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Das von der Gesellschaft abgeschottete Dorf <
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Seitenzahl: 343
Veröffentlichungsjahr: 2021
Prolog
Kapitel 1
Bury the body
Kapitel 2
A few steps too far
Kapitel 3
Adagio in the rain
Kapitel 4
A short story: the day after yesterday
Kapitel 5
Another dimension's happiness
Kapitel 6
A sad goddess
Kapitel 7
A strange visiter
Kapitel 8
When god left our village
Kapitel 9
I met the devil
Kapitel 10
Sleep well, my dear
Kapitel 11
The beginning
Kapitel 12
Let me show you who I am
Kapitel 13
Short sentences
Kapitel 14
Where have you been?
Kapitel 15
Yamiyo
Kapitel 16
Yamiyo, Part 2
Kapitel 17
Yamiyo, Part 3
Kapitel 18
Why aren't you scared?
Kapitel 19
I dare you, I dare you
Kapitel 20
Suffer killing arc
Kapitel 21
Beauty in a grave
Kapitel 22
Wasteful insanity
Kapitel 23
Lucifer's army of angels
Kapitel 24
Vanished secrets
Kapitel 25
<<I love you.>>
Kapitel 26
Light in your dead eyes
Kapitel 27
My girl was vanished and now she's back
Kapitel 28
Hymn of the bad
Kapitel 29
But you wanted to stay instead
Kapitel 30
A deal with the devil
Kapitel 31
The lily in all of us
Vor dem Vorfall
<<Die Luft ist neu. Nein, nicht bloß diese Luft. Das komplette Gefühl. Blumenduft statt Benzinodeur, Wolken statt Wolkenkratzer und Frieden statt Fremdseligkeit. Wenn das Leben unbeschwerlich ist, dann bist du wohl gerade in Lilia, einem Ort, geschaffen von Gott persönlich.>>
Nach dem Vorfall
In irgendeiner Großstadtzeitung: Nur zwei Überlebende bei dem Untergang eines gesamten Dorfes (…) Einer der beiden Überlebenden berichtet: „Ich weiß nicht was passiert ist. Ich weiß nicht von wo ich komme und warum. Es muss etwas schlimmes passiert sein. Ich kann mir nicht ausmalen was es ist, dass ich alle meine Erinnerungen an jegliche Geschehnisse verloren habe. Ich weiß nicht, ob es ein Segen oder eine Bestrafung Gottes ist.“
Früher habe ich nicht einmal einen Gedanken darüber verloren, alleine auf‘s Land zu ziehen. Aber jetzt mal ehrlich, jeder Großstadtmensch, der meint das Land noch nie mit Schafen, alten Bauern und Kuhmist in Verbindung gebracht zu haben, der lügt. So dachte ich auch noch lange, als wäre es das Normalste, was es gab. Es ist aber ganz anders: Idyllische Natur, Felder und Vögel, das ist für mich Natur, das Wesentliche.
Ich wohne hier zwar erst seit etwa zwei Wochen, aber der erste Eindruck zählt bekanntlich.
Ich hole tief Luft. Anhalten. In der Hoffnung der Geruch setze sich in meiner Nasenschleimhaut ab. Ausatmen.
Nicht weit von hier ist die Hauptstraße. Also, wenn man sie denn so nennen kann. Die 'Hauptstraße' ist ein kleiner schmutziger Weg, etwa breit genug für einen halben Elefanten. Er ist -abgesehen von dem Wald- der einzige Weg aus Lilia.
Einigen Menschen mag der Wald, der wahrscheinlich beinahe die Weite des Regenwaldes hat, angsteinflößend vorkommen. Und auch wenn mir dieser Wald abends oft eiskalt den Rücken runterläuft, finde ich es doch ziemlich idyllisch und bewundernswert, wenn ich aus meinem Fenster schaue. Tagsüber zumindest.
Ich sehe das Dorf nur noch durch den kleinen hellen Schlitz zwischen der Vielzahl an Nadelbäumen hinter mir, als ich meinen Kopf umdrehe, um nicht paranoid nach hinten zu schauen.
Vielmehr schaue ich mich um, um den Weg, den ich zurücklege in Gedanken zu behalten.
Die Vögel zwitschern ein süßes Lied während ich mich ironischerweise durch das Zweiggewitter boxe.
Ich gehe einige Schritte. Die Äste unter meinen Füßen knacken so laut und schwer, dass die Vögel in meiner Nähe aufkreischen und davonfliegen. Mit der einfachen Amateurausrüstung, Kamera plus Tasche, beschließe ich etwas weiter rauszugehen. Man sagt sich nämlich etwas weiter in dieser Richtung befinde sich eine kleine Stelle, frei von Bäumen und höher auf dem Berg gelegen. Von dort aus soll man eine Aussicht auf das Dorf haben wie bei einer
Aussichtsplattform. Nein, sogar noch schöner. Als sähe man vom Himmel herab. Und was wäre ich für ein Mensch, würde ich solch einen Ausblick nicht aufzeichnen?
Also soll es mein Ziel sein, ein einfaches Foto zu knipsen. Ich weiß das widerspricht sich, aber es soll perfekt sein. Ein Foto nur für mich. Und wer weiß, vielleicht zeige ich es eines Tages meiner wunderschönen Frau. Nicht, dass ich eine hätte oder so, nur würde ich es mir schon wünschen irgendwann zu heiraten. Wieso eigentlich nicht? Vielleicht eine Frau, so schön wie dieses Dorf.
Dabei bin ich mir nicht einmal sicher, ob die Außenwelt von unserem Plätzchen an der Sonne Bescheid weiß. Ich persönlich bin froh darüber, einen Freund gehabt zu haben, der hier wohnte. Als Kind war ich auch das ein oder andere Mal hier zu Besuch. Unsere Eltern waren befreundet, bis diese Freunde eines Tages nach Australien auswanderten.
Ich kann mich nur sehr verschwommen an all das erinnern, was hier passiert ist. Irgendwas scheint passiert zu sein. Es war das Tabuthema meine Familie auf dieses Dorf anzusprechen.
Irgendwann gab es nichts mehr, was mich aufhielt herauszufinden, was es war. Was passierte in diesem September damals? In diesem Herbst, von dem man erzählte, es habe nur rote Blätter geregnet.
Ich kann den Horizont wieder durch die Bäume erkennen, als ich luftschnappend den verdreckten Hügel mit meinen veralteten Schuhen hinaufsteige. Ich stapfe Schritt für Schritt auf den Ästen und trampele wie ein Elefant die letzten paar Schritte hinauf zur sogenannten Aussichtsplattform.
