Ich bin nicht da - Lize Spit - E-Book
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Ich bin nicht da E-Book

Lize Spit

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Beschreibung

Nach ihrem aufsehenerregenden Debüt »Und es schmilzt« ist Lize Spits zweiter Roman noch nervenzerreißender, noch emotionaler und noch persönlicher. Leo ist seit zehn Jahren mit Simon zusammen. Er ist der wichtigste Mensch in ihrem Leben und viele andere sind da auch nicht. Als Simon eines Nachts völlig überdreht nachhause kommt, eine Tätowierung hinter dem Ohr, den Job gekündigt, erkennt sie ihn kaum wieder. Er schläft immer weniger und wird zunehmend paranoid. Eine manische Episode hat Leos große Liebe fest im Griff. Als sie begreift, wozu Simon jetzt fähig ist, ist es vielleicht zu spät. Zu lange hat Leo alles für ihn aufs Spiel gesetzt. Nun bleiben ihr genau elf Minuten, um eine Tragödie zu verhindern, die nicht nur ihr Leben für immer verändern wird. Ein Roman über eine junge Frau, die zusehen muss, wie ihre große Liebe von einer psychischen Krankheit geradezu verschlungen wird.  »Lize Spit kennt keine Angst. Wir, die Leser, sind die, die zitternd zurückbleiben.« Leila Slimani über »Und es schmilzt« »In ihrem einzigartigen Stil erreicht Lize Spit eine emotionale Tiefe, die man in der Literatur nicht oft findet.« Friesch Dagblad »Ein großer Roman über die Liebe, Schmerz und den Wunsch, gesehen zu werden.« JAN »Es ist schlicht nicht möglich, dieses Buch aus der Hand zu legen.« NCR Handelsblad

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Seitenzahl: 751

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Lize Spit

Ich bin nicht da

Roman

 

Aus dem Niederländischen von Helga van Beuningen

 

Über dieses Buch

 

 

Leo ist seit zehn Jahren mit Simon zusammen. Er ist der wichtigste Mensch in ihrem Leben, und viele andere sind da auch nicht. Eines Nachts kommt Simon wie ausgewechselt nach Hause, völlig überdreht, mit neuer Tätowierung, neuen Freunden, neuen Zukunftsplänen. Er schläft immer weniger und wird zunehmend paranoid. Eine manische Episode hat Leos große Liebe fest im Griff. Als sie begreift, wozu Simon jetzt fähig ist, ist es vielleicht zu spät. Zu lange hat Leo alles für ihn aufs Spiel gesetzt. Nun bleiben ihr genau elf Minuten, um eine Tragödie zu verhindern, die nicht nur ihr Leben für immer verändern würde.

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Biografie

 

 

Lize Spit wurde 1988 geboren, wuchs in einem kleinen Dorf in Flandern auf und lebt heute in Brüssel. Sie schreibt Romane, Drehbücher und Kurzgeschichten. Ihr erster Roman »Und es schmilzt« stand nach Erscheinen ein Jahr lang auf Platz 1 der belgischen Bestsellerliste und gewann zahlreiche Literaturpreise, darunter den Bronzen Uil Preis für den besten Debütroman und den Preis des niederländischen Buchhandels für den besten Roman des Jahres 2016.

 

Helga van Beuningen ist die Übersetzerin von Margriet de Moor, A. F. Th. van der Heijden, Marcel Möring, Cees Nooteboom u.a. Sie wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, darunter dem Martinus-Nijhoff-Preis, dem Helmut-M.-Braem-Preis und dem Else-Otten-Preis. 2021 wurde ihr der Straelener Übersetzerpreis der Kunststiftung NRW verliehen.

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Inhalt

[Motto]

Noch elf Minuten, im Geschäft

5. Mai 2018

Vor zwölf Jahren

12. Mai 2018

Noch zehn Minuten, im Geschäft

Vor elf Jahren

24. Mai 2018

Vor zehn Jahren

Noch neun Minuten und dreissig Sekunden, im Geschäft

Vor vier Jahren

25. Mai–10. Juni 2018

25. Juni 2018

Noch neun Minuten, im Geschäft

1. Juli 2018

7. Juli 2018

Noch acht Minuten und dreissig Sekunden, im Geschäft

14. Juli 2018

20. Juli–30. Juli 2018

Noch acht Minuten, im Geschäft

31. Juli 2018

6. August 2018

17. August 2018

Noch sieben Minuten und dreissig Sekunden, Oude Graanmarkt

18. August 2018

23. August 2018

24. August 2018

24. August 2018 (2)

Noch sieben Minuten, Dansaertstraat

25. August–2. September 2018

3. September–17. September 2018

19. September–26. September 2018

26. September 2018

Noch sechs Minuten und dreissig Sekunden, Visverkopersstraat

26. September 2018

27. September 2018

27. September 2018 (2)

Noch sechs Minuten, Van Arteveldestraat

27. September 2018 (3)

27. September 2018 (4)

28. September–30. September 2018

Noch fünf Minuten und dreissig Sekunden, Van Arteveldestraat

1. Oktober 2018

1. Oktober 2018 (2)

Noch fünf Minuten, Anderlechtsesteenweg

1. Oktober–8. Oktober 2018

8. Oktober–15. Oktober 2018

15. Oktober–22. Oktober 2018

22. Oktober 2018

Noch vier Minuten und dreissig Sekunden, Anderlechtsepoort

23. Oktober–29. Oktober 2018

30. Oktober–5. November 2018

5. November–12. November 2018

Noch vier Minuten, Poincarélaan

12. November–19. November 2018

19. November 2018

22. November 2018

22. November–27. November 2018

28. November–2. Dezember 2018

Noch drei Minuten und dreissig Sekunden, Poincarélaan

1. Dezember 2018

11. Dezember 2018

Noch zwei Minuten und dreissig Sekunden, Brogniezstraat

16. Dezember 2018

21. Dezember 2018

1. Januar 2019

Noch zwei Minuten, Brogniezstraat

1. Januar–6. Januar 2019

7. Januar 2019

7. Januar 2019

Noch eine Minute und dreissig Sekunden, Herzieningslaan

7. Januar–23. Januar 2019

24. Januar 2019

25. Januar 2019

1. Februar 2019

Noch eine Minute, Treppenhaus

1. Februar–12. Februar 2019

12. Februar 2019

Noch dreissig Sekunden, Treppenhaus

21. Februar 2019

21. Februar 2019 (2)

Zu Hause

[Dank]

what would it sound like if you were the songwriter

and you did your living around me

would you undress me repeatedly in public

to show how very noble and naked you can be

 

what would it sound like if you were the songwriter

and loving me was your unsung masterpiece

 

J. Tillman

Noch elf Minuten, im Geschäft

Als der erste Anruf eingeht, knie ich mitten im Laden über dem großen Karton mit Mänteln, den der Kurier vorhin abgeliefert hat. Der Bildschirm meines Handys muss aufgeleuchtet sein, aber ich merke nichts, es liegt ein paar Meter von mir entfernt auf der Ladentheke, auf einem Stapel Seidenpapier. Nicht einmal die Vibrationen sind zu hören.

Ich habe nicht die leiseste Ahnung davon, was sich gerade, keinen Kilometer entfernt, im Büro von Think Out Loud abgespielt hat, noch von der panischen Nachricht, die Lotte gerade einspricht.

 

Dieser neue Laden gehört zu einer französischen Kette, die ungefähr siebzig Filialen über die ganze Welt verstreut betreibt. Neben mir auf dem nagelneuen Fliesenboden liegt ein Skript mit detaillierten Anweisungen: welches Kleidungsstück in welches Regal gehört, welcher Pulli mit welcher Hose kombiniert werden muss. Von jedem Modell darf nur eine Größe aufgehängt werden und erst, nachdem es sorgfältig gedämpft worden ist. Es gibt sogar Zeichnungen, wie die Schals und Ponchos zu falten sind. Es ist gut, dass ich in dieser Art von Arbeit aufgehen kann, einfach ausführen, was da geschrieben steht, die Welt draußen vergessen, alles, was mir im Kopf herumgeht, von mir schieben. Mich so weit wie möglich an den beruhigenden Gedanken klammern, dass an siebzig anderen Orten der Welt Männer und Frauen die gleichen Handgriffe verrichten, mit genau den gleichen Stoffen hantieren, in einem ähnlich grellfarbigen Interieur, in die gleiche Uniform gekleidet (weites Hemd aus weißer Seide, beige paspeliert, und beige Bügelfaltenhose).

Zum ersten Mal in meinem Leben bin ich Teil einer Kette, und auf eine bestimmte Weise fühlt sich das nach Geborgenheit an – ich stehe buchstäblich weniger allein da.

 

Eine Figur, die in irgendetwas völlig aufgeht, sich des auf sie zurückenden Unheils nicht bewusst ist, mehr braucht es nicht, um die Spannung zu steigern. Das war eines der ersten Drehbuchprinzipien, die wir an der Filmakademie lernten: Gib den Zuschauern einen kleinen Wissensvorsprung gegenüber der Figur, mit der sie emotional mitgehen sollen, und sie werden vorn auf der Stuhlkante sitzen, werden laut rufen wollen, um sie zu warnen.

Ich sehe ihn noch vor mir, unseren Dozenten im Fach Drehbuchschreiben, der uns dieses Prinzip erklärte. Auf Beinen so dünn wie die eines Stativs stand er vorn im Saal und führte auf der weißen Leinwand hinter sich Filmszenen vor, die seine Theorie stützten – den Karton, den Detective Mills am Ende von Sieben öffnet und der, wie der Zuschauer bereits weiß, den abgehackten Kopf von Mills’ schwangerer Frau enthält. Oder Halloranns in die Länge gezogenes Betreten des Overlook Hotels in Shining, bei dem die Figur schließlich von Jack mit einer Axt umgebracht wird.

