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Was bleibt von uns übrig, wenn unsere Menschlichkeit in den Tiefen verloren geht? Mina fleht Ivo an, den Job nicht anzunehmen. Sie bittet ihn darum, dieses Schiff, das ihn dorthin bringt, nicht zu betreten. Doch er hört nicht auf seine Frau. Seiner Familie zuliebe muss er es tun, um ihre finanzielle Zukunft zu sichern. Das sind Ivos letzte Worte. Nach seinem Unfalltod auf einer Bohrinsel im Europäischen Nordmeer lebt Mina in einem Teufelskreis aus Schuld, Trauer und der Verleugnung seines Ablebens. Als sechs Monate später ein Brief eintrifft, traut sie ihren Augen kaum: Ivo lebt. Er sitzt seit dem Unglück auf Siste Hvil fest, einer bewohnten Insel in der Nähe der Bohrinsel. Mina gibt ihren Gefühlen nach und reist zusammen mit ihrer Tochter Lilija auf einem Luxusliner nach Siste Hvil. Das Wiedersehen mit Ivo kann nicht länger warten. Was wie eine ersehnte Familienzusammenkunft klingt, entwickelt sich zur schlimmsten Vorstellung jeder fürsorglichen Mutter. Was ist ihrem Baby zugestoßen? Wo ist Lilija? Die Suche nach ihrem Kind und Ivo führt Mina in einen Albtraum. Ein Albtraum, in dem die Grenze zwischen Realität und Mythos, Wissenschaft und Wahnsinn verschwimmt. Was passiert, wenn dir ein geliebter Mensch eine Welt offenbart, die niemals für unsere Spezies bestimmt war?
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Seitenzahl: 552
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Simon Maier
Hydras Blut
Erbe des Abgrunds
Impressum
Text und Cover: © Copyright by Simon Maier
Fremdsprachen (Italienisch, Japanisch, Norwegisch und Spanisch) übersetzt mit DeepL.
Simon Maier
Rosenstr. 10
74906 Bad Rappenau
Kontaktadresse nach EU-Produktsicherheitsverordnung: [email protected]
Vorwort des Autors
Was schreibe ich am besten zu meinem Debütroman?
Die Erde besteht zu über 70 % aus Wasser und wir wissen bis heute kaum etwas über die Geheimnisse der Tiefsee. Diese Geschichte ist rein fiktiv und dreht sich um ein „Was wäre, wenn?“-Szenario. Die Handlung kombiniert tatsächliche Wissenschaft mit mysteriösen Elementen und thematisiert teils auch reale Ereignisse, wie z. B. den Zweiten Weltkrieg.
Eventuelle Ähnlichkeiten meiner Figuren zu realen Personen – lebendig oder tot – sind zufällig.
Inhalt
1 Kapitel 1 – Rückkehr
2 1.1 – Rückkehr, Teil 2
3 Kapitel 2 – Der schlummernde Wal
4 Kapitel 3 – Licht in der Dunkelheit
5 Kapitel 4 – Ankunft
6 Kapitel 5 – Die Stimme des Regens
7 5.1 – Die Stimme des Regens, Teil 2
8 Kapitel 6 – Ruhestätte
9 Kapitel 7 – Die Suche nach dem Paradies
10 Kapitel 8 – Revelation
11 Kapitel 9 – In den Tiefen
12 Kapitel 10 – Wo die Lilie blüht
13 Kapitel 11 – In Bedrängnis
14 Kapitel 12 – Ursprung
15 12.1 – Ursprung, Teil 2
16 Kapitel 13 – Fortschritt
17 Kapitel 14 – Veränderung
18 Kapitel 15 – Aufstieg
19 Kapitel 16 – Verlust
20 Kapitel 17 – Unerreichbare Nähe
21 Kapitel 18 – Konsequenzen
22 18.1 - Konsequenzen, Teil 2
23 Kapitel 19 – Des Fährmanns Tribut
24 Kapitel 20 – Das Ende einer Reise
25 Kapitel 21 – Rekonvaleszenz
26 21.1 Rekonvaleszenz, Teil 2
27 Kapitel 22 – Mutter
28 Kapitel 23 – Winter
29 Kapitel 24 – Metamorphose
Liebste Mina, Lilija, meine geliebte Tochter,
ich werde mich kurzfassen: Ich bin noch am Leben.
Vor dem Unfall hatte ich mit einem Kollegen die Schicht getauscht und bin seitdem auf Siste Hvil.
Es gibt für mich keine Möglichkeit, euch per E-Mail oder Satellitentelefon zu erreichen.
Der Wiederaufbau der Bohrinsel hat Vorrang, deshalb werde ich nicht so schnell auf ein Schiff hoffen können, das mich zurück zu euch nach Hamburg bringen wird.
Ich habe eine Bitte an euch: Kommt nach Siste Hvil.
Unser Spätzchen muss ja richtig groß geworden sein.
Ich wünschte, du könntest meinen Herzschlag gerade fühlen, bei dem Gedanken daran, sie und dich nach all den Monaten mitten im Nirgendwo endlich wiederzusehen.
Ich werde meinen Brief abschicken, sobald ich dazu komme.
Es ist mir egal, wie lange es dauert, bis er euch erreichen wird, denn ich werde in Naledis Gasthaus warten, bis zu dem Tag, an dem ihr hier ankommen werdet.
Wochen, Monate, Jahre, es spielt keine Rolle. Versprochen.
In aller Liebe,
Ivo
Mina faltete den Brief zusammen und legte ihn mit einem Gesichtsausdruck in das Handschuhfach, der sowohl Freude als auch Unsicherheit ausdrückte.
„Ich möchte deinen Worten glauben“, dachte sie. „Der Brief trägt deine Handschrift, er ist auf deine Art geschrieben. Hast du wirklich über sechs Monate auf uns gewartet? Es ist nicht zu fassen, dass er so lange zu uns gebraucht hat. Ich habe Angst, Ivo. Angst, dass du nicht dort sein wirst.“
Mina richtete sich auf, schaute in den Rückspiegel und sah nach ihrem Baby, das in seinem Kindersitz strampelte.
„Dein Papi würde uns nie im Stich lassen, nicht wahr, mein Mäuschen? Das könnte er uns beiden niemals antun.“
Lilija streckte ihr die rechte Hand entgegen und antwortete mit einem „Bä bä, da“, gefolgt von einem Quietschgeräusch.
„Klasse“, sie lächelte. „Schön, dass wir uns einig sind.“
Nach kurzem Überdenken öffnete Mina die Fahrertür.
Sie lief zur hinteren auf der gegenüberliegenden Seite, um Lilija abzuschnallen und liebevoll auf den Arm zu nehmen.
Es dauerte anschließend keine Minute, den Kinderwagen, zwei grauweiße Reisetaschen und einen violetten Rucksack aus dem Kofferraum zu holen.
Ersterer fungierte als Gepäckträger auf dem Weg zum Cruise Center Steinwerder im Hamburger Hafen.
Das Einchecken auf Kreuzfahrten ähnelte dem auf Flughäfen.
Das Gepäck gaben die Passagiere hier in einem Nebengebäude ab, welches die Mitarbeiter bis vor die Kabine brachten.
Danach mussten die Reisenden einen Gesundheitsfragebogen aushändigen, um eine Bordkarte und Infobroschüre erhalten zu können, der idealerweise im Voraus ausgefüllt wurde.
Der nächste Schritt bestand darin, die Reisedokumente und den Ausweis vorzulegen, damit ein Ticket für die Bordkarte erstellt werden konnte.
Ein Foto zur Einschiffung war die letzte Hürde, bevor die Gäste den Luxusliner betreten durften.
Auf Mina und Lilija wartete dagegen eine Vorzugsbehandlung. Eine Frau, deren schulterlanges kastanienbraunes Haar eine rote Schleife zusammenhielt, empfing die zwei im Terminal.
Die Dame trug einen blau-weißen Blazer mit Fliege.
„Guten Morgen“, sie grinste. „Mein Name ist Katalin. Es ist zwar nicht üblich, aber ich werde Sie auf die Cetacea Magna begleiten und Ihnen Ihre Unterkunft zeigen.“
„Danke, es freut mich. Ich bin Mina und dieses wunderschöne Engelchen, das so sorglos in ihrem Kinderwagen sitzt, heißt Lilija.“
„Oh, ich bin ebenfalls Mama. Warten Sie erst einmal ab, bis die Pubertät eintreten wird. Da mutieren Engel zu Bestien, das können Sie mir ruhig glauben.“
„Richtig“, Mina schmunzelte. „Zum Glück bleiben mir dafür noch ein paar Jährchen an Vorbereitungszeit.“
„Die wird Ihnen auch nicht mehr weiterhelfen können“, sie lachte auf. „Spaß beiseite. Würden Sie mir bitte folgen?“
„Ach, die wird schon ausreichen. Natürlich, nach Ihnen.“
Mina hielt einen Moment inne und blieb in der Menge stehen, zumal alle Passagiere das Schiff bewunderten, an dessen Bug das Bild eines Blauwals prangte.
„Wow, okay. Das hat was von einer schwimmenden Kleinstadt.“
„Genau meine Worte“, erwiderte die Mitarbeiterin. „Wenn Sie das bereits umhaut, sollten Sie erst mal sehen, wie es auf dem Schiff aussieht.“
„Ich lass mich gern überraschen.“
„Da trifft Perfektion auf Eleganz. Sie werden sich wie eine Königin fühlen, oder reicht Ihnen Prinzessin sein aus?“
„Königin, bitte“, sie kicherte. „Sie sind ja gut drauf.“
Der Weg auf den Luxusliner führte über eine Stahlbrücke, von denen insgesamt acht Stück existierten.
Katalin lenkte das Gespräch auf den Alltag und schwelgte in Erinnerungen an die Höhen sowie Tiefen des Erwachsenwerdens ihrer beiden Söhne.
Die Themen lösten Heiterkeit aus, als die Dame Lilija und Mina über das Hauptdeck leitete.
