I Am Watching You - Teresa Driscoll - E-Book
SONDERANGEBOT

I Am Watching You E-Book

Teresa Driscoll

0,0
10,99 €
5,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 10,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.

Mehr erfahren.
Beschreibung

Was müsste geschehen, damit Sie eingreifen?

Ella Longfield hört zwei junge Männer im Zug mit Teenagerinnen flirten und denkt sich nichts dabei, bis sie herausfindet, dass die beiden frisch aus dem Gefängnis kommen. Ihr Mutterinstinkt schlägt Alarm, doch sie hält sich zurück. Am nächsten Tag ist eines der Mädchen, Anna Ballard, verschwunden. Ein Jahr später plagen Ella noch immer Schuldgefühle, während sie beginnt Drohbriefe zu erhalten. Ein Aufruf zum Jahrestag offenbart, dass Annas Freunde und Familie Geheimnisse haben. Auch Annas beste Freundin Sarah scheint in jener Nacht nicht die ganze Wahrheit gesagt zu haben. Es offenbart sich, dass jemand weiß, wo Anna ist – und Ella im Visier hat.


Atmosphärisch und packend: Ein fesselnder Thriller, der zum Nachdenken anregt und noch lange nachhallt

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 411

Veröffentlichungsjahr: 2025

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Zum Buch:

Ella Longfield hört zwei junge Männer im Zug mit Teenagerinnen flirten und denkt sich nichts dabei, bis sie herausfindet, dass die beiden frisch aus dem Gefängnis kommen. Ihr Mutterinstinkt schlägt Alarm, doch sie hält sich zurück. Am nächsten Tag ist eines der Mädchen, Anna Ballard, verschwunden. Ein Jahr später plagen Ella noch immer Schuldgefühle, während sie beginnt Drohbriefe zu erhalten. Ein Aufruf zum Jahrestag offenbart, dass Annas Freunde und Familie Geheimnisse haben. Auch Annas beste Freundin Sarah scheint in jener Nacht nicht die ganze Wahrheit gesagt zu haben. Es offenbart sich, dass jemand weiß, wo Anna ist – und Ella im Visier hat.

Zur Autorin:

Viele Jahre war Teresa Driscoll als Journalistin z.B. für die BBC tätig, und verfolgte Geschichten über die Schattenseiten des Lebens. Sie sah, welche Wellen jedes Verbrechen schlug und welch einschneidende Auswirkungen es auf die Beteiligten hatte. Dies erforscht sie in ihren düsteren Romanen.

Sie lebt mit ihrer Familie im schönen Devon und schreibt sowohl Frauenromane als auch Krimis. Ihre Titel wurden bereits in über zwanzig Sprachen veröffentlicht.

Lieferbare Titel:

Tell Me Lies

Teresa Driscoll

I Am Watching You

Schweigen ist tödlich

Thriller

Aus dem Englischen von Sonja Häußler

HarperCollins

Die Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel I Am Watching You bei Thomas & Mercer, Seattle.

© 2017 by Teresa Driscoll

Deutsche Erstausgabe

© 2025 für die deutschsprachige Ausgabe

HarperCollins in der

Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH

Valentinskamp 24 · 20354 Hamburg

[email protected]

Covergestaltung von Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich

Coverabbildung von Magdalena Russocka / Trevillion Images

E-Book-Produktion von GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 9783749909421

www.harpercollins.de

Jegliche nicht autorisierte Verwendung dieser Publikation zum Training generativer Technologien der künstlichen Intelligenz (KI) ist ausdrücklich verboten. Die Rechte der Urheberinnen und des Verlags bleiben davon unberührt.

1

JULI 2015

Die Augenzeugin

Ich habe einen Fehler gemacht. Das weiß ich inzwischen.

Weil ich im Zug etwas mitbekommen habe. Und jetzt mal ehrlich, wie wäre es euch denn damit gegangen?

Bis zu diesem Moment hätte ich mich nicht als prüde bezeichnet. Oder naiv. Zugegeben, ich bin ziemlich konventionell – manch einer würde sagen, behütet – aufgewachsen, aber … meine Güte, mittlerweile habe ich durchaus Lebenserfahrung. Habe einiges gelernt. Auf einer Skala für moralisches Verhalten würde ich mich in der Mitte ansiedeln, deshalb hat mich diese Geschichte auch so schockiert.

Ich habe sie für nette Mädchen gehalten.

Natürlich gehört es sich nicht, die Gespräche anderer Leute zu belauschen. Aber in öffentlichen Verkehrsmitteln lässt es sich häufig nicht vermeiden, oder? Alle schreien in ihr Handy, und andere müssen dann ebenfalls lauter sprechen, um dagegen anzukommen.

Vermutlich wäre ich wahrscheinlich nicht so tief hineingezogen worden, wenn meine Lektüre spannender gewesen wäre, doch leider habe ich das Buch aus demselben Grund gekauft wie die Zeitschrift mit der Windkraftanlage auf dem Cover.

Irgendwo habe ich gelesen, dass man ab vierzig dem, was man über andere denkt, mehr Gewicht beimisst als dem, was andere über einen denken; warum warte ich eigentlich immer noch darauf, dass diese Phase endlich anfängt?

Wenn du eine Klatschzeitung willst, dann kauf sie doch einfach, Ella. Ist es nicht völlig gleichgültig, was die gelangweilte Studentin an der Kasse denkt?

Aber nein. Ich entschied mich für irgendein Umweltmagazin und eine anspruchsvolle Biografie, sodass ich vor Langweile schon fast umgekommen war, als die beiden jungen Männer mit ihren schwarzen Müllsäcken in Exeter zustiegen.

Ich werfe mal eine Frage in den Raum.

Was würdet ihr denken, wenn zwei Männer in einen Zug einsteigen, deren Gepäck aus einem schwarzen Müllsack besteht? Als Mutter eines Teenagers, dessen Zimmer Gesundheits- und Sicherheitsauflagen unterliegt, denke ich nur: Typisch, habt ihr nicht mal eine Reisetasche, Jungs?

Sie sind laut und übermütig, machen lauter Blödsinn und haben den Zug gerade noch erreicht; der aufgeblasene Schaffner lässt bereits wütend seine Pfeife gellen.

Nachdem sie eine Weile mit der automatischen Tür herumgespielt haben – auf, zu, auf, zu –, was sie natürlich über alle Maßen lustig finden, lassen sie sich auf den Plätzen bei der Gepäckablage nieder. Doch dann entdecken sie offenbar die beiden Mädchen aus Cornwall, werfen einander einen vielsagenden Blick zu und gehen weiter durch das Abteil, um sich direkt hinter sie zu setzen.

Ich lächle. Schließlich bin ich ja keine Spaßbremse. Ich war schließlich auch mal jung.

Ich beobachte, wie die Mädchen ganz still und schüchtern werden, die eine sieht ihre Freundin mit aufgerissenen Augen an – und ja, einer der Männer sieht wirklich gut aus, wie ein Model oder jemand aus einer Boyband. Das alles erinnert mich an dieses Gefühl von Schmetterlingen im Bauch.

Ihr wisst schon.

Deshalb bin ich nicht im Mindesten überrascht und habe auch nichts dagegen, als die Männer aufstehen, der Gutaussehende sich über die Sitzlehne beugt und fragt, ob er den Mädchen vielleicht etwas aus dem Bordbistro mitbringen soll, »… wo ich gerade sowieso hingehe?«

Als Nächstes werden Namen ausgetauscht, es wird ein bisschen gekichert, und das Spiel beginnt.

Zwei Kaffee und vier Bier später haben sich die jungen Männer zu den Mädchen gesellt – alle sitzen jetzt so nah, dass ich dem Gespräch voll und ganz folgen kann.

Ich weiß, ich sollte wirklich nicht lauschen, aber das habe ich ja schon erwähnt. Bekanntlich langweile ich mich. Und sie sind nicht zu überhören.

