I've been looking for Frieden - Maik Brüggemeyer - E-Book

I've been looking for Frieden E-Book

Maik Brüggemeyer

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Beschreibung

Wo waren Sie, als David Hasselhoff die Mauer niedergesungen hat?

Popsongs erzählen Geschichten: von der ersten Liebe, dem ersten Rausch und der ersten eigenen Wohnung. Und manchmal auch die Geschichte eines ganzen Landes und seiner Bewohner, ihrer Ängste und Sehnsüchte. Maik Brüggemeyer hat zehn Songs ausgewählt, in denen sich die wichtigsten Momente der deutschen Geschichte spiegeln. Sie erzählen von der Italiensehnsucht der Fünfzigerjahre über die 99 Luftballons des Kalten Krieges bis hin zu der sommermärchenhaften Erkenntnis, dass dieser Weg wohl kein leichter sein wird. Und damit zugleich von Schuld und Rebellion, Tanz und harter Arbeit, Terror und einer friedlichen Revolution.
Und um diese Lieder wird es gehen: Rudi Schuricke, »Capri-Fischer«; Franz Josef Degenhardt, »Deutscher Sonntag«; Can, »Father Cannot Yell«; Nena, »99 Luftballons«; David Hasselhoff, »I’ve Been Looking For Freedom«; Marusha, »Over The Rainbow«; Rammstein, »Links, 2, 3, 4«; Xavier Naidoo, »Dieser Weg«; und Balbina, »Nichtstun«.

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Seitenzahl: 288

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MAIK BRÜGGEMEYER, geboren 1976, hat in Münster Politikwissenschaft, Kommunikationswissenschaft sowie Angewandte Kulturwissenschaften studiert und arbeitet seit 2001 beim »Rolling Stone«. Er schreibt über Musik, Literatur und Film und veröffentlichte zwei Romane, zuletzt »Catfish. Ein Bob-Dylan-Roman«. »I’ve Been Looking for Frieden« ist sein erstes Sachbuch.

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Maik Brüggemeyer

I’VE BEEN LOOKING FOR FRIEDEN

Eine deutsche Geschichte

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Copyright © 2018 Penguin Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlag: www.buerosued.de

Umschlagmotiv: Mauvivius Images/Chris Davies/Alamy

Redaktion: Jürgen Teipel, Schondorf

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-22368-7 V002

www.penguin-verlag.de

Inhalt

Einleitung Es riecht nach gewaschenen Autos, nach Bratkartoffeln und enttäuschter Hoffnung Wie ein Land sich in seinen Liedern spiegelt

Erstes Lied Capri-Fischer Weshalb es die Deutschen in die Ferne zog

Zweites Lied Deutscher Sonntag Warum die deutsche Gemütlichkeit trog

Drittes Lied Father Cannot Yell Wie die junge Generation eine neue Sprache fand

Viertes Lied Macht kaputt, was euch kaputt macht Wie sich die deutsche Linke zerlegte

Zwischenspiel Um die weite Welt zu sehn Von einem Ausgewiesenen und einem Ausgereisten

Fünftes Lied 99 Luftballons Warum die deutsche Friedensbewegung Haare unter den Achseln hatte

Sechstes Lied Looking for Freedom Warum die Deutschen David Hasselhoff liebten, und was das mit der Einheit zu tun hat

Siebtes Lied Somewhere Over the Rainbow Wie in einer zerfallenen Stadt ein neues Land entstand

Achtes Lied Links 2 3 4 Wer ist eigentlich »wir«, und wie viele sind das genau?

Neuntes Lied Dieser Weg Warum ein deutsches Märchen harte Arbeit ist

Zehntes Lied Nichtstun Warum es dem politischen System nicht guttut, wenn wir uns langweilen

Die Lieder

Auswahlbibliografie

Filme

If I had been a young German in the 1960s

I would have played Krautrock or died.

Julian Cope

Die Mauer im Rücken war kalt

Schüsse reißen die Luft.

Doch wir küssen

als ob nichts geschieht.

David Bowie

Der Summer of Love kam – mit kurzer Verspätung –

im Herbst in Deutschland an.

Westbam

Einleitung Es riecht nach gewaschenen Autos, nach Bratkartoffeln und enttäuschter Hoffnung Wie ein Land sich in seinen Liedern spiegelt

Als Kind ist es einem völlig egal, wo man lebt. Man weiß nichts von Vierteln, Städten, Ländern oder Kontinenten. Mir wurde erst im Alter von sechs Jahren bewusst, dass ich in einem Land zu Hause war, das »Deutschland« hieß, und dass dieses Land eine Vergangenheit hatte, von der man immer noch sprach und die somit wohl noch gar nicht so ganz vergangen war. Denn auf einmal redeten mein Vater und mein Großvater bei jeder Gelegenheit über »die Deutschen« oder »Deutschland«, die »deutsche Nationalmannschaft« oder »unsere deutsche Mannschaft«, oft in Verbindung mit mysteriösen Ereignissen wie der »Schmach von Córdoba« und dem »Wunder von Bern«, dazu fielen Namen wie Fischer, Förster und Müller – einige Kinder in der sogenannten roten Gruppe im Kindergarten, der ich die vergangenen zwei Jahre angehört hatte, hießen ebenfalls so. Es war der Sommer 1982, in Spanien fand die Fußball-Weltmeisterschaft statt.

