang er zur Gleichmäßigkeit, seinen Geist zur Vernunft.

Er wurde sicherer, dass die Geräusche um ihn herum nur Einbildung waren. Da gab es keine Schritte, und auch kein dämonisches Kichern.

Es ist alles nur in meinem Kopf, dachte er gerade, da fühlte er eine kalte, harte Hand in seinem Nacken. Plastikfinger fuhren durch sein Haar. Erstarrt riss Peters die Augen weiter auf. Er ertrank im schwarzen Nichts, in dem Berührungen viel intensiver waren. Wurde nochmals übermannt von der Panik, die ihn seit seiner Kindheit heimsuchte. Peters ertrank wieder in der Hilflosigkeit, wie damals als kleiner Junge.

Da waren sie wieder, die drängenden Schatten aus seiner Kindheit. Sie hatten ihn die ganze Nacht belästigt, bedrängt, gequält. Für ihn war es der Erlkönig gewesen. Dieser Kobold-König hatte es auf ihn abgesehen. Sein Geist hatte nicht zugelassen, den eigenen Onkel dafür verantwortlich zu machen, selbst als dieser für sein Tun inhaftiert wurde.

Das war lange her. Seitdem hatte Peters nachts nicht mehr schlafen können. Wenn es dunkel wurde, bewachte er die Schatten.

Deshalb arbeitete er in der Dunkelheit. Er hatte nie aufgehört, ihr zu misstrauen, und schlief bei sicherem Tageslicht. Die Zeit, in der die Finsternis ihn nicht erreichen konnte.

Peters fand sich in einem Feld von Schatten wieder. Sie wogten sanft hin und her und streiften ihn wie Ähren im Wind. Kurz flackerten die Neonröhren wieder auf. Beleuchteten seinen Albtraum sanft. Er fand sich inmitten verdrehter Puppenkörper wieder. Sie hatten einen bedrohlich engen Kreis um ihn gebildet. Peters fühlte Angst in sich aufsteigen.

Er sollte laut schreien.

Kraftvoll ausrasten.

Stattdessen spannte er seinen Körper erneut an und zählte. Alles blieb Einbildung. Alles passierte nur in seinem Kopf.

Als die Lichter flackerten, überhörte er bewusst das leise Kichern zwischen den Puppen. Er verließ den Kreis aus künstlichen Körpern und griff entschlossen nach einer der Stahlstangen. Bei Tag wurden daran die künstlichen Körperteile zum Trocknen aufgehängt.

Peters fühlte den kalten Stahl in seiner Handfläche. Er schien seinen Körper abzukühlen. Er würde die Schatten bändigen. Diesmal bekamen sie ihn nicht!

Die letzte Lampe erlosch. Wieder war es dunkel. Er horchte in die Schwärze. Fühlte den Schatten und schlug mit aller Kraft zu. Schreiend ging der Dämon der Finsternis zu Boden.

Das Jammern und Rufen eines zweiten Schattens kam näher. Wieder holte Peters aus, verließ sich auf seinen Instinkt und traf. Eine Weile keuchte etwas schwer zu seinen Füßen. Der Schatten flehte wimmernd, aber Peters kannte keine Gnade.

Wie ein Blinder tastete sich Peters zu dem Raum mit dem Stromkasten, wandelte benommen durch die langen Flure. Sie waren die Notausgänge seines Albtraums. Glatte, kalte Betonwände rahmten seine Suche ein. Im Kontrollraum angekommen, legte Peters die bekannten Hebel um und scheuchte das schwarze Rabenaas von Nacht zurück nach draußen.

 

»Und? War was?«, fragte ihn die Frühschicht. Der Kerl war ebenso mürrisch und übellaunig wie sein Kollege aus der Spätschicht.

»Ein kurzer Stromausfall. Passiert bei diesen alten Stromkreisen schon mal«, brummte Peters seine Antwort und entdeckte Spritzer an der Wand. Sie waren rotbraun, hatten die Farbe von getrocknetem Blut. Er war sich jedoch sicher, sie gehörten zu seiner Einbildung. Dies war die Abteilung, in der die Schaufensterpuppen bemalt und lackiert wurden. Da gab es viele rotbraune Spritzer.

Peters hatte die Lache letzte Nacht aufgeputzt. Die Schatten lagen sicher verpackt in seinem Kofferraum. Auf dem Weg nach Hause würde er sie dort begraben, wo er alle Schatten der letzten Jahre begrub. Es hatte so viele von ihnen gegeben.

Peters musste sie zerschlagen, vergraben, vergessen. Das hatte ihm sein Therapeut immer wieder gesagt.

Entspannt verließ er die Fabrik. Er registrierte die aufgehende Sonne. Vorbei die Nacht.

Gebändigt und erlegt der Feind.