Wenn der Körper tatsächlich zu 70 % aus Wasser besteht, dann bin ich 50% auf diesem Weg losgeworden, aber das hat sich gelohnt. Ich packe meine Kamera aus und schaue durch die Linse.
Wunderschön, wie die Krähen auf der einen Seite durch die weißen Wolken tauchen und sich auf der anderen Seite des Dorfes wieder auf den Baumkronen niederlassen, so majestätisch.
Und wie so oft, ist es ist nicht übertrieben zu behaupten, dass nach der Ruhe der Sturm kommt. Ich erkenne, wie sich oben eine graue aggressive Wolke über das Dorf legt, als ziehe sie in den Krieg. Ich mache mich besser auf den Weg. Es sei denn, ich möchte mit schmutzigen Klamotten nach Hause kommen. Natürlich nicht. Ohne groß nachzudenken marschiere ich zurück in Richtung Dorf, mit meinen monoton gleichbleibenden Schritten, wie ein Ninja durch meine eigenen Fußspuren.
Ein kalter Wind zieht seitlich an meinem Körper vorbei und streichelt ihn leicht. Mit ihm ein Pfeifen quer durch den Wald. Ein Eichhörnchen springt von Ast zu Ast und ein hübscher Vogel zwitschert auf der Baumkrone, als wolle er mit mir ein Liedchen trällern. Ich könnte schwören, der Vogel zwitschert eine Melodie.
Ich kenne sie zwar nicht, aber sie ist wie Musik in meinen Ohren.
Wie eine Melodie aus einer Aufziehbox eines Kindes. Im Vier-Viertel-Takt und im Staccato.
Wie eingetaucht in den Wald, als müsse ich gleich wieder an die Oberfläche, um nach Luft zu schnappen, frage ich mich, wo ich bin. Habe ich mich tatsächlich zu sehr in meinen Gedanken verloren?
Bin ich den Schritten denn nicht richtig gefolgt? Ich blicke nach rechts und links. Neben mir sind keine kahlen Nadelbäume mehr, sondern nur ein schmaler Weg - die Dorfstraße. Ich taumele auf die Straße, stolpere beinahe aufgrund des Höhenunterschieds von Straße zu Wald. Ich blicke hinauf in den schon fast grauen Himmel. Dann auf meine dreckigen Schuhe, welche schon in der gleichen Intensität der Farbe des Himmels, jedoch braun anstatt grau, aufleuchten.
<<Shit!>>, gebe ich reflexartig von mir. In welche Richtung soll ich denn jetzt gehen? Soll ich auf mein Gefühl vertrauen? Verzweifelt schaue ich in den Himmel.
<<Wenn es dich gibt, hilf mir!>>
Ich höre Donner, mit ihm kommen die ersten einzelnen Regentropfen. Immer stärker. Plötzlich schüttet es wie aus Eimern.
Innerhalb von Sekunden hat sich der Weg in einen dreckigen Sumpf verwandelt. Mit ihm auch meine positive Stimmung. Solange jemand meine Kamera samt Foto finden würde, könnte ich jetzt sterben und es wäre mir egal.
<<Es gibt dich nicht>>, spreche ich vor mich hin, ohne jegliche Form von Hintergedanken.
Von allen Seiten höre ich Platzgeräusche auf dem Boden, als sich die Regentropfen auf der matschigen Erde herablassen. Mein Kopf wird schwer, sodass ich mich am Straßenrand hinsetze und mein Knie anwinkele. Das Plätschern scheint überwiegend rechts von mir.
Ein Licht der Hoffnung erscheint, ein erlösendes Licht, welches sich eindeutig in meinen Augen spiegeln würde, würde ich diese selbst sehen. Vielleicht ein Auto oder ein Fahrrad oder ein Engel?
Ich stelle mich wieder hin und strecke meine linke Hand mit ausgestrecktem Daumen aus. Filmreif wird der rote 5-Sitzer langsamer. Der spritzende Matsch lässt nach als er hält. Die Rettung.
Ich öffne die Beifahrertür.
<<Was treiben Sie denn bei dem Wetter mitten im Wald?>>, fragt mich die scheinbar weibliche Person aus dem Auto in einem verwirrten Ton, unterstützt von der Geräuschkulisse des abartig lauten Scheibenwischers.
<<Es-Es tut mir leid, dass ich Ihre Sitze dreckig mache.>>
<<Ach, das macht doch nichts, ich wollte das Auto sowieso die nächsten Tage waschen.>>
Dabei ist das Auto eigentlich ziemlich sauber und abgesehen davon duftet es auch noch wundervoll.
<<Haben Sie die Leiche gut vergraben?>>, fragt sie und hat dabei eine ungewöhnlich rationale Stimme für eine Dame.
<<Wie bitte?!>>, frage ich empört, im Anschein nicht zu glauben, was ich verstanden habe.
<<Na die Leiche. Sie haben mir nicht auf meine Frage geantwortet. Die Leiche muss tief vergraben sein, sonst wird sie bei solch einem Unwetter wieder an die Oberfläche gespült. Wegen der nassen Erde. Können Sie mir folgen?>>
Die Frau ist mir nicht geheuer. Ich würde jetzt zu gerne aussteigen, aber der Regen stellt sich mir als Gefahr in den Weg.
Sie löst eine Hand vom Lenkrad und haut mir leicht an die Schulter, während sie ein einfaches Lachen von sich gibt. Ihr Blick fokussiert dabei die Straße. Was ist so lustig? Ich finde das alles andere als lustig.
<<Ich mache Spaß, seien Sie nicht so verspannt>>, lacht sie wiederholt vor sich hin. Ob das lustig ist? Da muss man schon einen teuflischen Humor haben. Ich drücke meine Tasche an meine Brust und gebe ein verzweifeltes Lachen von mir, und auch wenn sie die Ironie erkannt hat, bleibt sie still. Wieso bin ich hier eigentlich eingestiegen? Ich schaue durch das verregnete Fenster in den grauen Himmel und da weiß ich wieder wieso. Dabei weiß ich nicht mal wohin die Fahrt geht.
<<Sie kommen auch aus dem Dorf, habe ich Recht?>>, frage ich die junge Frau auf dem Fahrersitz neben mir, in der Unsicherheit, sie würde erneut einen unangenehmen Spruch loswerden.
<<Ja, tue ich>>, antwortet sie kurz und knapp.