»Manchmal«, sagte er, »genügt die Bildführung. Seht euch an, wie die Kamera Hallorann von hinten folgt, während er den ausgestorbenen Gang betritt, man spürt, dass jeden Moment jemand hervorspringen wird.«

Nachdem wir den Ausschnitt betrachtet hatten, gab er uns die Aufgabe, bis zum nächsten Mal selbst eine ähnliche Szene zu schreiben, maximal fünf Seiten lang, in der wir diese Technik anwandten. »Es muss nicht jedes Mal jemand umgebracht werden, es gibt auch ganz andere unangenehme Überraschungen.«

 

Diese Szene hätte Maestro Stativbein garantiert entzückt: Eine junge Frau arbeitet in einem Laden, es ist Freitag, der 22. Februar 2019, wie auf dem Bildschirmschoner an der Kasse zu sehen ist, draußen ist es mild für die Jahreszeit. Es ist ihr erster Arbeitstag bei neuen Betreibern, sie will sich von ihrer besten Seite zeigen, sich nicht ständig mit ihrem Telefon beschäftigen, und deshalb hat sie es außer Reichweite auf den Ladentisch gelegt. Der Bildschirm mit dem eingehenden Anruf wird so gezeigt, dass klar wird: Dieser Anruf ist dringend, es geht um etwas Wichtiges, etwas, das man nicht ignorieren darf, ihn zu beantworten kann über Leben und Tod entscheiden, doch die Figur – verschwommen im Hintergrund – macht konzentriert mit ihrer belanglosen Aufgabe weiter.

Die Kamera gleitet langsam vom aufleuchtenden Bildschirm weg durch den Laden, vorbei an der Frau, die Plastikverpackungen aufreißt, Striche auf einer Liste macht, Preisetikette auf Schilder klebt, die verkaufsfertig gemachten Mäntel auf eine Kleiderstange hängt – wattierte Modelle, nach Farbe sortiert und von Small bis Extra Large laufend. Auch die wiederholte Meldung der Voicemail entgeht ihr.

Die Szene endet mit einem Top-Shot auf die Kartonstapel, die noch ausgepackt werden müssen, einem Detail der Mäntel, die alle auf exakt die gleiche Weise zusammengelegt sind, die Ärmel vorn zueinander zeigend, als wüssten die Mäntel, was gleich geschehen wird – sie beten bereits.

5. Mai 2018

Mitten in der Nacht war Simon damit nach Hause gekommen. Er knipste das Licht über unserem Bett an. »Schau mal …!«

Ich schreckte aus tiefem Schlaf auf, gerädert, als hätte Simon mich mit dem Betätigen des Lichtschalters aus einer fernen Vergangenheit zurückkatapultiert und mein Körper sich in einer halben Sekunde durch ein ganzes Jahrhundert gepresst.

Daan, unsere Schildpattkatze, die zwischen meinen Knien auf der Decke geschlafen hatte, flitzte davon. Ihre scharfen Krallen kratzten über das Parkett. Das Kratzen war ein vertrautes Geräusch, plötzlich wusste ich wieder, wo ich mich befand und wer ich war, der Raum ringsum fiel auf seinen Platz zurück, die Zimmerdecke mit ihren Zierleisten, der Porzellanharlekin unter dem Glassturz auf dem Kaminsims, mein Pferdeschwanz, der mir am verschwitzten Rücken klebte, die Pappkrone auf meinem Kopf. Fünf Uhr vierzig zeigte der Radiowecker an. Hinter den Verdunkelungsvorhängen würde es gleich zu dämmern beginnen. Der Sommer war im Anzug, draußen zwitscherte der ehrgeizigste Vogel bereits. Vor einer Stunde hatte ich eine Schlaftablette genommen, das erklärte meine Benommenheit.

»Schau doch, Leo …!«, sagte Simon noch einmal. Er kam näher. »Wie findest du das?« Er hatte lange, dichte Locken, auffällig widerborstig, als würde ein unsichtbarer Föhn permanent einen kräftigen Luftstrom an seinen Hinterkopf blasen. Seine Haare waren gerade lang genug für einen kleinen Zopf, doch so trug er sie nur, wenn es windig war oder wenn er sich stundenlang ungestört über einen Entwurf beugen wollte.

Die Schuhe noch an den Füßen, kroch er aufs Bett. In der Hand hielt er ein abgezogenes Pflaster, das er neben mich aufs Kissen legte, die sterile Seite nach oben. Darauf waren geronnene Blutstropfen, der Abdruck einer nicht genauer zu erkennenden Figur.

»Paul hat das gemacht. Das ist ein Stück Körperfläche, die einem nichts bringt, die Rückseite der Ohren, hast du dir die mal richtig im Spiegel angeschaut, die Stelle ist super geeignet für ein Tattoo, du selbst brauchst es nicht den ganzen Tag anzuschauen, du kannst es auch unter der Frisur verstecken, da war Paul ganz meiner Meinung, ich hatte auf einem Bierdeckel einen Entwurf gezeichnet und ihm die ganze Geschichte dahinter erzählt, und er war sofort einverstanden, das ist ein kleines Kunstwerk, hat er gesagt, ich bin ein Tattookünstler, Simon Spruyt, dein Spruitje, dein Rosenkohl, ein echter Künstler, Paul hat solche Tattoos bisher noch nie gestochen, ihm hat es richtig leidgetan, dass er dies hier nicht selbst entworfen hat.«

»Wer ist Paul?«, fragte ich.

Simon war sich der Dutzende entgangener Anrufe auf seinem Handy offensichtlich nicht bewusst. Er redete weiter, ohne meine Frage zu beantworten. Lange Sätze, fast ohne Atempausen. »Und Paul hat gesagt: ›Soll ich deinen Entwurf gleich verewigen, für fünfzig Euro?‹ Und ja, warum eigentlich nicht, hab ich mir sofort gedacht … Und sei es nur als Andenken an diesen tollen Abend, ich war noch nie so glücklich wie heute Nacht, glaube ich – ein Künstler! –, Paul hätte das nicht sagen müssen, ich wusste selber schon, als ich das Motiv gezeichnet habe, dass es gut war, was sag ich da, dass es genial war, dass ich damit weitermachen muss, es ist auf jeden Fall besser als alles, was Coen oder irgendeinem von den Kollegen einfallen würde, jetzt schau doch endlich!«

Simon zog seine Ohrmuschel so weit wie möglich vom Kopf weg und strich sich die Haare nach hinten, damit ich das Resultat bewundern konnte. Ich sah noch immer nichts.

Als er vierzehn war, hatte man Simons Segelohren korrigiert. Auf der Rückseite wurden kleine Keile aus dem Knorpel herausgeschnitten, so dass die Ohrmuscheln dichter am Kopf angenäht werden konnten, viel Spielraum war nicht geblieben. Aus dem restlichen Knorpel hatte man die Ohrmuscheln rekonstruiert, Falten und Ränder, die etwas zu ausgeprägt geformt waren.

Bevor Simon die Operation hatte machen lassen, war er jahrelang gemobbt worden. Er hatte mir einmal davon erzählt, bevor wir in diese Wohnung zogen, danach hatte er nie mehr darüber sprechen wollen. Er hatte versucht, diesen Teil der Vergangenheit in einem verschlossenen Karton bei den übrigen abgenutzten Möbelstücken aus seinem Kinderzimmer zu lassen. Einzelheiten kannte ich nur von einigen dieser Mobbingaktionen: dass ein paar Jungs aus seiner Klasse einen riesigen Rosenkohl mit Segelohren auf die geflieste Wand in der Mädchentoilette gemalt hatten. Dass sie ihn auf dem Weg ins Gymnasium manchmal in den unterirdischen U-Bahn-Gängen festhielten und mit einem Finger, den sie erst in ihren Po steckten, Duftspuren hinter seinen Ohren auftrugen und ihn dann in der Schule daran hinderten, sich vor der ersten Stunde zu waschen. Und auf dem Karnevalsfest der Jugendorganisation hatte sich die ganze Gruppe abgesprochen, als Elefant verkleidet zu kommen. Simon lief den ganzen Tag im Super-Mario-Kostüm – blauer Overall und bemalte rote Kappe – mit hängenden Schultern in der Herde herum, umringt von einer Unmenge Elefantenohren aus grauem Karton.

Simon hatte auf eine Operation gespart. Für einen geringen Betrag hatte er begonnen, Visitenkarten, Werbeposter und -flyer für die kleinen Selbständigen im Viertel zu entwerfen, weil er seine Eltern nicht um das Geld hatte bitten wollen. Seine Mutter hatte gemerkt, dass Simon nachts durcharbeitete, um neben den Schularbeiten auch die bezahlten Aufträge zu erledigen, immer mit einer strammen Bademütze auf dem Kopf, und sie hatte sofort einen Termin bei einem plastischen Chirurgen vereinbart.

Der korrigierende Eingriff hatte dem Mobbing kein Ende gemacht. Die Zeichnung hatte sich nie ganz von der Fliesenwand entfernen lassen, der Rosenkohl hatte ein korrigiertes Ohrenpaar erhalten, von Zeit zu Zeit wurde ein Netz Rosenkohl in seinen Turnbeutel ausgeleert.

Mit fünfzehn hatte Simon die Schule gewechselt. Er ging vom Sint-Pieterscollege in Jette zum Atheneum in Schaarbeek, wiederholte dort die vierte Gymnasialklasse, schmiedete neue Freundschaften und erzielte gute Noten. Dass er jemals gemobbt worden war, merkte ich nur noch an seinem eiligen Schritt, wenn wir zusammen durch U-Bahn-Gänge liefen, an der Tatsache, dass er andere Menschen mit großen oder merkwürdig geformten Ohren auf Anhieb sympathisch fand und dass er sichtlich getroffen sein konnte, wenn er Leute kennenlernte, die ein Jahr jünger waren als er, aber schon mehr im Leben erreicht hatten.