Ihr Sichtfeld fiel auf Zierblumenbeete und kleinere Bäume wie Kugelrobinien oder Japanische Nelkenkirschen.
Sie entdeckte obendrein Schaufenster in den Seitengängen der Gartenanlage, die Kunden anlocken sollten.
Das Warensortiment dieser Läden reichte von Souvenirs und Lebensmitteln bis hin zu rezeptfreien Medikamenten.
Ein Blick nach oben zeigte ihr von Schutzgittern umgebene Decks, deren Material die Sonne reflektierte.
Die Menschen verschwanden dort hinter Holztüren in Räumen, von denen jede eine Nummer auf dem Metallrahmen trug.
Da Ivo für den Konzern arbeitete und solche Kreuzfahrten in der Regel ausgebucht waren, erhielten die beiden die Ehre, in einer VIP-Luxusunterkunft wohnen zu dürfen.
Diese lagen auf dem Hauptdeck vor der Promenade in Richtung Bug und konnten lediglich mit einer Schlüsselkarte betreten werden.
Allein der Gang vor den Kabinen verleitete Mina mit seinem weißen Marmorboden, den Mahagoni-Wänden und den Zierpalmen dazu, aus Reflex eine Hand gegen die Brust zu halten.
„Ich weiß ja nicht: Ist das nicht ein bisschen zu viel des Guten? Immerhin müssen wir nichts für die Reise bezahlen.“
„Alles gut“, Katalin lächelte. „Marevita – und somit ich – hat Ivo über sechs Monate im Regen stehen lassen. So etwas sollte nicht passieren und deshalb ist es das Mindeste, was wir für Sie tun können. Ich möchte mir nicht ausmalen, wie Sie sich unseretwegen gefühlt haben müssen. Sie dachten, dass Ivo gestorben ist und mussten … Das ist der Horror.“
Die drei blieben vor einer Holztür stehen, auf der das Bild eines Blauwals eingraviert war.
„Die junge Liebe ist etwas Wundervolles. Ich drücke Ihnen auf jeden Fall beide Daumen, damit Ihre Zusammenkunft so ablaufen wird, wie Sie es sich wünschen.“
„Na ja“, Mina grübelte. „Die Jüngste bin ich nicht mehr. Wo würden Sie bitte 28 einordnen? Mittelalt oder viel zu alt?“
„O weh, Süße. Bei mir sind es locker zwei Jahrzehnte mehr. Es macht mir Spaß, mit Ihnen zu plaudern. Wir stehen längst vor Ihrer Kabine und quatschen bloß. Sollen wir reingehen?“
„Super, mir geht es mit Ihnen genauso. Ja, bitte.“
Das Interieur der Unterkunft ähnelte dem Eingangsbereich.
Der Boden war aus Marmor.
Nussbaummöbel bildeten einen farblichen Kontrast.
Vor einem Fenster mit Meerblick stand ein Boxspringbett. Gardinen in Wellenform bedeckten die Scheiben zur Hälfte.
Das Bad erinnerte von seiner Einrichtung an den Rest des Zimmers, dessen Duschvorhang gleichermaßen ein Wal zierte.
„Ich werde Ihnen ein Kinderbettchen bringen lassen“, sagte Katalin. „Falls Sie noch etwas benötigen sollten, geben Sie bitte dem Personal Bescheid. Es tut mir leid, ich muss Sie jetzt verlassen. Die Pflicht ruft und verlangt nach mir.“
„Vielen Dank für alles, Katalin. Wir werden uns auf diesem Schiff sicher mal wieder begegnen. Es hat mich gefreut.“
„Garantiert. Tschüss, und auch für dich ein liebes Tschüss, Lilija. Gib bitte auf deine Mami acht, ja, du hinreißendes Sternchen? Ich zähle auf dich.“
Katalin grinste das Mädchen an, aber für das Baby klangen ihre Worte nur wie undefinierbare Laute der Freundlichkeit, weshalb es mit einem Kichern antwortete.
Kurz darauf trug Mina das Gepäck ins Zimmer, räumte ihre sowie Lilijas Kleidungsstücke in einen Schrank und verließ zusammen mit ihr die Unterkunft.
„Ohne dich würde ich das nie schaffen, Mäuschen. Äußerlich mag ich fröhlich wirken, innerlich weine ich. Ob ich es aus Furcht oder Freude mache, kann ich dir nicht mal sagen. Wir sollten uns auf dem Schiff umsehen, um uns abzulenken. Mami macht sich sonst verrückt. Was hältst du von diesem Plan?“
Ihr linker Zeigefinger stupste das Kind sanft in den Bauch. Es erwiderte die Zuneigung mit Quietschgeräuschen.
„Klasse. Du bist Mamis kleine Heldin. Lass uns gehen, ja?“
Mina schob den Kinderwagen vor sich her und überlegte, wohin die zwei zuerst gehen sollten.
Vor der Gartenanlage bog sie spontan in die Ladenpassage zur Linken ein.
Ihr Tempo kam an das einer Schildkröte heran, während das Interesse den Schaufenstern galt.
In einigen der Läden waren Passagiere, denen das Personal mit einem Lächeln, mit Rat und Tat oder an der Kasse zur Seite stand.
Sie blieb vor einer Glasscheibe stehen, hinter der sich Kleinigkeiten wie Tassen und Teller mit dem Schiffslogo präsentierten.
Ein Delfin erregte ihre Aufmerksamkeit, der ihr in einer Gruppe von mehreren auffiel.
Es waren selbstredend keine echten, die jemand mit Gewalt dort hineinzwängte, sondern Stoffimitate, deren Innenleben aus Watte war.
Die Hälse dieser Tierchen bedeckte ein rotes Tuch.
Ein blau-weißer Matrosenanzug mitsamt Mütze und dem Bild eines Wals rundete den Anblick ab.
Bei Souvenirs setzte ihre Vernunft aus, weil jeder Urlaub mit einem Andenken im Gepäck zu Ende gehen musste.
Sie zögerte nicht länger und lief in das Geschäft, wo das Plüschtier seinen Platz neben ihrer Tochter im Kinderwagen fand.
Hinter einer Kirschholztheke wartete eine Frau, welche die beiden anlächelte.
„Einen schönen guten Tag, die Dame“, sagte sie. „Was kann ich für Sie tun?“
„Hallo. Ich habe noch gar nicht auf den Preis geachtet. Es hat mir so gefallen, dass ich sofort handeln musste.“
Die Mitarbeiterin schaute an ihr vorbei und beobachtete das Mädchen, wie es aus Neugierde in den Delfin biss.
„Wissen Sie was?“, sie dachte nach. „Ihr Kindchen vor Glück strahlen zu sehen, genügt mir vollkommen.“
„Wie bitte?“
„Ich schenke es Ihnen.“
„Ich möchte Sie nicht ausnutzen“, Mina seufzte. „Die Reise kostet uns schon keinen Cent und wir haben eine VIP-Kabine. Tut mir leid, das nehme ich nicht an. Zu viel ist zu viel.“
„Ich meinte das ernst“, die Dame grinste. „Wollen Sie ihn haben oder nicht? Denken Sie an Ihr hübsches Baby.“
Eine Sonderbehandlung wegen Ivo war nicht nötig.
Es wäre eine Frechheit gewesen, dieses Angebot anzunehmen.
Da die Frau jedoch darauf bestand, wurde dem zugestimmt.
„Gut, Sie haben gewonnen. Sie machen es einem nicht leicht. Danke, wir wissen Ihre Großzügigkeit zu schätzen.“
„Für so ein Zuckermäuschen drücke ich gern ein Auge zu.“
„Sie sind die Gutmütigkeit in Person. Das werden wir Ihnen nicht vergessen. So, wir werden weiter das Schiff erkunden gehen. Ciao, ciao.“
„Sie schmeicheln mir. Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Aufenthalt an Bord. Genießen Sie bitte Ihre Reise.“
Die Dame sah ihnen beim Verlassen des Geschäfts hinterher und grinste nach wie vor wegen Lilijas 'Kau-Attacke'.
Bei der Erkundung der Promenade hallte nach wenigen Metern unerwartet eine Frauenstimme über das Deck.
Mina blieb daher mit dem Kinderwagen vor einer Holzbank im Schatten zweier Rotahorn-Bäume stehen und setzte sich.
„Liebe Passagiere, hier spricht Ihre Kapitänin. Da nun alle von Ihnen eingecheckt haben, möchte ich Sie herzlichst zu meiner Eröffnungsrede einladen. Es geht um exakt zwölf Uhr im Speisesaal am hinteren Ende der Promenade los. Falls Sie ihn nicht finden können, ist meine Mannschaft Ihnen liebend gern behilflich. Bitte keine Eile, Sie haben noch über eine viertel Stunde Zeit. Ich danke Ihnen fürs Zuhören und freue mich auf Ihr Beisein.“
Mehrere Kreischlaute am Himmel sorgten für Ablenkung, denn ein Schwarm Möwen flog über das Schiff hinweg.
Mina blickte nach oben und bemerkte eine Glasüberdachung der Promenade, welche ein Gittersystem zusammenhielt.
In der Mitte des Daches ragte ein Steg über den Park, an dessen Geländer sich Menschen anlehnten und die Umgebung bewunderten.
Sie beugte ihren Kopf nach unten und stupste Lilija mit Bedacht in den Bauch.
„Du hast unsere Frau Kapitänin gehört, meine süße Fee. Was hältst du davon, wenn wir den Speisesaal aufsuchen?“
Ihre Tochter schaute lediglich verträumt in die Wolken und kaute an ihrem Kuscheltier.
„Du Barbarin“, sie schmunzelte. „Wir essen keine Tiere.“
Mina nahm den Delfin vorsichtig aus ihren Armen.
Sie legte ihn neben ihren Nachwuchs in den Kinderwagen.
Stattdessen gab es einen Ring aus Kautschuk als Ersatz, in den das Baby mit Freude hineinbiss.
Zu guter Letzt setzten die zwei ihre Erkundungstour fort, die jetzt in Richtung Heck des Luxusliners weiterging.