Ich verfalle in den Gedanken, ob ich sie bereits jemals gesehen habe.
Ich denke nicht.
<<Ich habe Sie dort noch nie gesehen. Wo wohnen Sie denn, wenn ich fragen darf?>>, entgegne ich.
<<Man kennt mich nicht, ich lebe eher zurückgezogen. Bin nicht so der Gesellschaftsmensch, verstehen Sie?>>
Stille. In meinem Kopf schlagen Gedanken Loopings. Bei einem Dorf mit knapp 200 Einwohnern ist es doch eher unwahrscheinlich, eine Person nach mehreren Wochen noch nicht gesehen zu haben. <<Sie fragen sich bestimmt, was für eine selbstlose junge Frau ich bin, die einen Wildfremden in ihr Auto lässt. Im Wald. Komplett verdreckt und nass. Der Kulisse nach könnten Sie wirklich ein Killer sein. Meine Frage war berechtigt, nicht?>>
Ihr Blick schweift ab, direkt in meine Augen, als sie bei der langen, geraden Straße die Chance ergreift. Ganz kurz, aber ihr Blick sticht ganz tief, als wolle sie eine ebenso tiefe Antwort.
<<Nein, ich denke gerade nicht an viel und erst recht nicht an solch einen irrelevanten Kram. Ich bin Ihnen einfach total dankbar, dass Sie überhaupt angehalten haben. Wer weiß, womöglich läge ich dann morgen mit irgendeiner ekligen Krankheit im Bett.>>
Das Mondlicht scheint auf die feuchte Straße.
<<Kann ich Sie etwas fragen?>>, im Einklang mit der Ironie des Satzes fragt sie mich still.
<<Aber klar.>>
<<Wieso sind Sie hierher gezogen?>>, fragt sie nüchtern, kühl, empfindungslos.
<<Ich weiß es nicht genau, wenn ich ehrlich bin. Es war schon immer so. Ich bin halt neugierig und sehr spontan. Das war auch das, was viele an mir nicht mochten.>>
Ich kann einer Fremden nicht mein vergangenes Familienleben offenbaren. Nach kurzer Stille fahre ich fort: <<Ich weiß nur noch, dass ich hier als Kind das eine oder andere Mal war. Damals hatte ich hier einen Freund und es hat mich gewundert, dass er immer von diesem Dorf hier schwärmte. Ein Dorf... Ich meine, andere Kinder in unserem Alter schwärmten von der großen Liebe und, und, und... Ich konnte nie mit meiner Stadt prahlen.>>
<<Oh>>, sagt sie ganz unvoreingenommen <<Wissen Sie, warum die Rehe in diesem Wald hier zu Lande nicht weniger werden?>>, fragt sie <<Weil der Wald hier ihnen perfekte Umstände bietet. Er ist groß und gibt ihnen alles, was sie brauchen.>>
Was will sie mir damit sagen?
<<Wie in einer Stadt. Da hat man alles was man braucht. Ich meine, hier haben wir nicht einmal einen richtigen Laden zum Einkaufen. Nur das Nötigste kriegt man hier. Das, was man gerade so zum Überleben braucht.>>
Ich will nicht antworten. Das ist mir zu viel Kratzen im Hals. Das Gefühl vor den ersten Tränen.
<<Sie müssen weit im Wald gewesen sein oder fühlt sich die Fahrt nur für mich so lange an?>> Tatsächlich tut sie das, denn ich will hier so schnell wie möglich raus. Es ist mir bodenlos unangenehm.
<<Nein, mir geht es genauso>>, sage ich.
Darauf folgt eine geschätzte Minute peinlichster Stille. Das unangenehmste und gleichzeitig auch das entspannenste Schweigen überhaupt.
<<Da vorne ist es endlich>>, sagt sie dämpfend <<Wo soll ich Sie denn rauslassen?>>
<<Drüben am Brunnen bitte.>>
Und mit den letzten 100 Metern vergehen 1000, aus Zehn Sekunden werden 100.
<<Na gut, man sieht sich. Hoffentlich.>> Aus ihrer Stimme höre ich den leichten Hauch des Wunsches nach einer Bestätigung.
<<Ja, hoffentlich. Und danke für’s Mitnehmen!>>
Ich wollte mich gerade umdrehen und für immer aus ihrem Blickwinkel verschwinden, bis…
<<Dina. War nett Sie kennenzulernen, Jack. Schönen Abend noch.>>
Unbewegt und regungslos bleibe ich stehen, sehe das Auto durch die Kiesstraße in der Nacht verschwinden. Mit den Reifen, welche in einer perfekt angepassten Spur beinahe in dem nassen Kiesboden versinken.
Wer ist diese Frau? Woher kennt sie meinen Namen? Bin ich das Thema im Dorf, oder wie ist das? Trotz nachvollziehbaren Ideen läuft es mir beim Grübeln eiskalt den Rücken hinunter.
Die Tür meines halb zerfallen Hauses quietscht furchtbar. Ich taumele durch den Flur, mit meiner Tasche auf dem Rücken. Alle Klamotten samt Tasche werfe ich in den Wäschekorb.
<<Wer ist diese Frau?>>, frage ich mich ein zweites, oder ein zweitausendstes Mal. In meinem Schlafzimmer schauen die dunklen Wolken am Mondhimmel nachts traurig durch mein offenes Fenster. Ich begebe mich in eine ungewöhnliche Schlafposition, den gemütlichen Schlaf finde ich jedoch nie, wenn ich mich in meine Decke einkuschele, in der Hoffnung warm zu werden. Denn ich bin kalt.
Ich war das, was die Leute einen Neuen nannten. Ich war also der, der Tag für Tag auf die Hilfe anderer angewiesen war. Aber um ehrlich zu sein, wollte ich nicht so einer sein. Eigentlich wollte das keiner. Also tat ich das, was man tun musste um einer solchen Lage auszuweichen. Ich stellte mich auf mich selbst.
Und nicht, dass ich es nicht fürchtete, aber es war leichter als gedacht, in manchen Aspekten zumindest. Leicht für den Anfang. Ich war also doch ein Mensch, den man 'einer dieser Menschen, die...' nennen konnte. Einer, den man in eine Schublade mit vielen anderen Menschen stecken konnte. Ich wollte nicht wahrhaben, dass ich einer dieser Menschen war, die nur so scheinen, als könnten sie was erreichen.
