4,99 €
Kit ist Anfang zwanzig und lebt zusammen mit seinem Bruder in Ottawa (Ontario, Kanada). Dort studiert er Medizin mit dem Ziel Neurochirurg zu werden. Das hat einen ganz bestimmten Grund: Sein Bruder Joshua sitzt nach einem Arbeitsunfall im Rollstuhl. Um die Studiengebühren zahlen zu können, ebenso wie die Miete für eine rollstuhlgerechte Wohnung und den generellen Lebensunterhalt bestreiten zu können, geht Kit mit Männern – manchmal auch Frauen - ins Theater, zum Essen, ja manchmal sogar zum Möbelkaufen – und oft, aber nicht immer, ins Bett. Gegen Bezahlung. Ach ja, und er ist schwul, aber das muss er eigentlich niemandem sagen, das sieht ihm jeder gleich an. Den Escort Service betreibt übrigens sein Ex und bester Freund Robyn. Deshalb kann Kit sich sicher sein, immer nur gute Klienten zu bekommen. Doch warum muss Kit für das Leben seines Bruders und sich aufkommen? Ganz einfach: Ihre Eltern sind tot. Und zwar schon so lange, dass beide keine Erinnerung an sie haben. Kit und Josh sind in Kinderheimen aufgewachsen, eine Pflegefamilie hat sich aus mehreren Gründen nie ergeben. Kits Persönlichkeit ist einer davon. Kit ist quirlig und naseweis und eitel. Er redet gerne, flucht ein bisschen zu viel, klopft ständig dumme Sprüche und mag seine Arbeit als Escort, weil er dadurch viele interessante Menschen kennenlernt. Er ist außerdem sehr intelligent, was ihm ermöglicht Lernzeit mit Geldverdienen zu ersetzen. Mit sechzehn bekam er die Möglichkeit, die Schule zu beenden und auf die Uni zu gehen. Er weiß, wie privilegiert er ist, denn Waisenkinder schaffen nicht immer den Absprung. Er hat außerdem ein paar Geheimnisse vor denen, die ihm am meisten bedeuten, um ihnen Enttäuschung zu ersparen. (Diese Geheimnisse spielen von Anfang an ein Rolle, werden allerdings zum größten Teil erst in den folgenden zwei Bänden preisgegeben.) Der erste Band spannt sich über etwa zwei Jahre, in denen Kit sein Leben und seine Klienten beschreibt. Dabei erfährt allerdings der Leser mehr als die agierenden Personen. Im Laufe der Geschichte beginnt Kits Leben langsam aus den Fugen zu geraten und er bricht seine eigene Regel: Verliebe dich nie in einen Klienten. Beide Male endet die Erfahrung äußerst ernüchternd. Später wird er sagen, er hätte 2 ¾ Beziehungen gehabt: seine erste als Teenager, mit einem Mädchen; die zweite mit seinem Boss; eine halbe mit einem Millionär, der ihm einen Pretty-Woman-Moment beschert und ihn für drei Monate nach Europa mitnimmt. Doch auch wenn beide sich auf dieser Reise ineinander verlieben, ist so eine Beziehung doch höchstens im Märchen auf immer und ewig. Die ¼ Beziehung bezieht sich auf einen weiteren Klienten, der allerdings außerdem eine Frau und Zwillinge hat. Hinzu kommt die Beziehung zu seinem Bruder, die sehr eng ist, da sie die einzige Familie sind, die sie haben. Doch auch diese beginnt langsam zu bröckeln, weil die beiden Geheimnisse voreinander haben. Es beginnt mit Streitereien, Missverständnissen und Enttäuschungen und endet damit, dass Kit spät am Abend nur im Bademantel auf der Straße steht und sich ein Taxt ruft, um zu seinem besten Freund zu fliehen.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 483
Veröffentlichungsjahr: 2024
Q. C. Morgan
I Am Not the Boy Next Door
The Escort Years
Aus dem Kanadischen von Rika Mayer
© 2021 Q.C. Morgan
Umschlag, Illustration: Chris
Lektorat, Korrektorat: Rika Mayer
Übersetzung: Rika Mayer
Weitere Mitwirkende: Tina, Valérie, Steve, Maret, Gerhild, Sascha
Druck und Distribution im Auftrag des Autors: tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Deutschland
ISBN
Paperback 978-3-384-38537-6
Hardcover 978-3-384-38538-3
e-Book 978-3-384-38539-0
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbrei-tung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung "Impressumservice", Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Deutschland.
“Nothin' ever seems like it used to be”
“Not the Boy Next Door”, Peter Allen The Boy from Oz
ch wache auf, weil mir eine Hand ins Gesicht klatscht. Autsch!
Aber es ist nicht die Hand eines Erwachsenen, sonst wäre meine Nase jetzt wohl gebrochen. Ich öffne die Augen und drehe meinen Kopf. Sehr langsam. Oh fuck! Die Hand gehört Izzy, einem der Zwil-linge. Langsam, ganz langsam setze ich mich auf und sehe das ganze Ausmaß der Misere. Nathan liegt zusammengerollt auf der anderen Seite des Betts, kurz vorm Rausfallen. Die Zwillinge, Izzy und Liam, haben sich zwischen uns beiden ausgebreitet. Fuck! Hätten die nicht bei der Nachbarin sein sollen? Hätte die Schlafzimmertür nicht ver-sperrt sein sollen? Damn! Das ist genau der Grund, warum ich die-ses Arrangement besser hätte lassen sollen. Ich bin wirklich nicht der Iss-mit-den-Kindern-Frühstück-als-würde-ihr-Vater-dich-nicht-für-den-Sex-bezahlen-während-seine-Frau-praktischerweise-nicht-zu-Hause-ist-Typ.
Vorsichtig schäle ich mich aus der Bettdecke und beginne meine Sachen vom Boden aufzulesen. Dabei sehe ich immer wieder zum Bett hinüber, um sicherzugehen, dass Izzy und/oder Liam nicht auf-wachen und einen nackten jungen Mann durch Daddys Schlafzim-mer huschen sehen. In der Nacht war ich wenigstens unter der De-cke - hoffe ich. Boy, das war ein langes Vorspiel gewesen. Ich kann nur für Nathan hoffen, dass die Zwillinge sich nicht umgesehen ha-ben, oder sie werden nie wieder ihr Zimmer aufräumen. Die Scho-koladensauce hat außerdem einen Fleck auf dem Teppich hinterlas-sen. Ich schleiche ins Badezimmer, schließe die Tür und schicke ei-nen Stoßseufzer zum Himmel. Kinder, die plötzlich in Betten auf-tauchen: definitiv nicht mein Ding. Eigentlich würde ich mich jetzt duschen, aber ich habe Angst, dass das die Familie wecken könnte, also begnüge ich mich mit einer Katzenwäsche. Außerdem steht mein Rucksack mit frischer Kleidung draußen im Flur, also wieder rein in die Sexklamotten. Nur gut, dass gestern nicht Kleine-billige-Schlampe-Tag war oder Nathan würde nicht länger vor seinen Nachbarn verstecken können, wer ich bin. Ich gebe etwas Zahnpasta auf meinen Finger und schiebe ihn in den Mund. Boy oh boy, warum habe ich mir nur diesen Haarschnitt einreden lassen? Okay, ich sehe wirklich süß aus, aber er ist absolut unbrauchbar unter Zeitdruck. Nach einem vorsichtigen Blick aufs Bett tapse ich zur Schlafzimmer-tür und schlüpfe in den Flur hinaus. Phew! Ich überlege kurz, ob ich eine Nachricht schreiben soll, aber mir fällt nur „Sorry, deine Kinder kosten extra“ ein und ich lasse es bleiben. Zu unprofessionell. Ich drehe den Schlüssel herum und verlasse die Wohnung ohne Worte. Draußen auf der Straße erlaube ich mir endlich mein Handy zu che-cken. Dazu war ich in der Hitze des Gefechtes gar nicht gekommen. Zwei verpasste Anrufe von meinem Boss und eine SMS von meinem Bruder. Bin im Bett, alles gut. Ich nicke. Ich halte immer kurz die Luft an, wenn ich eine Nachricht von Josh sehe, wenn ich über Nacht weg bin. Dann rufe ich Rob zurück. Er klingt grauenvoll munter für die Uhrzeit. „Wollte nur hören, dass alles in Ordnung ist“, schreit er ins Telefon. Er hat noch immer nicht herausgefunden, wie genau die Freisprecheinrichtung in seinem neuen Superschlitten funktioniert. „Seine Kinder haben mich höchstvermutlich nackt in seinem Bett ge-sehen.“ „Oh. Das ist ekelig.“ Ich grinse und krame nach meiner Son-nenbrille. Es ist definitiv zu früh. Zufrüh. „Nah, Izzy und Liam sind eigentlich ganz süß –solange sie schlafen.“ „Oh, Babycakes, ich bin mir noch immer unsicher, ob es gut ist, dass du ihre Namen kennst…“ „Ich bin Nathans bit on the side seit bald einem Jahr.“ „Kennt er dei-nen Namen?“ „Hey!“, winke ich nach einem Taxi. Zu weit für diese Uhrzeit, auch wenn ich sonst der Meinung bin, ein Fußmarsch ist gut für meine Physique. „Das nehme ich persönlich.“ Er drückt auf die Hupe und ich schaffe es gerade noch, das Telefon vom Ohr zu neh-men, bevor es irreparable Schäden genommen haben könnte. Ich bin sicher, der BMW neben mir hat das Hupen auf sich bezogen, so wie der dreinschaut. „Sorry, Q, ich will nur sicher gehen. – Okay, der Arsch blockiert mich seit zehn Minuten, ich muss jetzt auflegen und meinen Anwalt anrufen, damit ich den Kerl verklagen kann. Bei dir alles klar für heute Abend?“ „20:00, Cuba Club Bar. Er trägt ein wei-ßes Polo, ich ebenfalls.“ Ich steige in das Taxi und gebe meine Ad-resse. „Wunderbar“, sagt die Stimme an meinemOhr. „Ich hasse
weiße Polos“, murre ich. „Er zahlt gut.“ Ich lehne mich zurück und strecke meinen Nacken. Autsch! „Ja, Boss.“
Zwanzig Minuten später stehe ich im Lift in den dritten Stock un-seres Hauses. Teurere Etage, aber aus Platzgründen notwendig - und die Aussicht ist besser. Ich schließe die Wohnungstür auf und kicke meine Schuhe von mir. Kaffee. Das hier ist ein Kaffeemorgen. „Du kommst zu früh!“, ruft Josh. Er sitzt am Küchentisch und liest die Comicseite der Zeitung. Die kommt immer zuerst, erst wenn man ein bisschen gelacht hat, sollte man sich der traurigen Realität des Weltgeschehens widmen. Oberste Regel im Morgan-Haushalt. „Und so siehst du auch aus“, hebt er bei meinem Eintreten den Kopf und mustert mich. „Hatte dein Doktor einen Notfall?“ „Soll ich dir Speck zum Frühstück braten?“ „Ja, gern. Und dann macht es we-nigstens Sinn, dass du die Sonnenbrille aufbehältst. Als Spritz-schutz.“ Ich zeige ihm die Zunge, nehme die Brille aber ab. „Ich geh noch schnell unter die Dusche, dann helfe ich dir beim Anziehen, okay?“ Josh nickt nur, er hat sich wieder in die Comics vertieft.
