Ich bin böse - Ali Land - E-Book
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Ich bin böse E-Book

Ali Land

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Beschreibung

Die 15-jährige Milly wächst schwer traumatisiert in einer Pflegefamilie auf. Eine neue Identität soll alle Spuren zu ihrer Vergangenheit verwischen. Denn Milly ist die Tochter einer Serienmörderin. Und diese konnte nur gefasst werden, weil Milly der Polizei entscheidende Hinweise gegeben hatte. Jetzt wird ihrer Mutter der Prozess gemacht, und Milly wird plötzlich von Gewissensbissen heimgesucht. In ihrer Pflegefamilie findet das Mädchen keine Unterstützung, um diese schwere Zeit zu überstehen – im Gegenteil: Phoebe, die leibliche Tochter, hasst Milly von ganzem Herzen und versucht mit allen Mitteln, ihr das Leben so schwer wie möglich zu machen. Und damit weckt sie in Milly eine verborgene Seite. Eine böse Seite. Denn Milly ist die Tochter ihrer Mutter ...

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Milly ist fünfzehn Jahre alt. Und Milly möchte ein gutes Mädchen sein. Zumindest hat sie das der Polizei erzählt – damals, als sie wertvolle Hinweise gab. Hinweise, die zur Verurteilung ihrer Mutter führten, einer pädophilen Serienmörderin. Jetzt wächst Milly als Pflegekind bei der Familie des Psychiaters Mike Newmont auf. Ein guter Schachzug, kann sich Mike doch als Fachmann um die traumatisierte Milly kümmern. Nur er weiß von ihrer Vergangenheit. Aber ihm entgeht, dass seine leibliche Tochter Phoebe Milly abgrundtief hasst. Und dass Phoebe alles tut, um Milly das Leben zur Hölle zu machen. Sosehr Milly versucht, sich in der Schule zu integrieren, so bleibt sie auch hier die sonderbare Außenseiterin. Alle hacken auf Milly herum und quälen sie. Dann beginnt der Prozess gegen Millys Mutter. Und Milly bekommt ein schlechtes Gewissen ob ihres Verrats. Immer häufiger erscheint ihr die Mutter im Traum; Milly fühlt sich ihr immer mehr verbunden. Und sie merkt, wie ähnlich sie ihrer Mutter doch ist. Und dass sie das Mobbing durch Phoebe und ihre Klassenkameraden nicht mehr aushält. Doch die ahnen nicht, wer Milly wirklich ist …

Informationen zu Ali Land finden Sie am Ende des Buches.

Ali Land

Ich bin böse

Psychologischer Spannungsroman

Deutsch von

Sonja Hauser

Die Originalausgabe erschien 2017

unter dem Titel »Good Me, Bad Me«

bei Michael Joseph, London.

Das Zitat aus William Golding, Herr der Fliegen.

© William Golding 1954. Aus dem Englischen von Hermann Stiehl.

© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 1956,

erfolgt mit freundlicher Genehmigung des S. Fischer Verlags.

Das Zitat aus Carsen McCullers, Die Ballade vom traurigen Café,

aus dem Amerikanischen von Elisabeth Schnack,Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 1961, 1971 Diogenes Verlag AG Zürich,

erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Diogenes Verlags.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Deutsche Erstausgabe März 2017

Copyright © der Originalausgabe 2017

by Bo Dreams Ltd.

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2017

by Goldmann Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur München

Umschlagfoto: Arcangel/caryn drexl

Redaktion: Irmi Perkounigg

BH · Herstellung: KW

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

ISBN 978-3-641-18806-1V004

www.penguin.de

Für die Schwestern in der Psychiatrie überall auf der Welt.

Die echten Rockstars. Dieses Buch ist für euch.

Doch das Herz kleiner Kinder ist ein empfindliches Organ.

Ein grausamer Lebensbeginn kann es zu merkwürdigen Formen verkrüppeln.

Carson McCullers, 1917 – 1967

Hast du je von einem weit, weit entfernten Ort geträumt? Ich schon.

Von einem Feld voller Mohnblumen.

Winzige rote Tänzer, die sich fröhlich im Walzertakt wiegen.

Deren Blütenblätter auf einen Pfad zum Ufer weisen. Rein und unberührt.

Ich treibe auf dem Rücken dahin, türkisfarbener Ozean. Blauer Himmel.

Nichts. Niemand.

Ich sehne mich danach, die Worte zu hören: »Ich werde dich immer beschützen.« Oder: »Es war nicht ihre Schuld, sie war noch ein Kind.«

Ja, solche Träume habe ich.

Ich weiß nicht, was mit mir geschehen wird. Ich habe Angst. Anders. Ich hatte keine Wahl.

Ich verspreche.

Ich verspreche, so gut wie möglich zu sein.

Ich verspreche, es zu versuchen.

Acht rauf. Noch mal vier rauf.

Die Tür rechts.

Das Spielzimmer.

So hat sie’s genannt.

Wo schlimme Spiele gespielt wurden und es immer nur einen Sieger gab.

Wenn nicht ich dran war, musste ich zuschauen.

Durch ein Guckloch in der Wand.

Hinterher hat sie mich gefragt: Was hast du gesehen, Annie?

Was hast du gesehen?

1

Vergib mir, wenn ich dir sage, dass ich es war.

Ich habe dich verraten.

Der Beamte. Ein freundlicher Mann mit rundem Bauch. Anfangs ungläubiges Staunen. Dann zog ich die fleckige Latzhose aus meiner Tasche. Winzig.

Der Teddybär, vorn rot mit Blut gesprenkelt. Ich hätte mehr Sachen bringen können, es gab so viele. Sie wusste nicht, dass ich sie aufhob.

Er rutschte auf seinem Stuhl hin und her. Setzte sich aufrecht hin mit seinem dicken Wanst.

Seine Hand – ich sah, wie sie leicht zitterte, als er nach dem Telefonhörer griff. Kommen Sie sofort, sagte er. Das müssen Sie sich anhören. Schweigen, während wir auf seinen Vorgesetzten warteten. Für mich nicht schwer. Für ihn eher. Hundert Fragen, die ihm im Kopf herumgingen. Sagt sie die Wahrheit? Unmöglich. So viele? Tot? Bestimmt nicht.

Ich habe die Geschichte noch einmal erzählt. Und wieder. Dieselbe Geschichte. Andere Augen, die mich musterten, andere Ohren, die mir lauschten. Ich erzählte ihnen alles.

Na ja.

Fast alles.

Der laufende Videorekorder, das leise Surren das einzige Geräusch im Raum, als ich mit meiner Aussage fertig war.

Du weißt, dass du möglicherweise vor Gericht musst? Du bist die einzige Zeugin, bemerkte einer der Beamten. Ein anderer fragte: Ist es nicht zu gefährlich, sie nach Hause zu schicken? Wenn das, was sie sagt, stimmt? Der verantwortliche Chief Inspector antwortete: In ein paar Stunden haben wir ein Team beisammen. Dann wandte er sich mir zu. Dir wird nichts passieren. Mit mir ist schon was passiert, hätte ich am liebsten erwidert.

Danach ging alles sehr schnell, das musste es. Ein Zivilfahrzeug setzte mich vor den Schultoren ab, rechtzeitig, um abgeholt zu werden. Von ihr. Sie wartete schon mit ihren Forderungen, die in letzter Zeit dringender wurden. Zwei in den vergangenen sechs Monaten. Zwei kleine Jungen. Weg.

Verhalt dich wie immer, rieten sie mir. Geh nach Hause. Wir holen sie. Heute Nacht.

Das langsame Ticken der Uhr über meinem Schrank. Tick. Tack. Tick. Und sie hielten Wort. Sie kamen. Mitten in der Nacht, nutzten das Überraschungsmoment. Kaum wahrnehmbares Knirschen auf dem Kies draußen. Ich war unten, als sie die Tür aufbrachen.