Na dann. Die Mädchen wiederholen, was ich bereits aus ihren vorherigen Plaudereien aufgeschnappt habe. Sie fahren zum ersten Mal allein nach London – ein Geschenk ihrer Eltern zur bestandenen Mittlere-Reife-Prüfung. Sie haben ein Zimmer in einem günstigen Hotel, Karten für Les Misérables und sind schrecklich aufgeregt.

»Macht ihr Witze? Ihr wart echt noch nie allein in London?« Karl, der Boyband-Verschnitt, ist erstaunt. »Das ist nicht ohne, Mädels, wisst ihr? London, meine ich. Passt bloß auf euch auf. Nehmt lieber ein Taxi und nicht die Tube, wenn ihr aus dem Theater kommt. Habt ihr gehört?«

Jetzt mag ich Karl. Er empfiehlt Läden und Marktstände – außerdem einen Club, in den sie beruhigt gehen können, falls sie nach dem Musical noch Lust haben, gute Musik zu hören und zu tanzen. Er schreibt ihnen den Namen auf einen Zettel. Kennt den Türsteher dort. »Grüßt ihn von mir, okay?«

Und dann erkundigt sich Anna, die Größere der beiden Freundinnen aus Cornwall, nach den schwarzen Müllsäcken. Insgeheim freue ich mich darüber, weil ich ebenfalls neugierig bin, und lächle in Erwartung, dass sie sie damit aufziehen werden. Jungs. So schlecht organisiert. Wie sieht das denn aus, hä?

Weit gefehlt.

Die beiden jungen Männer sind gerade aus dem Gefängnis entlassen worden. Die schwarzen Tüten enthalten ihre persönlichen Habseligkeiten.

Daraufhin schlucke ich hörbar, mein Puls trommelt unangenehm in meinen Ohren.

Das Gespräch stockt, aber nur kurz. Schnell haben sich die Mädchen wieder gefasst. »Ihr nehmt uns doch auf den Arm, oder?«

Nein, die Jungs nehmen sie nicht auf den Arm. Sie wollen ehrlich sein. Sie haben Fehler gemacht und ihre Strafe abgesessen, und sie wollen sich nicht dafür schämen.

Ihr wollt wissen, was wir ausgefressen haben? Karl hat wegen Körperverletzung seine Strafe im Gefängnis von Exeter abgesessen; Antony wegen Diebstahls. Karl hat nur einen Freund verteidigt, versteht ihr? Und – glaubt mir – er würde dasselbe noch mal tun. Sein Freund wurde in einer Bar schikaniert, und Karl hasst Mobbing.

Meine Gefühle sind zwiespältig – Mobbing gegen Körperverletzung, und werden bei uns wirklich Menschen wegen kleiner Auseinandersetzungen eingesperrt? –, aber die Mädchen wirken fasziniert, und in ihrer süßen, liberalen Naivität sagen sie, dass Loyalität eine gute Sache sei und dass einmal ein Typ aus dem Gefängnis zu ihnen an die Schule gekommen sei und ihnen erzählt habe, dass er seinem Leben eine völlig neue Richtung gegeben hätte, nachdem er wegen Drogengeschäften gesessen hatte. Total tätowiert sei der gewesen. Überall.

»Wow. Gefängnis. Wie war es da so?«

Dies ist der Zeitpunkt, an dem ich ins Grübeln komme.

Ich stelle mir vor, wie Annas Mutter an ihrem Aga-Herd sitzt und sich mit ihrem Mann Sorgen um ihr kleines Mädchen macht, und er wird ihr sagen, dass sie sich keinen Kopf machen soll. Sie werden so schnell groß. Es sind vernünftige Mädchen. Bestimmt geht es ihnen gut, Liebes.

Dabei geht es ihnen ganz und gar nicht gut. Denn Karl überlegt gerade laut, ob es für die Mädchen nicht am sichersten wäre, wenn sie jemanden hätten, der sich in London gut auskennt und sie während ihres Besuchs begleitet.

Karl und Antony würden bei Freunden in Vauxhall unterkommen und wollen ganz groß auf die Piste gehen, um ihre Haftentlassung zu feiern. Ob sie die Mädchen nicht nach dem Musical abholen sollten und gemeinsam den Club besuchen?

Und da beschließe ich, die Eltern der Mädchen anzurufen. Sie haben ihr Dorf erwähnt. Anna wohnt auf einem Bauernhof. Dafür musste man nicht Einstein sein. Ich kann bei der Post oder im örtlichen Pub anrufen; wie viele Bauernhöfe kann es dort schon geben?

Aber nun ist sich Anna gar nicht mehr sicher. Nein. Sie sollten wohl früh schlafen gehen, damit sie morgen früh shoppen gehen konnten. Sie wollten nämlich erst mal zu Liberty’s gehen, weil Sarah wild entschlossen sei, etwas von Stella McCartney anzuprobieren, um ein Foto für ihr Handy zu schießen.

Braves Mädchen, denke ich. Vernünftiges Mädchen. Bitte erspar mir eine Einmischung, Anna. Aber Sarah scheint plötzlich Gefallen an Antony zu finden. Es kommt zu einem weiteren Ausflug ins Bordbistro, und bei der Rückkehr tauschen sie Plätze – Anna sitzt nun bei Karl und Sarah bei Antony, der ihr erzählt, wie sehr er es bedauert, sein Leben so verpfuscht zu haben. Er sei aus purer Verzweiflung kriminell geworden, sagt er, weil er keinen Job finden konnte. Und seinen Sohn nicht unterstützen konnte.

Sohn?

Und da dämmert es mir allmählich. Mein Leben ist so privilegiert – und ich werde immer kleiner, während Antony Sarah erklärt, dass er mit seiner Ex darum streitet, Kontakt zu seinem Sohn halten zu dürfen, und auf keinen Fall zulassen wird, dass dieser aufwächst, ohne seinen Dad zu kennen. »Findest du nicht auch, dass das einfach schrecklich wäre, Sarah? Ohne seinen Dad aufzuwachsen?«

Nun ist Sarah diejenige, die mich überrascht; ihr stockt die Stimme, als sie sagt, dass sie es ziemlich cool findet, dass er sich so kümmert, weil viele junge Männer das nicht tun, sondern sich einfach aus der Verantwortung ziehen würden. »Jetzt fühle ich mich echt schlecht. Weil wir so auf Stella McCartney herumgeritten sind.«

Ganz ehrlich? An diesem Punkt steige ich aus. Was weiß ich schon? Eine Frau, deren Sohn allenfalls mal einen Aufstand macht, wenn er im örtlichen Kino einen Film sehen will, der erst ab achtzehn erlaubt ist.

Dann flüstern sie eine Stunde lang, und ich bemühe mich sehr, wieder zu lesen, um etwas über die Vorteile der leiseren Generation von Windrädern zu erfahren. Antony und Sarah gehen wieder ins Bordbistro. Noch mehr Bier, denke ich. Ganz großer Fehler, Sarah. Und da treffe ich eine Entscheidung.

Ja. Ich werde auch ins Bordbistro gehen, unter dem Vorwand, einen Kaffee zu brauchen, und in der Warteschlange oder auf dem Gang werde ich so tun, als hätte ich Probleme mit meinem Handy. Ich werde Sarah um Hilfe bitten – in der Hoffnung, sie von Antony weglocken und ein paar Worte unter vier Augen mit ihr wechseln zu können –, und dann werde ich sie warnen. Sie soll mit diesem Unfug aufhören, sonst würde ich ihre Eltern anrufen. Sofort, hast du verstanden, Sarah? Ich kann ihre Nummer herausfinden.

Unsere Sitzplätze sind drei Waggons vom Bordbistro entfernt. Im zweiten taumle ich gegen Sitze, stoße mir dauernd die Oberschenkel, und als ich die automatischen Türen passiere, taste ich in der Jackentasche nach meinem Handy.

Und da höre ich sie.

Schamlos. Ohne auch nur zu versuchen, leise zu sein. Laut und ungeniert machen sie in der Zugtoilette herum. Treiben es wie zwei Tiere.