Tag für Tag fiel es mir schwerer. Ich jagte nicht dem Wissen hinterher. Nein, mein Gewissen rannte mir hinterher, ohne Ausdauer. An jenem Tag, an dem ich
eine Pause machte, da holte es mich ein und schlug mich zu Boden, trampelte wie verrückt auf mir herum.
Beginnen wir an jenem Tag, an jenem Ort, an dem mich das Schicksal zum Spielen einlud, und ich ihm meine Hand ausstreckte.
Nichts geht mir mehr aus dem Kopf, denn es ist geschehen.
Abgesehen von dem Scheißwetter, welches ich mir gestern ausgewählt habe, fühle ich mich gut, denn heute ist das Wetter umso besser. Die Sonne strahlt durch das verstaubte Fenster. Zu meinem Unglück scheint ein breiter Strahl direkt in meine müden Augen.
Selbst das Frühstück schmeckt hier anders. Besser.
Als man aufgestanden ist hat sein Hotelgesicht sich in unsauberen Fensterscheiben gespiegelt. Und dann zwingt man sich das Elend des letzten Tages aus dem Gesicht zu waschen. Mit dem grauen Becher Kaffee in der Hand, damit der immer gleiche Alltag nicht so langweilig erscheint wie er eigentlich ist. Mit dem ungepflegten Bart, den deine Kollegen komplimentieren, den du aber verabscheust.
Wo ich mich in der Stadt darüber beklagte, wie schnell man alt wird, vergesse ich hier komplett die Zeit. Selbst die Sonntagszeitung gewinnt an Farbe und doch sind es immer wieder dieselben Neuigkeiten von Außen, Uninteressantes gedruckt auf zehn Seiten feinstem Papier. Ich zerknülle sie und lehne mich zurück, atme ein paar Mal tief ein und wieder aus, während mir der Wind der offenen Terrassentür eine kühle Brise entgegenweht.
Es geht mir nicht aus dem Kopf, dass ich mehr über diese Frau wissen will, was mich ziemlich unter Druck setzt. Jetzt bloß nicht auffällig zu schnüffeln. Vielleicht reagiere ich einfach ein wenig über. Ich sollte abwarten, was sich ergibt. Immerhin bin ich neu hier. Ich sollte mich nicht direkt unbeliebt machen.
<<Guten Morgen!>>, spricht eine weibliche Stimme seitlich von meiner Terrasse, während ich mich im Bademantel und Sturmfrisur ungewaschen strecke.
<<Ein Morgenmuffel also.>>
Und ohne jegliche Entzugserscheinung der Stadt, sehe ich die Frau von gestern auf mich zukommen, über meine Terrassenfliesen. Es tut sich in mir die Frage auf, was sie von mir wollen würde.
<<Ihnen auch einen guten Morgen!>>, spricht sie mit ironischer Intention, doch mit einem einfachen Lächeln.
In ihrer Hand trägt sie einen kleinen Plastikbeutel mit nicht erkennbarem Inhalt.
<<Setzen Sie sich doch. Ich mache Kaffee. Wollen Sie auch einen?>>, frage ich gastfreundlich.
<<Gerne>>, antwortet sie selbstsicher <<Ich habe geklopft, aber es hat keiner geöffnet. Ich hatte Angst, dass es Ihnen schlecht geht, deswegen schaue ich vorbei.>>
Ich gehe in die Küche und schalte die veraltete Billigkaffeemaschine an. Dabei hatte ich eben einen Kaffee getrunken, aber egal, ich muss mich erstmal um den Gast kümmern, wenn ich etwas über sie herausfinden will.
<<Sehr aufmerksam von Ihnen>>, rufe ich aus der Küche auf die Terrasse.
Die Terrassentür ist verbunden mit der Küche, sodass sie problemlos mit mir sprechen kann.
<<Wie ist denn Ihr Foto geworden?>>, ruft sie zurück.
Ich zucke kurz zusammen und kurz vor dem Maschinenknopf bleibt mein Finger stehen. Es rührt sich nichts.
<<W-woher wissen Sie das?>>, frage ich misstrauisch. Ist es wieder einer ihrer komischen Scherze? Nein, das ist zu unwahrscheinlich, dass sie ins Schwarze trifft.
<<Erinnern Sie sich denn nicht an gestern? Ich habe Sie gefragt, was Sie wohl von mir denken würden, dass ich einfach jemanden mitnehme>>
In der Tat. Ich hatte vergessen, dass ich mich damit zufrieden gab, keine Antwort zu bekommen.
Sie fährt fort: <<Na, hier im Dorf war schon so ziemlich jeder dort oben. Ein Grund war immer dieses 'perfekte' Foto. Ich konnte das nie verstehen. Naja, wie dem auch sei, man erzählt sich untereinander, dass fast jeder, der dort oben war, sich im Endeffekt an dem gleichen Ort wie Sie verirrt hat. Egal wie lange sie hier schon gelebt haben.>>
Ich bringe ihr den Kaffee und setze mich zu ihr an den Terrassentisch. Sie bedankt sich leise.
<<Wow und mich hat es mit dem Regen erwischt, ich Pechvogel.>>
<<Nicht so ganz. Das alles kann man sich wie einen Fluch auf dem Ort vorstellen, eine Art Aufnahmeritual des Dorfes.>>
<<Sie machen Witze>>, entgegne ich.
<<Wie man's nimmt>>, lacht sie. Kurze Stille. <<Ok, ok! Ich gebe zu, es gibt keinen Fluch oder Ähnliches. Der Rest stimmt jedoch. Es hat sich der Großteil genau dorthin verirrt. Wahrscheinlich alles unbedeutende Zufälle.>>
Sie legt das geheimnisvolle Plastiktütchen auf den Tisch.
<<Und Sie? Was ist mit ihnen? Sie haben sich nicht dorthin verirrt?>>, frage ich neugierig, aber die einfache Antwort lässt zu wünschen übrig.
<<Doch, doch, leider. Immerhin kannte ich den Weg zurück, ich wohne ja schon seit meiner Geburt hier in Lilia. Das Schwierige ist nur zu wissen in welche Richtung man gehen muss, wenn man einmal bei der Straße angekommen ist.>>
Nach und nach steigt meine Neugier für die Tüte, die sie die ganze Zeit mit sich trägt. Schweigsam bewegt sie ihre Hand in Richtung der geheimnisvollen Tüte.
<<Wissen Sie, ich habe eine Zeit lang auch gerne fotografiert. Mit 16 Jahren war ich förmlich verrückt nach der Idylle auf den Fotos.>>
Sie holt einige Bilder und eine Kamera raus. Die Bilder sind staubig, sodass das Sonnenlicht die Strahlen kaum reflektiert.