Geschrei. Ein groß gewachsener, schlanker Mann, anders als die anderen in Zivil. Befehle durchschnitten die abgestandene Luft in unserem Wohnzimmer. Sie, nach oben. Sie, da rein. Ihr zwei, in den Keller. Sie. Sie. Sie.

Eine Flut von blauen Uniformen überschwemmte unser Haus. Waffen in gefalteten Händen, flach vor der Brust. In ihren Gesichtern der Kick der Suche, die Angst vor der Wahrheit.

Und dann du.

Aus deinem Zimmer gezerrt. Die Wangen gerötet vom Schlaf, die Augen glasig, als sie sich von Ruhe auf Unruhe, auf die Festnahme, umstellten. Du schwiegst. Sogar als dein Gesicht in den Teppich gepresst, dir deine Rechte vorgelesen, Knie und Ellbogen in den Rücken gedrückt wurden. Dein Nachthemd rutschte deine Oberschenkel hoch. Keine Unterwäsche. Entwürdigend.

Du hast den Kopf zur Seite gedreht. Mich angeschaut. Mich nicht aus den Augen gelassen. Es war nicht schwer, deinen Blick zu deuten. Ihnen hast du nichts gesagt, mir umso mehr. Ich habe genickt.

Aber erst, als niemand hinschaute.

2

Neuer Name. Neue Familie.

Glänzendes.

Neues.

Ich.

Mein Pflegevater Mike ist Psychologe, Spezialgebiet Trauma. Wie seine Tochter Phoebe, obwohl die Traumata eher verursacht als lindert. Saskia, die Mutter. Ich glaube, sie möchte, dass ich mich bei ihnen zu Hause fühle, aber sicher bin ich mir nicht. Sie ist so ganz anders als du, Mummy. Superschlank und geistesabwesend.

Hast du ein Glück, hat man mir in der Klinik gesagt, als ich auf Mike wartete. Die Newmonts sind eine fantastische Familie, und ein Platz in Wetherbridge … Wow. Wow. WOW. Ja, kapiert. Eigentlich sollte ich glücklich sein, doch ich habe schreckliche Angst. Angst davor rauszufinden, wer und was ich sein könnte.

Angst davor, dass sie es auch herausfinden.

Vor einer Woche hat Mike mich abgeholt, gegen Ende der Sommerferien. Mit ordentlich zurückgekämmten und zusammengebundenen Haaren habe ich das Sprechen geübt, ob ich sitzen oder stehen soll. Mit jeder Minute, in der nicht er redete, sondern eine der Schwestern, die über irgendetwas lachten, wurde ich überzeugter, dass er und seine Familie es sich anders überlegt hatten. Dass sie zur Vernunft gekommen waren. Ich wartete nur darauf, dass man mir sagte: Tut uns leid, du bleibst hier.

Aber dann kam er. Begrüßte mich mit einem Lächeln, einem festen Händedruck, nicht förmlich, sondern freundlich. Es war schön zu spüren, dass er keine Angst hatte, wirklich Kontakt mit mir aufzunehmen. Dass er bereit war, das Risiko einer Ansteckung einzugehen. Ihm fiel auf, wie wenig ich besaß, nur einen kleinen Koffer. Darin ein paar Bücher und Kleidungsstücke und verborgene Dinge, Erinnerungen an dich. An uns. Alles andere als Beweismittel mitgenommen, als unser Haus ausgeräumt wurde. Keine Sorge, sagte er, wir gehen einkaufen. Saskia und Phoebe sind zu Hause, wir essen zusammen, zur Begrüßung.

Wir setzten uns mit dem Leiter der Klinik zusammen. Sachte, sachte, meinte er, nimm jeden Tag, wie er kommt. Ich hätte ihm gern gesagt, es sind die Nächte, vor denen ich Angst habe.

Lächeln. Händeschütteln. Mike unterschrieb, wandte sich mir zu und fragte: Bereit?

Nicht wirklich, nein.

Ich ging trotzdem mit ihm mit.

Die Fahrt nach Hause dauerte nicht lange, weniger als eine Stunde. Alle Straßen und Gebäude fremd. Es war noch hell, als wir ankamen, ein großes Haus, weiße Säulen davor. Okay?, erkundigte sich Mike. Ich nickte, obwohl ich mich nicht okay fühlte. Ich wartete, dass er aufschloss. Das Herz schlug mir bis zum Hals, als ich merkte, dass die Tür nicht zugesperrt war. Wir gingen schnurstracks hinein, hätte jeder sein können. Er rief nach seiner Frau. Ich hatte sie schon ein paarmal gesehen. Sas, wir sind da. Bin gleich bei euch, rief sie zurück. Hallo, Milly, sagte sie, willkommen. Ich lächelte, weil ich dachte, dass das von mir erwartet wurde. Auch Rosie, ihre Terrierhündin, begrüßte mich, sprang an meinen Beinen hoch, nieste vor Wohlbehagen, als ich sie hinter den Ohren kraulte. Wo ist Phoebs?, erkundigte sich Mike. Kommt bald von Clondine, antwortete Saskia. Wunderbar, sagte er, dann können wir in einer Stunde oder so essen. Er bat Saskia, mir mein Zimmer zu zeigen. Nickte ihr ermutigend zu. Ihr, nicht mir.

Ich folgte ihr die Treppe hinauf, versuchte, nicht zu zählen. Neues Zuhause. Neues Ich.

Im zweiten Stock wohnt nur ihr, du und Phoebe, erklärte Saskia, wir sind in dem drunter. Wir haben dir das Zimmer hinten gegeben, da hat man vom Balkon aus einen schönen Blick auf den Garten.

Als Erstes nahm ich das Gelb der Sonnenblumen wahr. Leuchtend. Lächeln in einer Vase. Ich dankte ihr, sagte, dass ich Sonnenblumen besonders gern mag. Sie wirkte erfreut. Sieh dich ruhig um, meinte sie, im Schrank sind Klamotten, natürlich kriegst du noch mehr. Du kannst sie dir selbst aussuchen. Sie erkundigte sich, ob ich etwas brauche. Nein, antwortete ich, und sie ging.

Ich stellte meinen Koffer ab, vergewisserte mich, dass die Balkontür zugesperrt war. Sicher. Der Schrank rechts, hoch, alte Kiefer. Ich schaute nicht hinein, wollte mich nicht mit dem Gedanken beschäftigen, mich an- und auszuziehen. Als ich mich umdrehte, fiel mir der Schubkasten unterm Bett auf. Ich zog ihn heraus, ließ die Hände über die hinteren und seitlichen Flächen gleiten – nichts. Fürs Erste sicher. Eigenes großes Bad, die ganze rechte Wand ein Spiegel. Ich wandte mich von meinem Spiegelbild ab, wollte nicht erinnert werden. Überprüfte, ob das Schloss an der Badezimmertür funktionierte, dass sie sich nicht von außen öffnen ließ, setzte mich aufs Bett und versuchte, nicht an dich zu denken.

Wenig später polternde Schritte auf der Treppe. Ich bemühte mich, ruhig zu bleiben, mich an die Atemübungen zu erinnern, die mir der Psychologe gezeigt hatte, aber mein Kopf war wie in Watte gepackt. Also konzentrierte ich mich, als sie meine Tür öffnete, auf ihre Stirn. Richtigen Blickkontakt schaffte ich nicht. Essen ist fertig. Ihre Stimme schnurrend, einlullend, dazu ein Schuss Verachtung, wie bei unserem Treffen mit der Sozialarbeiterin. In der Klinik war sie nicht dabei, weil sie die Wahrheit nicht erfahren, keine Gelegenheit zum Nachfragen bekommen sollte. Sie schüchterte mich ein. Durch ihr Aussehen. Blond und selbstsicher, gelangweilt, gezwungen, Fremde bei sich zu Hause aufzunehmen. Bei dem Gespräch erkundigte sie sich zweimal, wie lange ich bleiben würde. Zweimal forderte man sie auf, den Mund zu halten.