Ein Großteil der Passagiere wartete bereits bis in den Gartenbereich.
Das Personal war damit beschäftigt, die Gäste in Gruppen oder einzeln durch mehrere Doppeltüren zu lotsen.
Vor der Menschenmenge erstreckte sich eine Glasfront über die gesamte Breite des Hauptdecks, an der beidseitige Gänge zu neuen Bereichen des Schiffs entlangführten.
Durch die Fensterscheiben waren Menschen in Schürzen zu sehen, die hinter Theken arbeiteten, auf denen Schüsseln, Töpfe, Pfannen und Tabletts platziert waren.
Es vergingen dreizehn Minuten, bis eine Dame im weiß-blauen Blazer Mina begrüßte, die nach ihrer Bordkarte fragte.
„Ich danke Ihnen, Frau Winter“, sie lächelte. „Würden Sie mir bitte folgen?“
„Natürlich“, Mina tat es auch. „Was für ein Service.“
Die beiden liefen hinter ihr her, ehe die Mitarbeiterin an einem Kieferholztisch vor der Bühne anhielt.
Neun Personen in Uniform saßen dort und redeten teils mit einer blonden Frau, deren Grazilität sogar Mina verblüffte, obwohl ihre Statur kaum Unterschiede aufwies.
Die Unbekannte trug eine Mütze mit dem Bild eines Blauwals. Ihre Kleidung schmückte ein Orden mit einem Anker auf der Brust, der im Licht glänzte.
Sie wandte sich von ihren Kollegen ab und sah Mina an.
„Willkommen in unserer Runde, Frau Winter. Ich bin Synthia Vogt, die Kapitänin dieser Schönheit. Bitte, nur zu, nehmen Sie mit Ihrer Tochter bei uns Platz.“
„Okay, wenn Sie meinen“, Mina grinste verlegen. „Ich danke Ihnen und fühle mich geehrt, bei Ihnen sitzen zu dürfen.“
„Da ich nach meiner Rede mit Ihnen sprechen möchte, dürfen Sie sich gern zu uns gesellen.“
„Super. Mein Engelchen und ich wissen das zu schätzen“, sie dachte nach. „Worüber wollen Sie mit mir reden?“
„Mir fehlen die …“, ihr kamen die Tränen. „Ich danke Ihnen von Herzen, dass Sie das alles für uns auf sich nehmen.“
„Nun, es ist immerhin unsere Schuld, dass Ivo bis heute auf Siste Hvil verbringen musste. Als ein Teil Marevitas fühle ich mich mitverantwortlich. Außerdem möchte ich eine Mutter mit ihrem Nachwuchs nicht allein den Gefahren der rauen See aussetzen. Das könnte ich niemals zulassen.“
„Danke“, Mina atmete durch. „Das ist wirklich zu nett von Ihnen allen. Ich kann es kaum erwarten, Ivo wiederzusehen.“
Synthia schob ihren Stuhl zur Seite und sprang auf.
„Entschuldigen Sie mich bitte für einen Moment.“
Die Kapitänin verließ den Tisch, lief auf die Bühne und stellte sich vor ein Aluminiumstativ, sodass ihre Stimme aus rechteckigen Boxen in den Ecken des Saals ertönte.
„Einen guten Mittag, meine lieben Passagiere und Kollegen. Mein Name ist Synthia Vogt und ich bin die Kapitänin dieser Perle. Ich möchte Sie alle an Bord unserer Cetacea Magna herzlich willkommen heißen. Dieser Name bedeutet übrigens so viel wie: Großer Wal. Unser Schiff wird für die nächsten vier Wochen Ihr zu Hause sein, und falls Sie es so möchten, können Sie uns als Ihre Zweitfamilie betrachten. Bevor Sie nun alle Ihre Speisen genießen können, werde ich Ihnen noch Details über die Reise und unseren Luxusliner erzählen. Ich werde Sie sicher nicht langweilen, keine Sorge.“
Mit einer Länge von 306 und einer Breite von 74 Metern war die Cetacea Magna zwar nicht das größte, aber dafür eines der modernsten Kreuzfahrtschiffe seiner Zeit.
Die Promenade, welche sich mitsamt der Parkanlage über das erste Drittel des Hauptdecks entlangzog, bildete hierbei das Herzstück.
Für Eltern, die ein wenig Ruhe auskosten wollten, gab es zu deren Glück eine Tagesstätte hinter dem Speisesaal.
Zusätzlich bot das Unterhaltungsprogramm genügend Spaß und Spiele für ältere Kinder sowie Teenager.
Im Anschluss hatten die Gäste Zutritt zu dem Areal, das zum Tanzen, Feiern, Glücksspiel oder zum Trinken einlud.
Darüber hinaus existierten an Bord ein Theater und vier Kinosäle, sofern Interesse daran bestand.
Auf dem Oberdeck am Heck gab es ferner einen überdachten Poolbereich mit Kunststrand und -palmen, der über jedes Deck oder den Vergnügungsbereich erreicht werden konnte.
Synthia gönnte sich eine Verschnaufpause und erwähnte dann die neun Passagierdecks, auf denen insgesamt 3700 Menschen untergebracht werden konnten.
„Wir fahren von der Nordsee über Island und Grönland in die Arktis und zurück über Spitzbergen, Norwegen und Dänemark.
Heute Abend, Punkt achtzehn Uhr, werden wir in See stechen. Nach dem Essen und unserer Pflicht-Seenotübung bieten wir Ihnen in drei Stunden die Möglichkeit, sich auf dem Schiff umsehen zu können. Sie dürfen uns auf der Brücke besuchen kommen und die Unterdecks oder den Maschinenraum betreten.
Nun, das war es erst mal. Bitte nehmen Sie auf uns und die anderen Passagiere immerzu Rücksicht und genießen Sie Ihre Reise. Ich danke Ihnen und wünsche einen guten Appetit.“
Die Kapitänin nahm unter dem Beifall der Menge wieder am Tisch vor der Bühne Platz.
Mina ließ ihr Baby derweil bei den Personen, um in Ruhe die Essensausgabe aufzusuchen.
Die Aromen verschiedener Gewürze und ein Hauch von Fisch, Fleisch sowie Gemüse schwebten in der Luft.
Vor ihren Augen entfaltete sich aktuell ein wahres Fest der Farben und Gerüche, wenngleich das Interesse lediglich den Gemüsegerichten galt.
Die Köstlichkeiten standen auf einer separaten Theke, neben der ein Schild darauf hinwies, dass diese keine tierischen Zutaten enthielten.
Mina kam schließlich mit einem Teller zurück, auf dem ein wahres Kunstwerk aus Nudelscheiben lag.
Es war Schicht für Schicht mit gegrillten Pfifferlingen, Auberginen und Paprika sowie einer Sauce auf Tomatenbasis gefüllt, der Kokosmilch beigefügt wurde.
„Möchten Sie unser Schiff allein erkunden, Frau Winter?“, fragte Synthia. „Oder dürfte ich Sie nach der Notfallübung persönlich durch meine Perle begleiten?“
„Nein, alles gut. Ich habe in den nächsten Wochen genügend Zeit, um mich an Bord umzusehen. Immerhin sind Lilija und ich nicht zum Spaß mitgekommen, sondern wegen Ivo.“
„Wie Sie wünschen“, sie machte eine Pause. „Genießen Sie bitte Ihre Speisen. Ich werde Sie nachher abholen kommen, sobald die Pflicht getan ist.“
„Wir sind Ihnen allen von Herzen dankbar, was Sie für meine Familie und mich bereit sind zu tun.“
„Nun, das ist eine Selbstverständlichkeit für uns“, Synthia zögerte. „Wissen Sie, meine Schwester … Das werde ich Ihnen später erzählen. Ich will Sie nicht vom Essen abhalten, es besteht kein Grund zur Eile.“
Nach gut zwanzig Minuten war ihr Teller leer.
Sie wandte sich Lilija zu und verließ den Speisesaal.
In der Zwischenzeit nahm Mina an der lästigen Notfallübung teil und wurde danach wie versprochen von der Kapitänin in ihrer Kabine besucht.
Überraschenderweise brachte Synthia eine Trageschlaufe für Babys mit, zumal die Gänge und Räume, welche sie betreten würden, nicht immer Platz für einen Kinderwagen boten.
„Folgen Sie mir bitte.“
„Vielen Dank“, sie grinste. „Wir bleiben hinter Ihnen.“
Die drei schlenderten durch den Korridor und verließen die VIP-Luxusunterkünfte in Richtung Bug.
Die Kapitänin hielt vor einer Stahltür in einem Nebengang an und holte ihre Schlüsselkarte aus der Hosentasche.
Zuerst ertönte ein Piepen, gefolgt von einem Klicken, das eine Treppe offenbarte, die eine Ebene tiefer endete.
Synthia ging voraus.
Mina orientierte sich an ihr, ehe die Frauen einen Korridor mit beidseitigen Metalltüren entlangliefen.
In einer gab es im oberen Drittel ein Bullauge.
Menschen in Schürzen vor Töpfen und Pfannen waren darin bei der Arbeit zu sehen.
Der Geruch von Gewürzen und Rauch lag in der Luft, obgleich die Tür geschlossen war.
An den anderen Zugängen hingen Blechschilder mit Zahlen und Wörtern, die darauf hindeuteten, dass in den Räumlichkeiten Materialien oder Lebensmittel gelagert wurden.
Ein wenig später huschte ein Mann in einem weißen Kittel an ihnen vorbei, bei dessen Anblick Mina unverzüglich stoppte.
„Ich erkenne es an Ihrer Reaktion“, sagte die Kapitänin. „Auf diesem Deck gibt es eine Krankenstation, die Platz für bis zu 275 Menschen bietet. Quarantänebereich inklusive.“
„Sie haben echt an alles beim Bau dieses Schiffs gedacht.“
„Genau, Frau Winter. Sicherheitshalber haben wir sogar eine Leichenhalle mit an Bord. Ich möchte Ihnen keinen Schreck einjagen. So etwas gehört genau genommen zum Standard.“
Bei ihrer Aussage lief Mina ein Schauer über den Rücken.