So, während ihr hier alle auf meinen, zugegeben, äußerst knacki-gen Hintern unter der Dusche starrt, sollte ich mich vielleicht einmal vorstellen. Mein Name ist Kit. Das ist natürlich nicht mein richtiger Name, aber in meinem Geschäft haben richtige Namen nichts verlo-ren. Es sei denn man steht drauf bei jedem Orgasmus daran erinnert zu werden, dass deine Eltern dir den Namen nicht gegeben haben, damit ihn später jemand gegen Bezahlung schreit, während sich sein Samen über dich ergießt. Und damit all diese vorhergegangenen Anspielungen jetzt auch endlich vollständig geklärt werden: Ich ar-beite als Escort - was eigentlich nur eine teure Umschreibung für Callboy ist. Zu meinen Spezialitäten gehört fast alles, aber ich ziehe definitiv eine Grenze bei Blut.
Ich bin momentan 21 Jahre, 9 Tage, 4 Stunden und 34 Minuten alt; natürlich blond, mit momentanem Kurzhaarschnitt, aber das variiert sehr häufig; 1m78,4cm groß; schlank, sportlich (ich hasse diesen Ausdruck, der klingt so unsexy. „Sex?“ „Nein, erst wenn ich die Meile unter zwei Minuten laufe!“), habe Tattoos und grüne Augen. Das alles – und noch ein paar weniger jugendfreie Details – gibt es auf meiner Profilseite im Internet nachzulesen.
Nachdem ich wieder das Gefühl habe, nicht mehr nach Nathans Boss Bottled, Sex und Schweiß zu riechen und meine Haare so weit trock-nen, bis ich sie in Form – irgendeine Form - bringen kann, kehre ich in die Küche zurück. Josh sitzt noch immer am Tisch, aber das ist nicht ungewöhnlich. Mein großer Bruder ist nämlich nicht ganz so schnell darin, sich vom Fleck zu bewegen. Der Rollstuhl, in dem er sitzt, könnte damit etwas zu tun haben, aber grundsätzlich erzähle ich jedem, dass er einfach nur faul ist. „Dein Rucksack hat Geräusche gemacht“, deutet Josh vage in die Richtung der Quelle. Damit meint er mein Arbeitstelefon, mein Privattelefon piepst oder läutet – es ist Joshs Art, meine beiden Leben auseinander zu halten. Wenn das nur immerso einfach wäre… Ich gehe in den Flur zurück und krame nach der Ursache für die Geräusche. Was ist mit dir passiert??? Nathan. Verständlich. Eigentlich sollte ich zurückrufen, texten ist zu privat. Am Ende fangen die Herren noch an, mich per Text zu buchen. No siree! Sowieso bekommt nur sehr ausgewählte Klientel meine Num-mer, der Großteil der Deals läuft über Rob. Das ist sicherer. Aber dann weiß ich nicht, was ich sagen soll, und beginne zu texten - das gibt mir mehr Zeit und Korrekturmöglichkeiten. Das Endresultat ist: Sorry, deine Kinder waren nicht Teil unserer Abmachung. Wollte sie nicht wecken. Die Antwort kommt, während ich den Speck aus dem Kühlschrank hole: Sie hatten einen Alptraum. Susan musste sie vor-beibringen. Alle beide? Denselben? Tut mir leid für sie und ich schlage zwei Eier in die Pfanne. Josh ist mittlerweile beim Weltge-schehen angekommen und schnaubt. Ich weiß ja, dass Nathan Kinder hat. Er hat auch eine Frau, bloß dass die nicht da ist, wenn ich die Nacht mit ihm verbringe. Ich weiß auch, dass ich nicht wirklich ver-langen kann, dass seine Nachbarin sich um absolut alles kümmert. Ich habe auch nichts gegen die Zwillinge. Sie scheinen liebe Kinder zu sein, von allem, was Nathan mir erzählt hat, aber ich kann sie ab-solut nicht gebrauchen, wenn ich damit beschäftigt bin, ihrem Vater sein Geld wert zu sein. Ich setze an, ihm einen schönen Tag in der Arbeit zu wünschen, dann lösche ich alles schnell wieder. Was sollte er denn darauf antworten? Schönen Tag im Bett fremder Männer? Seh dich nächste Woche, schreibe ich stattdessen und schaufle Eier und Speck auf zwei Teller. Ein Smiley-Gesicht kommt zurück. Sehr süß, wirklich. Wenn ein Klient dir Smileys schickt, sollest du ernst-haft an deinem Act arbeiten.
Josh und ich essen unser Frühstück in vollkommener Stille. Er, weil er mit Europa beschäftigt ist, ich, weil ich doch lieber meine Sonnenbrille hätte auflassen sollen. Dass Kaffee hilft, erscheint mir immer mehr wie ein Mythos. Als wir fertig sind, lädt Josh das Ge-schirr in den Geschirrspüler. Das kann er sehr gut. Eigentlich wäre so ein Rollstuhl praktisch für Kellner: Man könnte sich mehr aufla-den und wäre schneller bei den Tischen.
„Okay“, steuere ich das Gefährt ins Schlafzimmer. „Was darf‘s denn heute sein? Der blaue Armani Nadelstreif oder doch die zer-rissenen Hilfiger Jeans?“ „Heute ist Dienstag?“ „Jap.“ Manchmal ist es verdammt schwer, sich ein Grinsen zu verkneifen. Josh weiß das und er sieht mich nicht an. Er weiß auch ganz genau, was heute für ein Tag ist, es sind nur seine Beine, die nicht in Ordnung sind. Und sein rechter Arm. Manchmal. „Dann Jeans, bitte.“ „Sofort, Mylord.“
Das Anziehen verläuft sehr routiniert. Wir machen das auch schon ein paar Jahre. Wir verzichten auf Socken, da die in Moccasins dämlich aussehen und der Tag ist trotz der Jahreszeit warm genug, um die obersten Knöpfe an seinem Hemd unter der Jacke offen zu lassen. Während ich mich anziehe, macht Josh sich die Haare. Ra-siert hat er sich schon und dann mein Aftershave verwendet. Aber ich verbiete es ihm nicht, denn seien wir uns ehrlich: Ich habe es nur aus einem einzigen Grund gekauft: Es riecht zum Anbeißen. Und ich sollte es wissen, es haben schon genug angebissen. Beißen ist übrigens okay. Und ich mag zwar auf dem Gebiet kein Experte sein, aber ich denke mal, dass es auch bei Frauen funktioniert. Ich hoffe es zumindest. Für Josh.