Dad hat gesagt, ich soll dich holen, meinte sie an meiner Tür, die Arme vor der Brust verschränkt. Abwehrhaltung. Aus der Klinik weiß ich, wie man Körpersprache analysiert, was sie bedeutet. Dort beobachtete ich schweigend, lernte eine Menge. Phoebes letzten Satz, bevor sie zornig eine Pirouette drehte wie eine Ballerina, habe ich mir gemerkt: Ach ja, und willkommen im Irrenhaus.

Ich folgte ihrem süßen, rosigen Geruch hinunter in die Küche und malte mir aus, wie es sein könnte, eine Schwester zu haben. Was für Schwestern sie und ich wären. Sie würde Meg sein, dachte ich, und ich Jo, kleine Frauen wie in dem Roman. In der Klinik hatte man mir gesagt: Hoffnung ist deine beste Waffe, sie wird dir helfen zu überleben.

Naiv, wie ich war, glaubte ich ihnen.

3

In der ersten Nacht schlief ich in meinen Kleidern. Der Seidenpyjama, von Saskia ausgesucht, blieb unangetastet. Ich fasste ihn nur an, um ihn vom Bett zu nehmen. Der Stoff fühlte sich glatt an auf meiner Haut. Inzwischen schlafe ich besser, wenn auch nur einen Teil der Nacht. Seit ich von dir weg bin, habe ich viel geschafft. Die Leute in der Klinik sagten, ich hätte die ersten drei Tage nicht gesprochen. Ich hätte mit dem Rücken zur Wand auf dem Bett gesessen. Vor mich hingestarrt. Stumm. Schock nannten sie das. Etwas viel Schlimmeres, hätte ich gern entgegnet. Etwas, das jedes Mal, wenn ich mir das Schlafen erlaubte, in mein Zimmer kam. Sich unter der Tür hereinschlängelte, mir zuzischte, sich Mummy nannte. Und das ist immer noch so.

Wenn ich nicht schlafen kann, zähle ich keine Schäfchen, sondern die Tage bis zur Verhandlung. Ich gegen dich. Alle gegen dich. Am Montag in zwölf Wochen. Achtundachtzig Tage, der Countdown läuft. Ich zähle vorwärts und rückwärts. Ich zähle, bis ich zu weinen anfange, und dann, bis ich wieder aufhöre. Ich weiß, dass das falsch ist, aber irgendwo beim Zählen beginnst du mir zu fehlen. Zwischen jetzt und dann werde ich hart arbeiten müssen. Für meine Aussage vor Gericht muss ich gewisse Dinge im Kopf sortieren. So viel kann schiefgehen, wenn die Blicke aller auf einen gerichtet sind.

Mike wird eine wichtige Rolle spielen. Der Behandlungsplan, den er mit den Leuten von der Klinik ausgearbeitet hat, enthält im Vorfeld der Verhandlung eine wöchentliche Therapiesitzung mit mir. Gelegenheit für mich, meine Sorgen und Nöte mit ihm zu besprechen. Gestern hat er den Mittwoch vorgeschlagen. Ich habe Ja gesagt, nicht weil ich es wollte. Sondern weil er es von mir wollte. Er glaubt, dass es hilft.

Morgen beginnt die Schule. Wir sind alle in der Küche. Phoebe sagt, Gott sei Dank, ich kann’s kaum erwarten, endlich komm ich aus diesem Haus raus. Mike tut ihre Bemerkung mit einem Lachen ab, Saskia wirkt traurig. Im Lauf der vergangenen Woche habe ich gemerkt, dass etwas nicht stimmt zwischen ihr und Phoebe. Sie leben nebeneinanderher. Mike ist Übersetzer und Vermittler. Manchmal nennt Phoebe sie Saskia, nicht Mum. Als ich das das erste Mal hörte, dachte ich, sie würde dafür bestraft, aber nichts passierte. Jedenfalls nicht in meiner Anwesenheit. Ich habe noch nie gesehen, dass sie sich anfassen, und ich finde, Berührungen sind ein Ausdruck der Liebe. Allerdings nicht die Art von Berührung, die du erlebt hast, Milly. Es gibt gute Berührungen und schlechte, haben die Leute in der Klinik gesagt.

Phoebe will sich mit einer Izzy treffen, die gerade aus Frankreich zurück ist. Mike meint, sie soll mich mitnehmen, mich ihr vorstellen. Phoebe verdreht die Augen und sagt: Ne, ich hab Iz den ganzen Sommer nicht gesehen, morgen ist auch noch ein Tag. Es wäre schön, wenn Milly eine deiner Freundinnen kennenlernt, beharrt er. Nimm sie mit zu euren Treffpunkten. Alles schön und gut, entgegnet sie, aber das ist nicht mein Job.

»Es wäre trotzdem nett von dir«, mischt sich Saskia ein.

Phoebe starrt ihre Mutter an. Bis Saskia den Blick abwendet. Mit geröteten Wangen.

»Ich hab gerade gesagt, wie nett das wäre.«

»Dich hat aber niemand gefragt, oder?«

Ich warte auf den Gegenschlag, eine Hand oder einen Gegenstand. Doch nichts geschieht. Nur Mike reagiert.

»Bitte sprich nicht so mit deiner Mutter.«

Als wir das Haus verlassen, sitzt auf einer Mauer gegenüber unserer Auffahrt ein Mädchen. Sieht uns nach. Phoebe sagt, verpiss dich, du kleines Arschloch, such dir ’ne andere Mauer. Das Mädchen zeigt ihr den Stinkefinger.

»Wer war das?«, frage ich.

»So ’ne schräge Type aus der Sozialsiedlung.«

Sie nickt in Richtung der Hochhäuser links von unserer Straße.

»Gewöhn dich gar nicht erst dran, dass ich dich begleite. Sobald die Schule richtig angefangen hat, mach ich mein eigenes Ding.«

»Okay.«

»Der Weg da drüben führt an unserm Garten vorbei, da ist nichts Interessantes, bloß ein paar Garagen und so. Ist ’ne Abkürzung zur Schule.«

»Wann gehst du morgens los?«

»Kommt drauf an. Meistens treff ich mich mit Iz, und wir gehen zusammen. Manchmal schauen wir bei Starbucks vorbei und bleiben ’ne Weile da, aber es ist grade Hockey-Saison, und ich bin Mannschaftskapitän. Ich muss morgens oft schon früh los wegen dem Fitnesstraining.«

»Wenn du Kapitän bist, musst du ziemlich gut sein.«

»Möglich. Und wie schaut’s bei dir aus? Wo sind deine Eltern?«

Eine unsichtbare Hand schiebt sich in meine Magengrube, drückt, lässt nicht locker. Ich spüre, wie mein Kopf sich erneut mit Watte füllt. Ruhig, rede ich mir zu, solche Fragen hast du doch mit den Leuten in der Klinik geübt, wieder und wieder.

»Meine Mum hat sich abgesetzt, als ich klein war. Ich hab bei meinem Vater gelebt, aber der ist kürzlich gestorben.«

»Scheiße, echt hart.«

Ich nicke, belasse es dabei. Weniger ist mehr, hat man mir gesagt.

»Wahrscheinlich hat Dad dir das alles schon letzte Woche gezeigt. Am Ende von unserer Straße, da drüben, ist noch ’ne Abkürzung zur Schule.«

Sie deutet nach rechts.