Ich erkenne sie an dem, was er sagt. Wie lang es doch her sei. Wie dankbar er sei. »Sarah, oh Sarah …«

Und ja, ich bin zugegebenermaßen zutiefst schockiert. Vor Scham wird mir ganz heiß. Ich werde wütend. Ich will nur noch weg.

Und dann schäme ich mich meiner Naivität. Wie albern ich doch war.

Ich stolpere durch den Gang, durch die nächsten automatischen Türen und in den Waggon. Hektisch atmend versuche ich, Abstand zwischen mich und den Beweis für meine Fehleinschätzung zu bringen.

Nette Mädchen?

In der Schlange des Bordbistros lausche ich wieder dem Pulsschlag in meinem Ohr. Ob sie wohl sonst noch jemand gehört hat? Oder sogar gemeldet hat?

Und dann denke ich: Wem denn, Ella? Hörst du dir überhaupt zu? Andere tun genau das, was du von Anfang an auch hättest tun sollen. Sie kümmern sich um ihre eigenen Angelegenheiten.

An diesem Punkt verändern sich meine Gefühle allmählich, und ich frage mich, wann ich so weltfremd geworden bin, so zugeknöpft. Wie ich zu dieser Frau geworden bin, die offenbar keine Ahnung von jungen Menschen hat. Oder von sonst was.

In meinem Kopf entsteht ein Kaleidoskop von Erinnerungen. An den Rändern eingerissene Bilder. Die Zeitschriften, die wir im Zimmer unseres Sohnes gefunden haben. Der Abend nach dem Kino, als wir früher nach Hause kamen und Luke dabei erwischten, wie er die Sicherheitseinstellungen von Sky umgehen wollte, um Pornos zu schauen.

Plötzlich verspüre ich in diesem elenden Zug das dringende Bedürfnis, mit meinem Mann zu reden. Meinem Tony. Um meinen Kompass neu zu justieren.

Ich muss ihn fragen, ob ich diejenige bin, die ein Problem hat, und nicht sie. Bin ich total albern, Tony? Nein wirklich – sei ehrlich zu mir. Als wir diesen Streit über die Sky-Kanäle und Lukes Zeitschriften hatten.

Bin ich total prüde? Echt jetzt?

Ich versuche tatsächlich, ihn zu erreichen – an diesem Abend aus dem Hotel nach der Konferenz. Ich will ihm erzählen, dass ich vernünftig geworden und ans andere Ende des Zuges umgezogen bin. Mich um meinen eigenen Kram gekümmert hab. Die Mädchen sind eindeutig ausgebufft genug.

Aber er ist nicht da und hat sein Handy nicht bei sich, er gehört nämlich zu den wenigen Menschen, die immer noch glauben, dass Handys Gehirntumore auslösen, deshalb rede ich stattdessen mit Luke und merke, wie sehr es mich beruhigt, als er das Abendessen schildert – eine Tajine nach einem Rezept, das er auf einer neuen App heruntergeladen hat. Er kocht sehr gern, mein Luke, und ich ziehe ihn auf, indem ich wette, dass er in der Küche sicher jedes Gerät und jede Pfanne benutzt hat.

Dann kommt der Morgen im Hotel.

Ich hasse dieses Gefühl – diese Taubheit, hervorgerufen durch die Klimaanlage, als wäre man gar nicht mehr in seinem Körper. Ein fremdes Bett und eine ausgeräuberte Minibar. Meine kleine Hotelsünde – ein Brandy oder zwei nach einem langen Tag.

Es ist noch nicht mal halb sieben, und ich sehne mich danach weiterzuschlafen. Nach zehn vergeblichen Minuten gebe ich auf und mustere die traurigen Beutelchen neben dem Wasserkocher. Das passiert mir immer in Hotelzimmern. Ich rede mir ein, dass ich nur dieses eine Mal Instantkaffee trinke, und danach schütte ich ihn im Bad ins Waschbecken.

Ich starre die leeren Minifläschchen an und zucke zusammen, als ein schrecklicher Gedanke angeflattert kommt. Ich blicke zum Telefon neben dem Bett, und Unbehagen überkommt mich, ein vertrauter Schauder der Angst, etwas Peinliches getan zu haben, etwas, das ich bereuen würde.

Ich wende mich wieder den Fläschchen zu, und mir fällt ein, dass ich gestern Abend nach dem zweiten Brandy beschlossen habe, die Telefonauskunft anzurufen, um die Eltern der Mädchen ausfindig zu machen. Mir wird kurz eiskalt, als ich daran denke. Meine Erinnerung ist immer noch verschwommen. Habe ich echt angerufen? Denk nach, Ella, denk nach.

Wieder starre ich das Telefon an und konzentriere mich. Ah, ja. Jetzt fällt es mir wieder ein, meine Schultern entspannen sich, als ich es wieder vor mir sehe: Ich hielt den Hörer in der Hand, und als ich kurz davor war zu wählen, merkte ich, dass ich nicht mehr klar denken konnte – und zwar nicht nur wegen des Brandys. Meine Gründe waren die falschen. Ich wollte nicht anrufen, weil ich mir Sorgen um die Mädchen machte, sondern weil ich sie bestrafen wollte – ich war zornig, dass Sarah diese Gefühle in mir ausgelöst hatte.

Und deshalb tat ich das einzig Vernünftige. Ich legte das Telefon weg, schaltete das Licht aus und schlief.

Gut. Sehr gut. Die Erleichterung ist so überwältigend, dass ich beschließe, zur Feier des Tages den Instantkaffee doch zu probieren.

Zuerst schalte ich den Wasserkocher ein, dann den Fernseher. Und da passiert es. Dieser eine Moment – der sich wie in Zeitlupe zur Unendlichkeit ausdehnt. Der Moment, in dem mir klar wird, dass mein Leben nie wieder dasselbe sein würde.

Nie mehr.

Der Ton ist abgestellt, weil ich mir gestern spätabends noch einen Film mit Untertiteln angesehen habe, um die Gäste nebenan nicht zu stören.

Aber das Foto ist unverkennbar. Schön. Ein Bild von ihrer Facebookseite. Die grünen Augen funkeln, und die blonden Haare fallen ihr über den Rücken. Sie ist am Strand; hinter ihr erkenne ich St. Michael’s Mount.

Ich stehe vollkommen neben mir – wie aus weiter Ferne betrachte ich den Bildschirm. Diesen Bildschirm, über dessen Lauftext nun grässliche, schlimme Mitteilungen gleiten: Vermisst … Anna … vermisst … Anna. Der Wasserkocher speit zornige Wolken auf den Spiegel, während ich sämtliche Anrufe gleichzeitig durchspiele.

Ein schreckliches Durcheinander aus Ausreden. Keine davon gut genug.

Die Polizei anrufen. Tony.

Versteht mich doch, ich wollte ja anrufen …

2

Der Vater

Henry Ballard sitzt im Wintergarten und bemüht sich, das Klappern in der Küche zu überhören.

Er weiß, dass er zu seiner Frau gehen, ihr helfen, sie trösten sollte, aber er weiß auch, dass das keinen Unterschied machen würde, deshalb schiebt er es vor sich her. In Wahrheit will er einfach noch ein Weilchen so bleiben, auf den Rasen blicken. In diesem seltsamen Raum, diesem Anbau, den man nie richtig nutzen kann – es ist immer zu heiß oder zu kalt, trotz der Jalousien und dem Klimagerät, das sie zu astronomischen Kosten haben einbauen lassen –, in diesem Wintergarten hat er es irgendwie geschafft, in einen Dämmerzustand abzudriften, an einen Ort außerhalb von Zeit und Raum, wo er im frühen Morgenlicht dem Geflüster im Gebüsch des Gartens lauscht. Anna und Jenny.