Meine Haare sind ein größeres Problem als Josh in seine Jeans zu bekommen. Ich bin äußerst eitel - und heikel -, wenn es um meine Haare geht. Die Länge variierte einige Male, der Schnitt blieb – bis auf eine Ausnahme in meinen Mid-Teens – immer gleich. Da ich sehr dichte und dicke Haare habe, ist der Schnitt immer fransig und stufig, um die Fülle herauszunehmen. Ken - einer meiner Kollegen und ja, das ist sein richtiger Name und ja, er sieht wie einer aus – hatte mir geraten, sie einmal anders schneiden zu lassen. Er liest Fashionma-gazine wie andere die Tageszeitung. Nur, dass Fashionmagazine sel-ten eine Comicseite haben – oder manchmal ein einziger Witz sind. Jedenfalls waren wir alle eines Nachmittags in Robs Hauptquartier –dem Hunters, einer Bar-Disco mit fraglicher Klientel, aber wir sind bestimmt kein Maßstab – versammelt, um Wochenbilanz zu ziehen. Das Ganze beginnt immer sehr professionell: Jeder legt seine Klien-ten und sein Geld auf den Tisch und Rob trägt alles in sein großes schwarzes Buch ein, tippt in seinen Taschenrechner und dann sieht es für einen Moment aus wie am Pokertisch, wenn die Bank gewon-nen hat. Dann kommen die Drinks und die Anekdoten. Nichts für Zartbesaitete, so viel sei gesagt. Ich habe ein besonderes Talent dafür. Manchmal glaube ich, Rob gibt mir absichtlich die Spezialfälle. Viel-leicht, weil ich mich nicht beklage. Okay, selten. Weiße Poloshirts sehen sogar an mir bescheuert aus. Nein, nein, halt! Oh Gott, das klingt ja jetzt so, als hätte ich überhaupt keinen Standard! Also, wie schon erwähnt: Ich habe meine genauen Grenzen, aber den Rest nehme ich einfach nicht immer ganz so ernst. Lieber schmunzle ich über die Anwandlungen mancher Kunden, als sie persönlich zu neh-men. Man kann immer etwas Neues lernen.
Okay, zurück zu weniger glitschigen Themen: mein Haarschnitt. Ken hatte ihn in einem seiner Magazine gesehen und er war der Mei-nung, das Model sähe genauso aus wie ich. Ich war natürlich äußerst geschmeichelt, ich meine, wer wäre das nicht? Mehr brauchte er dann auch nicht zu sagen, bei Komplimenten bin ich leider äußerst billig zu haben. Und solange wir zum Friseur meines Vertrauens gingen, wusste ich, er würde es mir ausreden, sollte es mir nicht pas-sen.
Also, wir hatten schon ein paar Drinks intus – Kit trinkt nur an Zahltagen, das möchte ich hier ganz klar festhalten, ansonsten bin ich sehr geübt darin, betrunken zu spielen, wenn es denn gewünscht wird (ihr seht, was ich meine, wenn ich von Spezialfällen rede) – und Ken, Karl (nicht sein richtiger Name) und ich sind schnurstracks zu meinem Friseur getrabt und – voila! – ich brauche jeden Morgen eine halbe Stunde länger im Bad. Nur, wie schon gesagt, ich sehe wirklich sehr süß aus damit. Vielleicht sind ein paar dieser dreißig Minuten auch dafür reserviert, mich nach gelungener Prozedur ein bisschen selbst zu bewundern. Das wird man doch wohl noch dürfen, hallo? Rob hätte mir meinen hübsch gestylten Kopf jedoch am liebsten ab-gerissen. „Hast du eine Ahnung, was anständige Fotos für unsere Webpage kosten?!“, wetterte er. „Und du bedienst eine bestimmte Klientel, Kit!“ Es dauerte bis zu meinem nächsten guten Klienten, bis er mir verzieh. Außerdem hat er Recht: Süß entspricht so gar nicht meiner Persona. Ich meine so gar nicht. Und Kits schon über-haupt nicht! So Finger-in-den-Mund-und-Würgegeräusch gar nicht. Tja… Haare wachsen.
Wir machen uns auf den Weg. Heute ist Dienstag. Dienstag ist Joshs Lieblingstag. Dienstag bedeutet Karen. „Ich glaube, heute ist der Tag“, verkündet mein Bruder, als wir die Straße hinunterwandern. Ich wandere, er lässt sich schieben, ich sagte doch schon, dass er faul ist. Aber das macht mir nichts. Fußmarsch ist gleich Physique, ich wiederhole mich nur ungern. Früher war unsere Wohnung direkt ne-ben der Uni, jetzt wäre ein Fußmarsch zu zweit zu weit. Wir gehen ein paar Blocks zur Bushaltestelle, denn von hier aus müssen wir nicht umsteigen, können aber auch das Auto stehenlassen. „Was für ein Tag?“, frage ich, obwohl ich die Antwort kenne. Die fast wort-wörtlich selbe Konversation findet jeden Dienstag statt. „Heute werde ich Karen fragen, ob sie mit mir essen gehen will.“ Ich nicke, obwohl er es natürlich nicht sehen kann. „Klingt gut.“ „Ich denke, der Italiener bei uns um die Ecke würde ihr sicher gefallen.“ Ich nicke wieder. Der Italiener bei uns um die Ecke ist bei Gott nichts Beson-deres, aber er ist sehr rollstuhltauglich. „Bestimmt. Aber denk daran, extra Fleischbällchen zu verlangen, damit du ihn ihr mit der Nase zurollen kannst.“ „Har-har-har.“ Seit Semesterbeginn hat Josh Karen bestimmt schon hundertmal angesprochen. Bloß, dass er dabei kein Wort gesagt hat. Wir lachen beide und steigen in den Bus. Später biege ich auf den Campus ab. Das ist Joshs Moment, das Steuer selbst in die Hand zu nehmen. Mein Bruder ist ein sehr stolzer Mensch. Er hat gelernt die Blicke zu erwidern, die ihm zugeworfen werden und macht mehr politisch inkorrekte Witze über seine Situa-tion als Politiker. Er weiß, dass er in der Wohnung oft auf meine Hilfe angewiesen ist, auch wenn er es manchmal hasst – ihr würdet es auch hassen, als Erwachsener nicht immer allein aufs Klo gehen zu können – und ist sich bewusst, dass es meistens einfacher ist, wenn ich ihn über den Hindernisparcours, genannt Gehsteig, kutschiere, aber so-bald wir auf dem Campus sind, ist er sein ganz eigener Herr. Und ich bewundere ihn dafür. Ich bewundere ihn generell für fast alles. Außer vielleicht für seine Cartoon-Socken-Sammlung. Ich befürchte manchmal nur, dass diese Bewunderung nicht auf Gegenseitigkeit beruht. Aber das muss ich verstehen: Josh manövriert sich durchs Le-ben unter Einsatz all seiner Kräfte; ich vögle mich größtenteils durchs Leben und dazu brauche ich meistens nicht einmal meinen Kopf.
Oh, nur um das auch klarzustellen: Wir sind meinetwegen hier! Ich arbeite nämlich nicht wirklich nur mit meinem Körper, auch wenn ich das sehr gerne tue. Tagsüber bin ich eigentlich ein ganz anständi-ger, wenn auch nicht unbedingt unauffälliger, junger Mann. Meistens jedenfalls. Ich habe schon ein bisschen viel gesehen, um noch gänz-lich anständig sein zu können. Tagsüber muss ich schon mit meinem Kopf arbeiten. Sehr viel sogar. An der medizinischen Universität, um genau zu sein. Oh ja, richtig gehört: Ich studiere Medizin. Und bevor jetzt jemand laut lachen muss: Meine beiden Leidenschaften schlie-ßen einander nicht unbedingt aus. Anatomische Kenntnisse sind in meinem Job von großem Nutzen, denkt mal darüber nach.
„Ahoi!“, werden wir an der Tür zum Hörsaal von Gabriel be-grüßt. Gabriel ist einer meiner besten Freunde außerhalb des Hun-ters. „Ahoi, Captain!“, grüßt Josh zurück und die beiden klatschen ab. Wir hatten nie viele Freunde, Josh und ich, als wir aufwuchsen. Niemand außerhalb der Heime wollte wirklich etwas mit uns zu tun haben und in den Heimen war es mehr so, dass man sich einfach miteinander abfinden musste. So richtig böse bin ich niemandem deshalb, denn wie ich mich kenne – und glaubt mir, ich habe mich schon in derart vielen Stellungen und in derart vielen Spiegeln gese-hen, ich kenne mich sehr gut – wäre ich nicht anders zu mir gewe-sen. Zusammen gehen wir in den Hörsaal, Gabriel hilft uns den Roll-stuhl ein paar Reihen hinunterzutragen. Ich plumpse auf die Bank und tausche mich mit ein paar Kollegen aus, bevor Josh mir äußerst unsanft in die Rippen boxt. „Damn, J, du weißt ich kann mir keine blauen Flecken leisten!“ Er ignoriert meinen Einwand völlig, er kennt meine fast grenzenlose Eitelkeit, und deutet hinter sich. „The eagle has landed.“ Ich wende mich um und tatsächlich: Karen Doherty schreitet die Stufen hinab, genau auf uns zu. „Soll ich dich ihr in den Weg schieben?“, flüstere ich. „Dann fällt sie dir gleich di-rekt in den Schoß.“ Josh rollt mit den Augen. Das macht er oft, wenn es um mich geht. „Oder ich stelle ihr ein Bein und dann fällt sie dir in den Schoß und du kannst als ihr rettender Ritter ein Essen als Me-dizin gegen den Schock vorschlagen.“ „Oder sie verklagt dich we-gen Körperverletzung.“ Ich lehne mich zurück und verschränke die Arme vor der Brust. Schade. Ich fand die Idee eigentlich sehr gut. Vor allem den Teil mit dem rettenden Ritter, der kribbelte so schön auf der Zunge. Karen Doherty begrüßt Josh mit diesem Lächeln, das er wohl so un-widerstehlich findet. Kann ich nicht beurteilen, tut mir leid. Dass sie sehr hübsch ist, das schon. Besser als so mancher Mann ohne meine sexuellen Vorlieben. „Hi, Q!“, schiebt sie sich dann an ihm vorbei und er starrt so unverschämt auf ihren Hintern, dass ich für ihn rot werde. „Ich hab in der Eile mein Buch vergessen“, sackt sie auf den Platz neben mir, „darf ich bei dir mitlesen?“ In welcher Eile? Karen wohnt direkt am Campus und ich bin mir absolut sicher, dass sie ge-nau so perfekt aussieht, wenn sie am Morgen aufsteht. Nicht einmal eine krumme Wimper. „Klar, meine Liebe“, nehme ich das corpus delicti aus meinem Rucksack und schiebe es ihr hin. Josh neben mir verzieht den Mund. Seht ihr, hier ist das Problem: Josh ist ein Mann und er steht so sehr auf Karen, dass es mir ein Rätsel ist, wie sie sich noch bewegen kann. Deshalb kommt er mit mir in eine Anatomie-vorlesung und hat keine Ahnung, wie er sie ansprechen soll. Ich hin-gegen bin eine Schlampe und habe in ihrem Fall keinerlei Interesse daran Bekanntschaft mit ihrer Anatomie zu machen, deshalb kann ich ganz einfach mit ihr reden.