Diese Tatsache bedurfte keiner besonderen Erwähnung.
„Ach du … Hoffentlich stirbt niemand in meiner Gegenwart.“
„Keine Sorge, in meinen 23 Jahren als Kapitänin habe ich so einen Vorfall zum Glück noch nie miterleben müssen.“
„Puh, was für eine Erleichterung. Sie sind also gleich nach Ihrer Schulzeit in diesen Beruf eingestiegen?“
„Ich bin 57, auch wenn es mir niemand glauben will.“
„Niemals, oder?“, Mina staunte. „Ich hätte Sie auf Anfang vierzig geschätzt. Sie haben sich gut gehalten.“
„Danke“, Synthia lachte auf. „Das müssen Sie gerade sagen. Sie wirken auf mich wie eine Jugendliche.“
„Abgemacht“, sie schmunzelte.
Synthia blieb unterdessen vor einer Tür stehen, in der ein Metallrad eingebaut war, das sie im Uhrzeigersinn drehte.
Nach einigen Umdrehungen ging selbige ruckartig auf und gab den Weg in das zweite Unterdeck frei.
Lilija erschrak wegen des Geräusches, das diese Sperre beim Öffnen machte.
Dank Minas Fürsorge beruhigte sich das Mädchen wieder.
„Wohin bringen Sie uns eigentlich, Frau Vogt?“
„Ich möchte Ihnen das Boot zeigen, mit dem wir nach Siste Hvil reisen werden. Sie werden eine Schlüsselkarte von mir erhalten, die Ihnen Zugang darauf gewähren wird. Sie können damit zu jeder Zeit Sachen an Bord bringen, falls nötig.“
„Das ist zu freundlich von Ihnen.“
Die drei hielten vor einem Stahltor an, das an einen Aufzug erinnerte.
„Ich werde Ihnen nun das Herz meiner Perle zeigen. Sind Sie zufällig an technischen Dingen interessiert?“
„Mich interessiert zurzeit nur, wie es Ivo gehen wird. Wir sind Ihnen trotzdem dankbar für den Rundgang.“
Die Kapitänin tippte ein Passwort auf der Tastatur an der Wand ein und legte ihre Hand auf einen Scanner.
Mina und Lilija betraten zusammen mit ihr eine Halle, die mindestens ein Viertel der Schiffslänge ausmachte.
Über einen zehn Meter hohen Gitterboden ging es geradeaus bis zum anderen Ende.
Von dort führten in regelmäßigen Abständen Stufen auf den Metallboden des Bereichs.
Auf beiden Seiten gab es Motoren in Form von rechteckigen Kästen, die mit ihren vierzig Metern Länge über Kolben mit Antriebswellen in Bodennähe verbunden waren.
Dazwischen erstreckte sich in einem Halbkreis eine Konsole, die offensichtlich dazu diente, das Ganze zu steuern und zu überwachen.
Synthia erklärte, dass das System der Cetacea Magna eine Innovation im Maschinenbau darstellte, die von Ingenieuren speziell für diesen Luxusliner entwickelt wurde.
Die Motorisierung hieß 'Selbstversorgender Elektroantrieb' oder kurz: SEA.
Hunderte von salzwasserbeständigen Solarzellen auf den Dächern speisten einen Generator mit Strom.
Dessen Speicherkapazität diente zur Versorgung der Motoren und zur allgemeinen Aufrechterhaltung der Systeme an Bord, wie etwa der Kabinenbeleuchtung.
Was selbst Mina daran faszinierte, war, wie diese Technik im Detail funktionierte.
Mehrere Einlässe an der Unterseite des Rumpfes leiteten die Wasserverdrängung durch magnetgelagerte Schwungradspeicher zur Stromgewinnung.
Die dadurch erzeugte Energie floss in den Generator und die Motoren zurück, wodurch diese Konstruktion umweltschonender sowie effizienter als andere Schiffe in dieser Größe war.
Zum Schutz vor dem Totalausfall gab es einen altbewährten Dieselgenerator, der bis dato nicht gestartet wurde.
„Okay“, Mina lächelte. „Ich glaube, dass das genug Info für mich war. Danke, dass Sie es mir erklärt haben.“
„Keine Ursache. Lassen Sie uns diese Tour bitte fortsetzen, Frau Winter.“
Die Kapitänin begleitete die beiden zunächst durch einen Gang, an dessen Wänden Rohrleitungen mit Messinstrumenten verliefen, die manchmal in der Decke verschwanden.
Nach einer Minute versperrte eine Doppeltür aus Metall das Vorankommen.
Synthia hielt ihre Plastikkarte erneut an eine Vorrichtung an der Wand, während der Durchgang sich mit einem Zischen öffnete und es unvorhergesehen nach dem Meer roch.
LED-Lampen beleuchteten ein Becken, das im Vorderteil des Bugs lag und mit seinen zwei Bahnen nach zwölf Metern auf beiden Seiten des Rumpfes angrenzte.
Auf jeder schwamm ein Boot in einer Gitterkonstruktion, die zur Befestigung fungierte.
In der Mitte des Raumes war ein Aufzug, neben dem links und rechts eine Konsole stand.
Diese dienten zur Steuerung eines Öffnungssystems, das an der Spitze des Bugs und an den Zugängen zum Rumpf hing.
Es ähnelte im Prinzip einem elektrischen Garagentor.
„Schauen Sie sich ruhig um“, erwähnte Synthia. „Diese Boote nutzen wir gewöhnlich zur Rettung von Passagieren, die über Bord gegangen sind. Obwohl ihre Höchstgeschwindigkeit mit einem Rennboot mithalten könnte, bieten unsere Gefährte ein Höchstmaß an Sicherheit. Meine Mannschaft kommt problemlos mit einem Boot zurecht, solange wir unterwegs sein werden."
„Wie schnell werden wir auf der Insel angekommen sein?“
„Je nach Seegang zehn bis fünfzehn Minuten. Ich werde mit Ihnen an Land kommen. Sobald Ivo dann bei uns ist, werde ich Sie und Ihre Familie zurück an Bord bringen.“
Mina konnte es nach wie vor nicht glauben, mit welcher Güte die Mitarbeiter Marevitas Lilija und ihr begegneten.
„Womit kann ich Ihnen jemals für Ihre Hilfe danken?“
„Sie schulden uns nichts, Frau Winter“, Synthia grübelte. „Würden Sie bitte mit auf die Brücke kommen? Ich sollte so langsam meinen Pflichten nachkommen.“
„Das ist gut zu wissen. Wir werden Ihnen folgen.“
Dank des Aufzugs erreichten die drei ihr Ziel in neun Sekunden.
Beim Anblick der Brücke drifteten ihre Gedanken in einen Science-Fiction-Film ab, der in einem UFO spielte.
Außer dem Funkgerät konnte sie keines der anderen Systeme oder Konsolen zuordnen, die sich Reihe für Reihe über die Länge des Areals vor ihr ausdehnten.
In der Mitte traf Klassik auf Moderne, denn hier stand ein Steuerrad aus Holz, in das Knöpfe und Schalter zum Bedienen eines Hydrauliksystems integriert waren.
Dieses lenkte die Haupt- und Bugstrahlruder.
Es wurde zusätzlich von einem Computersystem unterstützt.
Synthia überreichte Mina zum Abschluss eine Schlüsselkarte.
„Hiermit haben Sie praktisch Zugriff auf jeden Bereich des Schiffs. Wir vertrauen darauf, dass Sie solch ein Privileg nicht für irgendwelchen Schabernack ausnutzen werden. Etwas in dieser Art hatten Sie sowieso nicht geplant, oder?“
„Absolut nicht“, Mina kicherte. „Danke für Ihr Vertrauen.“
Die Kapitänin drehte ihr den Rücken zu und lief an eines der Fenster, ohne eine Antwort zu geben.
„Nun, wissen Sie, Frau Winter …“, sie atmete auf. „Meine Schwester arbeitete am Tag des Unfalls auf der Bohrinsel. Sie war Ärztin auf der Krankenstation. Wenn es den Himmel geben sollte, werde ich sie erst dort wiedersehen können. Für Ihre Tochter und Sie hatte die Fügung indessen andere Pläne. Ivo wartet auf Sie und wir werden mit Herzblut daran arbeiten, damit Ihre Zusammenkunft gelingen wird. Niemand von uns wird Sie im Stich lassen, ich garantiere es.“
Mina bedeckte ihre Augen mit der Hand und schniefte infolge der Worte, die Synthia zu ihr gesprochen hatte.
„Das mit Ihrer Schwester tut mir leid. Ich bin Ihnen allen so dankbar für Ihre Großzügigkeit. Kann ich mich bei Ihnen dafür irgendwie revanchieren?“
„Das ist nicht nötig. Jeder Mensch, der noch einen Funken Freundlichkeit, Respekt und Empathie in sich trägt, würde genauso handeln.“
„Leider haben diese Werte in der heutigen Welt durch unsere Ignoranz, dem ganzen Egoismus und unserer Massenverblödung an Bedeutung verloren. Es wird immer schlimmer mit uns.“
Die Kapitänin erwiderte ihre Aussage mit einem Nicken.
„Ich werde Sie nicht länger stören. Lilija hat Hunger. Das möchte ich ungern in der Öffentlichkeit machen.“
„Ich verstehe Ihre Botschaft. Mittlerweile ist meine Perle nach siebzehn Fahrten wie ein Kind für mich geworden. Wir hatten unsere Höhen und Tiefen. Dieses Schiff zickt auch gern mal schlimmer herum, als jeder Teenager es je könnte. Nun, es hat mich gefreut, Sie heute kennenlernen zu dürfen. Genießen Sie bitte die Reise und nicht verzagen, ja?“
„Ich danke Ihnen, Frau Vogt. Sie sind eine klasse Frau.“
„Dieses Kompliment kann ich zurückgeben.“
Synthia reichte Mina abschließend die Hand, wenngleich die Geste einem Kapitän aus gesundheitlichen Gründen untersagt war.