Er war sicher, bis es wieder dunkel wurde …

[home]

Der schwarze Mann

Jonas Kissel

Chris Andris wachte auf und wusste, dass etwas nicht stimmte. Die Dunkelheit sollte eigentlich von zwei orangefarbenen Rechtecken unterbrochen werden: dem Fenster an der Wand und der Stelle auf Chris’ Bettdecke, auf die das Licht vom Bahnsteig gegenüber fiel. Doch diese Rechtecke waren beinahe vollständig gefüllt von den breiten Schultern und dem ovalen Kopf des schwarzen Mannes. Er stand dort vor dem Fenster und wartete, nichts als eine regungslose Silhouette, die sich schwarz wie eine der Zielscheiben am Schießstand gegen das Licht vom Bahnsteig abzeichnete.

Chris wusste, wer es war. Dass er es war – der schwarze Mann. Bei dem Vergleich hätte er sogar beinahe gelacht. Als kleines Kind hatte er sich nicht getraut, schlafen zu gehen, ohne vorher unter das Bett zu schauen, weil dort die hagere Gestalt mit den langen Fingern lauern könnte, die ihn in seinen Albträumen packte und unter den langen Mantel zu den anderen geklauten Kindern steckte, und jetzt, fast 20 Jahre später, kam der Arsch wirklich, um ihn zu holen.

Chris pustete etwas Luft durch die geschlossenen Lippen und fuhr sich mit der flachen Hand über den stoppeligen Kopf. Verrückt, wie das Leben manchmal spielte, echt verrückt.

»Du weisst, dass ich dich uhmbringen werde«, brummte die tiefe Stimme vor dem Fenster, ohne dass sich die Silhouette bewegte.

Chris hatte die Hand inzwischen unter seinen Kopf geschoben. Der Schweiß rann sein Gesicht herunter und schoss aus seinen Achseln, wahrscheinlich tropfte die Brühe sogar von den borstigen Resten seiner Haare auf das Kissen unter seinem Handrücken. Dabei war ihm kalt.

»Selbstverständlich«, wollte er antworten, aber er brachte nur ein heiseres Krächzen zustande. Er schluckte, räusperte sich und versuchte es erneut: »Selbstverständlich.« Gefasst klang er immer noch nicht, aber wenigstens musste er der ruhigen, tiefen Stimme nicht mehr mit diesem elenden Krächzen gegenübertreten, das spontan aus seiner Kehle gedrungen war.

Sicherheitshalber räusperte er sich noch einmal.

Der schwarze Mann würde ihn also umbringen (uhmbringen, schoss es ihm durch den Kopf, und er stellte sich vor, wie sich die dicken Lippen nach vorne schoben, um den Vokal in die Länge zu ziehen: uuuuhmbringen). Er trug in Wirklichkeit gar keinen langen Mantel mit geklauten Kindern; er hatte keine langen, dürren Finger und war auch nicht wirklich groß und hager – aber groß genug, um das Fenster bis auf zwei schmale Fastrechtecke zu füllen, die das Licht des Bahnsteigs auf Chris’ Decke zu zwei Fastsicheln verzerrte. Er würde ihn trotzdem uhmbringen, und Chris konnte nichts dagegen tun.

Schweißgebadet lag er in der Finsternis, eine Hand unter dem Kopf vergraben, die andere auf der Decke knapp oberhalb der orangefarbenen Fastsichel, und starrte auf die Wand mit dem Fenster. Links und rechts von diesem Rahmen aus Licht war die Wand so schwarz wie der Rest des Raums – und die Gestalt selbst.

Nein, die war eigentlich braun, lachte Chris nervös in sich hinein, aber dafür konnte sie verdammt gut Deutsch. Mal abgesehen davon, dass sie Vokale gerne langzog (uhmbringen) und ein ziemlich hartes S sprach (Weisst du, Juhnge). Vielleicht rollte sie auch etwas das R, aber damit hatte Chris weniger ein Problem. Sein Problem war von Anfang an gewesen, dass das Deutsch dieses … dieser Person anderer Hautfarbe so verdammt gut war.

Er ließ seinem Mund noch mehr Luft entweichen und bewegte die Hand über den rasierten Kopf zurück nach vorne, um wieder in sein Kissen zu sinken.

»Dann weisst du auch, wahrum«, stellte das tiefe Brummen ruhig fest.

Chris nickte zunächst; bis ihm einfiel, dass Baba das in der Dunkelheit gar nicht sehen konnte. Daraufhin seufzte er: »Selbstverständlich«, wobei seine Stimme nur ganz knapp an dem Krächzen von vorher vorbeischrammte.