Manchmal habe ich schon ernsthaft mit dem Gedanken gespielt, den armen Kerl zu erlösen und sie an seiner Stelle einzuladen, aber dann würde ich ihm den letzten Rest Männlichkeit nehmen, den ihm der Rollstuhl in den Augen vieler leider nur übriggelassen hat. Er hat nur einen Kalender mehr in seiner Sammlung, aber er ist der Ältere von uns beiden, definitiv der Erwachsene in unserer Beziehung und nor-malerweise ein absolutes Alphamännchen, wenn ihm jemand blöd und auch noch dazu von der Seite kommt. Früher hatten Mädchen ihm nachgesehen in der Hoffnung, dass er sich umdrehen würde. Und Josh wusste das und er nutzte es aus – oh boy, nutzte er es aus! Eine Couch kann so schon unbequem sein, aber an Schlaf ist nicht mal zu denken, wenn Geräusche aus dem Nebenzimmer kommen, die man nicht gehört haben will, wenn die zweite Person am Morgen aus dem Schlafzimmer an besagter Couch vorbeitaumelt. Wenn man ein at-traktiver, selbstbewusster Teenager ist, führt das nicht immer zu den besten Entscheidungen, aber das macht einen manchmal nur noch cooler, selbst wenn man innerlich weint. Ich weiß das, ich habe oft genug zugesehen und ich habe zusehen müssen, wie Josh das Herz gebrochen wurde und er sich wieder aufgelesen hat. Und jetzt hat mein stolzer, breitschultriger Bruder manchmal fast Angst davor je-mandem körperlich zu nahe zu kommen, auch wenn es so oft unbe-gründet ist. Dazu ist er zu attraktiv. Für seinen Körper ausgelacht zu werden, wenn man nichts daran ändern kann, jagt einen auf einen Baum, auch wenn man seine Beine nicht gebrauchen kann. Das kann sogar ich nachvollziehen und ich bin oberflächlich.
Ah, aber deshalb ist Josh doch nicht wirklich mit mir im Kurs, oder? Verliebtheit kann man nicht medizinisch erklären und quali-fiziert einen auch nicht für ein Studium. Es gibt immerhin Regeln. Nein, er ist hier, weil ich ihn absolut nicht allein in der Wohnung versauern lassen will. Nur sein Bewegungsapparat ist grundsätzlich eingeschränkt, aber die traurige Tatsache, dass sein rechter Arm auch manchmal einfach immer noch aufgibt, behindert seine Aus-bildung und schränkt die Jobauswahl ein. Vor allem, weil er immer mehr fürs Grobe war – ich bin der Denker in der Familie. Ja, lacht nicht! Im Moment macht er wieder einmal eine Schulung, diesmal für eine Computerfirma im Servicecenter, das kann er von zu Hause aus machen. Und er kann Computer nicht leiden. Ich kann es mir nicht einmal vorstellen, was es für ihn bedeutet immer und immer wieder abgelehnt zu werden oder gerade mal den Probemonat zu überdauern und ich wohne mit ihm zusammen. Und ich hasse es zu wissen, wie sehr er dann bereut, die Schule abgebrochen zu haben. Obwohl er ein Mann der Taten ist und die Schule ihm nie behagt hat. Deshalb sitzt er meistens in der Wohnung, wenn seine Freunde in der Arbeit sind und sein Bruder nach einer Kur für seinen Zu-stand sucht. Das würde ich schon nicht aushalten, wenn ich ja ei-gentlich gänzlich arbeitsfähig wäre. Obwohl ich vielleicht wirklich in den meistens Dingen des Lebens kein Maßstab bin. Ich fessele Männer ohne Polizeiausweis (okay, ohne staatlich beglaubigten Polizeiausweis) und habe die mich manchmal selbst nervende An-gewohnheit, nicht lange stillsitzen zu können. Die Bezeichnung Flittchen wurde wahrscheinlich für jemanden wie mich erfunden - in zweierlei Bedeutung, versteht sich. Dass meine Noten gut genug für ein Studium waren und ich darin sehr gut in der Zeit liege, grenzt an ein Wunder. Nein, kein Wunder, es lässt sich sehr gut er-klären, aber dazu ein anderes Mal mehr. Also: Da ich nicht will, dass Josh in unserer Wohnung im Mitleid versinkt, habe ich erwirkt, dass er mich zu, abgesehen von den öf-fentlich zugänglichen Vorlesungen, einigen meiner Theoriekurse be-gleiten darf. Und nein: Ich habe mit niemanden dafür schlafen müs-sen! Ich glaube sowieso, dass das nur in Filmen und Ausnahmefällen wirklich funktioniert. Nicht, dass ich es nicht erwogen habe, das gebe ich zu. Die zuständigen Autoritäten versetzten vielleicht nicht unbe-dingt mein Blut in Wallungen, aber ich gebe zu, ich habe ein paar Kinks – und nerdige Professoren in ihren vollgestopften Büros könnte einer davon sein.
Während wir also auf die Tafel starren und lernen, was ich ei-gentlich so gut wie jeden Abend live zu sehen bekomme, starrt Josh auf Karen und ich bin mir leider verdammt sicher, dass sie es nicht bemerkt. Gabriel sitzt immer hinter mir, damit er manchmal ein paar dumme Medizinerwitze an Josh auslassen kann. Ich versuche ihn zu ignorieren. Und ich versuche auch mich selbst zu ignorieren, denn ich muss gestehen, manchmal kann Anatomie ganz schön anstren-gend sein, wenn man dabei ständig an Kondome, Gleitgel und das Kamasutra denken muss. Oh Gott, welch Schatz an Obszönitäten sich hier auftut! Meine Freunde haben ein schier unerschöpfliches Repertoire an Sprüchen für mich. Aber es hat manchmal mehr Vor-teile als Escort zu arbeiten, als auf der Vorderseite eines Werbeflyers Platz hätten. Ich kann außerdem ordinär fluchen so viel ich will, ich bin schon versaut genug und wenn mich jemand eine ekelige Schlampe dafür schimpft, dass ich Sexwitze mache, wenn wir einen Toten sezieren, dann kann ich das Kinn vorstrecken, lächeln und für das Kompliment danken. Obwohl nein: Das würde ich nie machen. Sexwitze über Tote. Oh Gott! Ich bin nicht nekrophil und Schlampe würde ich in dem Fall als Vorwurf nicht annähernd als ausreichend empfinden. Meine Eltern sind tot.
Ach so, habe ich auch vergessen das zu erwähnen? Tut mir leid. Scat-terbrain. Jeder, der mich kennt, kann absolut nicht verstehen, wie ich auf einer Uni nicht nur einen Besen hin und her schieben darf. Ja, Joshs und meine Eltern sind tot. Zumindest hat man uns das so ge-sagt. Wir waren beide noch zu klein gewesen, um uns überhaupt an sie zu erinnern. Das erste Mal, dass mir jemand bewusst von meiner Vergangenheit erzählt hat? Da war Josh gerade achtzehn geworden und wir konnten endlich rechtlich unsere Lebensumstände ändern und er wurde mein offizieller Guardian für das letzte Jahr vor meiner Volljährigkeit. Dazwischen waren 15 Jahre vergangen, wer weiß wie viel stille Post bis dahin verloren gegangen war. Aber es ist eigentlich auch egal. Fakt ist, dass wir keine Eltern haben. Außer auf einem Stück Papier in einer Mappe in Joshs Kleiderschrank. Verwandte ha-ben wir wohl auch nicht, oder wir waren so hässliche Kinder gewe-sen, dass sie jegliche genetische Verbindung abgestritten haben. Je-denfalls haben Josh und ich nie ein richtiges Zuhause von innen ge-sehen. Niemand war je gekommen, um uns – oder jemand anderen –zu adoptieren und sofort in ihr Herz zu schließen, als wären wir ihr Fleisch und Blut. Bernhard und Bianca oder Anne of Green Gableszum Trotz.