Sie nahm sogar Lilijas großen Zeh zwischen die Finger und schüttelte ihn vorsichtig.
Das Baby antwortete ihr mit Freudenlauten, die ein „Dä dä“ vervollständigten.
Die Zeit verging und ihre Gedanken kreisten unaufhörlich um das Wiedersehen mit Ivo.
Diese Reise gewährte ihr keinen Augenblick der Entspannung.
Inzwischen hatte der Luxusliner die Arktis durchquert.
Er steuerte in vierzehn Stunden Norwegen an.
Um wenigstens einen Moment ohne ihren Nachwuchs auskosten zu können, brachte Mina Lilija in die Tagesstätte.
Sie lernte dort Lisa kennen, eine alleinerziehende Mutter, der das Schicksal in die Quere ihres Lebens gekommen war.
Die beiden kamen auf Anhieb miteinander klar.
„Also, worauf hättest du Lust?“, fragte Lisa.
„Ich wünschte, ich könnte dir diese Frage beantworten.“
„Deine Nervosität steht dir ja ins Gesicht geschrieben. Ivo wird euch nicht weglaufen. Du solltest dich entspannen.“
„Wenn das so leicht wäre“, sie seufzte. „Wonach würde dir der Sinn stehen? Bitte sag mir jetzt ja nicht tanzen.“
„Die Massage an Bord soll ein Traum sein“, schwärmte Lisa.
„Ich bräuchte eine von Kopf bis Fuß und Fuß bis Kopf.“
Mina zeigte wenig Begeisterung bei dem Gedanken, sich von fremden Menschen fast am ganzen Körper berühren zu lassen.
„Nein, danke. Da muss ich passen, tut mir leid.“
„Wie wäre es mit einer Bar, Karaoke oder dem Casino?“
„Ich überlasse dir die Wahl. Suche dir bitte etwas aus. Ich folge dir, wohin du auch gehst.“
„Wir müssen jede Sekunde ausnutzen, solange unsere kleinen Monster die Betreuer quälen.“
„Hey“, Mina lachte auf. „Lilija ist ein Engel – ein wahres Unschuldslämmchen. Das behaupte ich nicht bloß, es ist so.“
„Leon ist nicht anders“, Lisa schmunzelte. „Mein Goldstück ist nur manchmal ein Monster. Na gut, ich bin für Cocktails an der Bar. Da kann ich dir von meinem Ex und meiner großen Schwester erzählen, und darüber, was sie in unserem Ehebett getrieben … Ach, egal. Lass uns Spaß haben, einverstanden?“
„Möchtest du mit mir darüber reden? Ich höre dir gern zu.“
„Nein, passt schon so. Lass uns bitte gehen.“
Hinter der Tagesstätte wurde bei ihrer Annäherung wie von Geisterhand eine Tür aus Akazienholz geöffnet, durch welche die zwei in den Vergnügungsbereich gelangten.
Mina fühlte sich in ein Schloss versetzt.
Ihr Blick fiel auf eine runde Halle mit rotem Teppichboden, die einen Durchmesser von 25 Metern hatte.
An der Wand leitete eine Wendeltreppe aus dem gleichen Holz wie die Eingangstür nach oben zu weiteren Etagen.
Außerdem gab es Aufzüge in alle vier Himmelsrichtungen.
Ein Kronleuchter zierte die Decke, der aussah, als hätten die Innenarchitekten ihn nur zum Prahlen dort angebracht.
Metallstatuetten von Meerestieren schmückten das Geländer und die Wand, die in einem Goldton glänzten.
Mina hatte den Ort in den dreieinhalb Wochen an Bord nicht ein einziges Mal besucht, sodass der Luxus und die Eleganz eine Reizüberflutung heraufbeschworen.
„So“, Lisa grinste. „Welche von den Bars soll es werden?“
„Gute Frage“, sie dachte nach. „Lass uns bitte …“.
„Hallo, Mina“, unterbrach sie eine Frauenstimme. „Wie nett, dass ich Sie hier antreffe. Oh, hallo, Lisa. Wird das ein Mädels-Tag für euch? Ich würde am liebsten mitfeiern.“
Neben ihnen stand eine Mitarbeiterin, die einen Essenswagen aus Metall vor sich herschob, in dem schmutzige Teller und Gläser sowie Besteck lagen.
„Hallöchen, Katalin“, antwortete Mina. „Wie ich sehen kann, sind Sie Ärmste voll und ganz im Arbeitsmodus gefangen.“
„Sie sagen es, Süße. Ich bin das Mädchen für alles an Bord. Keine Sorge, ich habe Sie nicht angesprochen, weil Sie mir helfen sollen. Synthia möchte mit ihnen sprechen, das ist alles. Außer, Sie wollen mir assistieren? Nein, Quatsch.“
„Sie werden das Schiffchen schon schaukeln“, Lisa lächelte.
„Ha, selbstredend. Ich bringe dieses Zeug mal besser in die Kombüse für ein Bad. Wir sehen uns, ihr Super-Mamis.“
„Klar“, sagte Mina. „Es macht immer Spaß, Sie zu treffen.“
Katalin verschwand aus dem Bereich in Richtung Heck, wobei ihr Wagen des Öfteren klapperte.
„Stimmt“, Lisa grübelte. „Mit dem Süß hat sie recht.“
„Ich mag ihre Nettigkeiten. Willst du ohne mich gehen, oder sollen wir uns treffen, sobald ich das erledigt habe?“
„So was von. Mich nennt sie Schätzchen. Die ist so goldig, diese Frau. Ich werde auf dich warten, sofern ich später noch nüchtern genug bin, um dich erkennen zu können.“
„Wow, du bist mir so eine“, sie kicherte. „Ciao, ciao.“
Da Mina nicht wusste, wie lange es dauern würde und worum es ging, holte sie Lilija zunächst in der Tagesstätte ab.
Die beiden liefen durch die Promenade bis zu einer Treppe in einem Seitengang, die zur Brücke führte.
Eine Glastür verwehrte ihr den Zutritt, weswegen sie auf einen Knopf an der Wand zur Rechten drückte.
Es vergingen keine fünf Sekunden, bis ein Mann in Uniform auftauchte, der ihnen Einlass gewährte.
„Vielen Dank, der Herr.“
„Kein Problem. Wie kann ich Ihnen behilflich sein?“
„Frau Vogt wollte mit mir sprechen. Ich nehme an, dass sie hier ist?“
„Da liegen Sie richtig“, sagte er. „Kommen Sie bitte mit.“
Der Matrose begleitete Mina in die Mitte, wo die Kapitänin mit dem Steuerrad in der Hand den Ozean im Auge behielt.
„Guten Tag, Frau Winter. Wie geht es Ihnen?“
„Meine Angespanntheit kämpft mit der Hoffnung in mir.“
„Ich verstehe Sie“, sie zögerte. „Ich wollte Sie darüber in Kenntnis setzen, dass wir demnächst in ein Unwetter geraten werden. Ihr Wiedersehen mit Ivo wird leider warten müssen.“
Mina atmete durch und ächzte dabei über eine Sekunde.
„Das wollte ich jetzt nicht von Ihnen hören. Wir müssen ihn sehen, das Alleinsein schmerzt. Wie lange wird es dauern?“
„Geben Sie mir bitte einen Moment.“
Synthia erwähnte, dass die wärmeren Winde aus dem Süden oft bis in das Europäische Nordmeer vordringen konnten, weshalb es keine Seltenheit war, dass die Stürme tagelang tobten.
„Sie müssen also Geduld aufbringen, so leid es mir tut.“
„Die Ungewissheit macht mich noch wahnsinnig. Wir brauchen Ivo und wollen ihn zurückhaben. Ich halte das nicht aus.“
„Er wird auf Sie warten. Die Kommunikationsanlage der Insel ist leider nicht erreichbar, also können Sie keinen Kontakt mit Ihrem Mann aufnehmen.“
Während die Frauen sich unterhielten, prasselten von einer auf die andere Sekunde Wassertropfen gegen die Scheiben.
Der Wind pfiff über die Decks, die Wellen krachten gegen den Rumpf und der Himmel wurde fortlaufend dunkler.
Die Kapitänin befahl ihrer Mannschaft, den Luxusliner in Windrichtung auszurichten, den Anker fallen zu lassen und die Ballasttanks bis zum Anschlag zu füllen.
Synthia bat Mina um Verzeihung und blieb vor einer Konsole mit einem Mikrofon stehen.
„Liebe Mitreisende, hier spricht Ihre Kapitänin. Ihnen wird es wohl nicht entgangen sein, dass unsere Perle von einer Orkanböe überrannt wird. Bitte unterbrechen Sie zu Ihrer eigenen Sicherheit alle Aktivitäten und gehen Sie in Ihre Kabine. Wir werden nicht weiterfahren, um das Risiko von Schäden an den Motoren zu minimieren. Bleiben Sie bitte in Ihren Unterkünften, bis das Unwetter abgeklungen ist. Haben Sie keine Angst: Unser Schiff kann nicht sinken und es wird nicht kentern. Ihnen wird nichts zustoßen können. Danke.“
„Mein Mäuschen und ich werden Ihrer Bitte nachgehen.“
„Beeilen Sie sich lieber, dieser Sturm ist kein Spaß.“
Die Cetacea Magna schaukelte mit solcher Wucht, dass die Treppengeländer ihre einzige Stütze auf dem Weg nach unten waren.
Der Wind verteilte den Geruch des Ozeans über die Promenade und die Oberdecks, auf denen die Passagiere in ihre Kabinen flüchteten.
„Hier spricht noch einmal Ihre Kapitänin. Vergessen Sie bitte nicht, lose Gegenstände zu sichern. Ansonsten fliegt Ihnen eventuell alles um die Ohren. Nun, ich danke Ihnen.“
Mina erreichte ihre Unterkunft und folgte Synthias Rat.
Sie fixierte das Kinderbettchen an einer Halterung an der Wand, legte Lilija mit Bedacht hinein und gab dem Mädchen einen Kuss auf die Stirn.