<<Darf ich mal sehen?>>, frage ich schroff.
<<Natürlich!>>
Die Bilder sind kalt. Sie fühlen sich an wie alter, eiskalter Leim. Die glatte Oberfläche ist verstaubt wie ein Großstadtkeller. Das erste Bild sieht meinem ähnlich, es scheint jedoch etwas älter. Ich vergleiche. Einige Häuser haben einen neuen Anstrich und andere Häuser stehen auf meinem Bild leer, die auf ihrem noch schön aussehen. Wie alt kann das Bild denn sein, so jung wie sie ist?
Der Himmel ist klar, anders als auf meinem Bild.
<<Das war im Herbst vorletzten Jahres.>>
Ich muss zugeben, ihr Bild ist um einiges schöner geworden als meines. In der Ecke ziehen Zugvögel durch den klaren Herbsthimmel. Sie zieht ein weiteres Bild von der Dorfmühle hervor. Es macht einen depressiven Eindruck und es wirkt zerfallener auf mich als es eigentlich ist. Ich war dort zwar nur einmal, aber es war schön. Wie macht sie das bloß? Wie schafft sie es, die Stimmung eines Bildes so drastisch zu verändern? Ist es der Regen, der sich auf das leuchtende Dach der Mühle legt? <<Hat sich mit der Zeit hier im Dorf viel verändert?>>, frage ich wissensdurstig.
<<Nein, langsam sterben alte Nachbarn. Das Wetter verschlechtert sich und die Wirtschaft ließ schon immer zu wünschen übrig. Und der See wird leider von Tag zu Tag grüner und grässlicher, er ist jetzt nur noch schön für Kröten. Umwachsen vom hohen Gras und schönen Blumen. Wenn ich ehrlich bin, mag ich den See auch. Ist ja nicht so, als könnte ich meine Kindheit nicht mehr mögen.>>
<<Ich weiß gar nichts von einem See.>>
Ein perplexer Blick. Sie legt ihre Hand auf das Foto von der Mühle.
<<Echt? Worauf warten wir? Auf, Auf! Ziehen Sie sich etwas Wetterfestes an.>>
Ich folge der Aufforderung.
<<Ich bin sofort wieder da>>, und verschwinde in meinem Schlafzimmer in der oberen Etage. Die Treppe hinauf im Zweierschritt. Aus meinem Zimmerfenster habe ich einen Ausblick auf meine Terrasse und nicht viel weiter hinten sieht man den Wald, wie er sich streckt und den Farb- und Emotionswandel von Dorf zu Wald unterstreicht. Unten packt Dina ihre Fotos zusammen, während ich mich in meine Hose quäle. Ich stecke mit meinem Kopf zur Hälfte im Kragen, als ich ein Knacksen im Wohnzimmer höre. Ich schiebe meinen Kopf schnell hindurch, sodass ich meine Hose am Gürtel packen kann, um zu verhindern, dass sie runterfällt.
Ich lausche. Kein Knartschen mehr.
<<Was dauert denn da so lange?>>
Es amüsiert mich wie hemmungslos diese Frau ist, es hat Charakter.
<<Einen Moment! Bin gleich so weit!>>, rufe ich die Treppe hinunter. Es zieht. Ein kalter Wind zieht mir eiskalt den Buckel hinunter, mit ihm ein Parfümaroma von mir.
Fertig angezogen laufe ich die Treppe hinunter, während ich meine Falten im Pullover zurecht zupfe. Auf der letzten Stufe hebe ich meinen Kopf. Dina steht im Flur, ihre beiden Hände locker lasch. In der rechten Hand die blanke Rückseite eines Bildes. Dort steht sie wie angewurzelt. Ihre Haare verdecken ihr Gesicht. Ihr Kopf ist geneigt.
<<Ist etwas?>>, frage ich skeptisch, als sie ihre Haare zur Seite schiebt und aufsieht.
<<Nein hier ist alles gut, ich warte nur auf Sie.>>
<<Was haben Sie denn da in der Hand?>>, frage ich erwartungsvoll.
<<Ach ein einfaches Bild>>, antwortet sie träge.
<<Noch eins vom Dorf? Darf ich mal ...>>
<<Das zeige ich Ihnen wann anders.>> Sie unterbricht mich mitten im Satz und schaut ablenkend in die Gegend.
<<Tut mir leid. Ich wollte nicht aufdringlich wirken.>>
<<Wenn ich Ihnen eines beibringen kann, dann ist es, sich nicht zu entschuldigen.>>
Tonlos, erstarrt. Ihre Hände zittern und nach und nach auch ihr ganzer Körper. Ich kann ihre Augen sehen, die die Leere suchen, während meine Augen die ihre suchen. Ich kann nicht mehr machen als vom Thema abzulenken, als ihr eine Träne die Wange hinunterläuft. Ich muss das nicht verstehen, ich werde mehr über sie erfahren.
<<Lassen Sie uns gehen. Sie wollten mir noch den See zeigen, richtig? Auf andere Gedanken kommen, an die frische Luft gehen>>, schlage ich vor.
Sie hebt ihren rechten Arm leicht, reibt sich die Träne von der Wange. In diesem Moment fühle ich mich furchtbar. Ich weiß nicht weshalb. Ich verstehe nichts, aber ist es das, was mich neugierig macht? Denn das Problem ist, dass ich es wissen muss, nicht nur will. Es ist die Neugier, die mich tiefer einsinken lässt und ich konnte sie noch nie unter Kontrolle halten.
<<Sie haben Recht, wir gehen lieber.>>
<<Nein, das war eine dumme Idee. Sie sollten lieber erstmal nach Hause und sich ausruhen>>, sage ich.
<<Nein, ich weiß nicht, was Sie haben. Mir geht's gut, auf geht‘s.>>
<<Sie brauchen sich doch nichts vormachen>>
<<War das eine Frage? Nein! Also, auf geht's!>>, sagt sie aufgeregt.
Sie kennt mich nicht und hat eine Form von Offenheit mir gegenüber, völlig vertraut. Es ist, als kenne ich sie schon länger.