Am Abend ziehe ich mir ein weißes Poloshirt über und wiege Kajal gegen Goldkettchen ab. Die Tatsache, dass ich mir ein solches Shirt erst zwei Stunden vorher kaufen musste, sagt so einiges aus, nicht wahr? Josh und Konrad sitzen im Wohnzimmer und sehen sich die NHL-Highlights auf dem Sportkanal an. Josh hat Karen nicht zum Essen eingeladen. Surprise! Aber er hat ihr zumindest gesagt, dass ihm ihr Kleid gefällt. Das ist fast ein Heiratsantrag. Konrad ist nach der Arbeit herübergekommen und hat chinesisches Essen mitgebracht. Ich liebe Konrad. Heimlich natürlich, denn Konrad ist so straight wie ein Fahnenmast. Aber er ist so gut gebaut und hat Tat-toos an Stellen, die ich nur kenne, weil ich die nervige Angewohnheit habe, ins Badezimmer zu platzen, wenn jemand unter der Dusche steht. Sollte ich mir wirklich abgewöhnen, ich arbeite daran.
Wenn ich mal Zeit habe, setze ich mich immer zu ihnen. Männer, die in andere Männer krachen und vollen Körpereinsatz zeigen – muss ich meine Begeisterung dafür wirklich näher erläutern? Alles Drumherum ist viel zu kompliziert für mich und lenkt mich nur von meinen schmutzigen Phantasien ab. Und nach dem Spiel würden diese schwitzenden, geprellten Männer alle gemeinsam unter der Dusche stehen und bei Gott, ich würde alles darum geben, dort auch unangemeldet reinplatzen zu können.
Okay, es ist zwar so, dass niemand je daran zweifeln würde, aber für den Fall, dass ich das auch vergessen habe noch deutlicher zu machen, hier nochmal zum Mitschreiben: Ich bin schwul. Also hauptsächlich. „So warm wie eine Heizdecke an einem kalten Win-tertag“, wie mein lieber Freund Gabriel sagen würde. Nicht, dass ich mich jemals hätte outen müssen. Die meisten würden sagen, dass es schlicht und einfach ganz offensichtlich ist, aber für mich liegt es eher daran, dass ich während meiner gesamten Kindheit nie ver-standen habe, dass und warum ich anders sein sollte. Jeder im Heim hatte seine Eigenheiten, warum sollten meine so besonders sein, dass man sie ständig hervorheben müsste? Niemand erwartet von einem Hetero, dass er sich outet, oder?
Eigentlich hätte ich mir gleich ein Schild ans Ohr hängen können: Dumme Sprüche bitte hier einwerfen. Darum lernte ich, was mir auch heute noch das Überleben sichert: Ich kann fast alles, was man mir zuwirft in Gold verwandeln. Je mehr man mich angriff, desto mehr benahm ich mich so, wie sie mich sahen. Ich schwebte in kon-stanter Balance zwischen Everbody‘s Darling, der Jungs Dating-Tipps gab und Mädchen Zöpfe flocht, und blutiger Nase. Zwei Dinge waren hilfreich und hinderlich zugleich: Meine beängsti-gende Affinität für japanische Kampfkunst und meine große Klappe.
Goldkettchen gewinnt. Weiße-Poloshirt-Träger kombinieren diese selten mit schwarzem Kajal. Schade eigentlich. Ich sehe so gut aus mit schwarzem Kajal, ich gehe fast nie ohne außer Haus. „Es ist 19:30!“, boomt Konrads sonore Stimme aus dem Wohnzimmer. Damn, was für eine Stimme! Die jagt mir schon ein elektrisierendes Kribbeln über die Wirbelsäule direkt in meinen Schwanz, wenn er nur am anderen Ende der Gegensprechanlage an der Tür ist und so etwas Profanes wie „Hi“ sagt. Manchmal könnte ich seine Stimme echt gebrauchen, wenn ein Kunde mich mal nicht so richtig auf Tou-ren bringt. Kann vorkommen, auch bei einem Profi wie mir. „Shit!“ Ich greife nach dem Haarspray und gehe ins Wohnzimmer. Die bei-den Herren im Haus starren so gebannt auf den Bildschirm, dass ich versucht bin zu fragen, wer nackt ist, dann strecke ich Konrad die Spraydose entgegen. Er nimmt sie, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken, hievt sich hoch, hält mir die Hand schützend vor die Au-gen und verwandelt meine Haare in Beton. „Okay, das sollte für eine Stunde reichen, wenn du oben bist. Sollte er dich auf allen Vieren wollen, schlage ich noch eine extra Schicht vor.“ Ich sehe in seine dunkelbraunen Augen und bin versucht zu sagen, dass wir seine Theorie austesten sollten, aber ich lasse es – wie jedes Mal. „Danke-schön. – Okay“, wirble ich einmal um die eigene Achse. „Sehe ich grässlich aus? Ja? Gut, ich gehe jetzt und bringe mich um. Soll ich irgendwas mitbringen? Bier? Pizza? Geschlechtskrankheiten?“ Josh wirft mir diesen Blick zu, der mir sagt, dass der Spruch immer noch nicht wirklich lustig ist. „Pizza!“, hebt Josh die Hand und ich nicke. „Okidoki. – Na dann, bis später und bleibt anständig. Keine leicht-bekleideten Entertainer, bevor ich zurück bin.“ Die beiden winken mir nur und ich verlasse die Wohnung. Da die Cuba Club Bar in der Innenstadt liegt und ich unter Zeitdruck bin, pfeife ich mir ein Taxi heran. Zweimal an einem Tag, ich muss aufpassen, dass ich nicht hochnäsig werde. Aber der Geruch öffentlicher Verkehrsmittel klebt so an einem und das ist in meinem Job nicht gerade förderlich. Ich konnte nicht in einem Schickimicki-Lokal auftauchen und so rie-chen, als bräuchte ich das Geld.
Vor der Bar stehen einige Leute, die wohl keinen VIP-Ausweis mit ihrer Geburtsurkunde mitgeliefert bekommen haben und ich bezahle den Fahrer und passiere die Schlange mit schnellen Schritten und ei-nem süffisanten Grinsen. Ich habe den Ausweis mit meiner Arbeits-vertragsunterzeichnung erhalten. „Hey Pat!“, strahle ich den Türste-her an, der keine Miene verzieht, aber ich weiß, er lächelt ebenfalls. „Hey Kid.“ Er nennt mich immer Kid, nicht Kit, ich mag das irgend-wie. Er ist so groß und stark und furchteinflößend, er könnte mich alles nennen, solange er dabei in mich hineindrillt. Und dabei lasse ich niemanden an meinen Hintern.
Sein Blick mustert mich kurz. „Weißes Poloshirt sitzt an der Bar, gleich am vorderen Ende.“ Ich lache. Pat hat mich hier schon in so mancher kriminellen Aufmachung gesehen und er hat eine unglaub-liche Menschenkenntnis. Braucht er auch, in seinem Beruf. Das ha-ben wir gemeinsam. „Thank you, darling!“, zwinkere ich und gehe hinein. Die Proteste der anderen gehen bei einem Ohr rein, beim an-deren raus. Entweder die Damen und Herren sollten ihre Eltern wech-seln, oder sich als Edelprostituierte versuchen. Pat und ich haben eine lange Geschichte. Keine sexuelle - leider, denn seine großen, som-mersprossigen irischen Hände dürften mich gerne über die Absper-rung beugen - aber er hat keine Scheu vor meinem Job. Er hält nicht viel von der generellen Klientel im Club und findet es sehr amüsant, dass gerade solche Leute für ihren Sex bezahlen. Manchmal bleibe ich bei ihm an der Tür, wenn ich zu früh bin und gebe ein paar meiner schmutzigsten Anekdoten zum Besten. Daher weiß ich, wie sehr Pat lachen kann, auch wenn sein Mund eine dünne Linie bleibt. Er hat mir auch schon aus der einen oder anderen prekären Situation gehol-fen.
Ich gebe mir immer Mühe, das Personal kennenzulernen, wenn ich ein Lokal öfter frequentieren muss. Es macht so vieles so viel ein-facher, das kann ich euch sagen. Drinks, Rechnungen, Musikwün-sche – alles funktioniert mit einem einzigen Blick oder wenigen Wor-ten. Das ist mir wichtig. Meine Kunden sollen wissen, dass ich durch und durch Profi bin und kein billiges Vergnügen. Das treibt auch den Preis in die Höhe.
Der Mann sitzt genau dort, wo Pat ihn gesehen hat. Ich verbleibe kurz am Eingang und mache mir ein Gesamtbild. Das mache ich immer, ich muss alles geplant haben, bevor ich meinen Klienten anspreche, nur kleinste Verzögerungen können mich meine fünf Sterne auf Robs Webpage kosten. Er hat eine gute Größe, ist auf jeden Fall gepflegt und ich schätze ihn so auf die Ende Vierzig. Country-Club Mitglied - das erklärt das Poloshirt. Er starrt nicht auf seinen Drink, sieht sich aber auch nicht suchend um, was darauf hindeutet, dass er das schon ein-, zehnmal gemacht hat. Die Bar spielt Lounge-Musik, also würde ich raten, dass er es lieber hart, aggressiv und so anonym wie möglich mag – meine persönliche Einschätzung, keine Verallgemeinerung. Allerdings erlaube ich mir zu behaupten, dass ich auch eine ganz gute Menschenkenntnis habe. Wenn ich die nicht hätte, wäre ich in mei-nem Job ganz schön am Arsch – im wahrsten Sinne des Wortes. Da draußen rennen so einige Wahnsinnige herum.