»Überquer die Straße, nimm die erste links und dann die zweite rechts. Von da sind’s nur noch fünf Minuten.«

Ich will ihr danken, doch sie ist abgelenkt. Auf ihrem Gesicht breitet sich ein Lächeln aus. Als ich ihrem Blick folge, sehe ich ein blondes Mädchen auf uns zukommen, das ihr theatralisch Kusshändchen zuwirft. Phoebe lacht und winkt. Das ist Iz, sagt sie. Ihre Beine schimmern braun unter ihren ausgefransten Jeansshorts. Sie ist wie Phoebe hübsch. Sehr hübsch. Ich beobachte, wie sie sich begrüßen, sich umarmen, gleich wie ein Wasserfall zu plappern beginnen. Fragen werden gestellt und beantwortet, sie ziehen ihre Handys aus der Tasche, vergleichen Fotos. Sie kichern über Jungs und über ein Mädchen namens Jacinta. Von Jacinta behauptet Izzy, dass sie im Bikini der absolute Horror ist: Ich schwör’s, alle sind aus dem Scheißpool raus, als sie rein ist. Das Ganze dauert nur ein paar Minuten, aber weil ich unbeachtet danebenstehe, kommt es mir vor wie Stunden. Am Ende sieht Izzy mich an und fragt Phoebe: »Und wer ist die da? Der letzte Neuzugang in Mikes Auffangstation?«

Phoebe lacht und antwortet: »Sie heißt Milly. Sie bleibt eine Weile bei uns.«

»Ich dachte, dein Dad nimmt keine mehr auf?«

»Keine Ahnung. Du weißt doch, was für ein weiches Herz er hat.«

»Fängst du in Wetherbridge an?«, will Izzy von mir wissen.

»Ja.«

»Bist du aus London?«

»Nein.«

»Hast du ’nen Freund?«

»Nein.«

»Mann, redest du immer wie ’n Roboter? Ja. Nein. Nein.« Sie fuchtelt mit den Armen und macht ein mechanisches Geräusch wie der Dalek aus der Dr. Who-Episode, die ich einmal im Theaterkurs in meiner alten Schule gesehen habe. Sie brechen beide in Lachen aus und wenden sich wieder ihren Handys zu. Ich würde ihnen gern erklären, dass ich so langsam und bedächtig spreche, wenn ich nervös bin und Nebengeräusche ausblenden muss. Rauschen, durchbrochen von deiner Stimme. Sogar jetzt, besonders jetzt, bist du hier, in meinem Kopf. Dir bereitete normales Verhalten wenig Mühe. Für mich ist es eine Sisyphosaufgabe. Mich hat es immer gewundert, wie beliebt du in der Arbeit warst. Keine Aggressivität oder Wut, sanftes Lächeln, beruhigende Stimme. Du hast sie an dich gebunden, sie isoliert. Hast die Frauen, von denen du wusstest, dass sie sich überreden lassen würden, beiseitegenommen, ihnen ins Ohr geflüstert. Sicher zu sein. Geliebt zu werden. Dieses Gefühl hast du ihnen vermittelt, deswegen haben sie dir ihre Kinder anvertraut.

»Ich glaube, ich geh wieder heim, ich fühl mich nicht so gut.«

»Okay«, meint Phoebe. »Aber mach mir bloß keinen Stress mit Dad.«

Izzy hebt den Blick mit einem provozierenden Lächeln. »Wir sehen uns in der Schule«, sagt sie. Als ich mich entferne, höre ich, wie sie hinzufügt: »Das wird ein Spaß.«

Das Mädchen im Jogginganzug sitzt nicht mehr auf der Mauer. Ich bleibe stehen und schaue hinüber zu der Sozialsiedlung, lege den Kopf in den Nacken, folge der Linie der Hochhäuser mit dem Blick bis zum Himmel. In Devon gab es keine Hochhäuser, nur einfache Gebäude und Felder. Jede Menge Privatsphäre.

Als ich heimkomme, fragt Mike mich, wo Phoebe ist. Ich erkläre ihm, dass wir Izzy begegnet sind. Er lächelt, entschuldigend, glaube ich.

»Die beiden sind seit Ewigkeiten befreundet«, sagt er. »Sie müssen sich erzählen, was den Sommer über passiert ist. Möchtest du in meinem Arbeitszimmer kurz mit mir reden, bevor morgen die Schule anfängt?«

Ich antworte mit Ja – das sage ich jetzt ziemlich oft. Es ist ein gutes Wort, hinter dem ich mich verstecken kann. Mikes Arbeitszimmer ist groß und hat Erkerfenster mit Blick auf den Garten. Ein mahagonifarbener Schreibtisch, ein Fotorahmen und eine altmodische grüne Leselampe, stapelweise Papier. Eine Hausbibliothek, Einbauregale voller Bücher, die anderen Wände malvenfarben gestrichen. Es fühlt sich stabil an. Sicher. Er sieht, wie ich die Regale betrachte, lacht. Ich weiß, ich weiß, sagt er, viel zu viele, aber unter uns: Ich finde, man kann gar nicht genug Bücher haben.

Ich nicke, pflichte ihm bei.

»Hatte deine Schule eine gute Bibliothek?«, erkundigt er sich.

Die Frage gefällt mir nicht. Ich denke nicht gern über das Leben nach, wie es vorher war. Trotzdem antworte ich, um Bereitschaft zu signalisieren.

»Nicht wirklich, aber im Nachbarort gab’s eine, da war ich manchmal.«

»Lesen ist ausgesprochen therapeutisch. Frag einfach, wenn du dir was ausleihen möchtest. Du siehst ja, dass ich jede Menge Schmöker habe.«

Er zwinkert mir zu, nicht auf eine Weise, die mir unangenehm ist, deutet auf einen Sessel. Nimm Platz. Entspann dich. Ich setze mich, merke, dass die Tür zum Arbeitszimmer geschlossen ist. Mike muss das gemacht haben, als ich mir seine Bücher angeschaut habe. Er zeigt auf meinen Sessel.

»Bequem, nicht?«, sagt er.

Ich nicke, versuche, entspannter zu wirken, behaglicher, als ich mich fühle. Ich will alles richtig machen. Die Rückenlehne kann man verstellen, erklärt er, du musst nur an dem Hebel an der Seite ziehen. Tu dir keinen Zwang an, wenn du Lust drauf hast. Habe ich aber nicht, und ich mache es nicht. Die Vorstellung, mit jemandem allein in einem Zimmer zu sein, in einem Sessel, dessen Lehne sich nach hinten kippen lässt, ich auf dem Rücken … Nein. Der Gedanke gefällt mir nicht.

»Ich weiß, wir haben uns vor deiner Entlassung aus der Klinik schon darüber unterhalten, aber es ist wichtig, dass wir die Punkte, auf die wir uns geeinigt haben, ein zweites Mal durchgehen, bevor du in ein paar Wochen nur noch für die Schule Zeit hast.«

Einer meiner Füße beginnt zu wippen. Er sieht ihn an.

»Du wirkst unsicher.«

»Ein bisschen.«

»Ich bitte dich lediglich, diesen Sitzungen offen gegenüberzustehen, Milly. Betrachte sie als Momente der Ruhe, des Durchatmens. Uns bleiben knapp drei Monate, bis die Verhandlung beginnt, was bedeutet, dass wir an deiner Vorbereitung darauf arbeiten werden, doch wir werden auch die angeleiteten Entspannungsübungen weiterführen, die der Klinikpsychologe mit dir angefangen hat.«

»Ist das noch nötig?«

»Ja, auf lange Sicht hilft es dir.«

Wie soll ich ihm erklären, dass es das nicht tut, solange Sachen, die mir Angst machen, einen Weg zu mir finden?

»Es liegt in der Natur des Menschen, Dinge zu meiden, von denen wir uns bedroht fühlen, Milly, Dinge, die uns das Gefühl geben, sie nicht ausreichend unter Kontrolle zu haben, aber es ist wichtig, sich mit ihnen auseinanderzusetzen. Themen abzuhaken. Denk an einen Ort, der sich für dich sicher anfühlt. In unserer nächsten Sitzung frage ich dich danach. Anfangs wird dir das vielleicht noch schwerfallen, doch ich muss dich bitten, es zu versuchen. Das kann jeder beliebige Ort sein, ein Klassenzimmer in deiner alten Schule, eine Busfahrt, die du regelmäßig gemacht hast.«

Sie hat mich in die Schule gebracht. Jeden Tag.