Die Tür gibt einen schrecklich lauten, quietschenden Ton von sich, als ich sie mit Schuldgefühlen umhüllt von einem Hauch Neugier öffne. Ich möchte nicht loslassen. Ich möchte einfach nicht losgehen und dem peinlichen Schweigen lieber entfliehen. Aber sie steht dort, so wunderschön mystisch, den Kopf geneigt zur Sonne. Ihre Haare wehen wie ihr Kleid im warmen Spätsommerwind, betont von den pinken Kirschbaumblüten und dem Farbkontrast des warm-gelben Himmels an sich. Und würde ich ihr Gesicht sehen, dann würde es mich bestimmt blenden wie die Abendsonne es tut, wenn sie von oben auf mein Haus strahlt. Sie und ihre Umgebung, sie würden ein perfektes Gemälde abgeben. Meine Augen schauen ihr nach und lassen sie nicht los. Ich schließe die Tür hinter mir und schiebe den Schlüssel unter die verdreckte Fußmatte auf dem Altgestein vor meiner Haustür. Es liegt eine peinliche Stille in der Luft und unsere beiden Gesichter spiegeln die Stimmung in allen Facetten.
Aufgeholte Euphorie definiert von Blumenduft.
<<Wegen vorhin ...>>, beginnt Dina.
<<Ist schon ok, ich habe versucht, es mir auszumalen. Wenn Sie darüber nicht reden wollen, dann müssen Sie es auch nicht tun, gar keine Frage. Wir vergessen das einfach und gehen zu diesem See>>
Ihr Blick fokussiert den Boden, jeden einzelnen Stein und es scheint, als würde sie die Steine zählen. Jeden Einzelnen.
<<Ist es nicht komisch, dass ich denke, dass ich Ihnen vertrauen kann?>>, fragt sie.
<<Ich verstehe nicht ganz...>>, sage ich in der Hoffnung Genaueres herausfinden zu können.
<<Ich hatte noch nie wirklich dieses Gefühl. Selbst für mich ist es einfach unerklärlich. Sie erinnern mich ein wenig an eine Person, die mir sehr am Herzen lag. Dabei habe ich vielleicht 3 Sätze mit Ihnen ausgetauscht.>> Sie kichert kurz und fährt fort: <<Kitschig, nicht? Ich hoffe Sie fühlen sich jetzt nicht unwohl oder so.>> Dann kichert sie wieder zierlich.
<<Ach, so ist das.>>
<<Es ist einfach schön, mal wieder etwas Zeit mit Jemanden zu verbringen. Dazu hatte ich schon ewig keine Chance mehr>>, lächelt sie verlegen und legt ihre Hand lässig auf ihren Hinterkopf.
Und mit ihren Worten verfalle ich in Gedanken über mich und realisiere, mir ging es ähnlich.
<<Man hat wohl gewollt, dass wir uns treffen>>, sage ich unbedacht.
<<Huch?>>, hickst sie auf.
<<Wenn ich ehrlich bin, ging es mir ähnlich. Ich hatte auch nur einige Freunde. Naja, zwei um genau zu sein. Einer lebte sogar hier in Lilia, ein Anderer war ein einfacher Schulkamerad. Ich weiß nicht, vielleicht war es nicht einmal ein Freund. Sagen wir's so: Er konnte mich ausstehen.>>
<<Ich wünschte, ich hätte damals eine Schwester oder meinetwegen einen Bruder gehabt. Dann wäre alles anders gekommen>>, sagt sie.
<<Was meinen Sie?>>
<<Wie es halt ist. Hmmm ... es wäre bestimmt vieles anders.
Vielleicht wäre ich jetzt sogar auf einer Hochschule oder auf einer Universität in London. Man weiß nie, wie es gekommen wäre.>>
Ihre Stimme steckt voller Hoffnung.
Die Luft ist frisch. Es ist was neues für mich, jemanden Dinge zu erzählen, die sonst nur in mir schreien und gegen meinen aus härtestem Ton erbauten Schädel klopfen. Es tut einfach gut, alles loszuwerden. Ein kleines Stück loszulassen und es fallen zu lassen. Ganz tief. In die tiefste Schlucht oder auf den tiefsten Meeresgrund. Ich wollte ihre Hürde überspringen und übersprang eine meiner, wie grotesk.
Ich kann in ihren Augen sehen, dass sie nicht darüber reden will.
Verständlich, wenn es ein schwieriges Thema ist.
<<Wer weiß das schon. Nur Gott.>>
Ihre weinroten Lippen reflektieren etwas Sonnenlicht, als sie spricht:
<<Gott … An den glaube ich schon lange nicht mehr.>>
Das Glänzen in ihren Augen versteckt selbst den Spätsommerhimmel hinter einen wunderschönen, dunkelroten Schleier. Nichts desto trotz verliert langsam aber sicher auch dieser an Glanz und die ersten Windstreifen streicheln meine Haut.
Es ist merkwürdig, dass sie so offen ist, obwohl sie mich nicht einmal kennt und mir ihre Denkweisen ohne Hintergedanken offenbart, sodass sie vor meinen Augen die ein oder andere Träne verliert.
Aber das ist vielleicht eines der Dinge, die ich so an Lilia liebe. Die Offenheit der Menschen. Sie sind alle in keiner Weise verschlossen, ja, genau so wenig wie ihre Haustüren bei Nacht.
<<Wenn ich zu merkwürdig werde, sagen Sie es ruhig.>>
<<Wie Sie meinen. Ich kann Sie jedoch verstehen>>
Trotz meiner Worte weiß ich nicht, wie ich meine Neugier erklären soll. Am besten gar nicht. Sie ist etwas Besonderes, auch wenn ich mir nicht erklären kann, wieso. Die Frage tut sich des Öfteren auf, warum sie mir alles anvertraut, nach den maximal drei Stunden, die ich sie kenne. Es ist total ungewöhnlich, aber ich will es herausfinden. Wer sie ist, die keiner kennt.
Über uns ziehen allmählich graue Wolken, tunken die Sonne in ein helles Schwarz, sodass ein Schatten die Sonnenstrahlen ersetzt, in denen wir den Kiesweg begehen. Mit ihnen kommt ein eiskalter Wind von der Seite. Es zieht. Das hohe Gras am Wegrand neigt sich von allen Seiten. Die Frau geht unbedenklich weiter, während sie mich beobachtet, wie ich meine Knöpfe an meinem Mantel zuknöpfe.
<<Es ist etwas kühl, finden Sie nicht?>>, spricht sie.