Ich setze mich wortlos neben ihm auf einen Hocker und winke dem Barmann. „Einen Whisky, Ike, danke.“ Mein Kunde – Garreth, Garreth, Garreth, merk dir das, sonst schreist du nur wieder den fal-schen Namen (und so etwas ist gar nicht gut fürs Geschäft) – hebt den Kopf und mustert mich von der Seite. Ich mustere ihn auch, aber weniger auffällig. Hmm, interessant. Der Typ – Garreth, damn! – ist eine Führungsperson. Auch gut, ich bin sehr bewandert darin, dafür zu sorgen, dass er sich erniedrigter fühlen wird als seine Sekretärin und das auch noch ganz ohne Knebel und Handschellen. Erfah-rungswerte, keine Verallgemeinerung. Als ich die Pizza durch die Tür balanciere, sind Josh und Konrad da-bei, Zombies zu killen. Na Mahlzeit. Ich lege den Karton auf den Couchtisch und gehe ins Schlafzimmer, um mich umzuziehen. Also gut, jetzt habe ich ein weißes Poloshirt im Schrank. Dafür, dass ich es ungefähr 1 Stunde und 46,24 Minuten anhatte. Garreth (!) wollte dann doch, dass ich mich ganz ausziehe. Aber ich ließ es in seinem Sichtfeld fallen und verband ihm einmal die Augen damit, für alle Fälle.
Wir essen die Pizza und ich graue mir vor den Zombies und muss mich an Konrad lehnen, um keine Alpträume zu bekommen. Kon-rad macht das nichts aus, er kennt mich und meinen Hang zur Hys-terie. Vielleicht sollte es mir zu denken geben, wie wenig Konrad meine Dramatik und meine Freizeitbeschäftigung ausmacht, aber ich will nicht darüber nachdenken. Wirklich nicht. Wenn ich dar-über nachdenke, habe ich keinen Platz mehr in meinen Hosen, selbst wenn ich, wie jetzt, Trainingshosen trage (und nein, das soll keine Anspielung auf meine genitale Größe sein). Später schieben wir unseren Gast aus der Tür und gehen zu Bett. „Bu-siness or Pleasure?“, deutet mein Bruder auf das Buch in meiner Hand und ich grinse. „Pleasure, my darling“, krieche ich unter meine Decke und drehe ihm den Titel zu. „DermenschlicheOrganismus“, liest er vor. „Oh oh, ein echter Pageturner. Nicht, dass du mir vor Spannung nicht einschlafen kannst.“ Ich zwinkere und klopfe mein Kissen zurecht. „Wir können später gerne tauschen“, deute ich mit meinem Leuchtmarker auf seine Marvel-Superhelden. „Interessant, wie selten du das fragst, wenn du deine Pornos liest.“ Er ballt eine Faust und öffnet sie wieder. Seine Hand will wieder einmal nicht ganz so wie er. „Oh, Darling, ich will dich nur nicht mit all dem Bu-siness-Kram langweilen.“ Josh lacht. „Danke, sehr rücksichtsvoll von dir.“ Doktor Nathan Roberts sinkt in die Kissen, streckt sich und schenkt mir einen äußerst befriedigten und betäubten Blick. Ich erlaube mir für einen Moment, diesen Blick auf mich wirken zu lassen, dann stre-cke ich mich ebenfalls aus. „Oh, ich habe völlig vergessen“, dreht er sich auf die Seite und beginnt meinen Arm zu streicheln. „Die Kinder sind heute mit ihrer Mutter mitgefahren.“ „Ich hatte mich schon ge-wundert, warum du heute entspannter bist als sonst.“ Ich kann nie ganz vergessen, dass die Kinder in der Wohnung nebenan sind, wäh-rend ich die geheimen Gelüste ihres Vaters erfülle. Das kommt da-von, wenn man erlaubt, in die Wohnung eines Klienten eingeladen zu werden. Und schlimmer noch: über Privates zu sprechen. Nathan weiß nicht besonders viel über mich. Er glaubt, Kit ist mein Name und er weiß, dass ich das Geld für ein Studium und meine Familie spare. Aber es wird immer schwieriger, seine Fragen abzuwehren oder zu umgehen. Ich weiß, dass er sehr hart arbeitet, seine Frau muss außerdem oft auf Reisen. Aufgrund dessen haben sie und er sich ge-einigt gewissen Verlangen nachzugehen, solange der Partner es nicht bewusst mitbekommt. Sie lieben sich und sind sehr um ihre Kinder bemüht, wenn sie denn Zeit für sie haben, allerdings haben sie ihnen natürlich nichts von ihrer Abmachung erzählt. Izzy und Liam glau-ben, ich wäre ein Student, der einmal die Woche zu einem Privattu-torium vorbeikommt (wenn sie später mal auf die Uni gehen sollten, möchte ich nicht dabei sein, wenn sie ihren Vater entlarven) und ich bin am Morgen immer schon weg, wenn sie aufstehen, sodass sie bis-lang nicht wussten, dass ich nicht nach ein paar Bier um elf die Woh-nung verlasse. Bislang.
Nathan hatte vor mir noch keinerlei Berührung mit schwulem Sex. Ich hatte schon Jungfrauen, aber Nathan war irgendwie anders, wes-halb ich unserem Arrangement zugestimmt habe, obwohl es eigent-lich gegen meine Grundsätze verstößt. Jungfrauen tendieren manch-mal dazu, etwas in den Akt hineinzuinterpretieren, Erwartungen an das Danach zu stellen. Nathan hat das nicht getan. Nicht auf diese Art. Er wünscht sich nur, dass ich den ganzen Abend und die ganze Nacht mit ihm verbringe. Er sagt, dann käme er sich nicht so schlecht vor, dass er seine Frau vernachlässigte, als wenn es nur eine schnelle Stunde wäre. Und er sagt, er redet gern mit mir. Ich sei bemerkens-wert erwachsen und klug, er sagt mir aber nie, dass ich deshalb mehr aus mir machen muss. Damn, solche Komplimente kann ich leider nicht einfach nur wegstecken. Ich versuche es, aber ich bekomme sie nicht oft. Solche Dinge sagt man nicht zu einer Hure, in und/oder mit meiner Erfahrung.
Einmal in der Woche begrüßt er mich an der Tür, kurz nachdem er die Kinder ins Bett gebracht hat, und ich erlaube ihm erst einmal allen Druck und den Stress der vergangenen Tage abzubauen. Nathan ist mittlerweile ein großartiger Liebhaber und ich bin nicht wenig stolz darauf, dass das allein mir zu verdanken ist. Er weiß genau, was ich von ihm will und brauche. Danach erlaube ich ihm, einfach nur zu reden; mir zu erzählen, was er auf dem Herzen hat. Das fällt mir gar nicht so schwer, denn normalerweise ist er dabei nackt und, phew, Nathan nackt ist ein Bild für Götter. Ich höre nicht immer alles, was er sagt, ich bin zu sehr damit beschäftigt seine Muskeln und Genita-lien zu studieren. Aber er sagt, dass das Reden seiner Ehe sehr guttut, denn er weiß, dass seine Frau auch sehr viel Stress hat und so müssen sie keinen Kampf darüber führen, wer schlimmer dran ist, sondern können einander einfach nur in den Arm nehmen. Ich weiß nicht ge-nau, wie gut das alles wirklich funktioniert, aber ich darf es nicht hin-terfragen. Das ist wirklich nicht mein Platz. Außerdem wäre das zu emotional, und Emotionen haben in meinen Job absolut nichts verlo-ren. Mitgefühl vielleicht, aber selbst das muss man danach wieder von sich schütteln. Sex kann sehr emotional sein, was dabei gesagt wird, darf keinerlei Bedeutung für mich haben.
„Haben sie Fragen gestellt?“, erkundige ich mich, weil ich seinet-wegen ein schlechtes Gewissen habe. So viel zu meiner Regel, dass ich nichts persönlich nehmen darf. Ich möchte aber nicht verantwor-ten müssen, die Kindheit der Zwillinge abrupt beendet und zerstört zu haben. „Nein“, schüttelt er den Kopf. „Sie haben gar nichts dazu gesagt.“ „Hmm“, fällt mir dazu nur ein. Kann mir nur recht sein, ist aber schon komisch, oder nicht? „Ich werde es ihnen vielleicht sa-gen.“ „Was?!“ Das kommt so überraschend und nonchalant, dass ich sofort wieder aufrecht bin. Nathan wirkt nicht mal ein kleines biss-chen verunsichert, ich bin vollkommen entsetzt. Habe ich ihm tat-sächlich sein Hirn rausgefickt? „Es würde so Manches einfacher ma-chen.“ Ich starre ihn immer noch an und bin mir dessen sehr be-wusst. „Und was dann? Sollen sie mich dann Onkel Kit nennen und ich lese ihnen noch eine Gute-Nacht-Geschichte vor, bevor ich deine Träume erfülle oder mache ihnen einen kleinen Snack, bevor ich dich vernasche?“ Dass er über meine Analogien lachen kann, gibt mir ehrlich zu denken. Aber er lacht einfach, setzt sich auf und gibt mir einen Kuss. „Ich bin mir sicher, sie würden dich mögen.“ Ja, be-stimmt.