»Oder irgendwo in dem Dorf, in dessen Nähe du gewohnt hast, zum Beispiel ein Café oder die Bibliothek, die du erwähnt hast, egal, wo, solange du ein beruhigendes Gefühl damit verbindest. Ergibt das Sinn?«

»Ich probier’s.«

»Gut. Wie fühlst du dich vor dem großen Tag morgen? Die Neue in der Klasse zu sein ist nie leicht.«

»Ich freu mich drauf, wieder was zu tun zu haben. Das hilft.«

»Gib dir Mühe, dich zu integrieren. In Wetherbridge kann es am Anfang ziemlich hart sein. Aber bestimmt schaffst du das. Würdest du gern noch über etwas anderes reden oder mich etwas fragen, worüber du dir unsicher bist?«

Über so ziemlich alles.

»Nein danke.«

»Dann lassen wir’s für heute Abend dabei bewenden. Wenn dir allerdings vor unserer nächsten Sitzung noch etwas einfallen sollte, habe ich immer ein offenes Ohr für dich.«

Frustriert darüber, dass Mike mit der Hypnose weitermachen will, kehre ich in mein Zimmer zurück. Er meint, wenn er es »angeleitete Entspannungsübungen« nennt, weiß ich nicht, was es ist, doch ich weiß es. Ich habe den Psychologen in der Klinik zu einer Kollegin sagen hören, dass die Hypnosetechnik, die er bei mir anwendet, sich hoffentlich als gute Methode entpuppt, mich aufzuschließen. Ich bleibe lieber verschlossen, hätte ich ihm am liebsten erklärt.

Als ich an Phoebes Zimmer vorbeigehe, höre ich Musik. Also muss sie wieder da sein. Ich nehme meinen Mut zusammen und klopfe an ihrer Tür. Will sie fragen, was mich morgen in der Schule erwartet.

»Wer da?«, ruft sie.

»Milly«, antworte ich.

»Ich bereite mich auf morgen vor«, erklärt sie. »Das solltest du auch machen.«

Ich flüstere gegen die verschlossene Tür – Ich hab Angst. Dann gehe ich in mein Zimmer und lege meine neue Schuluniform zurecht. Blauer Rock, weiße Bluse, gestreifte Krawatte, zwei Blautöne. Obwohl ich versuche, nicht an dich zu denken, gelingt es mir nicht. Unsere tägliche Fahrt zur und von der Schule. Du hast dich in der Frühschicht einteilen lassen, damit ich nicht den Bus nehmen musste. Gelegenheit, mich zu erinnern. Das Lied, das du sangst, während deine Finger mich wie Schraubzwingen umfassten. Wie mir vor Schmerz die Tränen in die Augen traten. Unsere Geheimnisse sind etwas ganz Besonderes, hast du gesagt, wenn der Refrain einsetzte, sie gehen nur dich und mich etwas an.

Kurz nach neun abends. Saskia kommt herein, um mir eine gute Nacht zu wünschen. Mach dir keine Gedanken wegen morgen, meint sie, Wetherbridge ist eine prima Schule. Nachdem sie meine Tür geschlossen hat, höre ich sie an der von Phoebe. Sie klopft, öffnet sie. Phoebe fragt: Was willst du?

Bloß nachsehen, ob du auf morgen früh vorbereitet bist. Wenn du meinst, erwidert Phoebe, und die Tür schließt sich wieder.

4

Die ersten beiden Schultage, Donnerstag und Freitag letzter Woche, habe ich im Schutz des Einführungsprogramms ohne Zwischenfälle hinter mich gebracht. Vorträge über Vorschriften und Erwartungen, Vorstellung meiner Tutorin Miss Kemp. In der elften Jahrgangsstufe sind eigentlich keine Tutoren vorgesehen, doch weil ich die einzige Neue in diesem Jahr bin und sie Kunst unterrichtet, haben sie mich mit ihr zusammengespannt. Die Direktorin meiner alten Schule hat über den Sozialdienst einen Brief geschickt, in dem sie auf die Begabung für Kunst hinweist, die ich ihrer Ansicht nach habe. Miss Kemp wirkte begeistert und sagte, sie könne es kaum erwarten, etwas von mir gezeigt zu bekommen. Ich fand sie nett, aber so genau weiß man das nie. Besonders erinnere ich mich an ihren Geruch, Tabak, vermischt mit etwas, das ich nicht festmachen konnte. Irgendwie vertraut.

Das Wochenende verlief ruhig. Mike arbeitet am Samstag in seiner Praxis in Notting Hill Gate – da verdient er sein Geld. Saskia war ständig unterwegs, Yoga und andere Dinge. Phoebe ist bei Izzy. Das heißt, ich hatte viel Zeit für mich. Am Sonntagabend sind Mike und Saskia mit mir ins Electric-Kino an der Portobello Road gegangen, und obwohl das ganz anders war als die Filmabende zu Hause mit dir, habe ich ständig an dich gedacht.

Als wir zurückkamen, marschierte Phoebe mit wütendem Blick aus dem Fitnessraum. Na, heile Familie gespielt?, zischte sie. Wir haben dich gefragt, ob du mitwillst, erwiderte Mike. Sie zuckte mit den Achseln. Bin ja nicht rechtzeitig von Iz zurück gewesen, oder?

Sie und ich gingen miteinander nach oben. Hast dich aber schnell eingewöhnt, sagte sie zu mir. Freu dich nicht zu früh. Lang bleibst du nicht hier, hat noch keine geschafft. Ich spürte es in meinen Eingeweiden. Alarm. Ein Signal.

Am folgenden Morgen sind Mike und ich beim Frühstück allein. Er erklärt, dass Saskia im Bett ist. Ausschlafen will. Er weiß nicht, dass ich die Tabletten in ihrer Handtasche gesehen habe.

Leider ist Phoebe schon weg, sagt er. Soll ich dich begleiten? Ist ja deine erste volle Woche. Ich antworte, dass ich allein zurechtkomme, obwohl ich mir da nicht so sicher bin. Die ersten beiden Tage der Einführung habe ich mit den anderen Mädchen in der Mensa gegessen. Zuerst waren sie neugierig, dann verloren sie schnell das Interesse an mir, als es sich herumsprach – sie redet wie ein Roboter, schaut permanent auf den Boden. Ein Freak. Ich kaschiere die Tatsache, dass meine Finger manchmal zittern – eine dauerhafte Schädigung meines Nervensystems –, indem ich sie in die Tasche meines Schulblazers stecke oder einen Ordner mit mir herumtrage. In dieser Schule werden Urteile schnell gefällt, das ist mir klar. Im Handumdrehen gehört man dazu oder nicht. Es hat keinen Sinn, Phoebe um Unterstützung zu bitten. Sie hat lieber nichts mit mir zu tun. Also werde ich ignoriert, zur Außenseiterin. Bin DIE Außenseiterin.

Doch heute, am Montag, ist es anders.

Heute stoßen sich die Mädchen meines Jahrgangs gegenseitig an und kichern, als ich den Schulhof überquere.

Man nimmt mich wahr.

Im Schulgebäude halte ich mich scharf rechts, meide den Mittelgang, wo sich die gehässigen, versnobten, hübschen Mädchen scharen. Sich dort aufzuhalten käme einer Provokation gleich. Ich lasse das Kichern hinter mir, die gezischten Beleidigungen, die sie sich gegenseitig an den Kopf werfen, sogar die Freundinnen – besonders die Freundinnen –, und gehe zum Umkleideraum.

Ich drücke die Tür mit dem Rücken auf, weil ich die Arme voller Ordner habe.

Drehe mich um. Sehe es.