<<Worauf wollen Sie hinaus?>>
<<Wenn Sie wollen, können wir zurück und morgen weiter. Ich sehe, dass Ihnen kalt ist.>>
<<Ach Quatsch! Es ist nicht mehr weit. Und wer weiß, ob das Wetter morgen besser sein wird? Wofür heute du kannst sorgen, das verschiebe nicht auf morgen! Sagt man sich doch so, oder nicht?>>
<<Wie Sie wollen.>>
Sie summt eine Melodie. Eine trübe Melodie. Melancholisch aber entspannend zugleich. Wie das Rauschen des Meeres an einem späten, weinroten, leicht orangenen Sommerhimmel. Doch der Himmel über unseren Köpfen würde für's Erste trüb bleiben, anders als wir zwei Menschen der Natur.
<<Was summen Sie da?>>
<<Die Hymne des Bösen. Der Name mag abschreckend wirken, aber die Melodie ist wunderschön. Meiner Meinung nach.>>
<<Ja, das ist sie. Ich finde sie echt schön. Woher kennen Sie sie?>>
Sie summt weiter.
<<Es basiert auf einer Sage über dieses Dorf>>
Meine Neugier blüht auf, wie eine jede Lilie am Wegrand der von blassen Schatten verdreckten Straße.
<<Erzählen Sie schon.>>
<<Sie wollen sie nicht hören>>, streitet sie ab.
<<Und wie ich es will!>>, lächele ich.
<<Sie werden es nicht gehört haben wollen.>>
Sie beißt sich an dieser Meinung fest, sodass es mir so oder so unmöglich ist und zu auffällig noch dazu, sie weiter nach dieser Sage auszufragen.
Im Blumenmeer tanzen die Blumen zu ihrem Lied, sie neigen sich sanft. Bunte Farben übermalen das Grau, welches über dem Dorf liegt, wie eine Decke. Es scheint als gäbe es eine Aura in diesem Dorf, welche Blumen schneller und schöner wachsen lässt, in allen Farben des Regenbogens, wobei doch Rot dominiert.
Sie tut so vertraut. Wenn sie so weiter macht, dann tue ich das auch.
Ihre Haare wehen sanft im Wind, zur Melodie ihres eigenen Gesangs. Es ist, als würde sie alles steuern, den Wind, die Wolken. Und ich verliere mich jedes Mal in Gedanken, wenn ich sie anschaue. Dabei will ich das nicht, ich will nicht über sie nachdenken. Ich will nur wissen, wer sie ist.
Der Wind schlängelt sich an meinem Körper runter, wie ein kaltes Reptil, strebend nach Wärme.
<<Und du findest es wirklich schön hier?>>, fragt sie nachdenklich und dreht ihren Kopf um 90 Grad zur Seite und circa zwei bis drei Grad nach oben. Sie schaut mir direkt in die Augen und ihr Blick durchbohrt mich. Es ist schon komisch, wie ähnlich ihre Augen den meinen sehen, bemerke ich, als sich mein ganzes Gesicht samt Farbe und Kontrasten in ihren leuchtenden Augen spiegelt.
<<Wunderschön.>>
<<Ja, sehr sogar>>, sagt sie hingebend sanft und schaut mir noch in die Augen.
<<Ich meine grauenvoll, ekelig>>, fährt sie fort als sie ihren Kopf wieder ruckartig wegdreht. Wenn sie mir eben meine Augen komplimentiert hat, dann war es nicht zu überhören.
Ihr makelloses Erscheinen mag nur ein Schein sein. Und ich würde ihr weiter trauen.
Am Ende des Kiesweges beugt sich das hohe Gras nach rechts. In der Melodie des Windes tanzen sie. Das Wiesenmeer spült die eine oder andere Welle auf den Kiesweg. Mit einmal verschafft mir der Wind Sicht hinter das Gras des Straßenendes. Die Gräser beugen sich kurz so tief, dass ich nur ganz leicht erkennen kann, was dort sein mag. Ich sah etwas Reflektierendes, es war wohl Wasser. Das muss der See sein von dem sie sprach. Einige Vögel setzen Dinas Melodie fort, sie singen im Rhythmus, in dem die Kieselsteine unter meinen Füßen knirschen. Es ist, als ob die Natur ihr Freund wäre.
<<Er ist nicht groß, außerdem etwas dreckig, aber ich finde er hat was. Irgendetwas Besonderes. Ich weiß auch nicht. Vielleicht bilde ich es mir ja auch nur ein>>, sagt die Frau. Vor uns befindet sich eine Art etwas größere Pfütze. Ein beinahe zugewachsener Teich.
Baden würde ich darin nicht, schon alleine aus der Angst, die Pflanzen würden meine Beine umschlingen und mich in die endlose Tiefe dieses doch so kleinen Teiches zerren. Sie löst sich von der Stille, streckt ihre Arme aus und überwältigt mit einer eleganten und doch verspielten Umdrehung.
<<Wunderschön, oder?>>, kichert Dina.
<<Ja>>, bist du.
Das Mädchen tanzte gerne. Ihr Leben war kalt wie jede einzelne Fassade dieser Hütte.
Die Bretter sind kalt, nass und mit Moos bedeckt. Die Hütte riecht nach faulem Fisch, der Teich nach Verwesung. Am intensivsten jedoch sticht der Blütenduft in die Nase, unerklärlich, wie dieser sich durch die anderen Schichten der Gerüche kämpft.
Sie hopst am Teichrand entlang als sie sich im Moorwasser spiegelt.
Ihre Hand fährt durch ihr Haar als sie bis auf den Grund hinab in das Wasser schaut, in der Hocke, nur einige Millimeter vom Wasser weg. Die andere Hand in ihrem Schoß, auf ihrem mit dunkelroten, wunderschönen Blumen auf hellrotem Hintergrund verziertem Kleid. Sie hält Balance zwischen dem Fall und dem Stand.
<<In der Tat, wundervoll>>, flüstere ich leise vor mir her, sodass meine Worte sich mit dem Wind verabschieden. Ein eingeschlagenes Fenster auf der rechten Seite dieser halbzerfallen Hütte lässt ahnen, dass hier jemand randaliert hat. Man hat versucht, ein Brett quer darüber festzunageln. Die Eingangstür, total filmreif. Ein Westernfilm schlechthin mit dem Zaun und dem kleinem Fundament. Der alte Mann mit der Pfeife im Mund und einem goldenen Stern auf der Weste würde das Bild komplettieren. Das Mädchen rennt und im Lauf spielt der Wind eine helle Klangmelodie. Sie hält etwas in ihrer Hand, eine Art Glockenspiel.