 

»Und? Siehst du’s? Was sagst du dazu?«

Ich rückte näher, sehr vorsichtig, als könnte jeden Moment jemand hinter seinem Ohr hervorspringen, um mir einen Schreck einzujagen.

Die Haut zwischen der Ohrmuschel und dem Haaransatz sah schmerzhaft gerötet aus. Unter einer Schicht vaselinartiger Salbe war eine Zeichnung zu erkennen, eine feine gepunktete Linie dicht entlang des Haaransatzes, die dem Umriss der Ohrmuschel ungefähr folgte, eine Art suggerierter Linie mit einer kleinen Schere daneben – wer hier schneiden würde, könnte ein zweites Ohr aus der Haut herausklappen.

Dieses Stückchen Haut war niemals, wie Simon gerade behauptet hatte, überflüssig gewesen. Es hatte bisher Neckereien gedient, die ich nie in Gegenwart anderer machte. Es war der Boden, auf dem sich unsere Käserei befand, die ich hin und wieder aufsuchte, mit der Nase oder der Zunge, um den Reifezustand zu überprüfen.

Die Käserei hatte ich mir in der Hoffnung ausgedacht, Simon bei der Überwindung seiner Scham wegen der vielen kleinen Hautfalten zu helfen, die durch die Operation entstanden waren, und wegen des leicht säuerlichen Geruchs, den seine Ohren manchmal verströmten, weil sich dort so leicht Schweiß und Schmutz ansammelten.

»Sag was, Leo, reagier doch!«

Ich saß tatsächlich sprachlos da und sah ihn an. Nicht nur weil er sich ein Tattoo genau auf unserer Käserei hatte stechen lassen, sondern vor allem wegen der Art und Weise, wie er damit nach Hause gekommen war, wegen des merkwürdigen Gefühls, das mich beschlich, als ich ihn jetzt auf dem Bett sitzen sah.

Betrunken war er nicht, das hätte ich sofort gemerkt. Dann bewegte er sich wie Balu, der Bär aus dem Dschungelbuch, ein bisschen schlackrig und tollpatschig, der Körper wie ein zu großes Leihkostüm. Jetzt bewegte er sich zackig, mit knappen, spannungsgeladenen Bewegungen.

Auch Daan schaute ihn befremdet an in dem vergeblichen Versuch, sich mit ihrem plumpen gefleckten Körper hinter dem schmalen weißen Bein des Brabantia-Wäscheständers zu verstecken. Dieses Metallgestell stand schon seit ungefähr zwei Jahren permanent aufgeklappt in der Zimmerecke, ein verandaartiger Anbau an unserem riesigen Pax-Kleiderschrank. Wir zogen fast immer das an, was auf dem Ständer zu finden war, selten falteten wir etwas zusammen, selten landete etwas im Schrank.

»Simon, wer ist Paul? Und mach dir bitte das Pflaster wieder drauf.«

 

Simon kannte unsere Abmachungen: nie stundenlang unerreichbar sein, nie unangekündigt wegbleiben nach Sonnenuntergang. Rechtzeitig Bescheid sagen, wenn man nicht zum Abendessen kam, sagen, wohin man ging, mit wem und für wie lange, vor allem wenn man vorhatte zu trinken oder mit dem Fahrrad loszog. Trotzdem war er heute Abend, zum ersten Mal in den zehn Jahren, die wir zusammen waren, stundenlang weggeblieben, ohne mir Bescheid zu sagen.

Um achtzehn Uhr dreißig – ich war schon eine Stunde von der Arbeit zu Hause – hatte ich nachgefragt, wo er denn bliebe. Und eine halbe Stunde später, beim Kochen, hatte ich ihm eine Nachricht mit der Frage geschickt, ob er eigentlich zum Essen käme. Noch immer keine Reaktion. Um zehn Uhr hatte ich gefragt, ob sie vielleicht noch an diesem Auftrag für die Oper arbeiteten, dessentwegen er seit Wochen Stress hatte, und erst da schrieb er zurück, dass er nicht zum Essen käme, dass sie den Termin locker geschafft hätten und das jetzt in einer Kneipe feierten. Um elf Uhr hatte ich geschrieben, ob sie ordentlich am Feiern seien, ob es nett sei, ob sie noch lange in der Kneipe bleiben würden, dass ich eine gefüllte Paprika für ihn aufgehoben hätte. Es war still geblieben.

Ich hatte Lotte eine SMS mit der Frage geschickt, ob Coen ebenfalls nach der Arbeit mit den Tollers, den Kollegen von Think Out Loud, in der Stadt hängengeblieben sei.

»Nein, der hängt neben mir auf dem Sofa, groggy.«

»Mit wem bist du unterwegs? Und weißt du, wo der Zettel mit dem WLAN-Passwort liegt?«, hatte ich gegen Mitternacht der Reihe meiner Nachrichten an Simon hinzugefügt, um aus der Qualität seiner Antwort ableiten zu können, ob und wie viel er schon getrunken hatte, doch auch auf diese Frage hatte er nicht reagiert. Erst viel später, um zwei Uhr: »Bin im Au Soleil mit Leuten! Hdl!« Danach war sein Handy ausgeschaltet, was ich merkte, als ich ihn ein paarmal anzurufen versuchte.

 

Den Rest der Nacht über hatte ich, obwohl ich mir vorgenommen hatte, es nicht zu tun, doch alle zehn Minuten in der Erwartung auf mein Handy geschaut, dass eine unbekannte Nummer mich kontaktiert hatte, jemand, der ihn am Straßenrand gefunden hatte, oder die Polizei, die ihn aus dem Kanal in Molenbeek gefischt hatte. Er würde unter einem weißen Laken am Uferrand liegen, auf der Höhe von Le Chien Vert, bei den unermüdlich ratternden grellbunten Windmühlen, die man entlang des gesamten Ufers hingesetzt hatte, um das Viertel herauszuputzen. Ich entschied, welche Krankenhäuser ich als Erstes anrufen würde, falls er bei Sonnenaufgang noch nicht zu Hause wäre, ich suchte mir schon mal die Telefonnummern heraus und machte Screenshots davon. Ich googelte »Was tun, wenn der Partner nicht nach Hause kommt«, begann, in allen möglichen Foren herumzuklicken. Jedes Verschwinden ist beunruhigend, bis feststeht, dass es nicht mehr beunruhigend ist!!! Ich suchte heraus, wie viele Sekunden man bei Bewusstsein bleibt, wenn man ertrinkt. Sah mir ein How-to-Video an, in dem jemand erklärte, wie man aus einem versinkenden Wagen herauskommt, als könnte das Simon noch irgendwie retten, obwohl er nicht mit dem Auto, sondern per Fahrrad unterwegs war. Ich schaute auf den Stadtplan, lokalisierte alle gefährlichen Kreuzungen, die, an denen Taxifahrer nach Mitternacht über rote Ampeln rasten, weil Brüssel dann ihnen gehörte.

Ich blieb im Bett, obwohl ich Hunger hatte und die Zeit langsamer verstrich, wenn ich nichts machte. Ich wollte nicht mit irgendwas Läppischem beschäftigt sein – angenommen, Simon stieß etwas zu, dann hätte ich für den Rest meines Lebens dieses Bild vor Augen: Ich, die ich gerade eine Birne schälte oder Friends schaute, während der Mann meines Lebens irgendwo vom Tode ereilt worden war.

Still, reglos lag ich da und lauschte den Rettungswagen, deren Sirenengeheul ununterbrochen über dem dunklen Brüssel lag, wie das Zirpen von Grillen in einem italienischen Tal. Sie waren allesamt wegen Simon unterwegs.

Ich hatte eine viertel Zopiclon eingenommen. Aufgezählt, was ich am meisten an ihm vermissen würde.

Wie er abwaschen konnte, die Spülbürste schwingend wie ein Dirigent, der ein Sinfonieorchester dirigiert, Schaumflocken, die bis an die Decke spritzen. Wie er hinter mir auftauchen konnte, wenn ich unter der Dusche stand, und dass er Big Bill Krakkebaas imitierte, lauthals »Ene me hesp of ene me kees« singend mit einem Finger zwischen meinen Pobacken entlangstrich, zwei Hälften eines Brötchens, die er großzügig belegte. Wie er nackt durch die Wohnung tapsen konnte, nachdem er sich geduscht hatte, mit seinem wohlgeformten Hintern und den schlanken Schenkeln. Die Wassertropfen auf seinem Rücken, seine nassen Fußstapfen auf dem Boden, die die Katze aufschleckte, das war das allerleckerste Wasser. Wie die ganze Wohnung von seinem Seufzer der Erleichterung erfüllt wurde, wenn er morgens sein dringendes Pinkelbedürfnis gestillt hatte, und wie gut das roch – Honey Pops, die einen Tag lang in Milch gelegen hatten. Dass ich jedes Mal, wenn er mit der Wange auf meiner Hand einschlief, über das Gesamtgewicht seines Kopfs erschrak und dass sein Hals den den ganzen Tag lang hatte tragen können.

Dass ich genau wusste, wie sein Steak gebraten sein musste – leicht blutig, nur ein Mal wenden. Dass wir es beide im Falle von Deckenbezügen mit unterschiedlichen Farben auf der Ober- und Unterseite angenehmer fanden, mit der helleren Seite nach unten zu schlafen. Dass wir, wenn wir völlig erledigt auf der Couch hingen und keine Lust hatten, die Spülmaschine einzuräumen, in einen Wettstreit traten, wer es nicht zu tun brauchte: wer als Erster so laut rülpste, dass die schlafende Daan die Ohren spitzte. Dass wir die Maschine letztlich meist doch gemeinsam einräumten.