Ich durfte die erste Halbzeit des Finales im Fernsehen anschauen, weil mein Vater meinte, das sei wichtig. Deutschland spielte gegen Italien. Die Partie begann mit zwei Liedern. Eines klang so leicht und beschwingt wie die Musik, die die Feuerwehrkapelle unseres Dorfes während des Schützenfestumzugs spielte (nur ein bisschen komplizierter), und wurde von den Spielern in den blauen Trikots und weißen Hosen lauthals mitgesungen. Das andere erinnerte mich an die Marschmusik, die mein Großvater manchmal hörte, war schwer und getragen, und niemand sang mit. Das sei die deutsche Nationalhymne, erklärte mein Vater, und Opa meinte, er komme da jedes Mal mit den Strophen durcheinander und singe deshalb auch nie mit.

Ich fand das alles nicht sonderlich interessant; ich mochte das Lied »Skandal im Sperrbezirk« der Spider Murphy Gang, das ich auswendig kannte, aber nicht laut singen durfte, weil meine Mutter meinte, das gehöre sich nicht (warum, erklärte sie mir allerdings nie; ebenso blieb sie die Auskunft schuldig, wer oder was denn diese »Nutten« waren, von denen dort gesungen wurde und die sich vor der großen Stadt »die Füße platt« standen).

Als das Spiel losging, faszinierte mich vor allem der Torwart der Italiener, weil er mich an Mister Spock aus der Fernsehserie Raumschiff Enterprise erinnerte. Außerdem mochte ich einen von »unseren« Stürmern, weil der so lustige O-Beine hatte und wohl deshalb wie der betagte Dackel unserer Nachbarn lief (und seltsamerweise auch so schaute). Mein Vater meinte schon nach einer Viertelstunde, der müsse dringend ausgewechselt werden. Ich fragte ihn, bei welchem Verein mein neuer Lieblingsspieler denn spiele. »Der spielt bei Köln«, sagte er und fügte für mich vollkommen unergründlich hinzu: »Ein Geißbock.« »Dann bin ich ab jetzt Köln-Fan und auch ein Geißbock«, erklärte ich daraufhin, und mein Vater meinte, dass man in unserer Gegend eigentlich Dortmund- oder – »Gott behüte!« – Schalke-Fan sei, dass Köln aber auch in Ordnung wäre.

Von da an schaute ich mir im Fernsehen alles an, was mit Köln zu tun hatte – die Karnevalsumzüge, das volkstümliche Millowitsch-Theater und natürlich die Sportschau, bei der ich jeden Samstag mit »Litti« mitfieberte, so nannte man den kleinen säbelbeinigen Stürmer, dessen vollständiger Name nicht wie der eines meiner Kindergartenfreunde klang, sondern wie eine eigentümliche Mischung aus jenem trottelig-liebenswerten französischen Komiker, den ich so mochte, und dem polnischen Schuster im Nachbardorf. Pierre Littbarski. Er stammte auch gar nicht aus Köln, sondern – wie ich schließlich dem Fußballstickeralbum von Christian aus der 1b entnahm – aus Berlin, West-Berlin, um genau zu sein. West-Berlin (damals im Gegensatz zu Westdeutschland meist mit Bindestrich geschrieben; es war alles sehr kompliziert) war weit weg, und da kam man nicht ohne Weiteres hin, weil man da durch ein anderes Land fahren musste, das kurioserweise ebenfalls Deutschland hieß, wie mein Vater mir erklärte. Doch nach Köln könnten wir für ein Fußballspiel schon mal fahren.

Als ich dann tatsächlich im Müngersdorfer Stadion auf der Gegengerade saß, musizierte vor dem Spiel auf dem Rasen eine Band, die sich Bläck Fööss nannte, was erstaunlicherweise die nackten und nicht etwa die schwarzen Füße hieß. Ich war hin und weg, weil alle Fans aus vollen Kehlen mitsangen, wie ich das bisher nur an Ostern oder Weihnachten in der Kirche erlebt hatte. Das Lied hieß »En unserem Veedel« und wäre, so dachte ich, eigentlich die bessere Nationalhymne, weil es davon handelte, dass die Welt nur schön sein kann, wenn man sie sich zusammen schön macht und einander in schwierigen Zeiten hilft. Da war jede Strophe irgendwie gut, auch wenn ich nur die Hälfte verstand.

Es dauerte Jahre, bis ich im Geschichtsunterricht lernte, dass es in der Nationalhymne um etwas ganz Ähnliches ging – »Einigkeit und Recht und Freiheit / für das deutsche Vaterland! / Danach lasst uns alle streben / brüderlich mit Herz und Hand!« – und dass es einen Staat namens Deutschland noch nicht gegeben hatte, als der Dichter August Heinrich Hoffmann aus dem niedersächsischen Fallersleben diesen Text 1842 während einer Helgolandreise zur Melodie von Joseph Haydns »Gott erhalte Franz den Kaiser« geschrieben hatte, ja, dass er mit seinem »Lied der Deutschen« die Deutsch sprechenden Menschen gegen ihre Feinde vereinen wollte und außerdem auch »Alle Vögel sind schon da«, »Ein Männlein steht im Walde« und »Morgen kommt der Weihnachtsmann« gedichtet hatte.

Als ich das erfuhr, hatte ich bereits eine weitere Band aus Köln entdeckt, deren Lieder bei den Partys in unserem Jugendheim gern aufgelegt wurden. In einem erzählte der Sänger – mein Verständnis der Mundart war mittlerweile gut genug, um das nachvollziehen zu können –, wie er das Grab seines Vaters besuchte, mit dem er sich wohl zu dessen Lebzeiten nicht besonders gut verstanden hatte. Ein anderes war schwerer zu entschlüsseln, es hieß »Kristallnaach«:

Et kütt vüür, dat ich mein, dat jet klirrt,

dat sich irjendjet enn mich verirrt.

E’ Jeräusch, nit ens laut,

manchmohl klirrt et vertraut,

Selden su, dat mer’t direk durchschaut.