<<Guck mal, ich hätte nicht gedacht dass das noch hier liegen würde!>>
<<Wie alt ist das denn?>>
<<Ich weiß nicht genau, wann ich es bekommen habe. Keine Ahnung, aber es ist ewig her! Eine ganze Ewigkeit!>>
Das Windspiel klimpert die Melodie, während das Mädchen sie aufhängt, so hoch wie möglich.
<<Uralt>>, spreche ich leise.
<<Schon, aber wunderschön, finden Sie nicht? Die Hütte spiegelt sich am nahen Wasser, und sehen Sie, wie elegant sich die orangefarbigen Blätter der Reihe nach auf dem Wasser niederlassen, und wie die Vögel auf dem Dach der Hütte ihr Lied zum Glockenspiel anpassen. Eigentlich hat dieser Platz doch was, man muss die Schönheit nur finden, anstatt ihr nachzutrauern.>>
<<Alt bedeutet nicht gleich schlecht, das haben Sie gut gesagt. Sie haben total Recht.>>
Das Mädchen lächelt mich an, und ich zurück. Sie öffnet mir die Augen, ich kann wahrscheinlich noch viel von ihr lernen, erstaunlich wie sich alles gewendet hat.
<<Jack? Darf ich Sie etwas fragen?>>
<<Sicher.>>
<<Es ist eher persönlich.>>
<<Keine Bange, ich bin ein offenes Buch.>>
<<Ich wollte gerne wissen, wie alt Sie sind.>>
<<Lassen Sie mich überlegen, wissen Sie, mein Gedächtnis ist nicht mehr so auf Trapp>>, lache ich. <<Scherz! ich bin 25 Jahre jung.>>
<<25 also. Dann leben Sie zum ersten Mal alleine?>>
<<Nein nicht wirklich, ich habe schon vorher in der Stadt alleine gewohnt. In so einem komischen Hochhaus. Die Miete dort war beinahe doppelt so hoch als würde man hier ein komplettes Haus kaufen.>>
<<Ach so?>>, schaut sie mich fragend an, etwas verwundert
<<Dort ist also wirklich alles so teuer, wie man hier meint?>>
<<Hmm? Was sagt man hier?>>
<<Nun ja, alles soll angeblich teurer sein als hier, aber das kann ich nicht beurteilen, verstehen Sie? Man sagt auch, dass das Zusammenleben nicht so schön ist wie auf dem Land.>>
<<Ach, ist das so?>>, frage ich wiederholt, als auch mir auffällt wie viel Wahrheit hinter der Behauptung eigentlich steckt <<Irgendwie, haben Sie ja Recht.>>
<<Erzählen Sie mir doch etwas über die Stadt! Wie ist es dort? Es muss wundervoll sein.>>
Sie strahlt eine Form von Ruhe aus, während sie vor dem See hockt und lächelt. Sie schaltet die Welt um sich aus mit dem verrosteten Lichtschalter, der vorher nie benutzt wurde. Das Mädchen ist sich einer negativen Antwort nicht bewusst. Das Mädchen weiß nicht, wie frei sie ist.
<<Nun ja...>> Um ehrlich zu sein, ist die Stadt nicht schön und das weiß eigentlich jeder, aber verschweigen tun sie es auch. Viel eher verdrängen sie es, dass die Städte stinken, nach Benzin, dass sie laut sind, wie ein Flugzeug und kaputt, wie verwüstet durch eine Atombombe, es scheint alles besser als es ist und das wissen alle.
<<Ja, es ist schön dort>>, spreche ich.
<<Ich will dort auch unbedingt mal hin, einmal in meinem Leben will ich in einem Restaurant sitzen, das überteuerten Kaffee anbietet, und wo man von neuen Leuten umzingelt ist. Wo die Autos vor der Tür nicht parken, sondern fahren. Ich möchte einmal in ein Museum, aber in ein großes! Und da ist eine Sache, die ich unbedingt machen will...>>
Museen, Kaffees...
<<... Ich will einmal unbedingt... Ein einziges Mal ein Theaterstück ansehen.>>
<<Ein Theaterstück?>>, frage ich.
<<Ziemlich kitschig, was?>>
<<Nein, ganz und gar nicht. Nur, ich habe selbst noch nie eins gesehen.>>
<<Tut man sowas nicht wenn man in der Stadt lebt? Ich dachte das gehört dazu.>>
<<Schon... aber...>>, aber?
<<Aber?>>
<<Nun ja, viel Zeit hatte ich nicht, ich musste mich um die Arbeit kümmern und hatte einfach zu viel um die Ohren.>>
Mich um die Arbeit kümmern, dass ich nicht lache.
<<Vielleicht will ich auch mal eins aufführen. Vielleicht werde ich mal Schauspielerin.>>
<<Scheint mir gut möglich. Ich sehe schon die Straßenschilder aufleuchten mit Ihrem Namen... New York, Paris, Berlin. Welches Genre gefällt Ihnen denn am besten?>>
<<Weiß nicht, was gibt es?>>
<<Huch? Sie scheinen sich noch nicht so auszukennen.>>
<<Richtig.>>
<<Hmm mal überlegen... Es gibt unzählige … Das Drama, die Komödie, die Tragödie, und sogar Zauberstücke werden vorgeführt in einem Theater.>>
<<Zauberstücke?>>,
Das Mädchen steht auf und schaut mir gespannt in die Augen.
<<Ja, sogar Zauberstücke.>>
<<Wow, die Stadt ist ja wirklich ein wunderbarer Ort.>>
<<Wenn ich dort mal vorbeischauen sollte, nehme ich Sie mit>>,
verspreche ich ihr.
<<Das würden Sie tun? Vielen Dank.>>
Es ist kurz still und wir lehnen uns auf der Treppenstufe zurück. Der Wind pustet uns eine kleine Brise in den Nacken und auf das Gesicht. Ein warmer Sommerwind, während sich die Herbstblätter bereits von den Ästen verabschieden. Ob wir wie Blätter sind? Ob wir gehen, wenn es uns zu kalt wird und wir nur bleiben, wenn es für uns angenehm ist? Ich denke, das beschreibt uns Menschen ziemlich genau.
<<Jack?>>
<<Ja?>>
<<Duzen Sie mich doch bitte ab jetzt.>>
<<Na- natürlich, we- wenn Sie so wollen, eh, du so willst, meine ich. Dann duz du mich doch bitte auch.>>
<<Ja mache ich, das ist viel persönlicher, stimmt's?>>
<<Ja haben S... oh Mann, oh Mann ist das schwer>>, lache ich und das Mädchen lacht mit mir. Ich kann ein echtes Mädchen