Wie hielten andere Leute es für gewöhnlich bei Trauergottesdiensten mit ihrer Abschiedsrede? Erst durch das Erzählen der intimsten Anekdoten würden andere verstehen können, wie viel Simon und mich verband, wie unersetzlich er war, wie kümmerlich ein Leben ohne ihn wäre.

Eine zweite viertel Zopiclon.

Seine Harnröhrenöffnung, die breiter war als alle anderen Harnröhrenöffnungen, die ich je gesehen hatte (nicht dass es schon so viele gewesen wären, er war mein zweiter Freund), und dass ich manchmal, während er Nachrichten schaute, seinen Pimmel aus der Hose nahm, die Eichelspitze so zusammendrückte, dass die Harnröhrenöffnung die Form eines Mundes bekam, ein erregt plappernder kleiner Mann, der sehr gut zur Stimme des Wetteransagers Frank Deboosere passte.

Dass er das alles zuließ, dass ich, egal wann, meine Hand in seine Hose stecken durfte. Dass ich auch seine erste lange Beziehung war. Dass wir uns im Bett gegenseitig Wasser in den Nabel träufelten, es warm werden ließen und den kräftigen Schnaps, den Wundertrank, danach ausschlürften.

Dass er so gut mit Kindern umgehen konnte, dass er wusste, wie ich meinen Tee mochte (zwei Canderel, den Beutel nur ein paar Sekunden lang eintunken und dann auf einer Untertasse aufheben, um ihn ein weiteres Mal benutzen zu können) und wie ich meine Butterbrote am liebsten aß (zusammengeklappt, beide Seiten mit Butter bestrichen, eine dicke Käsescheibe mit Senf). Sein Gesicht am Morgen beim Aufwachen, wie ein Ballon, in den erst noch ein bisschen Luft gepustet werden musste, der leichte Kompostgeruch seines Atems und dass wir auf die Pupse des anderen mit »Was hast du gesagt?« oder »Finde ich auch« reagierten und darüber nach zehn Jahren noch genauso lachen konnten.

Ein drittes Viertel.

Und was wäre mit unseren Kosenamen, Pluis und Spruit? Die würde ich in einer Trauerrede nicht ohne weiteres preisgeben, andere könnten auf die Idee kommen, sie zu klauen.

Das letzte Viertel der Schlaftablette. Es war meine vorletzte Zopiclon aus einer Zwanzigerpackung, deren Verfallsdatum schon eine Weile zurücklag. Ich hatte sie verschrieben bekommen, kurz nachdem ich nach Brüssel umgezogen war, in einer Zeit, als ich wochenlang nicht hatte schlafen können, weil ich jedes Mal, wenn ich die Augen schloss, die Scheinwerfer eines entgegenkommenden Autos auf mich zurasen sah und aufschreckte, doch seit ich Simon kannte, hatte ich sie kaum noch gebraucht. Seine Anwesenheit machte mich ruhig, und der Gedanke, dass die Pillen im Schrank lagen, die Möglichkeit, dass ich notfalls eine nehmen könnte, hatten bisher genügt.

Ich hatte die Geburtstagskrone genommen, die schon seit Jahren auf einem der Regalbretter über dem Bett lag, und hatte sie im Licht der Bettlampe ganz aus der Nähe betrachtet. Diese fröhliche, wunderschöne Krone hatte Simon vor acht Jahren, als wir gerade hierhergezogen waren, zu meinem Geburtstag aus einem Papierstreifen gebastelt. Er hatte mit Aquarellfarbe eine graue Brüsseler Straßenbahn daraufgemalt, die unendliche Runden um meinen Kopf drehte, die Nummer der Bahn hatte er jedes Jahr mit Tipp-Ex meinem neuen Alter angepasst.

Ich hatte mir die Krone aufgesetzt, das Licht im Zimmer ausgeknipst, und so hatte ich mich hingelegt. Wenn Simon gleich auf dem Nachhauseweg von einem Raser angefahren würde und bis zum Hals gelähmt wäre, würde ich die Achtundzwanzig selbst durch die Neunundzwanzig ersetzen müssen, während er vom Rollstuhl aus zuschaute. Das war der letzte Gedanke, den ich hatte, die Tablettenviertel hatten anstatt im Kanon alle gleichzeitig ihre Wirkung entfaltet, ich hatte nicht einmal mehr die Gelegenheit erhalten, die Krone abzusetzen, bevor ich in den Schlaf sank, und so saß sie mir immer noch, zerknittert, auf dem Kopf.

 

Ich nahm die Krone ab und strich sie glatt. Mein Geburtstag war erst Ende Oktober, doch Simon schien sich nicht zu fragen, was das Ding auf meinem Kopf sollte.

»Paul ist der Tätowierer, den ich heute Abend im Au Soleil kennengelernt habe. Er hat einen Laden am Kolenmarkt, schräg gegenüber von der Kneipe. Paul & Friends.« Sein Ton hatte etwas Verärgertes – ich hätte das wissen müssen, das hätte man jederzeit parat haben müssen. Er saß noch immer mit Schuhen auf dem Bett, für die Uhrzeit zu laut sprechend.

»Seit wann wolltest du das denn, so eine Tätowierung? Ich hab nie was davon gehört.«

»Schon mein ganzes Leben lang«, sagte Simon. »Wie findest du es? Sag was!«

Ich war sauer, zu sauer, um eine Meinung zu diesem Tattoo zu haben. Die Erleichterung darüber, dass Simon lebend und wohlauf nach Hause gekommen war, war nach wenigen Sekunden bereits umgeschlagen – natürlich lebte er noch, was hatte ich denn gedacht? Es war seine Schuld, dass ich hier unnötigerweise stundenlang seine Beerdigung organisiert hatte. Und warum musste er sich so übertrieben lebhaft und aufgedreht benehmen – um mein vorheriges Gegrübel noch besonders lächerlich zu machen? Schau sie dir bloß an: das Nicht-Geburtstagskind, die Anstellerin.

»Weißt du, warum ich mir das Tattoo von Paul auf die rechte Seite habe setzen lassen?« Umständlich begann Simon, seine Hose auszuziehen, immer noch mit Schuhen an den Füßen.

»Weil du immer auf der linken Seite schläfst und es dich so weniger stören wird?«

»Ach was.« Er verdrehte ärgerlich die Augen. »Du kennst doch Coen, oder?«

»Natürlich kenne ich Coen.«

»Er hat neulich einen Auftrag von der Patisserie Paul reingeholt – das wusstest du schon, eigentlich sollte ich dir das nicht noch einmal erzählen müssen, aber egal –, er darf also die neuen Brottüten entwerfen, und jetzt habe ich ein Tattoo gezeichnet, das mir jemand gestochen hat, der auch Paul heißt, ist doch kaum zu glauben, oder? Das wusste ich nicht, als ich den Mann im Au Soleil kennengelernt habe, dass er Tätowierer ist, dass er Paul heißt, das Universum hat einfach ein bisschen mitgeholfen.« Er sprach schnell und ohne Pause.

»Und warum dann genau hinter dem rechten Ohr?«

»Weil ich Rechtshänder bin, tiens, und Coen sitzt im Büro rechts hinter mir, und dass es in his face ist, war auch ein guter Grund, fand ich.«

Ich verstand nichts, fragte aber nicht weiter. Das war ein Fremder, der Simon zu sein versuchte, jemand, der in Simons Haut geschlüpft war, aber nicht richtig hineinpasste und sich mordsmäßig anstrengte, sich wie Simon zu bewegen, ohne dass die Haut riss, daher die zackigen Bewegungen.

»Machst du das Licht aus?« Ich fragte im Flüsterton, in dem Versuch, Simons Stimme zu dämpfen.

»Ein bisschen Begeisterung würde dich nicht umbringen, Pluis.«

»Tut mir leid. Ich habe vor zwei Stunden eine Zoppi geschluckt, ich bin müde und groggy.«

Er nickte. Er ging nicht darauf ein, fragte nicht, warum ich nach dieser ganzen Zeit wieder eine Pille genommen hatte. Es konnte auch an der Zoppi liegen, dass Simons Verhalten sich so merkwürdig anfühlte, vielleicht sprach er nicht schneller als sonst, sondern ich registrierte alles nur langsamer.

»Warum lagst du eigentlich im Bett und das Licht war noch an?«, fragte er.

»Du hast es selbst angemacht.«

»Echt?« Im Dunkeln legte er sich neben mich. Er hatte feuchtkalte Füße, die er an meine drückte.

»Simon, habt ihr den Termin am Ende geschafft?«

»Den Termin?«

»Die Werbekampagne für die Oper, die heute fertig sein musste?« Wochenlang hatte Simon seine gesamte Zeit darauf verwendet, war um seinen Computer gekreist wie eine Fruchtfliege um ein Stück überreifer Banane, jeden Tag hatte er mir Zwischenstadien seiner Entwürfe gezeigt, ich hatte ihn weitestgehend von allen Haushaltspflichten befreit, damit er sich voll konzentrieren konnte. Vorgestern hatte er sich entschlossen, die Schrift doch noch zu ändern, und mich bestimmt zehn Mal nach meiner Meinung gefragt.

»Ach so, das. Ja, hat geklappt. Die haben sofort reagiert, sie finden es toll.«

»Und wie fanden sie die Schrift, für die du dich zum Schluss entschieden hast? Haben sie sich persönlich bei dir bedankt für die ganzen Nachtschichten? Willst du mir das nicht kurz erzählen?«

»Sie fanden es toll, Pluis, das hab ich dir doch schon gesagt. Und jetzt lass mich mal in Ruhe mit dieser ganzen kritischen Fragerei.«

Wir lagen eine Weile stumm im Bett. Ich lag näher am Rand als sonst. Unter einem Glassturz auf dem Kaminsims im Wohnzimmer stand die zusammengeklebte Porzellanfigur, ein kleiner Violine spielender Harlekin, der einst meiner Mutter gehört hatte. Die Atmosphäre im Raum war angespannt. Mich wunderte, dass der Harlekin immer noch so friedlich vor sich hin starrte, dass er unbeirrt weiterspielte und nicht alarmiert zu uns herüberschaute.