Mer weed wach, rief die Auren un sieht

enn ’nem Bild zweschen Breughel un Bosch

kei Minsch, dä öm Sirene jet jitt,

weil Entwarnung nur halv su vill koss.

Et rüsch noh Kristallnaach.

Breughel und Bosch fand ich in unserem Knaur-Lexikon. Das waren niederländische Maler zur Zeit der Renaissance gewesen. »Kristallnaach« war da seltsamerweise nicht verzeichnet, schon gar nicht in dieser Schreibweise (bei nochmaliger Durchsicht des mittlerweile vergilbten und beim Aufschlagen ein staubiges Bouquet verströmenden Buches stelle ich nun fest, dass ich nicht unter »K« wie »Kristallnacht«, sondern unter »R« wie »Reichskristallnacht« hätte suchen müssen). Die Mutter eines Freundes erklärte mir, was das Wort bedeutete: Deutsche hatten ein halbes Jahrhundert zuvor eines Nachts die Fensterscheiben anderer Deutscher, die eigentlich an den gleichen Gott glaubten, nur irgendwie anders, eingeschlagen, sie gefangen genommen und viele von ihnen ermordet, ihre Läden geplündert, ihre Kirchen, die sie Synagogen nannten, angezündet und ihre Friedhöfe geschändet. Und das war erst der Anfang einer dunklen Zeit gewesen, über die inzwischen niemand gerne sprach. Kein Wunder, dass wir uns im Geschichtsunterricht immer noch mit den langweiligen alten Fuggern aufhielten. Es gab nicht nur das »Wunder von Bern« und die »Schmach von Córdoba«, es gab noch eine andere deutsche Geschichte. Und wenn man diesem Lied glauben durfte, war der Rauch der brennenden Synagogen noch immer zu riechen, und Menschen, die so dachten wie die Mörder und Brandstifter vor einem halben Jahrhundert, kamen langsam wieder aus ihren Verstecken hervor.

Über so was konnte man tatsächlich ein Lied schreiben. Und man konnte es sogar mitsingen und dazu tanzen. Im Jugendheim in Hörstel-Riesenbeck. Und BAPs »Kristallnaach« war nicht das einzige Lied, zu dem die Leute tanzten und das von dem Land handelte, in dem wir alle lebten. Ein Sänger mit heiserer Stimme, der sich Rio Reiser nannte, sang davon, was er tun würde, wenn er König oder wenigstens Kanzler von Deutschland wäre:

Ich denk mir, was der Kohl da kann, das kann ich auch,

ich würd’ Vivaldi hörn tagein tagaus,

ich käm’ viel rum, würd’ nach USA reisen,

Ronny mal wie Waldi in die Waden beißen.

Auch in diesem auf den ersten Blick eher leichten und komischen Song war etwas über die Geschichte und die Mentalität dieses Landes aufgehoben, fand sich – wie ich heute weiß – die deutsche Gemütlichkeit und Lethargie unter dem Kanzler Helmut Kohl und die Forderung nach einer Emanzipation vom großen Bruder im Westen und seinem konservativen Präsidenten Ronald Reagan.

Und dann fiel mitten in meiner bundesdeutschen Jugend die Mauer, und bei Partys im Jugendheim lag man sich in den Armen, wenn zwischen »Kristallnaach« und »51st State« von New Model Army Marius Müller-Westernhagens »Freiheit« erklang: »Alle die von Freiheit träumen, sollen’s Feiern nicht versäumen«, grölte der dünne Mann. Und von Freiheit träumten wir schließlich alle. Denn wenn wir nicht gerade feierten, heimlich unsere ersten Biere tranken oder die Draufgängerischen von uns sich mit den komplexen Verschlussvorrichtungen der in vielen Fällen noch relativ funktionslosen Büstenhalter unserer Mitschülerinnen beschäftigten, fühlten wir uns wie Gefangene – im eigenen Körper, im Elternhaus, in der Biederkeit und Beschränktheit unseres Dorfes.

Wir hatten erste Ausbruchsfantasien, die aber erst ein junger Mann, der quasi aus der Nachbarschaft kam, nämlich aus Ostwestfalen, mit einer hellen, wütenden Chorknabenstimme auf den Punkt brachte. Er war Sänger einer in Hamburg lebenden Band, die sich nach einer Erzählung von Franz Kafka Blumfeld nannte. Ihre erste Single hatte den mein jugendliches Herz treffenden Titel »Ghettowelt«. Noch besser war aber der Titelsong der ein paar Monate später erschienenen LP Ich-Maschine:

Zurück zum Haus

zwischen den Gleisen und dem Garten,

in dem die Apfelbäume warten, auf die ich kletterte,

mich vor Erdanziehung rettete, bis jemand rief

und ich dann in die Küche lief auf meinen Platz,

den ich verließ wie einen Glauben,

wie die Klassenzimmer, Sportplätze, Partykeller,

Sicherheitszonen, geschaffen von Eltern

und Menschen, die in Luftschutzbunkern wohnen,

in denen du sonst nichts vermisst außer dir selbst,

und sobald du dich fragst, wer das ist,

und ob du dich fragst, wer das ist,

und ob du dir so, wie du bist, gefällst,

wird das der Moment, in dem du das Gebäude verlässt,

mit ihm einen Berg von Leichen, deine,

ich sah meine auf den Schienen bei gestellten Weichen

ein letztes Mal die Köpfe schüttelnd liegen

und fuhr fort und drüber weg.