Die Silhouette des Negers blieb regungslos – wie eine der Zielscheiben am Schießstand. Vielleicht würde Baba es nicht bemerken, wenn seine Finger ganz vorsichtig zur Kommode mit der Pistole tasteten …

»Guht«, meinte der Nigger (der schwarze Mann, korrigierte Chris schnell in Gedanken, während er beobachtete, wie der Schatten auf seiner Decke leicht den Kopf hob und senkte), »hahst du noch etwas zu sahgen?«

Chris schluckte. Vorsichtig hob er eine Hand, bewegte sie langsam zur Kommode hin. Baba würde es nicht sehen, redete er sich ein; Baba würde es nicht sehen, weil er es gar nicht sehen konnte.

Aber er konnte es hören.

Chris’ Arm erschlaffte und fiel zurück auf die Decke. Baba würde hören, wie er die Schublade aufzog und die Pistole herausholte, und er musste nur einen Schritt zur Seite gehen, um mit der Dunkelheit zu verschmelzen und den Weg für das Licht vom Bahnsteig gegenüber frei zu machen, sodass der Raum leer aussehen würde, unschuldig; dunkel, aber mit den beiden Rechtecken – an der Wand und auf der Decke – einfach gewöhnlich. Und das alles, weil er im Dunkeln unsichtbar war; weil Baba ein verdammter Nigger war!

Nein, den Gedanken verwarf er wieder. So wollte er nicht mehr denken – nicht zuletzt wegen Baba. Aber seine Zuneigung zu dem Afrikaner mit den langen Vokalen und den harten S hatte ihn nicht davor bewahrt, in dieser Nacht vom schwarzen Mann heimgesucht zu werden.

»Ich habe eine Frage«, brachte er erstickt hervor. Mit der tiefen Wärme und Ruhe von Babas Stimme wollte er gar nicht mehr mithalten. Dem schwarzen Mann seiner Kindertage wäre es auch egal gewesen, wenn er Stärke bewiesen hätte. In dem Mantel mit den entführten Kindern wäre er sowieso gelandet.

»Bite«, forderte Baba geduldig.

Wie zur Hölle bist du hier reingekommen?, lag Chris auf der Zunge, aber er konnte es sich verkneifen. War es letztendlich nicht egal, ob Baba durch irgendein Fenster geklettert war oder unter dem Bett gelauert hatte? Wer weiß, vielleicht beobachtete er ihn schon mehrere Nächte, stand im Dunkeln neben dem Bett und ließ das Licht die unschuldigen Rechtecke ins Zimmer werfen, die ihn nun einrahmten. Vielleicht beobachtete er ihn schon seit der Nacht, in der sie … Vielleicht tat er es aber auch nicht. Chris konnte es nicht wissen, schließlich war Baba im Dunkeln unsichtbar. Bei dem Gedanken hätte er beinahe wieder gelacht – ein bitteres Lachen, zugegeben.

»Ist es zu spät, um sich zu entschuldigen?«, fragte er leise. In was bin ich da nur reingeraten?, ging es ihm dabei durch den Kopf, und erneut fuhr er sich mit der Hand über die Stoppeln seiner Haare, wobei seine Poren sich in einem weiteren Schwall kalten Schweißes entluden. In Wirklichkeit wusste er genau, in was er da hineingeraten war.

Ursprünglich war es Protest gewesen – eigentlich gar nicht so lange, nachdem er aufgehört hatte, unter seinem Bett nach dem schwarzen Mann zu suchen, wenn er darüber nachdachte. Danach hatte er mehr und mehr an das geglaubt, was er da tat. Und dann war er drin gewesen, Chris Andris, bei Kommunalwahlen Listenplatz Nummer 3 für die Braunen gegen die Braunen. Und auf dem Land, wo in 24 Stunden gerade drei Züge an dem einsamen Bahnsteig mitten in der Pampa vorbeidonnerten, von denen einer mitten in der Nacht das orangefarbene Rechteck auf Chris’ Bett wandern und wachsen und heller werden ließ, bis schließlich die ganze Wand am Kopfende weiß leuchtete, wählten die Leute noch braun. Zumindest waren sie weniger abgeneigt, braun zu wählen. Und mit dem richtigen Image war der Rest kein Problem mehr.

Also unterhielt die Partei ein Jugendhaus. Natürlich wussten nur die Volksunterdrücker, woher es stammte, doch die Partei sorgte dafür, dass nicht einmal das linkste aller kommunistischen, sozialchristlichen oder sonst wie wohlfahrtsstaatlichen Arschlöcher etwas finden konnte, das auch nur im Geringsten eine Schließung nahelegte. Außerdem wäre es an dieser Stelle von jedem politischen Konkurrenten ungeschickt gewesen, ihnen ans Bein zu pinkeln, denn wo sonst nichts los ist, lieben die Teenies ihr Jugendhaus.

Wahrscheinlich fiel ihnen nicht einmal auf, dass nur deutschsprachige Musik lief. Deutschsprachige