Das war ein, zwei Jahre lang ihr Lieblingsplatz, während dieser grässlichen Pink-Phase. Pinke Decken. Pinke Barbies. Pinkes Zelt aus einem Katalog, das mit allem möglichem Mädchen-Krimskrams vollgestopft war. Er hatte sich immer geweigert, auch nur in die Nähe von diesem Ding zu gehen. Mehr als alles andere wünschte er sich nun, das Melken und das Heu, die Steuerformulare und die Bank zu vergessen und stattdessen im Garten ein kleines Feuer anzuzünden und den Mädchen Würstchen zum Frühstück zu grillen. Richtiges Camping, wie er so oft versprochen, aber nie mit ihnen gemacht hatte.

Nun holt ihn ein ohrenbetäubendes Krachen aus der Küche in die Wirklichkeit zurück. Barbara sammelt alle möglichen Brot- und Kuchenformen vom Boden auf.

»Was um alles in der Welt machst du denn da?«

»Zwetschgenschnitten.«

»Ach, um Himmels willen, Barbara.«

Annas Lieblingsspeise. Eine Art Haferkeks mit einer Schicht gewürztem Zwetschgenmus in der Mitte. Er kann den Zimt riechen: Die Gewürzdose ist umgefallen, der Zimt türmt sich auf der Arbeitsfläche zu einem beißend riechenden Häufchen auf.

Ach Barbara.

Er sieht zu, wie sie mit bebenden Händen all die Backformen aufhebt, und kann es einfach nicht ertragen.

Anstatt ihr zu helfen und zu versuchen, irgendwie nett zu sein oder wenigstens korrekt, geht er in sein Arbeitszimmer und setzt sich neben das Telefon, sodass er kurz darauf als Erstes mitbekommt, dass wieder mal ein Polizeiauto draußen die Einfahrt herauffährt.

Sein Magen zieht sich zusammen, und einen Moment lang erwägt er tatsächlich, die Tür zu verbarrikadieren – ein lächerliches Bild, auf dem sämtliche Möbel im Flur hoch aufgetürmt sind, damit sie nicht hereinkönnen. Dieses Mal sind es zwei. Ein Mann und eine Frau. Der Mann trägt einen Anzug, die Frau Uniform.

Als er im Flur ankommt, steht seine Frau in ihrer Schürze in der Küchentür, trocknet sich unaufhörlich die Hände ab. Er dreht sich um und sieht sie nur einen Moment lang an, ihr Blick ist flehend.

Er öffnet die Tür – Anna und Jenny stürmen mit ihren Schultaschen und Tennisschlägern herein, werfen alles auf den Boden. Erleichterung überkommt ihn.

Dann die Wirklichkeit.

Es steht in ihren Gesichtern geschrieben.

»Haben Sie sie gefunden?«

Der Mann in dem zerknitterten Anzug von der Stange schüttelt nur den Kopf.

»Das ist unsere Opferschutzbeamtin. PC Cathy Bright. Wir haben am Telefon über sie gesprochen.«

Er kann nichts sagen. Schweigt.

»Dürfen wir vielleicht hereinkommen, Mr. Ballard?«

Ein Nicken. Mehr geht nicht.

Im Arbeitszimmer setzen sich alle, und es ertönt ein seltsames flüsterndes Geräusch, Haut auf Haut, als seine Frau die Handflächen aneinanderreibt, deshalb nimmt er ihre Hand.

»Wie wir schon sagten, tut die Polizei in London – das Metropolitan Team – alles, was in ihrer Macht steht. In Anbetracht von Annas Alter und der Umstände hat der Fall Priorität. Sie stehen ständig mit uns in Kontakt.«

»Ich will nach London. Ich kann ihnen helfen …«

»Mr. Ballard. Darüber haben wir doch schon gesprochen. Ihre Frau braucht Sie hier, und auch hier gibt es genug zu tun. Vorerst ist es besser so, bitte, wenn wir uns darauf konzentrieren können, alle Informationen zu sammeln, die wir brauchen. Wenn es etwas Neues gibt, wird man Ihnen das mitteilen, und wir werden Sie sofort hinbringen lassen, versprochen.«

»Kann sich Sarah an irgendwas erinnern? Hat sie noch etwas gesagt? Wir würden gern mit ihr reden. Bitte.«

»Sarah steht noch unter Schock. Verständlicherweise. Ein Team aus Spezialisten ist vor Ort, und ihre Eltern sind jetzt bei ihr. Wir versuchen, möglichst viele Informationen zu bekommen. In London gehen Beamte die Aufzeichnungen der Überwachungskameras vom Club durch.«

»Ich verstehe es immer noch nicht. Club? Was haben sie in einem Club gemacht? Von einem Club war nie die Rede. Sie hatten Karten für Les Misérables. Wir sagten ausdrücklich, dass …«

»Und es gibt eine neue Entwicklung, die etwas Licht in diese Sache bringt, Mr. Ballard.«

Das Geräusch, als er sich räuspern will, scheint zu laut. Zu kehlig. Eklig.

»Eine Zeugin hat sich gemeldet. Jemand aus demselben Zug.«

Schleim. In seiner Kehle.

»Zeugin. Wie meinen Sie das, Zeugin? Was für eine Zeugin? Ich verstehe nicht.«

Die Polizeibeamten wechseln einen Blick, und die Frau setzt sich auf den Stuhl neben Barbara.

Der Detective übernimmt das Reden. »Eine Frau, die auf der Zugfahrt hinter Sarah und Anna saß, hat sich nach dem Polizeiaufruf bei uns gemeldet. Sie sagt, dass sie mit angehört hat, wie die beiden Mädchen im Zug Bekanntschaft mit zwei Männern gemacht haben.«

»Wie meinen Sie das, Bekanntschaft? Welche Männer? Ich kann Ihnen nicht folgen.« Seine Frau umklammert seine Hand nun fester.

»Nach allem, was sie gehört hat, Mr. und Mrs. Ballard, scheint es, als hätten sich Anna und Sarah mit zwei Männern angefreundet. Männern, die uns bekannt sind.«

»Was für Männer?«

»Männer, die gerade aus dem Gefängnis entlassen wurden, Mr. Ballard.«

»Nein. Nein. Sie muss sich irren … Nie im Leben. Absolut unmöglich.«

»Die Polizei in London wird versuchen, diesbezüglich mehr aus Sarah herauszubekommen. Und zwar schnellstens. Und aus dieser Zeugin. Wie schon gesagt, müssen wir so viele Details wie möglich auswerten in Bezug darauf, was passiert ist, bevor Anna verschwand.«

»Das sind Stunden.«

»Ja.«

»Es sind vernünftige Mädchen, Officer. Haben Sie verstanden? Gut erzogene, vernünftige Mädchen. Wir hätten sie niemals – niemals – nach London gehen lassen, wenn wir nicht …«

»Ja. Ja. Natürlich. Und Sie müssen wirklich versuchen, positiv zu bleiben. Wie ich bereits sagte, tun wir alles, was in unserer Macht steht, um Anna zu finden, und wir werden Sie dabei über jeden Schritt informieren. Cathy bleibt bei Ihnen. Sie wird all ihre Fragen beantworten. Ich würde mir gern noch mal Annas Zimmer ansehen, wenn ich darf. Vielleicht gibt es ein Tagebuch. Wir würden gern einen Blick in ihren Computer werfen. Könnten Sie mir alles zeigen, Mr. Ballard? Und Cathy kocht unterdessen eine Tasse Tee für Ihre Frau. Einverstanden?«

Er hört nicht mehr zu. Er denkt gerade, dass seine Frau gegen die Reise war. Sie sagte, sie seien zu jung. Es sei zu weit. Er war derjenige, der zugestimmt hatte. Ach, um Himmels willen, Barbara. Du kannst sie nicht für immer bemuttern. Er war der Meinung, dass Anna Abstand von diesen Schürzenzipfeln brauchte.

Abstand von den Zwetschgenschnitten.

Aber das war nicht das Einzige. Gütiger Gott.

Was, wenn sie alles herausfanden?

3

Die Freundin

In einem muffigen Doppelzimmer des Paradise Hotel in London, das seinem Namen weiß Gott nicht gerecht wird, hört Sarah die Stimme ihrer Mutter. Sie flüstert ihren Namen. Deshalb hält sie die Augen geschlossen.