„Keine Sorge, Engelchen, dieser Sturm wird uns nichts tun. Kannst du es glauben, dass wir deinen Papi bald wiedersehen werden? Unsere Trauer und Ängste nehmen endlich ein Ende.“
Das Baby strampelte in Zufriedenheit und kicherte.
„Wie toll, dass du jedes Mal die passende Antwort findest.“
Auf einem Schreibtisch rollte eine Glasflasche mit Wasser umher, die Mina austrank und in ihren Rucksack steckte.
Alles, was herunterfallen oder zerbrechen konnte, wurde in Kommoden, Schränken oder den Reisetaschen verstaut.
Die Möbel waren zum Glück ohnehin im Boden verankert.
Ein Gefühl des Unwohlseins überkam nach zehn Minuten ihren Körper, das konstant zunahm.
Es löste Schwindel und Müdigkeit aus.
Bei den aktuellen Umständen an Bord war das kein Wunder.
Die Beschwerden hielten so lange an, bis sie sich hinlegte und einschlief.
Mina saß mit Lilija in Armen auf einem Sitz neben Synthia, die das Rettungsboot gegenwärtig in den Hafen von Siste Hvil steuerte.
Ivo wartete auf seine Familie am Pier und winkte ihnen zu.
Ihre Mundwinkel zeigten nach oben.
Ihre Atmung war unkontrolliert und kräftig.
Das Boot hatte noch nicht einmal angehalten, als sie schon ausstieg und ihrem Mann entgegeneilte.
Ohne ein Wort miteinander zu wechseln, umarmten die drei sich behutsam, um ihre Tochter nicht einzuengen.
Ihre Gefühlswelt wusste nicht, ob Lachen oder Freudentränen angebracht waren, wodurch sie beides taten.
Mina ließ erst nach einer Minute von ihm ab, nahm eine Hand von Lilija und strich ihm über das Gesicht.
„Nach all den Monaten, in denen wir dachten, du wärst tot“, sie schniefte. „Ich konnte keine Nacht durchschlafen. Unser Bett war so leer, ohne … Meine Trauer, Wut, Ängste und die endlose Verzweiflung in mir, die sich durch meinen Verstand gefressen haben. Es … Tu uns das bitte nie wieder an, Ivo. Lass uns bitte niemals mehr wieder in dem Glauben zurück, dass wir dich für immer verloren haben. Du, du musst es uns versprechen. Versprich es uns. Ich bitte dich, du musst …“.
Ivo unterbrach sie mit einer sanftmütigen Berührung ihrer Wangen, streifte mit den Fingern über ihre Lippen, beugte sich zu ihr hinunter und gab ihr einen Kuss.
Mina schloss die Augen und intensivierte so diesen Moment der Zärtlichkeit, den Lilijas Freudenlaute untermalten.
Nachdem sie selbige geöffnet hatte, lehnte Ivo überraschend mit dem Baby in Armen vor ihr an einem Metallgeländer.
„Gefällt dir mein Arbeitsplatz, Liebling?“, fragte er. „Du solltest die Polarlichter sehen. Die sind ein Traum.“
Ihr Mann drehte ihr den Rücken zu und bewunderte das Meer.
„Welch Ironie, dass ein Ort wie dieser, der das Übel aller Ozeane bis zum letzten Tropfen ausschöpft, gleichzeitig so atemberaubend schön sein kann. Im Grunde tat ich das alles für euch. Für unser Spätzchen. Für dich.“
„Wovon redest du?“, erwiderte Mina verwirrt.
Ivo schaute mit einem Lächeln in ihre Richtung.
„Meine Arbeit. Ich habe sie euch zuliebe angenommen, damit unsere Zukunft …“.
Eine Explosion erschütterte die Bohrinsel, die Mina mitriss und ihre Familie in einer Feuersbrunst verzehrte.
Die Druckwelle schleuderte ihren Körper durch die Luft, bis die Umgebung sich übergangslos änderte.
Sie verweilte vor einer Holzkiste, in der eine Leiche lag.
Ihre Kleidung war von den Schuhen bis zum Oberteil schwarz.
Ein Strauß weißer Lilien bedeckte die Brust des Toten.
„Wieso?“, weinte sie. „Warum musstest du uns verlassen und diesen Job annehmen? Ich habe ihn dir ausgeredet, dir von den Gefahren erzählt, aber du wolltest mir nicht zuhören. Du hattest uns bereits an dem Tag verloren, an dem du auf dieses Schiff gestiegen bist, das dich dorthin brachte.“
Ivo grinste und zwinkerte ihr aus seiner letzten Ruhestätte zu.
„Ihr zwei könnt aufhören, um mich zu trauern: Ich bin noch am Leben. Bring bitte Lilija mit nach Siste Hvil. Ich werde auf euch warten, das verspreche ich euch. Wochen, Monate, Jahre, es spielt keine Rolle.“
Die Wände zerflossen zu Wasser und bildeten einen Sog, der den Sarg einhüllte und ihn samt seinem Inhalt absorbierte.
In ihrer Verzweiflung streckte Mina einen Arm aus.
Es gelang ihr nicht, ihren Mann zu erreichen.
„Bitte warte auf uns. Lass uns nicht allein zurück, Ivo.“
„Was ist, wenn ihr ankommen werdet und ich nicht mehr …?“
Schließlich verschwand sein Gesicht in dem Gebilde und er löste sich mit dem Wasser in Nichts auf.
„Nein, Ivo“, nuschelte sie. „Verlasse uns bitte nicht.“
Mina öffnete die Augen und schreckte zugleich auf.
In ihrem Umkreis herrschte nichts als Dunkelheit.
Der Geruch von Edelstahl lag in der Luft.
„Mein Kopf dröhnt so“, klagte sie. „Was war mit mir los?“
Ihre Hände ertasteten ein Hindernis, das wenige Zentimeter entfernt war und Kälte ausstrahlte.
Mina rutschte ein Stück nach vorn, bis ihre Füße ebenfalls gegen etwas Hartes stießen.
„Wo bin ich? Hallo? Ist jemand da, der mich hören kann?“
Selbst nach einer viertel Minute kam keine Antwort.
„Hey? So eine … Soll das ein Scherz sein, oder was?“
Ihr Verstand arbeitete an einer Lösung, die einen Ausweg aus dieser misslichen Lage bieten konnte.
Mina beugte folglich die Arme über den Kopf und drückte die Handflächen gegen die Wand hinter ihr.
Beide Füße pressten gegen die andere Seite.
Alle Muskeln in den Gliedmaßen spannten sich an.
„Jetzt mach schon“, sie stöhnte auf. „Gib bitte nach. Stell dich nicht so an und gib nach.“
Ihr Körper schaukelte mehrmals auf und ab, bevor sie einen Schlag auslöste und mit einem Ruck aus etwas herausfiel.
In der Umgebung gab es keine Lichtquelle oder Ähnliches, das zur Orientierung weitergeholfen hätte.
Sie hatte keine Wahl, als den Boden Stück für Stück mit den Händen abzutasten.
Etwas, das ein Tischbein gewesen sein musste, half ihr, sich abzustützen und aufstehen zu können.
Abgesehen von den Wellen, die im Zusammenspiel mit dem Regenschauer gegen den Rumpf schlugen, war sonst nichts zu hören.
„Meine Kabine kann das ja nicht sein“, dachte sie. „Wo bin ich dann und warum sind keine Mitarbeiter oder Passagiere hier? Was …? Lilija hat Vorrang, ich muss sofort zu ihr.“
„Hallo, will mir wirklich niemand antworten? Echt nicht?“
Ein Blitz erhellte durch ein Bullauge den Raum.
Mina zuckte zusammen, denn ihr Blick fiel auf das Objekt, aus dem sie zuvor gefallen war.
Für den Bruchteil einer Sekunde zeichneten sich die Umrisse eines Schrankes ab, hinter dessen Türen auf Schienen Liegen montiert waren, auf denen jeweils eine Person Platz fand.
Die Schwärze der Nacht war zurückgekehrt, wenngleich dessen Konturen in ihrer Netzhaut eingebrannt wurden.
„Ach du …“, sie drückte die Hände gegen die Brust. „Ich bin nicht tot. Wieso hat man mich da hineingelegt? Wer war das? Das … O igitt, ich sollte nicht mehr darüber nachdenken.“
Auf dem Weg durch die Dunkelheit, den sie im Schritttempo zurücklegte, beschlich ein Schauder ihren Körper.
Mina streckte die Arme zur Orientierung aus.
Ihre Verunsicherung hielt zunächst an, ehe ihre Hand eine Klinke ertastete, selbige umklammerte und vorsichtig nach unten drückte.
Ein Geruch von Gewürzen und Rauch stieg auf einmal in ihre Nase.
„Hallo?“, sie wartete kurz ab. „Hört auf mit diesem Unfug.“
Ein weiteres Leuchten aus dem Himmel, das hinter Mina durch ein Fenster der Leichenhalle schoss, gab die Konturen eines Korridors vor ihr preis.
Obwohl sie nicht mehr genau wusste, in welche Richtung es am schnellsten zum Hauptdeck ging, fiel ihre Wahl auf die Erkundung der rechten Seite.
Bei der Suche nach einem Weg zurück ins Freie durchfuhr ein Schaukeln beide Beine, das vom einen über das andere Knie wanderte.
Jeder Donnerschlag entlockte ihr einen Schreckenslaut.
Mina verharrte abrupt und hielt den Atem an.
Ein Geräusch erregte ihre Aufmerksamkeit, das in der Ferne hallte.
Sie konnte es beim besten Willen nicht zuordnen.
Es klang so, als würde etwas Metallisches im Rhythmus der Wellen hin- und hergeschoben, das oftmals von einem Kratzen sowie Klappern untermalt wurde.
Die Dunkelheit allein stellte kein ernstes Problem dar.
In dieser Welt gab es außerdem nichts Übersinnliches.