XXL. An meinem Spind. Mein Schulfoto, aufgenommen letzte Woche, an meinem ersten Tag. Ich wirke unbeholfen und unsicher. Hässlich. Der Mund leicht geöffet, gerade weit genug, um Platz für das Bild eines riesigen Penis zu bieten, eine Sprechblase.

MILLY FICKT WILLY DEN PIMMEL

Ich bewege mich. Die Tür fällt mit einem dumpfen Geräusch ins Schloss. Das Bild zieht mich magisch an. Ich. Seltsam, mich zu sehen, wie ich mich noch nie gesehen habe. Ein roter, geäderter Eindringling ragt aus meinem Mund. Ich lege den Kopf schräg, stelle mir vor hineinzubeißen. Fest.

Lärm dringt vom Flur herein, als die Tür aufgeht und sich wieder schließt. Leise Schritte hinter mir. Ich reiße das Foto im selben Moment herunter, in dem eine Hand sich auf meine Schulter legt. Klappern schwerer Armreifen. Ihr unverkennbarer Geruch umhüllt mich wie eine Decke an einem sehr warmen Tag. Ich verfluche mich für mein Zögern. Sie hat’s gesehen, bevor ich es entfernen konnte, das weiß ich. Idiot. Ich sollte es besser wissen. Du hast es mir besser beigebracht.

»Was hast du da in der Hand, Milly?«

»Nichts, Miss Kemp, alles in Ordnung.«

Lass mich in Ruhe.

»Du kannst es mir ruhig sagen.«

»Da gibt’s nichts zu sagen.«

Ihre unförmigen Armreifen. Ich fühle sie an meinem Schlüsselbein, als sie mich zu sich herumdreht. Sie hat Witterung aufgenommen, das spüre ich. Wenn das, was ich den Unterhaltungen der anderen Mädchen entnommen habe, stimmt – angeblich ist sie ein bisschen dusselig und manchmal übereifrig –, wird sie nicht lockerlassen. Mein gesenkter Blick wandert zu ihren Füßen. Klobige Hippy-Clogs, dicke Holzsohlen. Je länger ich sie ansehe, desto mehr ähneln sie zwei Booten, gestrandet auf einer geheimen Sandbank unter ihrem Rock. Dampf ab, lass mich in Ruhe.

»Sieht aber nicht nach nichts aus. Zeig’s mir.«

Ich zerknülle das Foto hinter meinem Rücken. Bete stumm zu Gott: Lös mich in Luft auf, oder sie.

»Ich muss los, sonst komme ich zu spät.«

»So lasse ich dich nicht gehen. Zeig es mir, vielleicht kann ich dir helfen.«

Ihre Stimme, fast singt sie. Ich fühle mich etwas sicherer. Mein Blick wandert nach oben. Schienbeine. Ich kenne sie nicht. Sei vorsichtig, ja, hat mein Psychologe mir geraten, aber vergiss nicht, dass die meisten Menschen keine Bedrohung darstellen. Oberschenkel. Noch mehr verrücktes Hippyzeug. Cordrock, Paisley-Bluse, irgendwie unfertig. Der chaotische Stil, den du hassen würdest, Mummy. Farben und Schichten. Schichten und Farben. Hände winden sich umeinander, übergroße Ringe stoßen klappernd zusammen wie beim Autoskooter. Nervosität? Nein. Etwas anderes. Erwartung. Ja. Ganz kurz. Eine Verbindung, glaubt sie. Ihr Geruch, jetzt weniger aufdringlich. Mein Blick schafft es bis zu ihren Augen. Haselnussbraun, flackernd, dunkel und hell, sie streckt die Hand nach mir aus.

»Zeig’s mir.«

Die Glocke ertönt, ich reiche ihr das Bild. Ich will nicht zu spät in den Unterricht kommen, dann würde ich noch stärker auffallen. Sie versucht, das Papier mit der Hand auf ihrem Oberschenkel zu glätten, eine Bügelbewegung. Ich schaue weg. Höre, wie sie tiefer atmet, verhalten. Wie konnten sie nur?, fragt sie. Wieder streckt sie die Hand nach mir aus, berührt den Ärmel meines Schulblazers, nicht meine Haut. Gott sei Dank.

»Ich möchte kein großes Trara drum machen, Miss.«

»Leider ist das nicht möglich. Ich muss dem nachgehen, ich bin deine Tutorin. Hast du eine Ahnung, wer dahinterstecken könnte?«

Ich antworte mit Nein, obwohl das nicht ganz stimmt. Letzte Woche auf der Straße.

Izzys Worte: Das wird ein Spaß.

»Keine Sorge, Milly, ich finde raus, wer das war.«

Ich würde ihr gern sagen, dass sie sich nicht die Mühe machen soll, ich habe schon Schlimmeres erlebt. Aber das kann ich nicht – sie weiß nicht, wer ich bin, wo ich herkomme. Als sie das Foto noch einmal betrachtet, mustere ich ihren Hals. Ihren regelmäßigen, kräftigen Puls. Bei jedem Pochen bebt die umgebende Haut ein bisschen. Der Gedanke verfliegt, als Phoebe und Izzy hereinstürmen und wie angewurzelt stehen bleiben, weil sie sehen, dass ich nicht allein bin. Sie wollten ihre Schadenfreude auskosten, die Handys schussbereit. Den Moment einfangen. Ihre Nervosität ist Beweis genug. Ich werde nie begreifen, warum es den Menschen nicht gelingt, ihre Gefühle besser zu verbergen. Allerdings muss ich natürlich zugeben, dass ich darin geübter bin als die meisten. Miss Kemp merkt, dass sie einander anschauen, und zieht ihre eigenen Schlüsse. Die richtigen. Vielleicht ist sie doch nicht so dusselig oder beschränkt, wie die Mädchen meinen.

»Ach. Besonders du, Phoebe, wie kannst du nur? Was würden deine Eltern dazu sagen? Sie wären wütend. Ich weiß wirklich nicht, warum ihr Mädchen so miteinander umspringt. Ich muss nachdenken. Meldet euch nach der Anwesenheitsüberprüfung bei mir im Kunstzimmer und …«

»Aber Miss Kemp, wir treffen uns wegen dem Hockey-Team. Ich muss da sein, ich bin Mannschaftsführerin.«

»Bitte unterbrich mich nicht, Phoebe, ja? Du und Izzy, ihr seid bis spätestens acht Uhr fünfundfünfzig bei mir im Zimmer, sonst melde ich die Sache der Schulleitung. Verstanden?«

Schweigen, nur ein paar Sekunden. Schließlich sagt Izzy: »Ja, Miss Kemp.«

»Gut, dann schreibt euch jetzt ein und kommt danach sofort in mein Zimmer. Milly, schreib du dich auch ein. Und keine Sorge, ich kümmere mich um die Sache.«

Mein Herz schlägt den ganzen Weg zum Sekretariat wie wild. Miss Kemp, die zu sehr damit beschäft war, sich »einzumischen«, hat Phoebes Geste mir gegenüber beim Verlassen des Umkleideraums nicht gesehen. Ein Finger quer über den Hals. Der Blick auf mich gerichtet. Tot. Ich.

Von wegen.

Phoebe, Schätzchen.

5

Weniger als zwei Stunden später kommen sie mit glänzenden Lippen vor dem Geräteraum auf mich zu, werfen die Haare zurück, drängen mich in die Ecke, drücken sich gegen mich. Eng wie in einer Sardinenbüchse.

»Na, wie geht’s Miss Kemps neuem kleinem Liebling?« Ich spüre Izzys heißen Atem an meinem linken Ohr.

Von Phoebe keine Spur. Sie ist zu clever, um sich zu zeigen. Clondine tritt vor, ihre andere beste Freundin, voller Eifer, von rechts, die Ärmel hochgekrempelt. Die Toiletten hinter dem Chemielabor, die kaum jemand benutzt, bedeuten nichts Gutes. Hände schieben mich durch die Tür. Ein Schubs, ein Stoß, noch ein Schubs.