»Simon, hast du irgendwelche Drogen genommen?«

Im Halbdunkel setzte er sich wieder auf und beugte sich über mich. »Meinst du das ernst, Leo? Ich bin einfach glücklich, dafür brauche ich nichts.« Er klang so enttäuscht, dass ich wusste, er sagte die Wahrheit.

Vor zwölf Jahren

Ich sprach mit Simon zum ersten Mal Ende 2007, mitten in meinem zweiten Jahr an der Filmakademie. An die ganze Zeit davor, von meinem Umzug nach Brüssel bis zu dem Moment, als ich ihn ansprach, erinnerte ich mich hinterher kaum. Ich verließ mein Heimatdorf nicht lange nach dem Tod meiner Mutter, wusste höchstens, dass es bestimmte Dinge gab, nicht, wie sie waren. Meine innere Festplatte war mit innig gehegten Bildern von ihr gefüllt, die gelöscht würden, wenn ich akzeptierte, dass neue Eindrücke ohne sie hinzukämen. Das Einzige, was mir scharf vor Augen bleiben sollte, war, dass ich mir in jenem ersten Jahr in der Studentenbude jeden Tag dieselben paar Videos auf YouTube ansah, mit der Suche »baseball bat versus fruit«, um bei dem Film How Far Can I Hit Random Fruit?! *WARNING: COCONUT EXPLOSION!* zu enden.

 

Den Wechsel von meinem Heimatdorf nach Brüssel brauchte ich zum Glück nicht allein zu bewältigen. Meine damalige Freundin aus dem Dorf, Indra, hatte ebenfalls vor, in der Hauptstadt zu studieren, nicht Film, sondern Jura. Sie würde berüchtigte Verbrecher verteidigen, mir alles davon erzählen, so dass ich eine spannende Krimiserie darüber machen könnte. Ich hängte mein kleines Boot an ihres, als sich herausstellte, dass sie für einen Mietzeitraum von zwei Jahren eine billige Bude gefunden hatte, die groß genug für zwei Betten war. Auch sie hatte keinen besonders engen Kontakt mit Zuhause, bekam aber wenigstens jeden Monat so viel Geld, dass sie damit rumkommen konnte. So bildeten wir ein Team, sie hatte das Geld, ich die Zeit – sie bezahlte die Einkäufe, ich kochte und machte den Haushalt, und wenn sie einen Abend oder eine Nacht lang wegblieb, fütterte ich ihren Hamster Hamlet, den sie aus dem Elternhaus nach Brüssel mitgenommen hatte.

 

Bevor ich mit dem Studiengang Audiovisuelle Künste beginnen durfte, hatte ich eine Aufnahmeprüfung ablegen müssen, die aus zwei Teilen bestand, einem theoretischen und einem praktischen Test. Beim Theorietest am Vormittag wusste ich nicht, was pellicule oder ein establishing shot war, das Gleiche galt für die Hauptstadt von Saudi-Arabien und den Namen des derzeitigen Kulturministers. Und Sophia Loren, war das nicht ein teures Parfüm?

Zum Glück gab es noch den praktischen Test, eine kurze Vorführung am Nachmittag, bei der wir das Ergebnis des freien Filmauftrags (maximal fünf Minuten) vorstellen mussten, für den wir den ganzen Sommer Zeit gehabt hatten. In dem Versuch, den Verlust meiner Mutter zu verdrängen, hatte ich mich ganz auf diesen Auftrag gestürzt: Mit einer kleinen Handkamera hatte ich mich vor den örtlichen Lidl gestellt, um dort möglichst viele Menschen zu finden, deren Gesicht ich in Großaufnahme filmen durfte, mit dem Ziel, danach eine kurze Montage davon in Windows Movie Maker zu machen. Eine Serie von Augen, die in vier Minuten und zweiundfünfzig Sekunden allmählich älter wurden, von leuchtend blauen Babyaugen bis zu den runzligen Hängelidern einer neunzigjährigen Frau, unterlegt mit der Musik von Beck: »Everybody’s Gotta Learn Sometime«. Mit einem Kajalstift, den ich in der kleinen Schminktasche meiner Mutter gefunden hatte, hatte ich allen vor dem Filmen das Alter auf die Stirn geschrieben, damit ich sie hinterher schnell ordnen konnte. Der Plan war, beim Schneiden so zu zoomen, dass sich alle Augen an der gleichen Stelle befanden und alles Übrige wegfiel, was letzten Endes nicht klappte, weil die Gesichter verschiedene Proportionen hatten, so dass die Zahlen doch im Bild bleiben mussten.

Ich hatte so lange weitergemacht, bis ich von jeder Zahl mindestens zwei Aufnahmen hatte. Der fettige schwarze Stift ließ sich nur schwer mit dem Make-up-Entferner wegwischen, den ich den Betroffenen gab, eine Woche lang gingen Leute einkaufen mit der Altersangabe auf ihrer Stirn.

Erst als ich das Endresultat vor dem Prüfungsausschuss sah, auf einer großen Kinoleinwand, waren mir die Blicke der teilnehmenden Dorfbewohner aufgefallen, wie besorgt sie alle schauten. Sie starrten durch das Objektiv auf mich, und sie wussten es alle, das mit meiner Mutter.

Der Prüfungsausschuss fand es toll, all die sorgenvoll dreinschauenden markierten Menschen unter dem Logo einer großen deutschen Supermarktkette, in Kombination mit dieser Musik. Ich sei eine der wenigen Studierenden, die Ironie und Selbstspott eingesetzt hätten, hieß es in dem kurzen, begeisterten Urteil, mit dem man meine Zulassung per Post bestätigt hatte. Das war das Erste, was ich sofort nachschlug, und vielleicht die wichtigste Lektion, die mir von dieser ganzen Grundausbildung Audiovisuelle Künste bleiben sollte: was Ironie bedeutet.

 

Es war kaum zu glauben, dass ich eine Aufnahmeprüfung hatte ablegen müssen, um mit dem Filmstudium zu beginnen, dass ich aber nie hatte beweisen müssen, über genügend Fähigkeiten zu verfügen, um in einer Großstadt wie Brüssel zu leben. Aus einem Dorf kommend, in dem die einzigen nicht-weißen Menschen adoptierte Kinder aus Mali waren, in dem ein Mal pro Stunde ein Linienbus verkehrte, wo ich in einem ehemaligen Nonnenkloster zur Schule gegangen war, in dem das Tragen von kurzen Ärmeln des Teufels war, lief ich verschüchtert und verloren durch Brüsseler Straßen mit all ihren unterschiedlichen Busgesellschaften und -haltestellen, mit ihren Late-Night-Shops, Kneipen, Hautfarben, mit ihrer Neonbeleuchtung und ihrer sichtbaren Armut, mit ihrer Kunstschule voller Studenten mit Hahnenkämmen, Cowboyhüten und langen Schlangenledermänteln, für die Studieren im Kunstbereich schon eine Kunstform an sich war. Ich lief täglich von Nord nach Süd und wieder zurück, in der Hoffnung, mich an alles zu gewöhnen, doch ich blieb der herumhopsende kleine Ball im Flipper. Ich brauchte drei Monate, um zu entdecken, dass man nicht zu Fuß zum Bahnhof gehen musste, um einen Bus in die Außenbezirke von Brüssel zu nehmen, dass die auch ganz einfach im Stadtzentrum hielten.

 

Simon und ich gehörten zu verschiedenen Gruppen. Er hing mehr zusammen mit den Städtern rum, sie zogen in jeder Pause in die Stadt, aßen nie im Panos, sondern im Le Suisse oder Viva M’Boma, unmöglich, mit ihnen mitzuhalten – sie waren die Bälle, die den Flipperautomaten entwischten. Ich zog mit anderen aus dem Dorf los, die ebenfalls einen Ausbruchsversuch in die Stadt unternommen hatten, die alle pflichtbewusst in den Unterricht kamen und sich Notizen machten, weil irgendjemand es ja tun musste. In der Mittagspause scharten wir uns in dem kleinen GB an der Ecke zusammen, wo wir Brötchen und Becher mit Fleischsalat kauften und länger als nötig herumspazierten, weil alles genauso sortiert war wie in dem GB in der Nähe unseres Elternhauses, und das verschaffte uns so ein wohltuendes Wiedererkennungsgefühl.

Ich schloss in jenem Jahr keine neuen engen Freundschaften, suchte zu niemandem wirklich Kontakt, weil angekündigt worden war, dass die Hälfte der Studierenden während der ersten zwei Studienjahre abspringen würde, und ich wollte mich nicht noch einmal an Menschen hängen, die ich wieder würde loslassen müssen.

 

Die Bude, die Indra für uns ausgesucht hatte, mieteten wir möbliert. In meinem Teil standen ein Holzschrank und ein Bett, denen ich keinerlei Bedeutung beimaß – ein kompletter Neuanfang schien mir das Beste. Das Einzige von emotionalem Wert, was ich aus meinem Elternhaus mitgenommen hatte, waren ein paar Sachen, die meiner Mutter gehört hatten: ein zerbrochener Porzellanharlekin und ein Döschen Badeperlen, das ich ihr mal zum Muttertag geschenkt hatte – es war unangebrochen geblieben, vielleicht weil sie meinen Vater nicht hatte kränken wollen, er verabscheute den Duft von Badezusätzen.