Auch der ebenfalls aus Ostwestfalen stammende Songwriter Bernd Begemann wollte ausbrechen, den sauberen Fußgängerzonen, den Gemütlichkeiten und Gemeinheiten der Kleinstädte entkommen. »Und heute Nacht liege ich wach, denn Deutschland dröhnt und droht, Deutschland stöhnt und schont niemanden, der es bewohnt«, sang er in einem Lied mit dem Titel »Deutsche Hymne (Ohne Refrain)«, und natürlich erinnerte das an den Eingangsvers von Heinrich Heines »Nachtgedanken« aus dem Deutschunterricht – »Denk ich an Deutschland in der Nacht, dann bin ich um den Schlaf gebracht« –, in dem der Dichter sich allerdings nicht etwa um das Land sorgte, das er 1831 (durchaus aus Frust über die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse und vor allem über die Diskriminierungen, denen er sich als Jude zu jener Zeit ausgesetzt sah) verlassen hatte, sondern um seine alte Mutter, die er seit seiner Emigration nach Paris nicht mehr gesehen hatte und mit der er sich Briefe schrieb.

Begemann hatte Deutschland nicht verlassen. Er war zwar von Bad Salzuflen nach Hamburg gezogen, kehrte aber in diesem Lied in die Provinz zurück:

Der Wind in unserer Siedlung

hat einen eigenen Geruch,

man kann ihn lesen wie ein Buch.

Es riecht nach gewaschenen Autos,

nach Bratkartoffeln

und enttäuschter Hoffnung,

nach frisch ausgepackten Möbeln

und nach sexuellen Tragödien.

Doch das kann noch nicht alles sein, denkt der Sänger sich. Hinter den Carports, Häusern und Vorgärten muss noch ein Geheimnis liegen. Und also macht er sich, wie der Protagonist eines Bildungsromans, auf den Weg, lässt sich eines Nachts vom Bratkartoffelwind der Siedlung hinaustreiben:

Über die Dörfer,

über die Städte,

über die schmutzigen Flüsse

und die zierlichen Bäche,

die hässlichen Straßen und die mächtigen Trassen,

oh, dort will ich heute Nacht sein.

An den geheimen Orten, wo sich Liebende treffen

und wo sie sich viel zu viel versprechen.

In den stillen Küchen, in den lauten Fabriken,

in den unbeobachteten Augenblicken,

dort will ich sein.

Denn ich will dieses Land verstehen, ich will dieses Land verstehen.

Vielleicht helfen uns Lieder wie dieses tatsächlich, das Land, in dem wir leben, besser zu verstehen, etwas über seine Geschichten und Geheimnisse zu erfahren und zu erkennen, dass es da mehr gibt als Einfamilienhäuser mit Vorgärten und Carports, Siedlungen und Fußgängerzonen, nämlich Bürger mit Hoffnungen und Zweifeln, Ideen und Sehnsüchten, Liebe und Wut und eine offene und lebendige Kultur, die Mauern überwinden und Menschen verbinden kann, unabhängig von ihrer Herkunft.

Viele mögen, wenn sie an Musik denken, die eng mit dem deutschen Schicksal oder gar der deutschen Seele verknüpft ist, nicht unbedingt an die in diesem Buch versammelten Lieder denken, die in einigen Fällen aus der Liebe zu einer amerikanischen Songtradition geboren sind, sondern eher an die Minne- und Meistersinger, an die Choräle und Messen von Johann Sebastian Bach, die Sinfonien und Sonaten von Ludwig van Beethoven, die Lieder von Robert Schumann und Richard Strauss und vor allem natürlich an die abstrakten und mystischen Kompositionen von Richard Wagner, »denn abstrakt und mystisch«, so hatte der 1938 in die Vereinigten Staaten emigrierte Thomas Mann wenige Wochen nach Ende des Zweiten Weltkriegs in einem Vortrag in Washington die Katastrophe in seinem Heimatland zu erklären versucht, »ist das Verhältnis der Deutschen zur Welt«.

Doch das dürfte sich in den folgenden Jahrzehnten verändert haben. Der Zugang zur Welt lief im Westen nun eher über die Ökonomie und den Pragmatismus als über die Mystik und den Mythos. Auch das erkennt man in den für dieses Buch ausgewählten Liedern, die viel über die Bundesrepublik Deutschland und ihre Lage in der neuen Weltordnung erzählen – von Westbindung und Wohlstand, von Scham und Spaltung. Einige tun dies subtil, andere offensichtlich; die meisten auf Deutsch, einige aber auch auf Englisch. Es sind bekannte und relativ unbekannte darunter, kritische und affirmative, schöne und hässliche, vermeintlich dumme und ganz sicher schlaue; manche dieser Lieder sind sogar älter als das Land, von dem sie, wie ich hier behaupte, berichten.

Ich werde auf den folgenden Seiten über die Menschen schreiben, die sie komponiert und gesungen haben, über die Zeit und das Land ihrer Entstehung und oft auch über das Land, das sich vierzig Jahre auf der anderen Seite des sogenannten Eisernen Vorhangs befand und in dem die Regierenden an den neuen Menschen und die staatliche Planung persönlichen Geschicks glaubten und auch nicht mehr so sehr an die gute alte dunkle deutsche Seele und die Macht des Schicksals.

Am Ende spielen in dieser deutschen Geschichte natürlich weitaus mehr als die diesem Buch den Untertitel gebenden zehn Lieder eine Rolle; denn gerade populäre Musik funktioniert über Assoziationen, lässt sich ohne Bezüge und das historische, soziale und musikalische Umfeld nicht verstehen. Genauso wenig lässt sich ein solches Buch schreiben, ohne prägende Figuren wie Kraftwerk, Nina Hagen, Udo Lindenberg, Wolf Biermann oder Tamara Danz einzubeziehen und Genres wie Deutschrock und Deutschrap zumindest zu streifen. Dabei hat dieses Buch jedoch keinen Anspruch auf Vollständigkeit, will keine deutsche Popgeschichte sein und ganz sicher keine Geschichte der Bundesrepublik oder gar Gesamtdeutschlands. »I’ve Been Looking for Frieden« ist vielmehr eine Sammlung von Geschichten über Schuld und Sühne, Tragödien und Triumphe, Tänze und Träume, die sich zu einer von vielen deutschen Geschichten zusammenfügen, in der auch die Geschichte ihres Autors ab und an durchscheint.