Sie verlieren keine Zeit.

»Du hältst dich wohl für besonders schlau, was? Verpetzt uns bei deiner guten Miss Kemp.«

»Ich hab euch nicht verpetzt.«

»Hörst du das, Clondine? Sie streitet’s ab.«

»Ja, ich hör’s, aber ich glaub’s ihr nicht.«

Izzy kommt näher, Handy in der Hand. Filmt uns. Rempelt mich an. Fest. Ihr Atem riecht nach Erdbeeren, so verlockend, dass ich ihr am liebsten in den Mund kriechen würde. Ich sehe den Kaugummi zwischen ihren Cheerleader-Zähnen. Sie hat keine Zahnspange wie Clondine, deren Mund voll farbigem Metall ist. Izzy legt die Hand an die Wand über meinem Kopf, damit ich mir klein vorkomme. Bedroht. Eine Szene aus einem Film, den sie gesehen hat. Sie macht eine Kaugummiblase. Pink und undurchsichtig. Die berührt meine Nase, platzt, bleibt daran kleben. Kichern. Izzy tritt zurück, Clondine übernimmt.

»Gib mir deine Handynummer. Und erzähl mir ja nicht, dass du kein Handy hast. Von Phoebe weiß ich, dass Mike dir eins gekauft hat.«

Schweigen.

Deine Stimme in meinem Kopf. ZEIG’S IHNEN, MEIN MÄDCHEN. DANKBAR SOLLTEST DU MIR SEIN FÜR DAS, WAS ICH DIR BEIGEBRACHT HABE, ANNIE. Dein Lob, so selten, durchzuckt mich wie ein Buschfeuer, das mit seinem heißen, hungrigen Maul Häuser und Bäume verschlingt und andere Mädchen in meinem Alter, die nicht so stark sind wie ich. Ich erwidere ihre Blicke, die Reste von Izzys Kaugummi an meinem Kinn. Mein Widerstand verwirrt sie, das sehe ich. Ihre vollen Lippen zucken, die Pupillen weiten sich. Ich schüttle den Kopf, langsam und bedächtig. Izzy, die gierigere der beiden, schluckt den Köder.

»Gib mir deine verdammte Handynummer, Miststück.«

Sie schiebt mit den Händen, drückt ihr Gesicht gegen das meine. Ich freue mich über den Körperkontakt. Bin real. Schau mich an, fühl mich, aber ich sage dir: Ich komme von einem Ort, an dem so etwas nur eine Aufwärmübung ist.

Wieder schüttle ich den Kopf.

Stechender Schmerz durchzuckt meine Wange, schießt in mein Ohr, auf der anderen Seite wieder hinaus. Ohrfeige. Ich höre Lachen, Bewunderung für Izzys Show. Meine Augen sind geschlossen, doch ich kann mir vorstellen, wie sie sich vor der begeisterten Menge verbeugt. Ihre Stimme klingt fern, das Dröhnen in meinem Ohr droht, sie zu übertönen, aber die Worte sind unmissverständlich.

»Ich. Sag’s. Nicht. Noch. Mal.«

Und ich vergesse niemals etwas.

Nie.

Als sie haben, was sie wollten, verschwinden sie. Meine Hand berührt meine heiße Wange. Das erinnert mich an dich. Verschlingt mich. Ein Strudel von Erinnerungen. Wir sind in unserem Haus. Ich rieche den Lavendel, den du so gern hast, die Vase im Bad. Es ist der Abend deiner Festnahme, ich war den ganzen Nachmittag im Polizeirevier. Hatte einen Brief von dir gefälscht, im Sekretariat der Schule abgegeben, konnte nach der Mittagspause gehen, ohne dass Fragen gestellt wurden.

An dem Abend hatte ich schreckliche Angst, dich anzusehen, als wäre die Schande, das, was ich getan hatte, an meinem Gesicht abzulesen. Wie ein Graffito. Ich bot dir an, das Bügeln zu übernehmen, alles, damit meine Hände aufhörten zu zittern, damit ich eine Waffe hätte, wenn die Polizei zu früh käme und du dich auf mich stürzen würdest. Du hast anders gewirkt, kleiner, nach wie vor bedrohlich, aber nicht mehr so stark. Doch nicht du hattest dich verändert, sondern ich. Das Ende in Sicht. Oder der Anfang.

Ich machte mir Sorgen, dass sie nicht kommen würden, es sich anders überlegt hatten, meinten, ich hätte mir das alles nur ausgedacht. Ich versuchte, normal zu atmen, normal dazustehen, obwohl das letztlich egal war, weil du jederzeit den Hebel umlegen konntest. In der einen Minute hast du noch Blumen arrangiert, in der nächsten wolltest du schon, dass ich dir etwas vorführe. Es gibt nicht viele Alltagstätigkeiten, die mich nicht an dich erinnern. Wie du sie erledigt hast. Wenn es Zeit zum Bettgehen wurde, wartete ich, dass du mir sagen würdest, wo ich schlafen soll. Manchmal in deinem Bett, dann wieder wurde ich verschont und durfte in das meine. Komischer- oder auch traurigerweise wollte ein Teil von mir in dieser Nacht bei dir schlafen, weil ich wusste, dass es unsere letzte sein würde. Und ein anderer Teil von mir hatte zu viel Angst, allein nach oben zu gehen. Acht rauf, noch mal vier rauf, die Tür rechts. Gegenüber der meinen. Das Spielzimmer.

Du hast deine Schlafzimmertür wortlos zugemacht, es war eine jener Nächte. Du konntest tagelang schweigen oder mich links liegen lassen und mich dann innerhalb von Minuten verschlingen, mit Haut und Haaren, was dir gerade in die Finger kam. An jenem Abend sagte ich gute Nacht, flüsterte es. Möglicherweise habe ich dir auch gesagt, dass ich dich liebe, und das tat ich wirklich. Tue es immer noch, obwohl ich mich dagegen wehre.

Oben lehnte ich mich vor dem Zimmer gegenüber dem meinen an die Wand des Flurs, weil ich etwas Festes spüren musste. Doch bald bewegte ich mich weiter, als ich die Stimmen winziger Geister aus dieser Wand dringen hörte. Herausstürzen. Niemandsland.

Sie wartet dort, die Kleine, die Phoebe den Stinkefinger gezeigt hat, das weiß ich. Seit jenem ersten Abend habe ich sie zweimal gesehen. Ich biege in meine Straße ein. Sie sitzt auf der Mauer. Ich spüre etwas in meinem Bauch, Druck, keine Angst. Freude, glaube ich. Erregung. Sie ist klein, allein. Noch habe ich nicht mit ihr geredet, aber ich arbeite daran. Als ich näher komme, fängt sie an, mit den Beinen auf und ab zu schwingen, damit abwechselnd gegen die Ziegelmauer zu schlagen, die die Sozialsiedlung gegenüber von meinem Haus umgibt. Ihr rechtes Auge ist blau und fast zugeschwollen. Mit dem anderen starrt sie mir nach. Es blinzelt und blinzelt noch einmal. Ein Morsecode mit einem Auge. Ich nehme die Chips aus dem Rucksack. Die Tüte öffnet sich mit einem leisen Knall. Ich sehe die Kleine an. Ihr unverletztes Auge schaut weg, sie fängt fröhlich zu pfeifen an, sommersprossig, unbeteiligt. Ich überquere achselzuckend die Straße. Drei. Zwei …

»Hast du was zu futtern?«

Eins.