Die Möbel aus meinem Kinderzimmer hatte ich nicht mitnehmen wollen. Sie waren von einer dünnen Schicht des Elends umschleiert, das sich zu Hause abgespielt hatte, wie von Ruß nach einem Brand. Nächtelang hatte ich aufrecht in diesem Bett gesessen. Der Abdruck, der sich in der Matratze gebildet hatte, war nicht der eines schlafenden, sondern eines wachenden Körpers. Der Schaumstoff hatte eine Ausstülpung gebildet, die, wenn ich mich hinlegte, mir den Eindruck vermittelte, ich würde mit meinem Rücken ein kleines Tier zerquetschen.

 

Am Ende jenes ersten Jahres, kurz vor dem Sommer, hatte Indra einen Jungen kennengelernt, bei dem sie nach dem Sommer, im zweiten Studienjahr, immer häufiger über Nacht blieb und für den sie jetzt ihr monatliches Budget verwendete. Nur für Hamlets Sägespäne und Futter ließ sie noch etwas Geld da. Weil mein Stipendium gerade mal für die Hälfte der Miete und die Studiengebühren reichte und ich jetzt plötzlich noch etwas fürs Essen und als Taschengeld brauchte, ließ ich mich bei einem Zeitarbeitsbüro registrieren. Da glaubte man einer Filmstudentin mit einem Job im Kinepolis einen Gefallen zu tun. Drei Abende die Woche fuhr ich mit dem Rad über die Houba de Strooperlaan nach Heizel, um in dem Blockbusterpalast hinter der Theke zu stehen. Ich sorgte dafür, dass niemand in der Schule erfuhr, dass ich diejenige war, die eimerweise Cola, Popcorn und bis zum Rand gefüllte Plastikbehälter mit knusprigen Doritos und dicken Klumpen Käsesoße an Frevler verkaufte, die damit intime Szenen mit Schlürf- und Knabbergeräuschen übertönen konnten.

In einen Filmsaal kam ich nur, wenn der Abspann fast zu Ende war, um die zurückgelassenen Essensreste zwischen den Sitzreihen zusammenzufegen.

 

Noch eine Enttäuschung: dass das Popcorn, das an der Kasse schimmernd in beleuchteten Glasbehältern unter Wärmelampen auslag, die den Eindruck erwecken sollten, der Mais sei dort an Ort und Stelle zum Poppen gebracht worden, in Wirklichkeit von einem Großhandelsunternehmen in schwarzen Plastikmüllsäcken angeliefert wurde.

Man würde erwarten, dass man, nachdem man einen ganzen Tag lang industriell hergestelltes Popcorn rausgeschaufelt und zusammengefegt hat, das Zeug nicht mehr sehen und riechen kann, doch am Ende meiner Schicht nahm ich alle nicht verkauften Reste mit.

Ich aß salziges Popcorn zum Mittag- und süßes zum Abendessen, es war gratis, ich war zufrieden, nicht kochen zu müssen, denn jedes Mal, wenn ich eine warme Mahlzeit zubereitete, ohne dass Indra mitaß, kam ich mir verloren und lächerlich vor, als erzählte ich einen Witz vor einem leeren Saal.

Sobald ich vor einem vollgehäuften Teller einem leeren Stuhl gegenüber am Tisch saß, musste ich unweigerlich daran denken, wie mein Vater im selben Moment ebenfalls allein vor einem vollgehäuften Teller einem leeren Stuhl gegenübersaß. Diese beiden Bilder sah ich nebeneinander auf einem geteilten Bildschirm, es wirkte sofort wie ein Statement – die Einsamkeit des einen ist die Verantwortung des anderen –, aber ich wollte kein Statement abgeben, ich wollte nichts außer so wenig wie möglich mit ihm zu tun haben, sonst würde ich schon bald den Platz meiner Mutter einnehmen müssen, ihm voll und ganz zu Diensten sein und trotzdem den Vorwurf zu hören bekommen, alles falsch zu machen.

Die seltenen Male, als ich doch für mich kochte, an Wochenenden, hielt ich es einfach und aß nicht am Tisch, sondern im Bett: Ich wärmte ein Glas Apfelkompott in der Mikrowelle auf und tunkte Fetzen von marokkanischem Brot hinein, das kostete zusammen kaum neunzig Cent in dem kleinen Laden in der Nähe. Wachte ich mitten in der Nacht hungrig auf und nichts war im Haus, dann fischte ich die essbaren Stückchen aus der Tüte mit Hamsterfutter in der Küche: Sesamsamen, Sonnenblumenkerne, Mandelsplitter. Hamlet sah mich oft wütend mit seinen vorstehenden schwarzen Knopfaugen an.

 

Simon war drei Jahre älter als ich, er hatte auf einer anderen Schule bereits das Diplom in Grafikdesign erlangt, wollte aber auch noch den Bachelor in Animation machen, wofür er sich ein maßgeschneidertes Lernpaket zusammengestellt hatte. Wir sahen uns kaum, seine Lehrveranstaltungen fanden hauptsächlich in den ehemaligen Sonart-Fernsehstudios bei der U-Bahn-Station Montgomery statt, meine in einem ehemaligen Bürogebäude (alias »der Aktenschrank«) am Muntplein. Für ein paar gemeinsame Wahlfächer – Politik und Medien, Filmgeschichte – kam Simons Klasse in unseren Aktenschrank, und wir landeten im selben Raum. Die Gruppe der Animationsstudierenden setzte sich immer in die ersten Reihen, vorgebeugt, und sobald ein Dozent mit seinen Ausführungen begann, fingen sie an, mit ihren Stiften oder auf ihren Trackpads zu kritzeln und zu zeichnen – sie konnten die Ohren nur spitzen, wenn sich ihre Finger bewegten.

Simon war mir aufgefallen, weil er etwas Ehrliches inmitten all dieser Kunststudenten hatte, die sich viel zu viel Mühe gegeben hatten, so auszusehen, als hätten sie sich keine Mühe gegeben. Bei Simon glaubte man zumindest, dass sein Lockenkopf von Natur aus so verwuschelt war, er brauchte kein L’Oréal-Out-of-Bed-Gel. Wenn er inmitten dieser Gruppe vorgebeugt dasaß, wollte man die Hand auf seinen Nacken legen.

 

Die Entstehungsgeschichte unserer Beziehung war keine wirbelnde Story, keine, in der der eine den anderen ansieht, der plötzlich von einem Lichtkranz umgeben ist, und sich herausstellt, dass man auf ewig füreinander bestimmt ist. Nein. Ich beschäftigte mich nicht mit Jungs, achtete während der ersten anderthalb Jahre an der Filmakademie nicht besonders auf Simon, ich befand mich im Überlebensmodus. Von Simon wusste ich nicht mehr oder weniger als das, was man zufällig von einem weiß, mit dem man auf derselben Schule ist: Sein Nachname wurde nicht wie das betreffende Gemüse, Rosenkohl, geschrieben, also nicht Spruit, sondern Spruyt, er mochte nichts Knackiges zum Essen, deshalb führte er in jeder Mittagspause an seinem Brötchen einen Eingriff am offenen Herzen durch, wobei er präzise sämtliche Gurkenstückchen und Zwiebelschnipsel herausoperierte, er verdiente Geld mit dem Entwerfen von Postern und Flyern für Museen und diverse Büros, er war in Brüssel geboren, sah sich jede Woche einen Klassiker in der Cinemathek an, er war kein Klatschmaul und kein Freund von Smalltalk, so gut wie nie sah man ihn mit jemandem in einem Gespräch, in dem es nicht um Schularbeiten oder Zeichenprogramme ging. Es war allgemein bekannt, wie talentiert er war, Dozierende zeigten seine Arbeiten in anderen Klassen, sie setzten seine Zeichnungen auf die Website der Schule, er hatte den Entwurf für ein großes Graffiti an der Wand der Sonart-Kantine machen dürfen, und kein Kommilitone hatte dagegen protestiert. Wenn er durch die Gänge ging, machte jeder ihm mehr Platz als nötig.

Alle diese Informationen bekamen erst am Ende des zweiten Studienjahres Wert, nicht lange vor den Sommerferien, als ich irgendwie mitbekam, dass seine Mutter im Sterben lag. In der Geschichte, die darüber kursierte, ging es um mehrere Therapien und eine vorsichtig erklärte Genesung, die dann doch durch neue Metastasen widerrufen wurde, deren Behandlung die Frau abgelehnt hatte. Man konnte sehen, so erzählte man sich, wie die Geschwulste aus ihrem Gesicht hervorquollen, wie in dem Film Der Elefantenmensch. Seitdem ließ man Simon auf den Gängen doppelt so viel Platz wie zuvor. Es war nicht länger Ehrfurcht vor seinem Talent, sondern vor dem Verlust, der ihm bevorstand. Niemand wusste, was man zu ihm sagen sollte.

Plötzlich kannte ich Simon besser als irgendjemanden sonst. Er war eine Punktzeichnung im Malbuch gewesen, jetzt war ich in der Lage, die Linie zu ziehen, die alle diese Punkte auf die richtige Weise verband: Ich sah, wer er war, und nicht nur das, ich sah, wer er werden würde, weil ich genau wusste, welche Gefühle ihm bevorstanden.

Manchmal wechselten wir einen Blick, den Blick von Schicksalsgenossen, aus dem ich schließen konnte, dass jemand ihm von meiner Mutter erzählt haben musste. Auch für mich wurde auf den Gängen immer etwas mehr Platz gelassen, als ich tatsächlich brauchte, doch in meinem Fall hatte das nie etwas mit meinem Talent zu tun gehabt.

 

Gleich beim ersten Mal, als wir miteinander redeten – ein Gespräch, das anfangs um den Stundenplan ging, dann aber sehr schnell zu einer Zeichnung führte (er bat mich, auf einer von ihm gezeichneten Belgienkarte anzukreuzen, wo genau sich mein Kempener Geburtsort befand) –, verstand ich, warum alle so beeindruckt von ihm waren.