Diese Atmosphäre an Deck entfachte im Zusammenspiel mit dem Lärm und Donner dennoch einen Funken Unbehagen.
Zur Sicherheit tastete sie sich mit den Handflächen Schritt für Schritt an der Wand entlang.
Die Rollgeräusche sorgten mittlerweile für Irritation.
In Gedanken war ihre Familie stets an ihrer Seite.
Der Ursprung des Lärms konnte gerade nur noch wenige Meter entfernt liegen, weshalb ihr Herz außer Kontrolle schlug.
Selbst wenn vermutlich keine Gefahr davon ausgehen konnte, führte das Ertasten eines Rahmens mit geöffneter Tür für einige Sekunden zu einem Zögern.
Dahinter rollte ein Gegenstand über den Boden.
Es klirrte und klapperte, als würde bei jeder Welle Metall auf Metall schlagen.
Mina atmete in Ruhe aus, nachdem ein Blitz den Raum durch die Bullaugen erhellt hatte, weil es sich lediglich um die Kombüse handelte.
Eine Konservendose wanderte auf dem Grund umher, und wegen des Unwetters stieß es Töpfe sowie Pfannen gegeneinander.
Dank dieses Zwischenfalls wusste sie wenigstens, dass der Zugang zum Hauptdeck in der Nähe lag.
Die Promenade war in Finsternis gehüllt.
Der Wind pfiff an den Scheiben des Daches vorbei, begleitet von einem Prasseln im Hintergrund.
Neben den Blitzen spendete der Mond das einzige Licht, das sich in den Bereichen an Deck spiegelte, sofern er hinter den Wolken hervorkam.
Das Metall reagierte auf seine Umgebung, was ein Knattern erzeugte, das zum Teil Sekunden andauerte.
„Toll. Das alles gefällt mir von Minute zu Minute weniger.
Kein Licht, kein Leben – das muss ich mir einbilden. Hey, hör mir auf mit diesem Blödsinn. Lass diesen Unsinn sein.“
„Bitte, irgendwer muss doch hier sein?“
Die Antwort auf ihre Frage erzwang ein Zusammenzucken, zumal unerwartete Schläge aus dem ersten Oberdeck hinter einer Tür polterten.
Es klang wie ein Gummiball in der Größe eines Fußballs, der durch die Kabine hüpfte und gegen die Einrichtung prallte.
Nach wenigen Sekunden verstummte der Lärm wieder.
„Ist da oben jemand?“
Über der Promenade ertönte ein weiteres Mal das Geräusch, dessen Ursprung nicht zugeordnet werden konnte.
Eventuell war eine Person durch ihre Rufe aufgewacht oder irrte im Halbschlaf umher.
Mina überwand ihre Zweifel und stieg die Stufen hinauf, wann immer der Mond oder ein Blitz das Deck erhellten.
Sie zögerte vor der Tür und klopfte sanft auf das Holz.
„Entschuldigen Sie bitte die Störung, ist da wer? Bitte antworten Sie mir.“
Der Lärm, der sich nicht mehr wie ein Gummiball anhörte, sondern wie ein regelrechtes Konzert aus Schlägen, Poltern und Klopfen, wechselte seine Position.
Da dieses Phänomen auf Geräusche reagierte, konnte es auf keinen Fall der Wind gewesen sein.
Ihre linke Hand umklammerte trotz der Unsicherheit in ihrem Innern die Klinke.
Die Tür ging von selbst auf, woraufhin sie davon abließ und vor dem Eingang verharrte.
Obgleich ihr Blick in die Dunkelheit des Raumes fiel, waren die Geräusche verschwunden.
Mina ertastete einen Schalter rechts an der Wand.
Sie drückte ihn nach unten und das Licht ging an.
Seltsamerweise war niemand in der Kabine.
Alltagsgegenstände rundeten die Verlassenheit ab, die sich überall auf dem Grund verstreuten und teils umherrutschten.
In einer Bürste auf dem Boden hingen schwarze Haare.
An einer Stelle lagen Glasscherben herum, neben denen eine dunkelrote Substanz am PVC-Boden klebte.
„Ich weiß, dass ich keine Selbstgespräche führe. Wären Sie bitte so freundlich und würden mir eine Antwort geben?“
Aus dem Türspalt des Badezimmers drang direkt ein Kreischen hervor, das nicht identifiziert werden konnte.
„Was zur …? Hören Sie bitte mit diesem Unfug auf, okay?“
Mina drückte eine Hand an die Brust.
Sie ging Schritt für Schritt zurück.
Ihr Atem stockte und klang nach Furcht sowie Verwirrung.
Dieses Geräusch aus dem Bad glich nun einem Flattern, das darin umherwirbelte.
Sie stand inzwischen mit verschränkten Armen im Türrahmen, ehe die Situation für Erleichterung sorgte.
Eine Möwe watschelte ihr nämlich entgegen, nahm Anlauf und flog über ihren Kopf hinweg durch den Eingang.
„Puh, ich dachte schon …“, sie atmete durch. „Meine Kabine hat Vorrang. Ich muss endlich zurück und nach Lilija sehen.“
Die Dunkelheit erschwerte die Suche nach dem Ziel.
Dank des Mondes war es trotzdem innerhalb weniger Minuten gefunden.
Während Mina vor der Holztür ihrer Unterkunft angekommen war, verstummte das Donnern in der Ferne des Ozeans, die Blitze verschwanden und der Regen klang ab.
Die Hoffnung, dass Synthia in ihrer Abwesenheit allein zur Insel gereist war und Ivo abholte, zerschlug sich umgehend beim Anblick des Zimmers.
Sie lief zum Kinderbettchen und schaute mit Tränen in den Augen hinein, indem ihr bewusst wurde, dass außer ihr wohl niemand mehr auf diesem Schiff sein würde.
Ein Stück Papier lag darin in der Mitte.
Mina hob es auf und faltete es auseinander.
Darauf stand ein Text in einer Handschrift, die der von Ivo ähnelte und so aussah, als hätte ihr Ehemann beim Schreiben gezittert oder nicht aufgepasst.
Unsere Zusammenkunft habe ich mir romantischer gewünscht.
Das mit der – du weißt schon was? – tut mir leid.
Es gibt keinen anderen Ort an Bord, an dem du vor ihnen in Sicherheit wärst. Sie dürfen dich ja nicht erwischen.
Du musst weg, weit weg von Siste Hvil und der Bohrinsel.
Flieh bitte, solange du die Möglichkeit dazu hast. Dieser surreale Horror darf dich nicht mit in den Abgrund ziehen.
Lilija ist bei mir. Ich weiß nicht, ob ich unsere Tochter beschützen kann. Wir sind vermutlich die letzten an Bord, die sie noch nicht … All die Passagiere und die Mannschaft, sie alle sind … Sobald du diese Zeilen lesen wirst, werden Lilija und ich womöglich nicht mehr existieren. Vergiss uns bitte. Vergiss, dass es uns gab. Wir sind längst verloren.
Ich kann sie hören. Sie werden uns gleich gefunden haben.
In ewiger Liebe und auf Nimmerwiedersehen.
„Was zur Hölle?“, schrie sie auf. „Was um alles in der Welt sollte das, Ivo? Willst du mich …? Soll das etwa ein übler Scherz sein? Das, das kann nicht wahr sein? Wo ist Lilija? O mein Gott, was ist mit euch passiert? Wo ist mein Baby?“
Ihre Emotionen kochten in einem Feuerwerk aus Angst, Sorge, Entsetzen und Perplexität hoch.
Es verzehrte all ihre Gedanken und übernahm die Kontrolle.
Vor ihrem inneren Auge verschmolzen unterdessen Bilder, die jedes Szenario durchspielten, das sich vom Zeitpunkt ihres Einschlafens bis zur Gegenwart ereignet haben könnte.
Allerdings gab es keine logische Erklärung für das, was sie in den Händen hielt, um es voller Sprachlosigkeit erneut zu lesen.
„So etwas würdest du niemals schreiben“, weinte sie. „Nein, das kannst nicht du gewesen sein. Was soll das heißen, dass ihr nicht mehr existiert? Was …? Das, das muss ein Albtraum sein, oder? Ja, genau, ich träume. Mhm, ja, so ist es. Wenn ich aufwache, wird alles wieder gut sein. Lass das, Lilija wird nichts fehlen. Dir wird nichts fehlen, das weiß ich.“
Sie ließ sich mit beiden Handflächen auf der Stirn ins Bett fallen und atmete mehrmals kräftig durch.
Das Wichtigste war, nicht völlig die Nerven zu verlieren, sondern unabhängig von ihrer derzeitigen Situation nach Lösungen zu suchen.
Drei Dinge hatten hierbei Priorität: Kontakt zu anderen Menschen aufzunehmen, einen Weg vom Schiff zu finden und ihre Familie zu suchen.
Mina sprang in ihrem Durcheinander auf und eilte zu einer der Kommoden, um ein Smartphone aus der obersten Schublade zu holen, das in ihrer Hand wackelte.
Ein Blick auf das Display offenbarte ihr, dass seit dem Einschlafen sieben Stunden vergangen waren.
Diese Erkenntnis warf erneut die Frage auf, was in all der Zeit an Bord des Luxusliners geschehen war.
Das Verschwinden ihres Babys bereitete ihr mit Abstand die größten Sorgen, aber sie konnte es sich nicht leisten, die Fassung zu verlieren.
Die Uhr auf dem Touchscreen des Mobiltelefons zeigte zwölf Minuten nach Mitternacht an, und der Akkustand betrug 58 %.
Obwohl es auf See ohne aktives WLAN keinen Empfang gab, war der 'beste Freund des Menschen' nicht komplett nutzlos.
Mina steckte das Gerät in eine weiß glänzende Plastikhülle mit Schmetterlingen, die sie so lange schüttelte, bis das Blitzlicht auf der Rückseite aufleuchtete.
„Ich muss runter von diesem Schiff“, dachte sie. „Ich muss unbedingt Lilija finden. Ich will es nicht begreifen, Ivo.