„Nathan“, schiebe ich ihn von mir, belasse aber meine Hand an seiner herrlich starken Brust, um meinen Standpunkt zu untermau-ern – und weil sie sich unter meiner Hand ach so gut anfühlt. „Nathan, ich verstehe ja, dass es vielleicht wichtig wäre, offen zu euren Kindern zu sein, aber ich bin hier doch nur ein Nebendarstel-ler. Nicht mal das. Ich arbeite in der Garderobe.“ Ich habe diese Rede vorher nicht geübt. Ich würde mich nie vor einem Klienten nieder-machen, wenn er mich nicht ausdrücklich dafür bezahlt. Gut be-zahlt. Ich bin immer der Boss, ich habe immer alles unter Kontrolle und bin der absolute Star der Show. Das hier kommt aus tiefstem Herzen und verstößt schon wieder gegen meine eigenen Regeln. „Ich glaube, deine Kinder sind sehr liebenswerte Wesen, aber ich habe nicht das geringste Bedürfnis, dass sie mich kennenlernen, hörst du? Wir beide, das ist ein Austausch von Gefälligkeiten. Du brauchst Sex, ich brauche Geld. Ich finde unser Arrangement auch durchaus… angenehm, aber mehr auch nicht.“ „Es würde unsere Lage einfacher machen“, scheint er meinen Einwand fast zur Gänze zu ignorieren und ich lasse meine Hand fallen. Oh Gott,… „Du müsstest nicht in aller Früh raus.“ „Ich habe sowieso Dinge zu erle-digen…“ „Ich würde aber vielleicht gerne mit dir frühstücken.“ „Oh Nathan...“ Das ist in diesem Moment alles, was ich dazu sagen kann, und Nathan nützt mein Schweigen und nimmt meine Hand. „Hey, ich habe nur gesagt, dass ich es ihnen vielleicht sagen werde, okay? Ich muss es erst mit Mandy besprechen.“ Na toll. Vom Regen in die Traufe. „Ich will auch deine Frau nicht kennenlernen, Nathan! ‚Hey, Mrs Roberts, ich bin der Callboy, den Ihr Mann einmal die Woche in Ihr Ehebett einlädt. Es ist ja so schön, dass wir uns endlich kennen-lernen, denn ich muss Ihnen unbedingt sagen, wie ausgezeichnet Ihr Waschmittel riecht – ist das Sunlight? - und die Seife in Ihrem Bad macht meine Hände unglaublich zart. Fragen Sie Ihren Mann.‘“ Ich kann sehen, dass Nathan lachen möchte, doch dann reißt er sich zu-sammen und küsst mich wieder. „Oh Kit, you are gorgeous.“ Ich wehre mich nicht, denn wenn er mich küsst, kann er nicht mehr re-den und wenn ich ihn noch wo anders küsse, dann kann er nicht mehr denken. Nathan ist ein äußerst talentierter Blowjob-Geber. Na-türlich hat er das von mir gelernt, aber ich genieße gerne die Früchte meiner Arbeit. Und er ist ein sehr williger Bottom, der sich gar so perfekt windet und dessen Schließmuskel meinen Penis fordernd umklammert.
„Was macht du heute Abend?“, kaut Matt an seinem mitgebrachten Sandwich. „So ab 21:00?“ Wir sitzen auf dem Rasen vor dem Fakul-tätsgebäude und er leistet mir Gesellschaft, während ich auf einen Kurs warte. Ich reiche die Literflasche Cola weiter und nicke. „Das-selbe wie jeden Abend, Pinky (Pinky und der Brain,1995-1998).“ „Cool. Dann pack deinen Bruder ein und kommt runter zum Sloppy Joe’s. Wir waren schon zwei Wochen nicht mehr bei dem Karaoke und wenn wir nicht aufpassen, verlieren wir den Top Act an diese Boyband-Typen.“ „No!“, quietscht Gabriel und ich ziehe die Augen-brauen hoch. Das war das weiblichste Geräusch, dass ich je aus einem anderen Mund als meinem gehört habe. Er schlägt sich die Hand vor den Mund und verdreht theatralisch die Augen. „Das können wir nicht zulassen!“, packt er mich dann an meinem Kragen und schüttelt mich, dass mir fast das Cola wieder aus der Nase schießt. „Wir kön-nen unsere Fans nicht im Stich lassen!“ Matt nickt. Normalerweise ist er der noch hysterischere von den beiden, ich bin fast ein bisschen verwirrt. „Ihr wisst, was das heißt“, kann er ihm nur zustimmen. Ich: „Mr. Big!“ Die anderen: „Mr. Big!“ Es ist herrlich, wenn man sich unter Freunden so einig ist.
Sloppy – schlampig - Joe’s Essen ist ausgezeichnet. Auch die Ein-richtung passt zusammen und das Personal ist sauber und zuverlässig. Schlampig ist nur die Klientel, vor allem nach ein paar Bier. Aber Joe’s hat die beste Karaokemaschine an der Ostküste und deshalb ist die Bar immer ziemlich voll. Ich lenke Joshs Rollstuhl zu einem freien Tisch und Abbie geht an die Bar, um unsere Bestellungen auf-zugeben. Abbie ist die Frau, mit dem ich Josh gerne sehen würde. Sie hat nicht das geringste Problem mit Joshs körperlichen Schwächen und lässt sich gerne von ihm auf dem Schoß herumkutschieren. Sie liiieeeebt Comics – gerade eben trägt sie ein Wonder-Woman-T-Shirt – und kann außerdem kochen. Das ist besonders wichtig, denn das kann Josh so gut wie überhaupt nicht. Er hat es mal probiert, als wir damals endlich in unsere erste eigene Wohnung ziehen durften – gro-ßer Bruder muss dafür sorgen, dass kleiner Bruder am Leben bleibt -, aber danach ging es mir eine Woche lang so schlecht, dass er sehr lange nicht in die Nähe einer Bratpfanne ging. Meine Überlebens-chancen wären wohl höher, wenn er das Kochen bleiben ließe. Ob Karen kochen kann, weiß ich nicht, sie kann auf jeden Fall mit Fleisch umgehen, haha. Sie hat natürlich auch kein Problem mit dem Rollstuhl, aber sie studiert Medizin, sie darf kein Problem damit ha-ben und deshalb bin ich mir nicht sicher, wie gut sie in einer Bezie-hung tatsächlich damit umgehen würde. Aber Josh sieht sich leider nicht mit Abbie, nur – im Moment - mit Karen. Allerdings bin ich der Richtige, um mich darüber zu beklagen. Konrad ist der Mann, mit dem ich mich gerne sehen würde, aber Konrad sieht nur Ella (seine Freundin seit über drei Jahren, boohoo).
Matt und ich machen den Anfang mit Elton Johns und Kiki Dees „Don’t Go Breaking My Heart“ – ich bin Kiki, naturally. Bei Karaoke ist Matt mein absoluter go-to Mann. Mal ganz abgesehen davon, dass er mein bester Freund ist. Er hat eine fabelhafte Stimme und das Talent zum Showman. Noch sind wir nüchtern, noch nehmen wir die Konkurrenz ernst. Und bevor jetzt alle grinsen und kichern, hier die Details: Es gibt im Prinzip fünf Fixstarter im Sloppy Joe’s. Diese fünf Gruppen finden sich fast immer geschlossen ein und ha-ben nur ein Ziel: mehr Applaus als die anderen zu bekommen. Es ist ein bisschen wie Battle of the Bands, nur dass man am Ende keinen Plattenvertrag bekommt. Aber Doug, der Besitzer (keine Ahnung, ob es irgendwo auch einen Joe gibt), gibt eine Runde aus und das ist auch okay. Wenn wir einen Plattenvertrag wollten, sollten wir uns nicht mit Karaoke abgeben.
Josh und Abbie brillieren als Nancy Sinatra und Lee Hazelwood in „Summer Wine“. Josh hat eine wirklich gute Singstimme und Abbie hat Nancys Haare. Die beiden sind richtige Crowd-Pleaser und ich würde mich wirklich mit Freuden in die Hochzeitsvorbereitungen stürzen. Dazu müsste ich natürlich aber Josh erst einmal sagen, dass ich finde, Karen ist eine ganz schlechte Idee und das kann ich nicht. Ich bin immer froh darüber, wenn mein Bruder etwas findet, in das er sich hineinsteigern kann. Außerdem verstehe ich nichts von Hoch-zeiten, man mag es kaum glauben. Hochzeitsplaner steht nicht auf meiner Karrierewunschliste, zusammen mit Tänzer und Friseur. Eis-kunstläufer, vielleicht. Das würde irgendwie zu mir passen. Dazu müsste ich natürlich eislaufen können, das könnte hilfreich sein, aber ich bin auf diesem Gebiet kein besonders guter Kanadier und ich bin schon froh, wenn ich beim ersten Frost nicht ständig auf das Pflaster knalle. Dann noch mit Schuhen, in denen ich schon auf normalem Untergrund wackle und rutsche... No no no. Was echt eine Schande ist, war ich doch ein ziemlich talentierter Gymnast in meiner Schul-zeit. Ich war sogar im Schulteam! Immerhin passen Gymnastik und Karate recht gut zusammen. Aber die Eislaufkostüme…! Ich würde mich natürlich auch schon damit abgeben, einen Eiskunstläufer in meinem Bett zu haben und die Outfits an und nicht auf meiner Haut zu spüren, ich will ja nicht zu viel von mir verlangen. Okay, ich würde sie anprobieren. Heimlich, während er schläft. Wahrscheinlich liegt meine geringe Begeisterung für Hochzeiten da-ran, dass ich in einer Umgebung aufgewachsen bin, wo Hochzeiten immer nur schief gegangen waren und ich deshalb immer mal wieder einen neuen Zimmergenossen bekommen hatte und man meistens nur dann heiratete, weil man das Geld brauchte oder schwanger war. Happily Ever After funktioniert in meiner Welt nicht.