Er hatte mit Bleistift eine Bahnlinie zwischen meinem Kreuz und Brüssel angelegt, auf der er mit ein paar schwungvollen Strichen einen Zug zeichnete, im hintersten Waggon einen Fahrgast, der mir täuschend ähnlich sah – ein runder Kopf, ein langer Pferdeschwanz, ein verlegenes Lächeln. Während er zeichnete, betrachtete ich ihn. Mein Blick schien ihn in keinster Weise zu stören, ich schaute so lange, bis es etwas Intimes bekam.

Simon gehörte zu den seltenen Menschen, die schöner werden, je näher man kommt. Schmale Schultern, darauf ein breiter Kopf, hellbraune Haut, die uneben war, er schien wie aus Ton gemacht, geschaffen von einem Bildhauer, der etwas Besonderes hatte versuchen wollen und beim Glattstreichen nur wenig Wasser benutzt hatte. Beim Formen der Ohrmuscheln, der Augenhöhlen und der Nase war er übermütig gewesen, für den Mund war kein Restchen Ton übrig: Simons Lippen schienen von zwei Fingern blitzschnell aus der Kinnmasse hochgedrückt worden zu sein, eine leichte Vertiefung, aus der sich zwei schmale Streifen erhoben. Die Mundwinkel reichten selbst bei einem breiten Lachen kaum über seine Nasenflügel hinaus.

Das Wichtigste an unserem Kennenlernen war, was danach geschah, wie es meine Sinne offenbar geöffnet hatte. Ich vermisste ihn, sobald er aus meinem Blickfeld verschwunden war. Abends fand ich meine Bude so vor, wie ich sie am Morgen zurückgelassen hatte, das halbleere Glas Apfelmus neben dem Bett, Indras nackte Matratze und Hamlets Käfig in einem Kreis verstreuter Sägespäne – und plötzlich war mir klar, dass ich mich während des kurzen Gesprächs mit Simon ausgedehnt hatte und unmöglich noch in diese alte Form, in dieses Leben passte. Ich wollte nicht länger die Leo sein, die ich gewesen war, die noch nicht in diesem Zug gesessen hatte, von ihm gezeichnet.

 

In den darauffolgenden Wochen sog sich mein Blick automatisch an Simon fest, sobald er den Raum betrat, an seinen wilden Locken, seiner tiefsitzenden Hose, dem typischen schlurfenden Latschgang, bei dem sich die oberen Ränder seiner Pobacken abwechselnd über den Gürtel stülpten, als würden sie miteinander kabbeln, sich aber nie einig werden.

Jetzt, da ich ihn endlich bemerkt hatte, konnte ich mich nicht mehr in der Klasse umschauen, ohne sofort zu wissen, wo er sich befand. Es war wie bei den Wo-ist-Walter?-Büchern: Hat man Walter mit der roten Mütze erst einmal auf einer Seite entdeckt, kann man sie nie wieder aufschlagen, ohne ihn sofort zu sehen, und vor allem: Man kann sich nicht vorstellen, dass es mal so viel Mühe gekostet hat, ihn zu finden.

12. Mai 2018

»Ich habe wichtige Neuigkeiten.« Das Tattoo war eine Woche alt, die Tintenlinien bildeten Riffel auf der Haut. Alle paar Stunden deckte Simon seinen Hals mit einem neuen Verband ab, damit die Salbe seine Haare nicht fettig machte. Er erwartete mich, als ich von der Arbeit nach Hause kam, in der Diele, in der unsere Jacken hingen, mit zwei gefüllten Gläsern in der Hand. Alle Innentüren, die aus dem kleinen Raum führten, waren geschlossen, was gleich eine beklemmende Atmosphäre schuf. Ein scharfer Geruch erfüllte die Diele. Das Katzenklo konnte es nicht sein, das hatte ich gerade erst sauber gemacht. Es war eher Schweiß, getrockneter Schweiß, und der saure Geruch leerer Mägen, den man auch in überfüllten Straßenbahnen während des morgendlichen Berufsverkehrs oder an Nachmittagen während des Ramadans riechen konnte.

»Los, komm rein«, drängte er. Ich blieb auf dem Treppenflur stehen, zögerte, einzutreten und neben ihm in dem kleinen Raum zu stehen. Die weiße Birne der Deckenlampe warf Schatten unter seine Augen und hob die Tränensäcke hervor. In den letzten Tagen hatte er sich zwar ins Bett gelegt, war aber viel zu aufgedreht gewesen, um ein Auge zuzutun. Mitten in der Nacht fing er an, auf mich einzureden. Die Kälte in seinen Händen und Füßen hatte zugenommen, seine Glieder schienen langsam abzusterben, wie es auch bei Pflanzen geschieht, von den Enden her.

»Verändertes Verhalten nach Tätowierung«, »Tattooschock«, »großes Selbstvertrauen nach Tattoo«, »Tod nach Tattoo«, »gehirnfressendes Bakterium nach Tattoo auf Schädel«, »Blutzufuhr Gliedmaßen gekappt nach Hautinfektion Tattoo«, »Adrenalin nach Tattoo, das nicht wieder absinkt«: Fast alle Optionen hatte ich gegoogelt, am Computer im Geschäft, damit Simon es zu Hause nicht in meinen Suchergebnissen entdeckte, doch ich fand nichts, was sein merkwürdiges Verhalten erklären konnte. Es erschien mir unlogisch, dass seine Hände und Füße als Erstes absterben sollten, ohne dass etwas an seiner Ohrmuschel zu sehen war.

»Paul & Friends« hatte ich ebenfalls gegoogelt. Es war ein tatsächlich existierendes Tattoostudio am Kolenmarkt, ich wusste nicht, ob das jetzt eine gute oder eine schlechte Nachricht war. Auf dem Weg zur Arbeit war ich da vorbeigeradelt, um Simons »Helden«, seinen »Entdecker« leibhaftig sehen zu können. Der Salon war geschlossen gewesen, auf der Fensterbank lagen Elfenbeinschädel neben einer kleinen Sumoringerfigur und einem Manneken Pis aus Zinn unter einem großen Holzschild: YOU MUST BE 18 TO GET A TATTOO. Und selbst wenn der Salon geöffnet gewesen wäre, wäre ich nicht einfach so hineinspaziert – was sollte ich diesem Paul sagen oder ihn fragen, was konnte ich ihm anlasten?

»Wir müssen einen Toast ausbringen.« Simon hielt mir ein Glas mit etwas Perlendem entgegen.

Auf dem Katzenklo stand der entkorkte Champagner. Den hatte er in dem winzig kleinen Express-GB im Südbahnhof gekauft, das konnte ich aus der Rechnung ersehen, die an der eiskalten, feuchten Flasche klebte. Ein Euro pro Schluck, darauf lief es hinaus.

Obwohl meine Flöte zu drei Vierteln voll war, füllte er sie bis zum Rand nach, einen Tick zu rabiat.

»Krieg ich keinen Kuss?«

»Doch.« Ich drückte meine Lippen auf seine.

Währenddessen stieg der Schaum über den Rand, tropfte auf meine Schuhe, die fleckenlos weißen Adidas, die ich immer bei der Arbeit im Buik & Boek anzog, der Boutique in der Dansaertstraat, in der ich zusammen mit meiner Kollegin (und inzwischen auch besten Freundin) Lotte Umstandskleidung, Still-BHs und Kinderbücher verkaufte.

Buik & Boek, Bauch & Buch, versuchte, sich von anderen Schwangerschaftsgeschäften dadurch zu unterscheiden, dass es dort Markenkleidung gab, die runde Bäuche eigens betonte, anstatt sie zu verbergen. Marken wie Fragile, Yumi, Queen Mum, Ensainte, Citizens of Humanity, Pietro Brunelli – Hauptsache, es waren eng anliegende Kleider oder Tops aus ganz dünnem Stoff, mit den phantasievollsten Mustern und Schnitten.

Meine Füße taten weh, sie waren quälend gefühllos nach einem ganzen Tag Hin- und Hergelaufe in dem kleinen Laden. Montags, mittwochs, donnerstags und samstags war das nun mal meine Aufgabe: nie in Gegenwart von Kundinnen und Kunden sitzen, nie meine Müdigkeit zeigen, lächelnd die milchgefüllten Brüste hochschwangerer Frauen möglichst gut mit aufklappbarer Unterstützung versehen, ihre runden Bäuche mit tiefsitzenden Hosen und Gürteln betonen. Die drei, sechs oder neun Monate simulierenden Kissen bei frisch befruchteten Frauen unter die Kleidung schieben, im Spiegel einen Blick mit den Männern wechseln, die ihre geliebte Missionarsstellung sich in Luft auflösen sahen. Dafür sorgen, dass die werdenden Väter, die ohne die geringste Ahnung von den Maßen ihrer Frau etwas kaufen wollten, nichts drei Größen zu Großes mitnahmen, um auf Nummer Sicher zu gehen. Diesen Männern meine Cup-Größe anvertrauen, damit sie anhand dessen, was sie sahen, schätzen konnten, wie viel Fleisch ihre Frau in einem Still-BH unterzubringen hatte. Die bereits zur Welt gebrachten Sprösslinge mit einer Handvoll Buchstabenkekse oder einem Film ablenken, damit sie sich nicht plärrend an Mutters noch unbezahlten Rock klammerten. »Aua Kopf« – die Kleinen trösten, die voller Begeisterung gegen ihr eigenes Abbild in dem spiegelverkleideten Durchgang zwischen den beiden Ladenräumen gelaufen waren. »Alle meine Entchen« oder »Alouette, gentille alouette, alouette, je te plumerai« singen. Leuten ein Glas Wasser oder einen Kaffee anbieten, die kurz davor waren, viel Geld auszugeben. Die Schaufensterpuppen bekleiden, die Falten aus der Kleidung mit einem Bügeleisen bügeln, das aus unerklärlichen Gründen im ganzen Geschäft den Geruch von Sex verströmte, die Knisterbücher swiffern, das Schaufenster umdekorieren, in dem manche Bücher schon seit Jahren standen, das Papier vom Sonnenlicht verblichen. Die unordentlich zurückgelassenen Kleidungsstücke nach jeder Anprobe ordentlich zusammenlegen, die Größen in den Regalen auffüllen, fettige Patschhändchen und Schnodder auf den Spiegeln mit einem Spray entfernen, der einen zum Niesen brachte, das Geld in der Kasse zählen, Excel-Tabellen ausfüllen, Puff und Fußboden staubsaugen, Kaffeetassen abwaschen und für den nächsten Tag auf das Abtropfgestell stellen.