Wieso hast du mir diese Worte geschrieben? Meine Ängste in mir und die … Hör bloß damit auf. Ich sollte zuerst auf die Brücke schauen, vielleicht treffe ich dort auf Menschen.“
Schließlich verließ sie die Kabine mit dem Smartphone in der Hand, was ein Gefühl der Beklemmung auslöste.
Außer den Umrissen von Bäumen, Bänken oder den Blumenbeeten beleuchtete die Lichtquelle kaum etwas anderes.
Auf ihre Frage, ob jemand anwesend sei, kam keine Antwort.
Manchmal traf der Strahl auf eine Fensterscheibe oder ein Geländer und wurde reflektiert.
Der Klang ihrer Stiefel vermischte sich mit den Wellen, die das Geräusch des Metalls beim Zusammenziehen oder Ausdehnen übertönten.
Die Suche endete nach einer Minute Orientierungslosigkeit in einem Seitengang, von dem eine Treppe zur Brücke führte.
Ihre Hände fühlten sich beim Anfassen des Geländers warm an.
Die Stufen, die ebenso aus Stahl gefertigt waren, hätten selbst bei Minustemperaturen keine Rutschgefahr geboten.
Jeder Schritt hallte wie ein Echo von den Wänden wider.
Kurz darauf nahm Mina die letzten Stufen und blieb vor dem Eingang der Brücke stehen.
Die Glastür war offen, was für Verwunderung sorgte.
Ein Geruch von Algen mit einem Hauch von Regen drang aus dem Kontrollraum hervor, der in Finsternis gehüllt war.
Das waren nicht die Gründe, weswegen sie wie eine Puppe vor dem Eingang verharrte.
Aus der Öffnung ertönte ein Rauschen.
Es knisterte aus dem Nichts und verstummte ständig wieder.
Ein Ton untermalte diese Lage, der in den Ohren schmerzte.
Er ähnelte dem Quietschen zweier Luftballons, die dabei von einer Person aneinandergerieben wurden.
Gleichzeitig war ein Brummen zu hören, welches an eine voll aufgedrehte Stereoanlage ohne Musik erinnerte.
Mina verweilte eine viertel Minute vor dem Eingang, bis ihr die Vernunft riet, lieber zu gehen.
Nach den ersten Stufen zum Hauptdeck übernahmen dann Logik und Neugierde die Kontrolle.
Sie drehte um und wagte den Schritt in die Brücke.
Das Geräusch, das ihr zur Orientierung diente, kam aus der Nähe des Steuerrades.
Es ließ ihre Augen gelegentlich aus Reflex zusammenkneifen.
Die Ursache des Lärms war eine Lautsprecherbox, die neben einem Mikrofon auf einem Edelstahltisch stand und über ein Drehrädchen verfügte.
Davor lag ein Zettel, auf dem diverse Zahlenkombinationen notiert waren.
Sie nahm auf einem Stuhl Platz und packte das Mikro.
„Hallo, können Sie mich hören? Hello, can anyone hear me? Pronto, mi senti? ¿Alguien puede oírme?“
Die Sprachvielfalt nützte ihr im Moment nichts, denn auch nach über zwanzig Sekunden kam keine Antwort zurück.
Ihre linke Hand griff nach dem Rädchen und drehte daran, um die Kanäle auf dem Bildschirm durchzugehen.
Es spielte keine Rolle, auf welcher Frequenz das Funkgerät eingestellt war.
„Komm schon, bitte“, flehte sie. „Was ist hier passiert und wen meinte Ivo mit 'Sie'? Wovor wolltest du mich warnen? Wo ist Lilija? Was ist, wenn sie verletzt …? Halt, deinem Baby wird nichts fehlen, verstanden? Es geht ihr gut, okay?“
Bei dem Gedanken, dass Lilija wehrlos und verängstigt ins Ungewisse verschwunden war, verlor Mina fast die Nerven.
Ihre Atmung entwickelte sich zu einem Schnaufen, das wie eine Mischung aus Entsetzen und Verzweiflung klang.
Glücklicherweise kam Mina ein bisschen zur Ruhe, ehe diese Situation eskalierte.
Sie holte tief Luft und verlagerte ihre Gedanken.
Durch das Schütteln des Mobiltelefons herrschte Dunkelheit.
Dieses Vorhaben diente dazu, einen Rundblick über den Ozean zu haben, in der Hoffnung, irgendwo Spuren der Zivilisation ausfindig machen zu können.
Der Seegang reflektierte das Mondlicht.
Ihr Interesse galt zuerst der rechten Seite des Meeres, auf der es nichts Bedeutsames zu erkennen gab.
Während Mina zum linken Teil der Brücke lief, ließ sie eine Entdeckung am Horizont unverzüglich innehalten.
Die Wolken verhüllten gerade den Mond.
In der Ferne war ein Licht zu sehen, das aus dieser Distanz wie ein Punkt wirkte.
Es verschwand für acht Sekunden, bis es durchgehend erneut aufleuchtete und demzufolge im selben Intervall erlosch.
Ihr war bewusst, dass dieser Fund lediglich ein Leuchtturm auf einer Insel in der Nähe gewesen sein konnte.
„O bitte“, sie schniefte. „Bitte lass das Siste Hvil sein, und bitte lass meine Familie dort sein. Ich weiß, dass Ivo geschrieben hat, dass … Hör auf, er wird Lilija beschützen. Ja, du würdest es nicht zulassen, dass ihr etwas zustößt.“
Sie ging alle Möglichkeiten durch, wie es nun weitergehen sollte, und lief in Gedanken vertieft umher.
Einerseits riet ihr der gesunde Menschenverstand, den Luxusliner unter keinen Umständen zu verlassen und auf Hilfe zu warten.
Andererseits war ihr Herz fest entschlossen, seine Warnung zu ignorieren und zur Insel aufzubrechen, um ihren Ehemann endgültig wiederzusehen.
Für einen Augenblick kam wegen des Lebens ihres Babys Panik auf, denn ohne ihre Tochter konnte Mina niemals gehen und sie einfach so zurücklassen.
Eine viertel Stunde später drehten sich ihre Gedanken nach wie vor im Kreis, begleitet von einem Zittern von Kopf bis Fuß, das stetig an Intensität zunahm.
„Jetzt beruhige dich bitte“, schimpfte sie. „Ich darf nicht ohne Lilija verschwinden, kapiert? Ich muss Ivo finden und ihm Antworten entlocken. Wer zur Hölle sind 'Sie'? Was wird mich auf Siste Hvil erwarten und warum deine Warnung? Gott, ich fürchte, dass mir keine Wahl bleibt. Ich muss auf diese Insel kommen. Ich muss sie finden und ich muss Ivo finden. Am besten belade ich das Rettungsboot mit allen Sachen, die ich benötige, und fahre schleunigst los.“
Um dieses Unterfangen in die Tat umsetzen zu können, musste vorerst ein Plan für die Überfahrt ausgeklügelt werden.
Obendrein gab es keine Garantie, dass die Cetacea Magna ihr überhaupt die Mittel für ein solches Vorgehen bot.
Sie durfte die Gefahren auf See nicht außer Acht lassen.
Auf dem Rückweg zum Hauptdeck galten ihre Gedanken nur noch einer Sache: ihre Familie finden.
Ein Schwindelanfall durchfuhr unvermittelt ihren Körper.
Mina hielt unter Aufstöhnen öfter den Atem an und drückte beide Hände an den Bauch.
Bisher hatte sie die eigenen Bedürfnisse ignoriert.
Ihr wurde zuletzt bewusst, was zu tun war.
Obwohl das Licht des Handys die Umgebung erhellte, glich ihr Bewegungstempo eher einem Schleichen als einem Laufen.
Diese Reaktion war nicht allein auf ihre Unsicherheit oder Besorgnis zurückzuführen, zumal der Magen knurrte.
Nach fünfzig Metern endete die Suche an einem Schaufenster, hinter dem Verpackungen und Flaschen in Regalen standen.
Die Ladentür ließ sich problemlos öffnen.
Das löste Verwunderung aus und weckte Zweifel.
In der Nacht hätte hier nämlich abgeschlossen sein müssen.
Auf dem Boden lagen Tüten und Verpackungen mit Rissen, aus denen Gerüche mit dem Rest der Waren zusammentrafen.
Es ähnelte einem Aroma, das etwas von Obst mit der Süße von Limonade hatte, gemischt mit einem Abgang von Käse, Joghurt oder anderen Milchprodukten.
Den Passagieren und Personal an Bord blieb wohl keine Zeit, auf Ordnung sowie Sauberkeit zu achten, bevor die Menschen vor Was-auch-immer flüchten mussten.
Mina packte eine Wasserflasche und zögerte bei der Frage danach, ob sie den Deckel öffnen durfte.
Da sie ihr Wesen nicht ändern konnte, war ihr bewusst, dass es sich selbst in einer Situation wie dieser nicht gehörte, Dinge zu stehlen.
Nach einem Moment des Zwiespalts war die Flasche leer.
Um auf Nummer sicherzugehen, wurde eine zweite mitgenommen.
Theoretisch konnte es kein Diebstahl sein.
Marevita hatte ihr diese Schiffsreise ohnehin kostenlos zur Verfügung gestellt.
Mina trat ein paar Schritte zurück und atmete aus.
Das Mobiltelefon leuchtete über die Regale, in denen es leider keine Produkte ohne tierische Inhaltsstoffe gab.
In die Auswahl schaffte es lediglich eine Packung, auf der Miniatur-Brezeln mit Salzkörnern abgebildet waren.
Gegen solche Lebensmittel bestanden zwar Abneigungen, doch in dieser Notlage blieb ihr keine Wahl.
Sie schnappte sich die Plastiktüte voller Gewissensbisse und verließ den Laden in Richtung ihrer Unterkunft.
Auf dem Rückweg fiel ihr Blick durch eine der Scheiben, was dazu führte, davor zu verharren.
Aus Unachtsamkeit erhellte das Licht eines der Stofftiere, das die nette Dame Lilija zuvor geschenkt hatte.