Nun ist es ein anderes Zimmer. Identisch, aber auf einem anderen Stockwerk. Das, in dem sie mit Anna ihre Sachen ausgepackt hat, bleibt verschlossen, auch wenn Sarah nicht verstehen kann, warum. Anna ist nicht zurückgekommen. Glaubten sie ihr etwa nicht? Sie ist nicht hierher zurückgekommen. Okay?

In diesem Zimmer herrscht immer noch ein schrecklicher, schwer definierbarer Geruch. Etwas, das sie an einen muffigen Schrank erinnert. In dem sie sich als Kinder versteckt haben. Genau das wünscht sich Sarah jetzt. Den Geruch und die Hitze, ihre Mutter und die Polizei ignorieren und einfach Verstecken spielen. Sie stellt sich vor, dass Anna jetzt ihre Haare trocknen würde, der Lockenstab wäre für das Glätten schon erhitzt. Über das Dröhnen des Föhns hinweg würden sie darüber plaudern, was sie heute unternehmen wollten. In welchen Laden würden sie zuerst gehen? Und meinte Sarah es wirklich ernst, dass sie die Stella-McCartney-Kollektion anprobieren will, denn die Verkäuferin würde schon an ihren Klamotten erkennen, dass sie nichts kaufen würden.

Anna. Die süße, nervige Anna. Zu dünn. Zu hübsch. Zu …

»Bist du wach, Liebes? Kannst du mich hören, Schatz?«

Noch immer von ihrer Mutter weggedreht, öffnet sie die Augen und zuckt bei dem Licht, das durch den Spalt zwischen den Vorhängen fällt und ein Dreieck an der Wand bildet, zusammen. Sie hatte sich vollständig bekleidet aufs Bett gelegt und sich geweigert, sich zuzudecken, weil sie so sicher war, dass es bestimmt gleich neue Informationen gab. Jederzeit. Sie könnten sie jede Sekunde finden.

»Ich bin froh, dass du ein wenig schlafen konntest, Liebling. Wenn auch nur eine Stunde. Ich habe uns Tee gekocht.«

»Ich will nichts.«

»Nur einen Schluck. Zwei Zucker. Du musst etwas zu dir nehmen. Etwas Zucker …«

»Ich hab gesagt, ich kann nicht. Okay?«

Ihre Mutter hat dieselbe Hose an wie gestern, trägt aber nun eine frische Bluse, und Sarah hält es für typisch und zugleich unangemessen, dass sie daran gedacht hat, eine saubere Bluse mitzubringen.

»Dein Vater ist gekommen. Er ist unten. Er war die meiste Zeit bei der Polizei. Sie wollen noch mal mit dir reden. Wenn du …«

»Ich habe ihnen schon alles, woran ich mich erinnern kann, erzählt. Stundenlang. Und ich will meinen Vater nicht sehen. Du hättest ihn nicht anrufen sollen.«

Sarah und ihre Mutter sehen sich an.

»Hör mal, ich weiß, wie schwer das ist, Liebes. Mit dir und deinem Dad. Aber er kümmert sich wirklich. Und sie haben einen Anruf erhalten, die Polizei, meine ich. Nachdem im Fernsehen darüber berichtet wurde. Darüber wollen sie mit dir reden.«

»Anruf?«

»Ja. Von irgendeiner Frau aus dem Zug.«

»Einer Frau? Keine Ahnung, was du damit meinst. Was für eine Frau?«

Sarah spürt die gleiche klaffende Lücke in ihrem Magen wie in diesen ersten schrecklichen Stunden, in denen sie mit der Polizei auf ihre Mutter gewartet hat. Als sie noch benebelt war vom Alkohol. Desorientiert. Wo bist du, Anna? Wo zum Henker bist du?

Sie hat versucht, den Beamten genug Details zu erzählen, damit sie das Ganze ernst nehmen, aber nicht zu viele, damit …

Nun steht sie rasch auf, spürt die zerknitterte Leinenbluse an ihrer Taille, hantiert hektisch mit den Haarbürsten, Schminktäschchen und den anderen Sachen auf der Frisierkommode.

»Hast du die Fernbedienung? Ich muss Nachrichten schauen. Was sie dort sagen. Was bringen sie überhaupt?«

»Ich glaube, das ist keine gute Idee, Sarah. Trink deinen Tee. Ich sage deinem Dad, dass du aufgewacht bist. Damit sie hochkommen können.«

»Ich spreche nicht noch mal mit ihnen. Noch nicht.«

»Sieh mal, Liebling. Mir ist klar, dass das schrecklich ist. Für dich. Für uns alle.« Ihre Mutter bewegt sich nun durch das Zimmer. »Aber sie werden sie finden, Liebes. Da bin ich mir ganz sicher. Wahrscheinlich ist sie auf irgendeine Party gegangen und hat jetzt Angst, dass sie Ärger bekommt.« Sie legt Sarah den Arm um die Schulter – die Teetassen stehen nun mitten im Chaos auf der Frisierkommode –, doch Sarah schüttelt ihn ab.

»Sind Annas Eltern hier?«

»Noch nicht. Ich weiß nicht. Keine Ahnung, was diesbezüglich entschieden wurde. Die Polizei wollte in Cornwall ein paar Dinge mit ihnen überprüfen.«

»Was für Dinge?«

»Computer oder so. Keine Ahnung. Ich weiß es nicht mehr so genau, Sarah. Alles ging so schnell. Sie wollen nur alle Informationen, die sie kriegen können, um zu helfen.«

»Glaubst du, ich etwa nicht? Denkst du, ich fühle mich nicht ohnehin schlecht genug?«

»Niemand macht dir Vorwürfe, Liebling.«

»Mir Vorwürfe machen? Warum sagst du Vorwürfe machen, wenn mir niemand Vorwürfe macht?«

»Sarah … Liebes. Sei doch nicht so. Sie werden sie finden. Ganz bestimmt. Ich rufe unten an.«

»Nein. Ich will, dass ihr mich in Ruhe lasst. Ihr alle. Lass mich jetzt einfach allein.«

Sarahs Mutter zieht das Handy aus der Tasche und tastet gerade nach ihrer Brille, als es an die Tür klopft.

»Wahrscheinlich sind sie das.«

Es ist derselbe Detective wie zuvor, dieses Mal aber mit einer anderen Polizeibeamtin an seiner Seite und mit Sarahs Vater.

»Und? Gibt es etwas Neues?« Sarahs Mutter will sich gerade aus ihrem Sessel erheben, lässt sich aber wieder zurückplumpsen, als alle gleichzeitig die Köpfe schütteln.

»Konntest du etwas schlafen, Sarah? Geht es dir gut, können wir uns nun weiter unterhalten?«, fragt die Polizistin.

»Ich war nicht betrunken. Als wir uns unterhalten haben. Ich war nicht betrunken.«

»Nein.«

Die Erwachsenen sehen sich an.

»Wir haben uns die Überwachungsvideos angeschaut, Sarah. Aus dem Club.« Nun spricht der Detective – seine Stimme ist fester. »Einige der Kameras haben leider nicht funktioniert. Aber es gibt da ein paar Dinge, die wir nicht so recht verstehen, Sarah. Außerdem hat sich eine Augenzeugin bei uns gemeldet.«

»Eine Augenzeugin?«

»Ja. Eine Frau aus dem Zug.«

Sie spürt es sofort. Die Gänsehaut. Den verräterischen Hinweis. Wie ihr das Blut in den Adern gefriert.

Aus ihrem Gesicht weicht.

EIN JAHR SPÄTER

4

JULI 2016

Die Augenzeugin

Ich habe mir nie etwas vorgemacht.