Der Zufall hatte mich in diese Boutique geführt. Das stattliche Geschäftshaus lag neben der Filmakademie, das Stellenangebot wurde von einem sehr dünnen Mädchen gerade in dem Moment am Schaufenster angebracht, als ich vorbeiging. Sie sollte sich später als Lotte vorstellen. Ich war auf dem Weg ins Sekretariat, um mein Diplom abzuholen, damit ich mich um eine richtige Stelle bewerben konnte, mein Job im Kinepolis war zu Ende, weil ich keinen Studentenstatus mehr hatte. Der Name des Geschäfts ließ vermuten, dass man sich hier nicht nur mit Bäuchen beschäftigte, sondern auch mit Büchern, da hatte ich Glück. Ich bewarb mich, ohne zu zögern. Ich wollte keinen Job, der zu viel von meiner Kreativität in Beschlag nähme, denn an meinen freien Tagen wollte ich einen Blog führen und mein Meisterwerk überarbeiten, das Filmszenario über eine junge Frau, die ihre Mutter bei einem dummen Fahrradunfall verliert und danach Filmemacherin wird, ein Skript, in dem ein Produzent, der an der Schule als Prüfungsausschussmitglied fungierte, durchaus Potenzial sah, vorausgesetzt, ich brachte etwas mehr Spannung hinein, indem ich aus der jungen Frau eine rachsüchtige Polizistin oder Fahrlehrerin machte – er hatte mir eine Visitenkarte mit seinen Kontaktdaten überreicht.

Jetzt, nach acht Jahren, war die Idee zerbröselt, ich hatte eine Datei mit losen Szenen und klischeehaften Beobachtungen, mit denen ich nicht weiterkam, weil ich keine Lust hatte, etwas Autobiografisches zu schreiben, mir aber auch nichts ausdenken konnte, was ich selbst glaubwürdig fand, und weil ich dienstags, freitags und sonntags nie das Gefühl abschütteln konnte, dass ich eine schreibende Verkäuferin war anstatt eine im Verkauf tätige Schreiberin.

Ohne Lotte hätte ich es in dem Geschäft niemals acht Jahre ausgehalten. Wir bildeten ein eingespieltes Team, übernahmen jederzeit gern die Schichten der anderen, wenn diese krank war, ohne erst Rücksprache mit Godelieve zu halten, der nie anwesenden Inhaberin, die auch noch ein Handtaschengeschäft in Antwerpen betrieb. Lotte hatte blondes Haar, das dick und glatt war, außer an den Spitzen, die sich nach außen bogen wie bei einer Perücke, die eine Weile verkehrt herum in einer Schachtel gelegen hat. Sie hatte deutlich ausgeprägte Wangenknochen, war groß von Gestalt und sprach eher wenig, wodurch das, was sie sagte, automatisch mehr Gewicht bekam. Zu der Zeit, als ich sie kennenlernte, war genug Platz für eine neue Freundschaft in meinem Leben, da Indra und ich uns kaum noch sprachen, nachdem wir unsere gemeinsame Bude gekündigt hatten. Indra war nach erfolgreich abgeschlossenem Jurastudium ins Dorf zurückgekehrt, um dort in einem Versicherungsbüro zu arbeiten, und sie wollte eine Villa auf dem Grundstück neben dem Haus ihrer Eltern bauen. Von Zeit zu Zeit meldete sie sich, wenn sie ein Seminar in Brüssel hatte oder eine Wohnmesse in der Expo besuchte und eine Eintrittskarte übrig hatte, aber ich wusste nie genau, ob sie mich aus Pflichtbewusstsein oder aus Mitleid einlud. Ich schwankte, ob ich mir wirklich die Mühe machen wollte, mit dem Rad zur Expo zu fahren und mir inmitten von Hunderten Küchen ihre Geschichten anzuhören. Sie würde garantiert von alten Bekannten aus dem Dorf reden wollen, würde allerhand Neuigkeiten über meinen Vater und seine neue Freundin mitbringen, die zufällig eine Tante von ihr war. Ich reagierte immer einen Tick zu spät, lud sie zu einem (Pulver-)Kaffee im Buik & Boek ein, was sie als Entschuldigung nahm, sich doch nicht mit mir verabreden zu müssen – ein langer Tag, sie saß schon fast wieder im Zug zurück, käme ich demnächst nicht mal ins Dorf? Es waren keine einseitigen harschen Ablehnungen, eher ein Mangel an Beharrlichkeit auf beiden Seiten.

Auch Lotte hatte Platz für eine neue Freundschaft. Sie hatte gerade eine lange Beziehung hinter sich, die schmerzhaft zu Ende gegangen war, eine Jugendliebe, mit der sie kurz vor der Hochzeit gestanden hatte, bis der Typ ihr unbedingt seinen ein Jahr zurückliegenden Seitensprung beichten musste. Meine Beziehung zu Lotte war von Anfang an eng, als habe sie ihr gebrochenes Herz gekittet und dabei für mich Platz darin gelassen. Sie war zugewandter als alle Mädchen, die ich in meinem Leben gekannt hatte, und genau wie ich hatte sie kreative Ambitionen, die einstweilen brachlagen. Sie wollte Schauspielerin werden, war es aber leid, wegen ihrer Magersucht lediglich für unbezahlte kleine Rollen in Studentenfilmen gecastet zu werden, in denen sie eine kranke Nutte oder einen an Krebs sterbenden Teenager spielen sollte. Dass sie trotz ihres Schauspieltraums schon länger Umstandskleidung verkaufte als ich, beruhigte mich. Eine Schicksalsgenossin! Wir witzelten darüber, dass sie in einem Szenario spielen würde, das ich schreiben würde, und dass ich, solange ich nicht schrieb, auch ihr die Karriere vermasselte. Daraus erwuchs kein Druck, sondern eher Trost.

Das Einzige, was ich mit meinen auf der Schule erworbenen Schreibfähigkeiten seit meinem Start bei Buik & Boek getan hatte – dort wurden weniger Bücher verkauft, als die Alliteration auf der Hauswand glauben machte –, war, beim Flämischen Audiovisions Fonds einen Stipendienantrag zu stellen, der von der vierköpfigen Jury abschlägig beschieden wurde, und einen Blog zu führen, den ich BuchundBauch Bloggt genannt hatte und für den ich letzten Endes keinen besseren Namen mehr ersann, weil ich keine hohen Erwartungen daran knüpfte. Es waren kurze Dehnübungen meines Schreibmuskels, aus dem Leben gegriffene Situationen, Dialoge, die ich im Geschäft zwischen Eltern und ihren Kindern aufgefangen hatte (»Papa, warum sagen wir Beha?« »Das ist die Abkürzung für Büstenhalter.« »Und warum sagen wir dann nicht Büha?«). Die ersten sechs Jahre hatte ich mich selbst dazu verpflichtet, mindestens einmal pro Woche etwas zu posten, danach verfiel ich in Wiederholungen und veröffentlichte in einer wesentlich geringeren Frequenz. Die Besucherzahl sank, sowohl im Laden als auch auf meiner Website (höchstens zehn einzelne Visits pro Monat), und wie die da überhaupt landeten, war mir nicht klar. Nicht einmal Lotte hielt ich in Bezug auf gelegentliche neue Posts auf dem Laufenden. Womöglich würde sie, sobald sie sah, dass ich mich doch noch kreativ betätigte, auch ihren Schauspielmuskel wieder dehnen und würde innerhalb kürzester Zeit von einem inzwischen erfolgreichen Absolventen der Filmakademie aus dem Laden gepickt werden, und ich würde allein zurückbleiben und bis in alle Ewigkeit elastische Bauchbinden mit verspielten Mustern zu Stoffpfannkuchen aufrollen.

 

»Wie findest du es?!« Simon hatte, nachdem wir angestoßen hatten, sein Glas in zwei Schlucken geleert und kämpfte jetzt mit Bäuerchen.

»Wie finde ich was?«

»Ach ja, erst noch eine kurze Führung«, sagte er. »Und dann die Premiere.«

Unsere Wohnung hatte die Form eines Schmetterlings. Man betrat sie durch die Eingangstür im Kopf, die kleine quadratische Diele, an der die drei Innentüren lagen, die nie geschlossen waren, heute merkwürdigerweise aber doch. Die Tür genau gegenüber der Eingangstür führte in ein schlauchförmiges, schmales Arbeitszimmer, das war der Unterleib. Daneben die beiden Flügel: auf jeder Seite jeweils zwei ineinander übergehende Räume. Links: ein Wohnzimmer und dahinter das Schlafzimmer, beide etwa zwanzig Quadratmeter groß und durch eine riesige antike Tür voller Ornamente getrennt. Rechts: die kleinere Zimmerflucht mit Bad und Küche, getrennt durch eine moderne Mattglastür.

»Tadaa!« Die Wohnzimmertür flog etwas zu ungestüm auf und knallte mit der Klinke gegen die Wand.