Im Laufe des Abends wird es leider allzu deutlich, was zwei Wo-chen Abwesenheit vom Rampenlicht mit deinem Ruf tun können. Die Boyband bekommt eindeutig etwas zu viel Applaus für meinen Geschmack und Matt tippt auf die Falten auf meiner Stirn. „Tu das nicht, Lover. Das ist sehr unschön.“ Ich lächle und tippe ihm eben-falls an die Stirn. „Ich glaube es ist Zeit, Lover.“ „Ja?“ „Ja“, nicke ich, wie ich hoffe, mit ernster Miene. „Okay“, versucht Matt seinen Aus-druck meinem Nicken anzupassen, was leider mehr wie eine miss-glückte Totenmaske aussieht und er steht auf. „Kinder, brav ist jetzt vorbei, es ist Zeit die schweren Geschütze aufzufahren.“ Abbie ist die erste, die seinem Aufruf folgt und sie übernimmt Joshs Rollstuhl. Matt bietet mir den Arm und Gabe folgt mit einem Stuhl. Wanda, Sara und Ben folgen im Gänsemarsch. Wir machen das nicht zum ersten Mal, sollte ich hier erwähnen, für den Fall, dass es nicht offen-sichtlich ist. Das Publikum weiß das auch und sofort haben wir allen Applaus auf unserer Seite. Ich gebe zu, ich fühle mich äußerst ge-schmeichelt. Es ist mein Paradestück, das volle Ausmaß meines Könnens, die anderen sind eigentlich mehr Deko. Der Stuhl wird in der Mitte der Bühne platziert und ich darf mich als Einziger setzen (gut, als Einziger außer Josh) – allein schon deshalb ist es einer mei-ner Lieblingssongs. Okay, ich gebe zu, mir fehlen gerade die Haare für den Auftritt, aber wenn ich meinen Mund öffne, um Mr. Bigs „To Be With You“ anzustimmen, weiß ich, dass meine Stimme von mei-nem Haar ablenkt. Die würde man mir sowas von nicht zutrauen!
Ich beschreibe es mal so: Mein Stimmbruch hat Halsweh bekom-men, das man mit einem Reibeisen behandelt hat. Außer wenn ich singe. Ich behaupte gern, ich bin Emma Stones Stimmdouble, aber das ist mein Ego. Kostprobe gefällig? Ja? Dann kauft euch das Hör-buch!
Sieben von uns rutschen um den Tisch herum und unterschreiben als ersten Punkt der Tagesordnung Robs Anwesenheitsliste. Das ist so eines von seinen Ritualen. Er kennt uns natürlich alle, aber er hält penible Ordnung in seinen Büchern. Ich komme neben Brad – ziem-lich lahm für einen Stagename, aber die Anspielung ist ziemlich überzeugend, wenn man ihn sieht – zu sitzen und blättere in seinem Notizbuch. Wir alle haben ein Notizbuch. Brads ist klein und grün, meines ist A4, pink und hat ein Einhorn und Sterne drauf. Josh hat es mir gekauft und ich liebe es. Irgendwie ist nichts mehr so unan-ständig, wenn es von einem Einhorn bewacht wird. Oh, ach so: Sonntagnachmittag ist Zahltag. Das bedeutet, an diesem Tag müssen wir Rob seinen Anteil übergeben. Er vermittelt uns ja nicht gratis. Und er will auch wissen, ob wir alle gesund und munter sind. Das ist ihm vielleicht sogar noch wichtiger als das Geld und ich liebe ihn dafür. Brad ist der athletische, attraktive Typ, der mich im Fitnessstudio quält. Neben ihm ist Ken, der Süße, der mir meine Gar-derobe durcheinanderbringt. Und dann Karl, der Bear. Karl und ich sind besondere Freunde – manchmal kuschle ich mich ganz gerne in sein Fell, es ist so schön warm. Schließlich gibt es noch Alice, der/die mir meine Make-up Tipps gibt; Angel, der mit mir meine Striptease-Moves übt und Beau, dessen Haut so schokoladenbraun ist, dass man immerfort daran lecken möchte und der auf Leder und die Dinge steht, die ich nicht mehr mache.
Ken kann ganz schlecht mit Zahlen umgehen – und mit Geld – und stöhnt immer über jeden Cent, den er Rob überreichen muss, aber er und Brad bringen diese Woche am meisten Scheine mit durch eine Doppel-Conference. Die macht man am besten mit Brad oder mit mir, aber dienstags bin ich schon anderweitig vergeben. Rob notiert sich alles ganz genau, jeder von uns bekommt sogar eine Quittung. Auf dem Tisch stehen zwei Pitcher Bier und jeder hat ein Shotglas vor sich. Montagmorgens findet Josh mich immer sehr be-lustigend. Nachdem wir alle unsere Anwesenheit bestätigt haben, kommt der geschäftliche Teil und dann kommt das Bier, dann die Shots und die Anekdoten. Und dann sperrt das Hunters auf – und dann ist es morgen. Wenn es um Alkohol geht, bin ich ein sehr billi-ges Date. Da mich das aber nicht davon abhält ihn zu trinken, sitzt Josh montagmorgens meistens im Bad neben mir und legt mir kalte Kompressen in den Nacken, während ich rückwärtsesse. Wenn ich überhaupt nach Hause komme. Es mag schon vorkommen, dass ich mich nicht in meine eigene Toilette übergebe, auch wenn ich das lie-ber tun würde. Es mag auch vorkommen, dass ich manchmal Sex habe, ohne dabei auf die Uhr zu sehen.
Nach dem formellen Teil des Nachmittags entschuldige ich mich erst einmal aufs WC. Erstens, weil ich muss und zweitens, weil ich meinen Lidstrich auffrischen möchte. Nicht, dass es jetzt so klingt, als würde ich ständig Make-up tragen, das tue ich nämlich bestimmt nicht. Außer der Klient wünscht es, denn es steht mir bestimmt nicht schlecht. Aber ein bisschen schwarzer Kajal beim Ausgehen tut mei-nen attraktiven Konturen nur einen Gefallen. Ich überdenke gerade noch einmal wie viele offene Knöpfe an meinem Hemd für den Abend anrüchig genug sind, als Rob hereinkommt. „Hey.“ „Hey.“ Selbst wenn es dein bester Freund ist, ist es immer komisch, wenn man einander auf dem Klo trifft. Und Rob geht noch nicht mal, er kommt direkt zu mir ans Waschbecken. „Gibt es was Neues an der Zwillingsfront?“ Es dauert einen Moment, bis ich seine Worte nicht als Anmache registriere. Denn das könnten sie durchaus sein, was Rob und mich anbelangt, auch wenn es nicht mehr zu etwas führt. „Oh“, fällt meine süffisante Fassade sofort und ich lehne mich an das Becken. „Er will mich ihnen vorstellen.“ „Oh, Babycakes…“, legt er mir die Hand an die Wange und sucht meinen Blick. Er nennt mich Babycakes, seit ich ihn kenne, aber Gott sei Dank nur mehr im Pri-vaten, seit er mein Boss ist. Ich hasse es und liebe es zu gleichen Tei-len. „Soll ich ihn jemand anderem geben? Angel wäre vielleicht sein Typ.“ Das Lachen kommt mir durch die Nase und ich muss nach einem Papierhandtuch greifen. „Angel? Ehrlich?“ Rob zuckt die Schultern, was für einen Außenstehenden immer aussieht, als wäre er tatsächlich beschämt. „Er sieht dir am ähnlichsten.“ „Und da hört die Ähnlichkeit auch schon wieder auf.“ „Hey, Babycakes“, zieht er seine Hand zurück. „Ich passe nur auf dich auf, das weißt du. Ich passe immer auf dich auf, Q.“ Diesen Spitznamen darf er nur ver-wenden, wenn absolut niemand in Hörweite ist. Schon weil er ihn mit viel mehr implizierter Intimität ausspricht als das saloppe Ba-bycakes. Es ist nur mehr eine Stufe über Kotjenka (Kätzchen). Das darf er eigentlich gar nicht mehr zu mir sagen. Ich bewundere ihn dafür, wie professionell er meine Kosenamen vor den anderen zu-rückhält. Ich weiß nicht, ob ich das könnte. Ich nehme seine Hand und presse einen Kuss auf die Fingerknöchel. „Ich weiß.“ „Dein Bru-der würde mich mit einer stumpfen Schere vierteilen, wenn ich es nicht tun würde. Und dafür würde er jetzt sogar aus seinem Roll-stuhl aufstehen.“ Und soweit ich informiert bin, hat er das Rob schon vor fünf Jahren angedroht, als der junge Mann dem halben Kind, das ich noch war, sein noch fast jungfräuliches Herz raubte. Und nur wenig später dann seinen (fast) jungfräulichen Hintern.