Ich wusste immer, wie diese Woche werden würde. Einerseits habe ich mich danach gesehnt: der Hoffnungsschimmer, dass die Berichterstattung zum Jahrestag alles wieder ankurbeln würde für die Ermittlungen. Andererseits: der Horror. Die Leute werfen mir wieder diese Blicke zu. Diese Frau. Wisst ihr noch? Die Frau, die nichts gesagt hat. Im Zug. Erinnert ihr euch? Als das Mädchen verschwunden ist? Meine Güte – ist das tatsächlich schon ein Jahr her?

Dennoch will ich es unbedingt – die Rekonstruktion der ganzen Geschichte in dieser Sendung, in der über ungelöste Fälle berichtet wird. Die arme Mutter. Ich will nur nichts damit zu tun haben.

Das ist doch verständlich, oder? Ich meine, es macht mir nichts aus, dass sie mich gefragt haben. Auch wenn Tony an die Decke gegangen ist, als die Polizei angerufen hat – überrascht über ihre Frechheit.

Sie lassen ihren Namen durchsickern. Sie lassen zu, dass alle sie verurteilen, und dann glauben Sie auch noch, dass sie in Ihrer Fernsehsendung auftreten will …

Er ist immer noch felsenfest davon überzeugt, es sei Absicht gewesen – dass die Presse meinen Namen erfuhr. Wir haben keinen Beweis dafür, und ich bin inzwischen ehrlich gesagt so weit, dass mir das mehr oder weniger egal ist; ich weiß nur, dass ich den Gedanken nicht ertragen kann, dass alle wieder aufkreuzen. Und alles wieder aufwärmen. Mich verurteilen. Mich hassen.

Selbst treue Kunden werfen mir diesen misstrauischen Blick zu. Erwähnen das Ganze ganz bewusst nicht.

Die offizielle Version der polizeilichen Pressestelle ist, dass es kein Leck gab; sie hatten gegenüber ein paar Reportern lediglich erwähnt, dass die Augenzeugin aus dem Zug »an einer Konferenz teilgenommen« hat. Aber sie müssen auch gesagt haben, welche Art von Konferenz es war, woher hätte die Presse sonst wissen sollen, dass ich Floristin bin? Wie auch immer. Einige aus der Pressemeute checkten die verschiedenen Floristik-Events ab, arbeiteten sich durch die Listen der Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus Devon und Cornwall und landeten am Ende vor unserer Tür.

Mir wird immer noch ganz anders, wenn ich daran denke.

Klar, wäre ich schlauer vorgegangen, hätten sie es nicht erfahren. Wenn ich einfach gesagt hätte, ich weiß nicht, wovon Sie reden, hätten sie es dabei belassen müssen. Aber das habe ich nicht gesagt.

Ich weiß, das klingt jetzt total dämlich, aber in meiner kompletten Verwirrung habe ich sie an der Tür gefragt: Wer hat Ihnen meinen Namen genannt?

Warum zum Teufel hast du das bloß gesagt? war das Erste, was Tony gefragt hatte. Herrgott, Ella. Du hast ihnen deinen Namen auf dem Silbertablett serviert.

Hab ich aber nicht; nicht wirklich. Ich habe keinen der Reporter hereingelassen. Ich habe ihnen keine Zitate geliefert, das schwöre ich, aber sie haben mich fotografiert und so lange bei uns angerufen, bis wir die Nummer ändern mussten.

»Belästigung«, nannte es Tony. Hat sie nicht schon genug durchgemacht? Der Gute. Mein lieber, lieber Mann.

Und dann wurde es wirklich hässlich. Schreckliche Kommentare in den sozialen Medien. Bis wir am Ende den Laden eine Zeit lang schließen mussten.

Doch so schlimm das alles war, ich glaube immer noch nicht, genug durchgemacht zu haben. Anna ist immer noch verschwunden – dieses hübsche Mädchen. Höchstwahrscheinlich ist sie tot – ziemlich sicher sogar –, auch wenn sich ihre arme Mutter, nach allem, was ich so höre, immer noch an die Hoffnung klammert, sie könnte am Leben sein.

Und wer kann ihr das verübeln? Ich würde das vermutlich genauso machen.

Die Ansprechpartnerin bei der Polizei erzählte mir, dass Mrs. Ballard ein wirklich erschütterndes Interview gegeben hat. Ich bin mir nicht sicher, ob ich mir die Sendung überhaupt ansehen kann. Annas Mutter hatte das vergangene Jahr damit verbracht, alle Informationen über vermisste Mädchen zusammenzutragen, die Jahre später doch noch wiederaufgetaucht waren. Ihr wisst schon – die von irgendeinem Irren festgehalten und einer Gehirnwäsche unterzogen wurden, bis sie dann endlich entkamen. All das mussten sie offenbar aus dem Interview herausschneiden, weil sich die Polizei auf völlig andere Dinge konzentriert. Offenbar glauben sie, dass Anna tot ist. Ihnen geht es darum, einen Mörder zu finden, keinen Spinner mit einem Mädchen im Keller.

Aus Rücksicht haben sie alle Geschichten dringelassen, die Mrs. Ballard aus Annas Kindheit erzählt hat. Von ihren Hoffnungen und Träumen. Offenbar sind das die Themen, die Menschen dazu veranlassen, mit neuen Informationen anzurufen. Aber eigentlich dreht sich alles darum, die beiden Männer zu finden. Um die Leiche zu finden, nehme ich an. Wenn ich daran denke, wird mir ganz kalt …

Und an dieser Stelle wird Tony echt wütend. Seiner Meinung nach hätten sich Karl und Antony womöglich nicht absetzen können – höchstwahrscheinlich ins Ausland –, wenn die Polizei mit ihrer Suchmeldung nicht so lange gewartet hätte, nachdem ich den Hinweis gegeben hatte.

Soweit ich das beurteilen kann, hatte diese Verzögerung etwas mit Sarah zu tun. Die Polizei hält sich zurück, aber wenn man eins und eins zusammenzählt, scheint es, als hätte sie sich anfänglich geweigert, mit ihnen zu reden. Leugnete die Männer im Zug. Sagte, ich würde mir das zusammenreimen. Die Polizei gab ihre Fotoserst heraus, als sie das ganze Videomaterial der Überwachungskameras gesichtet und endlich ein paar Aufnahmen von ihnen gefunden hatten, auf denen sie zusammen aus dem Zug stiegen und sich vor dem Bahnhof aufhielten. Zu spät.

Aber genau ab dem Zeitpunkt ist alles schiefgegangen, und alles fällt auf mich zurück.

Wenn ich gleich zum Handy gegriffen hätte. Wenn ich aufgestanden wäre. Mich eingemischt hätte.

So darfst du nicht denken, Ella. Du kannst nicht alles auf deine Schultern nehmen. Du hast nichts falsch gemacht. Absolut nichts, Ella. Diese Männer waren es. Nicht du. Du kannst dir nicht die Schuld daran geben.

Wirklich nicht, Tony?

Und damit bin ich inzwischen nicht mehr die Einzige.

Die erste Postkarte kam vor ein paar Tagen.

Zuerst war ich so erschüttert, als ich sie las, dass ich schnurstracks zur Toilette gehen und mich übergeben musste.

Ich kann nicht erklären, weshalb ich solche Angst hatte. Der Schock, nehme ich an, denn zuerst wirkte es so bedrohlich, so verdammt fies. Und dann, als ich mich schließlich beruhigte und alles überdachte, wurde mir auf einen Schlag klar, wer sie geschickt hatte. Und fühlte mich gleichermaßen erleichtert und schuldig. Ehrlich gesagt habe ich es wohl verdient.

Es war nur Wut. Keine reale Bedrohung; nur ein Um-sich-Schlagen.

Diese erste Postkarte befand sich in einem Briefumschlag. Eine schwarze Karte mit Buchstaben, die aus einer Zeitschrift ausgeschnitten waren. WARUMHASTDUIHRNICHTGEHOLFEN? Es war genau, wie man es in Fernsehkrimis sieht, und nicht mal besonders gut gemacht. Wenn man es anfasste, war es noch klebrig.