Dieses Buch soll zudem zeigen, dass Musik mehr ist als das omnipräsente kulturindustriell gefertigte Hintergrundrauschen, als das sie heute oft wahrgenommen wird. Musik, egal wie banal oder komplex, gut oder schlecht sie ist, erzählt von der Zeit und dem Ort ihrer Entstehung – und sie erzählt von uns.

Erstes Lied Capri-Fischer Weshalb es die Deutschen in die Ferne zog

Die letzten zwanzig Kilometer seiner langen Reise legte er zu Fuß zurück. Vom Hauptbahnhof in Osnabrück bis nach Mettingen, ein Dorf im Tecklenburger Land, in dem seine Braut Anna, die alle nur Anni nannten, auf ihn wartete – oder auch nicht mehr auf ihn wartete, je nachdem, wen man fragt. Sie hatten sich seit sieben Jahren nicht mehr gesehen. Kurz nach der Hochzeit am 7. April 1942 war er wieder in den Krieg gezogen. An die Ostfront. Er war klein und drahtig und wurde als Panzerfahrer eingesetzt. »Ich musste nie auf jemanden schießen«, erklärte er später seinem Schwiegersohn. Damals war er siebenundzwanzig Jahre alt gewesen und sie dreiundzwanzig. Nun stand er mit einem kleinen Holzkoffer, in dem sich all seine Habseligkeiten befanden, vor der Stalltür der Bauernfamilie, bei der Anni untergekommen war, und rief hinein. Es dauerte eine Weile, bis ihn jemand hörte, mit einer Forke in der Hand aus dem Dunkel des Stalls hervortrat und ihn mit einem fragenden Blick musterte. Wer bist du denn? Kann das sein? Ludger?

Ludger Schürbrock war einer von über drei Millionen Soldaten der deutschen Wehrmacht, die bei Kriegsende in russischen Lagern gefangen waren. Er war einer von gut zwei Millionen, die zurückkehrten. Man muss sich das wohl ungefähr so vorstellen, wie es Wolfgang Borchert kurz nach dem Krieg zu Beginn seines Dramas Draußen vor der Tür beschrieb: »Ein Mann kommt nach Deutschland. Er war lange weg, der Mann. Sehr lange. Vielleicht zu lange. Und er kommt ganz anders wieder, als er wegging. Äußerlich ist er ein naher Verwandter jener Gebilde, die auf den Feldern stehen, um die Vögel (und abends manchmal auch die Menschen) zu erschrecken. Innerlich – auch.«

Und dieser Mann, der ein anderer geworden war, kam in ein Land, das nun ebenfalls ein anderes war. Ein zerstörtes Land, aber auch ein Land der Frauen, die gewissermaßen das pragmatische Krisenmanagement übernommen hatten, während die Männer fort oder tot waren oder Politik machten. Man nannte sie »Trümmerfrauen«.

Gesprochen hat Ludger Schürbrock über seine Gefangenschaft und seine Rückkehr später so gut wie nie. Aus Telefongesprächen, die er in seinen letzten Lebensjahren Ende der Achtziger mit einem Mann führte, den er in einem sibirischen Lager kennengelernt hatte und der aus Osnabrück kam, hat seine Tochter Ingrid einige Gesprächsfetzen aufgeschnappt – »Stalingrad«, »Nowosibirsk«, »Blei«, »Bergwerk«, »Dawai! Dawai!«, »bis zu den Knien im Wasser«, »Staub«, »Husten«, »Lunge«, »nur wir Kleinen, Zähen sind durchgekommen, die Großen sind umgefallen wie die Fliegen«, »war das Turnen doch noch zu was nütze«, »drei Wochen mit dem Viehtransporter Richtung Westen«, »Friedland« …

Obwohl er sonst niemandem etwas davon erzählte, war der Krieg doch bis zu seinem Tod im Sommer 1990 immer präsent – in depressiven Phasen und cholerischen Ausbrüchen, in Tränen und im aufgebrachten Herumbrüllen. Aber wenn er sein Akkordeon spielte oder mit seinem kleinen Enkel an der Hand am Kanal spazieren ging und ab und zu in einer Schifferkneipe am sogenannten Nassen Dreieck einkehrte, wo der Mittellandkanal aus Nordosten von der Elbe kommend in den mitten durchs Dorf fließenden Dortmund-Ems-Kanal mündete, schien alles in Ordnung.

Auf einem Foto vom Heiligabend 1981 sieht man ihn lachend mit umgeschnalltem Instrument im heimischen Wohnzimmer stehen. Neben ihm hüpft der kleine Junge, der ein Schifferklavier aus Plastik über dem Kopf hält, so wie sein Großvater es mit seinem Akkordeon immer tat, wenn bei größeren Familienfeiern oder Festen in der Nachbarschaft die Stimmung zu Liedern wie »Moskau« oder dem »Ententanz« auf dem Höhepunkt angelangt war und rotgesichtige, nicht selten sturzbetrunkene Westfalen fortgeschrittenen Alters singend und grölend um ihn herumtanzten und schließlich aus vollen Kehlen in die Heimathymne einfielen: »Da wird die Wurst gemacht, da wird die Sau geschlacht’ – im schö-ö-hönen Tecklenburger Land.«

Der Junge auf dem Foto bin übrigens ich. Ein Akkordeonspieler ist aus mir nicht geworden, aber ich habe oft mit meinem Opa in der Stube auf der Couch gesessen und Schallplatten gehört – Märsche, Volksmusik, ab und zu sogar »Modernes« von James Last. Manchmal konnte ich ihn auch dazu bewegen, »den Kasten« aus dem Schrank zu holen und selbst etwas zu spielen. Wehmütige Lieder wie »La Paloma« oder »Wenn bei Capri die rote Sonne im Meer versinkt«, das eigentlich, wie ich viel später erfuhr, den Titel »Capri-Fischer« trägt.