Ich drehe mich zu ihr. »Kannst welche von meinen Chips haben, wenn du willst.«

Sie schaut über die Schulter, wie, um sicher zu sein, dass wir allein sind, und fragt: »Was für ’ne Geschmacksrichtung?«

»Salz und Essig.«

Ich halte ihr die Packung hin. Wenn sie Chips will, muss sie von der Mauer runter. Sie kommt. Mit affenartiger Geschwindigkeit reißt sie sie mir aus der Hand und setzt sich wieder hinauf. Ihre abgestoßenen Turnschuhe fangen erneut zu tanzen an: puff, puff, rechts, links. Ich frage sie nach ihrem Namen, doch sie schenkt mir keine Beachtung. Sie braucht nur wenige Minuten, die Tüte zu leeren, schaufelt die Chips eher in sich hinein, als dass sie sie isst. Sie verschlingt sie. Hält die Packung über ihren Mund, klopft auf den Boden, damit die letzten Krümel herausfallen. Die leere Tüte flattert auf den Boden. Sie ist älter, als sie aussieht, zwölf, vielleicht dreizehn. Klein für ihr Alter.

»Hast du noch was?«

»Nein.«

Sie macht eine Speichelblase, was ich einerseits ekelhaft, andererseits faszinierend finde. Wie sie sich auf ihren Lippen bildet, wie sie sie einsaugt. Dreist und kindlich gleichermaßen. Ich würde sie gern fragen, warum sie so oft allein hier sitzt, warum eine Mauer an einer Straße besser ist als ihr Zuhause, aber sie schwingt die Beine über die andere Seite der Mauer, geht weg, auf eines der Hochhäuser zu. Ich sehe ihr nach, sie spürt das irgendwie. Wendet sich um, schaut mich an mit einem Blick, der zu sagen scheint: Was ist? Ich antworte mit einem Lächeln, sie zuckt mit den Achseln. Ich versuche es noch einmal.

»Wie heißt du?«, rufe ich.

Sie bleibt stehen, dreht sich zu mir um, schleift mit einem Fuß über den Boden. Einmal. Zweimal.

»Wer will das wissen?«

»Milly, ich heiße Milly.«

Sie presst die Augen zusammen, ein unsicherer Ausdruck tritt auf ihr Gesicht, aber sie antwortet.

»Morgan«, sagt sie.

»Hübscher Name.«

»Wenn du meinst«, entgegnet sie, trottet los und ist bald nicht mehr zu sehen. Beim Überqueren der Straße lasse ich die Buchstaben ihres Namens auf meiner Zunge und meinen Lippen zergehen, und während ich in meiner Tasche nach den Schlüsseln suche, kann ich mir ein Gefühl der Befriedigung nicht verkneifen. Ich habe Clondine und Izzy die Stirn geboten und mit dem Mädchen auf der Mauer geredet. Ich schaffe es, schaffe ein Leben nach dir.

6

Bis jetzt ist es mir gelungen, deine nächtlichen Besuche geheim zu halten.

Dass du als Schlange kommst, unter der Tür durch. Hinauf in mein Bett. Dass du dich mit deinem Schuppenkörper an mich schmiegst. Mich daran erinnerst, dass ich nach wie vor dir gehöre. Am Morgen liege ich dann zusammengerollt auf dem Boden, die Bettdecke über dem Kopf. Meine Haut glüht, doch im Innern ist mir kalt, das ist schwer zu erklären. In einem Buch habe ich einmal gelesen, gewalttätige Menschen seien hitzköpfig, Psychopathen hingegen kaltherzig. Heiß und kalt. Kopf und Herz. Aber was, wenn man als Kind eines Menschen heranwächst, der beides ist? Was dann?

Morgen haben Mike und ich einen Termin bei der Staatsanwaltschaft. Bei den Männern oder Frauen, die deinem Treiben ein Ende machen, den Schlüssel wegwerfen sollen. Sitzt du in deiner Zelle und grübelst, warum? Warum ich mich nach so vielen Jahren von dir abgewandt habe? Das hat zwei Gründe, doch nur über einen kann ich reden.

Mein sechzehnter Geburtstag. Erst im Dezember, aber du hast schon Monate zuvor mit der Planung begonnen. Allerdings nicht wie andere Mütter. Ein Geburtstag, den du nie vergessen wirst, hast du gesagt. Oder überleben, dachte ich. E-Mails von Leuten, die du kennst. Der dunkle Kern des Internets. Eine Liste. Drei Männer und eine Frau, du hast sie zu uns eingeladen, zum Mitmachen. Sie sollten sich mich teilen. Es war mein Geburtstag, ich das Geschenk. Die piñata zum Draufschlagen. Süße Sechzehn, hast du gesagt, du konntest es kaum noch erwarten. Die Worte wie zuckrige Leckereien in deinem Mund. Zitronen für mich. Bitter und sauer.

Beim Fertigmachen für die Schule spüre ich eine Migräneattacke heranrollen, noch so ein Andenken an dich. Die Knöpfe an meiner Bluse widersetzen sich meinen Fingern, es ist, als wollte ich einen Bindfaden mit Essstäbchen einfädeln. Ich brauche länger als sonst. Als ich schließlich an Phoebes Zimmer vorbeigehe, ist die Tür zu, und ich frage mich, ob sie schon weg ist. Ich habe sie seit gestern im Umkleideraum der Schule nicht mehr gesehen. Hoffe, dass sie und die Mädchen genug »Spaß« mit mir gehabt haben.

Im zweiten Stock ist unser Reich, dicker cremefarbener Teppich. Auf dem Flur darunter Fliesen. Ich verschätze mich bei der letzten Stufe, stolpere und lande auf dem kalten Marmor. Anscheinend habe ich aufgeschrien, denn Mike kommt aus der Küche.

»Ganz ruhig«, sagt er. »Ich helf dir.«

Er setzt mich auf die unterste Stufe der Treppe und nimmt neben mir Platz. Ich habe mich dumm angestellt, erkläre ich ihm. »Ach was«, meint er. »Passiert schon mal. Du kennst dich im Haus noch nicht aus. Du beschattest die Augen. Hast du Kopfschmerzen?«

»Ich glaube schon.«

»Davor hat man uns gewarnt. Wahrscheinlich ist es das Beste, wenn du nicht in die Schule gehst, jedenfalls nicht am Vormittag. Versuch, ein bisschen zu schlafen.«

Mein erster Impuls ist es, Nein zu sagen, aber dann wird mir bewusst, wo ich bin – und wo du bist. Manchmal hast du dir den Freitag freigenommen, ein langes Wochenende. Hast in der Schule angerufen, mich entschuldigt, dass ich krank bin, mir den Magen verdorben oder eine Grippe habe. Drei ganze Tage, nur du und ich.

»Ich mach dir einen Tee, und anschließend legst du dich wieder ins Bett, okay?«

Ich nicke, er hilft mir auf. Ich frage ihn, wo Phoebe und Saskia sind. Schon weg, antwortet er.

»Apropos: In der Küche liegt ein Geschenk von Sas für dich.«

Das Geschenk ist klein, viereckig. Blaues Papier, rote Schleife.

»Mach’s ruhig auf, wenn du willst.«

Eine nette Geste. Ich setze mich an den Tisch, und als ich Mike dabei zusehe, wie er den Tee aufbrüht, wie er die Dinge vorsichtig benutzt und wieder zurückstellt, überkommt mich ein Gefühl der Dankbarkeit. Nicht viele Menschen würden jemanden wie mich bei sich aufnehmen, so viel Verantwortung wollen. Ein solches Risiko. Ich kämpfe gegen die Tränen an, doch sie sind stärker. Landen auf dem fliederfarbenen Tischtuch. Mike merkt es, als er sich neben mich setzt. Er sieht das ungeöffnete Geschenk in meiner Hand an, sagt, ich soll mir keine Gedanken machen. Lass dir Zeit, meint er, trink den Tee. Ich hab Honig reingegeben, die Süße hilft.

Mike hat recht. Die süße Wärme hilft tatsächlich.

»Ich weiß, es ist erst Dienstag, aber vielleicht sollten wir später miteinander reden, falls du dich dazu in der Lage fühlst. Ich glaube, ein Gespräch würde dir guttun, was meinst du?«