Ich war dumm; ich zerriss sie und warf sie in den Müll, weil ich nicht wollte, dass Tony sie sieht. Ich wusste, dass er die Polizei anrufen würde, und das wollteich nicht. Wollte sie nicht hier haben. Wollte die Presse nicht hier haben. Wollte nicht wieder diesen ganzen Zirkus.

Ich brauchte eine Weile, bis ich es richtig verdaut hatte. Erst glaubte ich, es wäre einfach nur irgendein weiterer Spinner, aber dann dachte ich: Moment mal, der Aufruf zum Jahrestag ist noch nicht mal im Fernsehen gewesen.

In Wahrheit ist die Geschichte in Vergessenheit geraten. Bis zu der Sendung heute Abend wird niemand einen Gedanken daran verschwendet haben. So läuft das – deshalb ist es schwierig für die Polizei. In einem Moment ist es in aller Munde, im nächsten haben es alle vergessen.

Heute kam dann noch eine Karte. Wieder schwarz, mit einer hässlicheren Botschaft. BITCH … WIEKANNSTDUNURRUHIGSCHLAFEN?

Deshalb sehe ich es nun noch klarer. Es ist meine Schuld. Jemand will es mir heimzahlen, nicht nur das, was ich für Anna nicht getan habe, sondern auch, weil ich im Sommer da runtergefahren bin.

Nun weiß ich genau, von wem die Postkarten stammen …

5

Der Vater

Henry Ballard schaut auf die Uhr und pfeift nach Sammy.

In der Ferne sieht er Rauch von einer der Ferienwohnungen aufsteigen – eine ehemalige Scheune, zu der sein Vater früher immer genau zu dieser Zeit am Abend gegangen ist. Als er vor dem Abendessen zum letzten Mal nach dem Vieh sah.

Henry unternahm auch jeden Abend diesen Spaziergang, aber inzwischen in stiller Trauer.

Unterwegs sucht ihn Annas Stimme heim.

Du widerst mich an, Dad …

Henry schließt die Augen und wartet, bis die Stimme wieder verstummt. Als er die Augen wieder aufschlägt, quillt noch mehr Rauch aus dem Schornstein.

Das alles war natürlich ökonomisch sinnvoll. Die Umbauten. Es wurde zu Barbaras Lieblingsformulierung, und zu der der Bank auch. Das ist ökonomisch sehr sinnvoll, Henry.

Der landwirtschaftliche Erfolg der Ladbrook Farm hatte sich über vier Generationen gehalten. Überlebte den Aufschwung und Niedergang des Bergbaus. Überlebte die Moden der Konsumwelt. Gewann Rosetten für seltene Rassen. Einmal hatten sie sogar Osterglocken angebaut. Doch der Übergang von einem voll funktionierenden Bauernhof zu dem, was seine Kollegen nun abfällig mit Kannst du es immer noch nicht lassen, Henry? kommentieren, hat nur einen Wimpernschlag gedauert.

Inzwischen macht er in Tourismus, nicht mehr in Landwirtschaft. Und ja, finanziell ist das absolut vernünftig. Vor einem Jahrzehnt hat er eine Reihe von Scheunen umgebaut und verkauft, um alle ausstehenden Kredite abzuzahlen. Weitere Scheunen wurden zu Mietobjekten und bringen neben dem Teeladen und dem Campingplatz mehr als genug ein – und ganz sicher höheren regelmäßigen Profit, als sein Vater oder Großvater je zu hoffen gewagt hatten.

Natürlich haben seine Vorfahren dafür geschuftet. Und sie haben den Großteil der Schulden bei den Banken mit Blut, Schweiß und Tränen abbezahlt. Und er? Was hat er gemacht?

Er hat die Ernte eingefahren. Es gibt keinen Abend, an dem sich Henry deswegen nicht elend fühlt.

Deshalb ja – er konnte es nicht lassen. Hielt nebenbei Schafe – die kaum ihr Futter wert waren – und eine winzige Herde einer seltenen Rinderrasse.

Schon seit Jahren ist ihm das Herz schwer auf diesem Spaziergang. Und nun, seitdem Anna verschwunden ist?

Wieder zuckt Henry bei der Erinnerung daran, wie seine Tochter neben ihm im Auto saß, zusammen.

Du widerst mich an …

»Also, was ist geblieben?«, sagt er, als Sammy an seiner Hand schnüffelt und sein Herrchen aus bernsteinfarbenen Augen prüfend ansieht. Der Hund sitzt immer noch jeden Abend beim Essen unter Annas Stuhl. Unerträglich.

Henry tätschelt Sammys Kopf und macht sich dann auf den Weg zum Bauernhaus. Ihm graute vor dem bevorstehenden Abend, er hatte aber Barbara versprochen, dass sie sich die Sendung zum Jahrestag gemeinsam ansehen würden, deshalb durfte er sich nicht verspäten. Sie hatten lange darüber geredet, wie sie damit umgehen sollten, und sich den Kopf darüber zerbrochen, was das Beste für Jenny wäre, der es womöglich am schwersten fiel, das Ganze zu bewältigen. Eine Schwester ohne Schwester.

Nur achtzehn Monate liegen zwischen den Mädchen – sie waren sich so nah und so lieb zueinander, vor allem, als sie noch klein waren. Natürlich gab es Streit, die übliche Rivalität zwischen Geschwistern, aber bis zur Schlafenszeit hatten sie sich immer versöhnt und teilten sich ein Zimmer, obwohl es genügend Schlafzimmer gab. Henry denkt einen Moment lang daran, wie er abends immer den Kopf durch die Tür gestreckt hatte, um nach ihnen zu sehen, in ihren rosa Schlafanzügen, zusammengerollt in einem Doppelbett.

Wieder ein Schlag in die Magengrube. Jenny kann immer noch nicht schlafen. Barbara kann immer noch nicht schlafen. Er hat keine Ahnung, wie sie diese Fernsehsendung durchstehen sollten. Wieder das gleißende Rampenlicht.

Eine Einladung ins Londoner Fernsehstudio haben sie abgelehnt, das kam gar nicht infrage. Barbara hätte niemals ein Live-Interview geschafft. Nein. Henry hat ein Machtwort gesprochen, nicht zuletzt deshalb, weil ihn die Polizei von Zeit zu Zeit so nervös machte. Deshalb war alles im Vorfeld im Haus gefilmt worden. Sie hatten auch ein altes Video hervorgekramt, von Anna, als sie noch ganz klein war.

Er hält inne, ballt die Faust bei der Erinnerung an die Kamera in seiner Hand; als ihnen Barbara im Hintergrund Anweisungen zurief. Eine Schar Freundinnen und Freunde, die zum Kindergeburtstag gekommen waren, alle verkleidet – Cowboy- und Feenkostüme. Eine riesige Schokoladentorte mit Kerzen. Fotografier sie, wenn sie die Kerzen ausbläst, Henry. Pass auf, dass du das mit den Kerzen nicht verpasst … Er denkt an diese andere Version seiner Frau – Barbara, die strahlt und geschäftig herumeilt, am glücklichsten war, wenn das Haus aus allen Nähten platzte vor Kindern, Lärm und Chaos.

Henry räuspert sich und beugt sich hinunter, um Sammy wieder den Kopf zu streicheln, und spürte das vertraute Band. Zwischen Mann und Hund. Zwischen Mann und Hund und Land.

Und ja. Sie einigten sich darauf, einen Teil des Geburtstagsvideos freizugeben, als die Polizei sagte, dass bewegte Bilder tendenziell mehr Anrufe einbrachten, und genau darum ging es ja schließlich. Dieser erste Jahrestag war eine wichtige Gelegenheit, so sagte man ihnen, um das Interesse an dem Fall wieder zu wecken. Um neue Spuren zu erhalten. Um zu versuchen, die Männer aus dem Zug zu finden. Doch er und Barbara machen sich große Sorgen wegen Jenny. Sie ist auch auf dem Videoclip zu sehen, den die Fernsehproduzenten ausgewählt haben, lächelnd neben ihrer Schwester, und Barbara und Henry hatten klar und deutlich gesagt, dass sie, wenn sich Jenny auch nur im Geringsten unwohl damit fühlte, Nein sagen und etwas anderes suchen würden. Oder sie würden dafür sorgen, dass sie herausgeschnitten würde. Aber was Henry das Herz brach, war die Reaktion ihrer älteren Tochter.