Beide Lieder stammen aus den Jahren, die bei uns zu Hause nur »die Hitlerzeit« hießen. Das ursprünglich spanische Sehnsuchtslied »La Paloma«, die Taube, kannte man vor allem aus dem Kino, dem Lieblingsmedium der Nationalsozialisten. Es war daher auch direkt dem Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda und somit de facto einzigen Autorenfilmer des Dritten Reiches, Joseph Goebbels, unterstellt. Bereits 1934 tauchte es mit einem deutschen Text, der aus dem afrokubanischen Tanzlied, auch Habanera genannt, ein Seemannslied machte, in Karlheinz Martins gleichnamigem Film (Untertitel: Ein Lied der Kameradschaft) auf. Populär wurde es allerdings in der Version des großen deutschen Regisseurs Helmut Käutner. In seinem Film Große Freiheit Nr. 7 von 1944 wird es von Hans Albers gesungen. Er verkörpert einen ehemaligen Seemann, der mittlerweile als Musiker und Anreißer im Hippodrom auf der Großen Freiheit auf St. Pauli arbeitet, sich unglücklich in die von der jungen Ilse Werner gespielte Geliebte seines verstorbenen Bruders verliebt und mit gebrochenem Herz wieder auf einem Schiff anheuert.

Ein Wind weht von Süd

und zieht mich hinaus auf See.

Mein Kind, sei nicht traurig,

tut der Abschied auch weh.

Mein Herz geht an Bord

und fort muss die Reise geh’n.

Dein Schmerz wird vergeh’n

und schön wird das Wiederseh’n.

Natürlich ist in diesen Zeilen auch das Schicksal Millionen deutscher Männer aufgehoben, die in den Krieg gezogen waren und von der Hoffnung am Leben gehalten wurden, irgendwann zurückzukehren – für sie kam der Wind allerdings vor allem eisig aus dem Osten. In der letzten Strophe spürt man, ebenso wie im poetischen Realismus dieses immer noch sehenswerten Films, der seinen Weg in deutsche Kinos erst nach Kriegsende fand, bereits die Resignation:

Auf, Matrosen, ohe!

Einmal muss es vorbei sein,

einmal holt uns die See.

Und das Meer gibt keinen von uns zurück.

Das Lied der Capri-Fischer funktioniert nach einem ähnlichen Muster. Der Salon-, Schlager- und Filmkomponist Gerhard Winkler hatte es geschrieben, und Ralph Maria Siegel, Vater des späteren bundesdeutschen Schlagerkönigs und »Ein bisschen Frieden«-Komponisten Ralph Siegel, lieferte den Text dazu. Die beiden waren echte Italien-Fachmänner. Winkler hatte mit seinem »Neapolitanischen Ständchen« bereits vor dem Krieg einen Hit bei den Verbündeten im Süden gelandet, und gemeinsam hatten sie 1940 »Das Chianti-Lied« komponiert:

Ja, ja, der Chianti-Wein

lädt auch den Seemann ein.

Drum lasst uns glücklich sein

und uns des Lebens freu’n

beim gold’nen Chianti-Wein.

Es gäbe sicher interessante Seefahrergeschichten aus der Toskana zu erzählen, in der dieser Rotwein vornehmlich angebaut wird – von Pisas einst blühendem und hart umkämpftem Hafen etwa, der im Mittelalter tragisch versandete –, aber für einen Schlager reicht es oft, wenn man einfach zwei Klischees zusammendenkt oder doch immerhin -reimt. Die »Capri-Fischer« sind da allerdings um einiges komplexer. Hier berichten Siegel und Winkler von einem Mann, der in der Abenddämmerung mit seinem Boot aufs Meer hinausfährt, um die Netze auszuwerfen. Dabei trällert er in der Hoffnung, dass seine Braut zu Hause nicht auf dumme Gedanken kommt, ein »altes Lied«:

Bella, bella, bella Marie, bleib’ mir treu,

ich komm’ zurück morgen früh.

Bella, bella, bella Marie, vergiss mich nie.

Rein rational gesehen hat dieses eingestreute Liedchen natürlich überhaupt keine Bedeutung für die beschriebene Szene. Aber unterbewusst scheinen hier eher Männer in Wehrmachtshelmen auf Fischzug zu sein. Denn das »Vergiss mich nie« spiegelt viel eher die Erfahrungswelt des Soldaten fern der Heimat als die des Fischers, der nur eine Nacht lang auf See ist. Das wäre nun wirklich keine besonders innige Beziehung, wenn er fürchten müsste, in dieser kurzen Zeit schon vergessen zu werden.

Dass es in dem Text eigentlich gar nicht um das beschriebene Idyll geht, wird weiter hinten noch ein bisschen deutlicher:

Sieh den Lichterschein, draußen auf dem Meer.

Ruhelos und klein, was kann das sein?

Was irrt da spät nachts umher?

Weißt du, was da fährt, was die Flut durchquert?

Ungezählte Fischer, deren Lied von fern man hört.