Es war, als würde plötzlich ein Licht in ihr aufleuchten, das Fenster einer Gelegenheit in diesem elenden Spinnennetz aus Schuldgefühlen und Hilflosigkeit. Plötzlich leuchteten ihre Augen, und sie sagte, es würde ihr natürlich nichts ausmachen, wenn die Leute sie in einem Feenkostüm mit Flügeln sehen. Große Güte. Wenn es dabei hilft, Anna zu finden.

Und dann ging sie in ihr Zimmer, wobei sie ihm zurief, dass er mitkommen solle. In einem der Schränke befanden sich haufenweise alte Fotos. Sie würde sie heraussuchen. Und ob er wohl die Polizei anrufen könnte? Jetzt, Daddy. Haufenweise wirklich großartiger Bilder. Erinnerst du dich? Als wir in diesen automatischen Kabinen Quatsch gemacht haben? Die Gang. Ich, Sarah und Anna, Paul und Tim. Sie fand ein Foto – auf dem sie alle fünf Grimassen schnitten – und hielt es ihm hin.

Henry zieht die kalte Luft ein, als er sich an Anna inmitten ihrer Freundinnen und Freunde erinnert, und schließt die Augen.

Du widerst mich an …

Er hatte schon vermutet, dass die Polizei die Fotos nicht wollte. Und sie wollte sie tatsächlich nicht. Sie wollten nur den Film. Und dann erklärte er der armen Jenny, dass die Polizei sehr dankbar war – und er und Mummy auch –, weil sie so viel Zeit hineingesteckt hatte, die anderen Bilder zu finden. Das Leuchten in ihren Augen war wieder erloschen, und sie sah wieder aus wie neuerdings immer. Als wäre sie nur halb da.

»Komm, Sammy. Zeit, dass wir es hinter uns bringen.«

Während er in der Stiefelkammer seine Gummistiefel auszieht, hört Henry, wie seine Frau nach oben ruft.

»Bist du wirklich sicher, dass du es nicht mit uns anschauen willst, Jen? Hier unten? Daddy und mir gefällt diese Vorstellung wirklich nicht. – Oh, warte mal, ich höre was – Daddy ist wieder da.«

In Socken durchquert er die Küche.

»Großartig. Gut. Henry. Ich habe den richtigen Sender schon eingestellt und alles vorbereitet, um es aufzunehmen. Der Produzent hat sich aus dem Studio gemeldet, sie werden uns anrufen. Um uns zu sagen, wie viele Anrufe eingegangen sind.«

»Gut. Sehr gut.«

»Jennifer sagt immer noch, dass sie es sich in ihrem Zimmer ansehen will. Das gefällt mir ganz und gar nicht, Henry. Würdest du bitte noch mal mit ihr reden?«

»Wenn du willst. Aber ich habe schon heute Morgen mit ihr gesprochen, Liebling, und …«

»Die Sache ist die – sie braucht es gar nicht anzuschauen, wenn sie nicht will. Das habe ich ihr gesagt. Aber wenn doch, dann will ich nicht, dass sie allein ist. Ich verstehe nicht, weshalb sie nicht bei uns sein will. Wir sollten dabei zusammen sein. Findest du nicht auch, dass wir zusammen sein sollten? Als Familie. Die es zusammen ansieht.«

Henry fragt sich, ob er es aussprechen sollte. Das Offensichtliche: dass sie keine Familie mehr sind. Er betrachtet seine Frau eingehend und senkt die Stimme zu einem Flüstern. »Jenny will unsere Gesichter nicht sehen, Schatz.« Er meint ihres. Barbaras.

»Unsere Gesichter?« Barbaras Miene verändert sich, als sie die Worte einen Augenblick wirken lässt. Sie blickt zum Spiegel im Flur hinüber, dann wieder rasch zurück zu ihm. »Hat sie das gesagt?«

»Das war nicht nötig, Schatz.«

Henry beobachtet seine Frau weiterhin aufmerksam, während sie seine Worte verarbeitet. Er zwingt sich dazu, sie anzusehen, ihr in die Augen zu blicken. Er weiß genau, weshalb das für Jenny so schwierig ist, weil es ihm selbst so schwerfällt. Die Tiefe des Ganzen zu erfassen, was dort geschrieben steht, dunkel und bedrohlich ganz hinten in Barbaras Augen. Den ganzen Tag. Jeden Tag. Ganz egal, wie sehr sie versucht, das Ganze für Jenny in Hoffnung und Lächeln zu kleiden. Mit ihrem Scrapbook mit Ausschnitten von Vermissten und Wiedergefundenen. Und dem endlosen Backen.

»Aber du redest trotzdem noch mal mit ihr, oder? Vor der Sendung?« Sie blickt nun zu Boden.

Henry küsst seine Frau auf die Stirn. Es ist ein pflichtschuldiger Kuss, und er berührt sie dabei nicht, denn er kennt die Regeln. Ihrer beider Grenzen. Alles Körperliche zwischen ihnen liegt auf Eis; womöglich für immer.

»Ich geh mir nur eben die Hände waschen und dann – ja. Ich werde mit ihr reden.«

Jenny sitzt in ihrem Zimmer auf dem Boden, umgeben von Papier. Und von alten Fotoalben und Zeitschriften.

»Mummy wollte, dass ich noch mal mit dir rede.« Henry lässt den Blick über die Alben schweifen. Noch viel mehr Fotos der beiden Schwestern beim Heranwachsen. In identischen Brautjungfernkleidern auf einem. Ihrem ersten Tag zusammen an der großen Schule. Die meisten neueren Bilder sind natürlich digital gespeichert, aber Jenny hat viele ihrer Lieblingsfotos ausgedruckt, nachdem einmal ihr Laptop abgestürzt ist und sie die Fotos eines ganzen Sommers verloren hatte. Von der Kamera waren sie auch schon gelöscht. Unwiederbringlich.

»Schon gut. Ich habe Paul, Sarah und Tim gebeten, herzukommen. Ist das okay? Ich meine – Mum hat recht. Es könnte zu verstörend sein, es allein anzuschauen. Aber ich kann nicht bei Mummy sitzen. Es geht einfach nicht.«

»Oh. Klar. Dann rede ich mal mit ihr. Grundgütiger.« Er sieht auf die Uhr. »Es ist nur so, dass sich deine Mutter vielleicht nicht wohlfühlt mit so vielen anderen Leuten im Haus heute Abend.«

»Ach, komm schon, Dad. Das sind nicht andere Leute. Es sind meine Freunde.«

Henry presst die Lippen zusammen. Noch anderthalb Stunden, bis die Sendung anfängt. Er holt tief Luft, um seine eigene Reaktion einzuschätzen, ehe er sich mit der seiner Frau auseinandersetzt.

Barbara wird sie bewirten. Sandwiches und Kuchen und so weiter. Wird viel Wirbel machen.

Abwesend sieht er wieder auf die Uhr. Wer weiß, vielleicht hilft es ihr auch, wenn sie etwas zu tun hat. Eine Ablenkung.

Es überrascht ihn, dass Sarahs Mutter Margaret ihre Tochter nicht zu Hause haben will, um sie zu schützen. Es war schwer gewesen für Sarah. So viele offene Fragen. Noch immer versteht niemand so recht, wie die Freundinnen in London voneinander getrennt wurden, und manche Leute zeigen schon mit den Fingern auf sie.

Insgeheim ist Henry das nicht unrecht. Besser, wenn sich die Leute auf Sarah konzentrieren …

Unten räumt Barbara das übrige Geschirr in die Spülmaschine, während er ihr von der Wendung der Ereignisse erzählt. »Oh. Okay. Verstehe …«