Obwohl diese Geschichte eindeutig aus der Sicht eines Mannes erzählt wird, war es die zweiundzwanzigjährige Magda Hein, die das Lied 1943 als Erste sang. Sie sollte so womöglich den Hoffnungen vieler auf ihre Liebsten wartenden Frauen eine Stimme geben, denn sie waren es ja, die am Radio lauschten. Doch dazu kam es in diesem Fall gar nicht erst, da »Capri-Fischer« direkt nach der Veröffentlichung vom Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda verboten wurde. Denn die US-Armee war bereits auf der titelgebenden Insel im Golf von Neapel gelandet.

Der britische Premierminister Winston Churchill hatte vorgeschlagen, die »Festung Europa« von Süden aus zu attackieren. Sizilien war im Juli 1943 das erste Ziel gewesen. Einige italienische Verbände hatten sich kampflos ergeben, andere mit den auf der Insel stationierten deutschen Einheiten zwei Tage lang vergeblich Widerstand geleistet. Mussolini unterstellte daraufhin seine Truppen in Süditalien deutschen Stäben. Das gefiel dem Großen Faschistischen Rat, der sonst einhellig hinter den Entscheidungen des Duce stand, aber überhaupt nicht, und die italienische Regierungskammer gab dem König Viktor Emanuel III. die Empfehlung, die Kontrolle der Streitkräfte doch lieber wieder selbst zu übernehmen. Der entließ den faschistischen Führer überraschenderweise gleich ganz aus der Regierungsverantwortung und setzte den General Pietro Badoglio als Ministerpräsidenten eines Kabinetts ein, in dem nun kein faschistisches Parteimitglied mehr einen Platz hatte. Badoglio handelte dann mit den Alliierten einen Separatfrieden aus.

Im September begann die fünfte US-Armee ihre Invasion der von deutschen Truppen besetzten italienischen Westküste und somit auch Capris. Da konnten die dortigen Fischer dem Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda natürlich gestohlen bleiben. Zumal man noch ganz andere Sorgen hatte. Die sechste Armee hatte Anfang des Jahres in Stalingrad kapitulieren müssen, im Mai dann das Afrikakorps in Tunesien. Zudem hatte die Rote Armee den Abzug eines starken deutschen Heeresverbandes vom Osten nach Italien für eine große Sommeroffensive genutzt und bereits sämtliche Frontabschnitte durchbrochen. Die Niederlagen häuften sich. Der Krieg jedoch schleppte sich noch zwei quälende Jahre dahin.

Nach der deutschen Kapitulation zogen die Sowjets, Briten und Amerikaner die Grenzen des Landes auf der Potsdamer Konferenz im Sommer 1945 neu. Ein Viertel des Territoriums wurde an Polen, die Tschechoslowakei und die Sowjetunion gegeben. Vierzehn Millionen Deutsche aus den ehemaligen Ostgebieten des Deutschen Reiches – Schlesien, Ostpreußen, Pommern, Ostbrandenburg – wurden vertrieben und flüchteten vor der Roten Armee. Das verbliebene Deutschland teilten die Alliierten zwischen sich in Besatzungszonen auf.

Über das weitere Vorgehen war man sich uneinig. Auf der Potsdamer Konferenz hatten sich die USA, die Sowjetunion und England darauf verständigt, dass Deutschland eine wirtschaftliche Einheit bleiben sollte. Die Franzosen allerdings stellten sich vehement gegen eine Wiedervereinigung der Sektoren. Die Sowjetunion begann sehr bald, ihre Besatzungszone von den Zuständigkeitsbereichen der Westmächte zu isolieren: Die Schwer- und Schlüsselindustrien wurden verstaatlicht, eine Bodenreform eingeleitet, das Bildungswesen umgestaltet, und die Kommunistische wurde mit der Sozialdemokratischen Partei zur Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) zwangsvereinigt. Die Front eines neuen Konflikts, den man später den Kalten Krieg nennen sollte, zeichnete sich ab.

Die westlichen Alliierten mussten verhindern, dass das sowjetische Imperium sich auch den Rest des besetzten Landes einverleibte. Am 1. Januar 1947 vereinigten sich der britische und amerikanische Sektor zur Bizone. Fünf Monate später verkündete der US-Außenminister George Marshall ein Hilfsprogramm zum Wiederaufbau Europas, das den Kriegsverlierern nicht nur finanzielle Hilfe in Höhe von über dreizehn Milliarden Dollar (nach heutigem Wert mindestens das Zehnfache) in Aussicht stellte, sondern ihnen auch die Perspektive gab, Teil des amerikanischen Wohlstandsimperiums zu werden. Der Wirtschaftsexperte Ludwig Erhard, der bereits während des Dritten Reiches als Gründer und Leiter des nationalsozialistisch finanzierten Instituts zur Industrieforschung die Nachkriegswirtschaft geplant hatte, drängte als Leiter des Wirtschaftsrats der Bizone zudem auf eine Währungsreform. Doch die Westmächte zierten sich zunächst. Es dauerte noch ein Jahr, bis schließlich die D-Mark eingeführt wurde. So lange blühte noch der Schwarzmarkt, und es wurde weiter vorbei an den offiziellen Lebensmittelkarten und Bezugsscheinen geschoben und getauscht; vor allem US-amerikanische Zigaretten waren zu einer Art Ersatzwährung geworden. Der jüdische Komponist Friedrich Hollaender, der 1933 vor den Nationalsozialisten aus Deutschland über Paris nach Hollywood geflohen war, hat darüber ein Lied geschrieben:

Black market

Sneak around the corner

Budapester Straße

Black market

Peek around the corner

»La police qui passe«

Come! I’ll show you things you cannot get elsewhere

Come! Make with the offers and you’ll get your share

Black market

Powdered milk for bikes

Souls for Lucky Strikes

Got some broken down ideals? Like wedding rings?

Marlene Dietrich singt diesen »Black Market Song« in Billy Wilders Film Eine auswärtige Affäre von 1948. Dort spielt sie die Sängerin Erika von Schlütow, die während des Dritten Reiches engen Kontakt zur Nazi-Führungsebene gepflegt hatte. Nach dem Krieg tritt sie im Berliner Nachtklub Lorelei auf und hat ein heimliches Verhältnis mit dem US-Militär Captain Pringle. Der wiederum wird von der unterkühlten US-Kongressabgeordneten Phoebe Frost umworben, die in der Stadt ist, um die moralischen Verwerfungen innerhalb der US-Truppen aufzuklären. Die Schokoladentorte, die sie ihm mitbringt, tauscht er auf dem Schwarzmarkt gegen eine bequeme Matratze für Erika – und somit in schöne Stunden auch für sich – ein.

I’m selling out – take all I’ve got!

Ambitions! Convictions! The works!

Why not? Enjoy my goods, for boy my goods – are hot!

Die Film-noir-Romantik, die in diesem Lied steckt, erschloss sich den Deutschen in jener Zeit wohl nicht. Und wenn man überhaupt das Geld hatte und ein Kino fand, wollte man nicht mit der Nachkriegswirklichkeit, Armut und zerstörten Städten konfrontiert werden. In den Trümmern sehnte man sich nach einer heilen Welt.

Und im Radio ertönten nun doch endlich die »Capri-Fischer«. Der Opernsänger Kurt Reimann sang das Lied in der sowjetisch besetzten Zone auf einer der ersten Veröffentlichungen der neu gegründeten Schallplattenfirma Amiga, die 1954 in den staatlichen Tonträgerhersteller VEB Deutsche Schallplatten Berlin übergehen sollte. Reimann ging später »in den Westen« – vielleicht weil es von dort aus tatsächlich möglich war, an Orte wie Capri zu reisen; denn das Gebiet der Deutschen Demokratischen Republik, so hieß die sowjetische Besatzungszone nun, konnte man ab 1954 nicht mehr ohne Weiteres verlassen. Der bei der zweiten Parteikonferenz der SED beschlossene »Aufbau des Sozialismus«, zu dem eine Militarisierung, Enteignungen des Mittelstands, Kollektivierungen in der Landwirtschaft und der Kampf gegen die Kirche gehörten, hatte zu zahlreichen Abwanderungen in den Westen geführt, die wiederum die ökonomischen und sozialen Missstände innerhalb der DDR noch verstärkt hatten. Am 17. Juni 1953 traten daraufhin Arbeiter vieler großer Betriebe in den Streik, um für bessere Lebensbedingungen, den Rücktritt der Regierung, die Freilassung politischer Gefangener, Demokratie, Freiheit und die deutsche Einheit auf die Straße zu gehen. Der Aufstand wurde von der sowjetischen Armee blutig niedergeschlagen; und ab 1954 durfte man die DDR nur noch verlassen, wenn man eine ausdrückliche Genehmigung dazu eingeholt hatte.

Im Westen wurde der 17. Juni zum Nationalfeiertag erhoben. Kurt Reimann ließ seinen hellen Tenor hier nun in Filmen wie Grün ist die Heide, Wenn die Abendglocken läuten, Wenn am Sonntagabend die Dorfmusik spielt und Schwarzwaldmelodie hören und half so, die Illusion einer von deutscher Kriegsschuld unbefleckten Heimat aufrechtzuerhalten.

Bekannt wurden die »Capri-Fischer« 1949 allerdings in der Interpretation eines anderen Sängers und Schauspielers, der während des Dritten Reiches in Revue-Filmen wie Wir tanzen um die Welt, Frau meiner Träume und Ich hab’ von Dir geträumt unter anderem an der Seite des in jeder Lebenslage Pirouetten drehenden UFA-Stars Marika Rökk gespielt und gesungen hatte: Der gebürtige Brandenburger Rudi Schuricke machte das Lied mit seinem unschuldigen Tenor und dem wie Wellen anrollendem »R« zum meistgespielten Hit der Nachkriegsjahre.

Natürlich ließ sich der Text weiterhin metaphorisch lesen, denn »draußen auf dem Meer« warteten noch viele Soldaten auf ihre Heimkehr; doch allein die Tatsache, dass »Capri-Fischer« nach dem Krieg ausschließlich von männlichen Interpreten gesungen wurde, scheint diese zweite, ursprünglich ja durchaus beabsichtigte und entscheidende Deutungsebene, nach der es sich hier nicht etwa um einen Fischer auf dem Meer, sondern einen Soldaten fern der Heimat handelt, auszulöschen. Mehrdeutigkeit war erst mal nicht mehr gefragt – all die Filme und Lieder der Nazizeit waren, so empfand man es damals wohl, davon verseucht gewesen, ganz zu schweigen von den Gesprächen, die man hinter vorgehaltener Hand geführt, und den in einer Art Geheimsprache gehaltenen Briefen, die man geschrieben hatte. Nun ging es in diesem Lied tatsächlich um einen Fischer, eine Insel im Mittelmeer und die untergehende Sonne. »Capri-Fischer« war kein Durchhaltelied mehr, sondern eine Romanze, die die Sehnsucht nach dem Süden beschwor.

Und genau das war zu jener Zeit in der Schlagerbranche die Erfolgsformel schlechthin. Gerade nach Italien hatten sich die Deutschen schließlich schon immer gesehnt, man denke an Goethes Italienische Reise